Männer von fast perfekten Heldinnen - Adèle Bréau - E-Book

Männer von fast perfekten Heldinnen E-Book

Adèle Bréau

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was machen eigentlich die Männer, während Mathilde, Alice, Éva und Lucie mit vollgepackten Terminkalendern durch ihren Alltag wirbeln? Die Trennung von Mathilde erlaubt Max, endlich Luft zu holen, Verantwortung zu übernehmen, für sich selbst und für seine Kinder, die er nun in »Teilzeit« betreut. Adrien versucht einen Neustart mit Alice, der jedoch misslingt, was die Chancen ihres Chefs Fred steigen lässt – doch Fred muss erst mal seine traumatische Mutter- Sohn-Beziehung klären. Für Christophe, den überambitionierten Topmanager, geraten alle Gewissheiten ins Wanken: Er hadert mit seinem Beruf ebenso wie mit seiner Ehe – soll er alles an den Nagel hängen? Jacques wiederum erfährt, dass er der Vater von Évas Baby ist, und brütet über einem Plan, sie für sich zu erobern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Die wunderbare Serie von Adèle Bréau um die vier Pariser Freundinnen Alice, Éva, Mathilde und Lucie geht weiter – diesmal aus der Perspektive ihrer Männer.

Was machen die Männer, während ihre Frauen mit vollgepackten Terminkalendern zwischen Kind und Karriere durch den Alltag wirbeln?

Nach der Trennung von Mathilde kann Max endlich Luft holen und Verantwortung übernehmen – für seine Kinder und für sich selbst. Adrien versucht einen Neustart mit Alice, der jedoch gründlich misslingt, was die Chancen ihres Chefs Fred steigen lässt, der schon lange heimlich in sie verliebt ist. Für Christophe, den überambitionierten Topmanager, geraten alle Gewissheiten ins Wanken: Er hadert mit seinem Beruf ebenso wie mit seiner Ehe – soll er alles an den Nagel hängen? Jacques wiederum erfährt, dass er der Vater von Évas Baby ist, und brütet über einem Plan, wie er endlich ihr Herz erobern kann.

Die Autorin

Adèle Bréau ist Journalistin, erstellt Psycho-Tests für die Frauenpresse, hat die Website Terrafemina.com mitgegründet und unterhält einen Blog, auf dem sich Frauen untereinander austauschen (adeledebrief.wordpress.com).

Adèle Bréau

MÄNNER VON FAST PERFEKTEN HELDINNEN

Roman

Aus dem Französischen von Stefanie Schäfer

List Taschenbuch

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem Buch befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1423-5

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017Copyright © 2015 by Éditions Jean-Claude LattèsTitel der französischen Originalausgabe: Les Jeux de garçonsUmschlaggestaltung: ZERO Media GmbH, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Guillaume

»Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Vor allem der Frau.«

Dirty Dancing, 1987

DIE BESETZUNG

Max (verheiratet mit Mathilde): arbeits- und planlos, erdrückt von Eheproblemen, steckt in einer Identitätskrise

Adrien (Exmann von Alice): Zahnarzt, zurzeit mit der jungen Juliette liiert, gerät als Erster der Gruppe in eine Midlife-Crisis

Christophe (verheiratet mit Lucie): ehrgeiziger und wohlhabender Geschäftsmann sowie treuer und ergebener Ehemann

Vincent (verheiratet mit Éva): ständig auf Dienstreise, wünscht sich mit seiner Frau ein Kind, bester Freund von Adrien

Fred (Junggeselle): harte Schale – weicher Kern, erfolgreicher Sternekoch und Restaurantbesitzer, Chef von Alice und unsterblich in diese verliebt

Jacques (Junggeselle): Musiker und romantischer Träumer voller Ideen, will nun mit dreißig endlich erwachsen und sesshaft werden

Mathilde (verheiratet mit Max): Managerin in einem Kosmetikkonzern, Mutter von zwei kleinen Jungen, perfektionistisch, hat immer zu wenig Zeit

Alice (Exfrau von Adrien): schüchtern, aber dickköpfig, sehr engagiert in ihrem Beruf als Köchin, alleinerziehend, hofft auf eine Versöhnung mit Adrien

Lucie (verheiratet mit Christophe): Mutter einer großen Familie und Besitzerin einer Kinderboutique, elegant und schön, aber krankhaft eifersüchtig

Éva (verheiratet mit Vincent): unzufrieden mit ihrer Arbeit als Journalistin, wünscht sich sehnlichst ein Kind

DAS ENDE DER FERIEN

1 »Dann mach mal den Mund auf.«

Vincent saß auf dem neuesten Zahnarztstuhlmodell, das sein Freund Adrien besaß, seit er ein Jahr zuvor in einer plötzlichen Anwandlung erst seine Praxis, dann sein gesamtes Leben umgekrempelt hatte. Auf einem Bildschirm an der Decke folgte Vincent einer Gruppe von Nomaden, die langsam eine große Düne erklomm. Adrien war überzeugt, dass solche Videos entspannend auf seine Patienten wirkten.

Vincent trug eine Papierserviette um den Hals, die ihn an ein Babylätzchen erinnerte – er konnte das Wort »Baby« allmählich nicht mehr hören, so sehr hatte Éva sich in ihren Kinderwunsch hineingesteigert. Geradezu hysterisch.

Adrien beugte sich über ihn und reihte akribisch kleine spitze Instrumente auf, die sich früher oder später in seinen Zahnschmelz bohren würden. In dieser Position konnte Vincent, wenn er den Blick vom stummen Aufstieg der Nomaden abwandte, den Schädel seines Freundes genauer betrachten. Adriens Haar, das früher voll und dicht gewesen war, hatte sich altersbedingt ein wenig gelichtet, was er sehr geschickt kaschierte, indem er es toupierte und lang und zerzaust trug. Wann hatte es begonnen? Vincent erinnerte sich an den Spott ihrer einstigen Schulkameraden, wenn Adri sich verzweifelt bemühte, seine legendäre Mähne zu glätten. Zwanzig Jahre später hatten sie Brice, Nicolas, Julien und die anderen allmählich aus den Augen verloren, und nur sie beide waren in Kontakt geblieben, weil sich ihre Frauen eng befreundet hatten. Und weil Vincent niemals einen anderen Zahnarzt als Adrien an seinen Zähnen bohren lassen würde, selbst wenn man ihm alternativ den Leibarzt des Königs von Qatar anböte.

Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, in dem er schon hundertmal gesessen hatte, und stellte fest, dass nichts mehr war wie früher, außer einem Fotowürfel auf dem Schreibtisch, der, inzwischen trübe und an den Ecken abgenutzt, das Lächeln der kleinen Laura und Bilder von Adrien und Alice aus glücklichen Zeiten bewahrte, um die man sie so sehr beneidet hatte. Die frischgestrichenen Wände schmückten keine gerahmten Bilder mehr, und der Holzschreibtisch aus dem Familienlandhaus, den die beiden Freunde an einem Sonntag im Winter gemeinsam hertransportiert hatten, war einer riesigen Glasplatte auf Ständern gewichen, die dem Raum jede Wärme nahm. Aber schließlich ging man ja nicht zum Zahnarzt, um am gemütlichen Esstisch zu plauschen.

Ganz im Gegenteil.

Als sich Adrien anschickte, die Backenzähne seines Freundes zu traktieren, wurde plötzlich die Tür aufgerissen.

»Hallo, Baby!«

Juliette, Adriens blutjunge neue Freundin und der Grund für das Scheitern seiner Ehe, betrat ohne jede Scham den Behandlungsraum. Im Schlepptau hatte sie die ebenso junge, extrem coole Vanessa. Hinter ihnen erhaschte Vincent einen Blick auf Chantal, Adriens treue Sprechstundenhilfe, die sich Alice sehr verbunden gefühlt hatte und die Trennung ihres Chefs schwerer nahm als Laura, seine einzige Tochter. Sie begegnete Juliette mit tiefer Verachtung. Das Gefühl beruhte offensichtlich auf Gegenseitigkeit, denn offenbar hatte die Neue es nicht einmal für nötig befunden, sie um Erlaubnis zu fragen, bevor sie in das Behandlungszimmer eindrang.

Chantal zog sich kopfschüttelnd zurück, nicht ohne Vincent, den sie für vernünftiger hielt als ihren vom Charme der Jugend geblendeten Chef, zu signalisieren, dass ihr allmählich der Kragen platzte, wirklich, und wenn das nicht aufhörte, müsste sie gehen. Das werden Sie werden ihm doch sagen, oder?, flehte sie stumm.

Ja, Chantal.

Ein leeres Versprechen, denn unter Freunden machte man sich keine Vorhaltungen. Man hielt zusammen, gönnte einander jedes Vergnügen und nutzte jede Gelegenheit zum Durchatmen, die das Leben bot, bevor man sich wieder der Pflicht widmete, die man sich, warum auch immer, auferlegt hatte. Oder besser: Von der man glaubte, man müsse sie erfüllen, weil einen die Frauen in die Falle gelockt hatten.

Adrien unterbrach die Behandlung und begrüßte Juliette und ihre Freundin. Vanessa kaute Kaugummi, ohne ihren Blick von Vincent abzuwenden, der sich plötzlich zu Tode schämte. Wie könnte er bloß möglichst unauffällig dieses Lätzchen loswerden? Die junge Frau trug eine enganliegende Jeans, die ihren wohlgeformten Po betonte, und ein ärmelloses T-Shirt ohne BH darunter. Als sie sich schließlich zu ihm herunterbeugte und ihn mit Küsschen rechts, Küsschen links und einem lakonischen »Vanessa« begrüßte, schwebte ihr wundervoller Busen vor seinen Augen. Vincent lachte unbeholfen und schickte sich an aufzustehen, weil er sich bewusst war, wie unwürdig er auf diesem Zahnarztstuhl wirkte, während die beiden jungen Mädchen im Raum herumflatterten.

Auch Adrien machte keine gute Figur, obwohl er doch allmählich an die Nähe dieser Schönheiten gewöhnt sein müsste. Juliette turtelte mit ihm, und er errötete, hingerissen wie ein Teenager vor seinem ersten Kuss.

»Trinken wir ein Glas nach eurem Termin?«, gurrte Juliette.

Adrien warf Vincent einen fragenden Blick zu, und Vincent zuckte mit den Schultern. Warum nicht.

»Ich behandle noch kurz das Gebiss dieses Herrn, und dann treffen wir uns im Mascotte?«

Mistkerl.

»O nein, nicht im Mascotte, das ist was für alte Leute. Da gibt’s doch nur Austern und so. Nein, lass uns in der neuen Pop-up-Bar an der Bastille treffen. Ich stehe dort auf der Gästeliste, wegen meines Blogs. Soll ich dir die Adresse schicken?«

Was sich wohl hinter einer Pop-up-Bar verbarg?, überlegte Vincent, traute sich aber nicht nachzufragen.

»Abgemacht. Bis später, ihr beiden!«

Dann beugte sich Adrien zu dem schlanken jungen Ding hinunter, und sie küsste ihn leidenschaftlich und lange, während Vanessa auf ihrem Handy herumtippte.

Als sie die Praxis verlassen hatten, kam Adrien wieder zu sich und wandte sich an seinen Freund.

»Sie macht mich ganz verrückt.«

»Gar nicht gemerkt.«

Der Tag neigte sich dem Ende zu, und Adrien hatte wie durch ein Wunder ein kleines weißes Sofa gefunden, auf dem sie ihre Cocktails schlürften. Die meisten Gäste waren keine dreißig und wiegten sich in gewagten Outfits zum Takt der Loungemusik, die rhythmischer wurde, je mehr der Tag einer heißen Spätsommernacht wich.

»Was trinkst du da?

»Einen Aperol Spritz.«

»Was ist mit dir los? Ich habe dich noch nie etwas anderes trinken sehen als einen doppelten Whisky.«

»Juliette findet, dass Whisky etwas für alte Knacker wie James Bond ist. Du wirst es nicht glauben, aber sie weiß nicht mal, dass vor Pierce Brosnan und Daniel Craig schon andere Schauspieler James Bond verkörpert haben.«

»Wirklich? Was lernen die denn in der Schule?«

»Ich sage dir, die hat nicht mal den Paten gesehen.«

Vincent schüttelte ungläubig den Kopf. Wo sollte das hinführen? Auch wenn man sich Serien ansah, musste man doch die Klassiker kennen. Er dachte an Éva und ihre gemeinsamen Abende, die sich in letzter Zeit immer öfter vor dem Fernseher abspielten. Wenn er nicht auf Dienstreise oder lange im Büro war, was immer häufiger vorkam – manchmal streifte ihn der Gedanke, ob er nicht unbewusst seiner ehelichen Beziehung entfloh –, kam er gegen neun Uhr nach Hause. Dann bestellten sie sich etwas beim Lieferservice und verzehrten es schweigend vor den Episoden der zahlreichen Soaps, die praktisch das Einzige waren, was sie derzeit miteinander teilten. An den Abenden im Monat, an denen Éva ihren Eisprung vermutete, wechselte das Programm. Dann gingen sie ins Schlafzimmer, als zögen sie in eine Schlacht, und beide waren sich der Verzweiflung dieses Aktes bewusst, dem sie sich in der Folge körperlich hingaben. Die Lust aufeinander war der Pflicht gewichen. Und oft genug war es harte, vergebliche Arbeit und endete unschön. Tränenreich, was Éva anging, weil er nicht auf Befehl kommen konnte. Verzweifelt auf seiner Seite, weil er sich unzulänglich fühlte. Meist kehrte sie ihm dann den Rücken zu, und er schleppte sich ins Wohnzimmer und befriedigte sich selbst vor seinem iPad, erregt von dem feuchten Blick anderer Frauen.

Vanessa riss ihn aus seinen Gedanken. Enthusiastisch wippte sie vor ihm zum Rhythmus der Musik und hauchte ihm obszöne Dinge ins Ohr. Ihre Lippen glänzten vor Gloss, und er musste sich eingestehen, dass er, der spießige Rechtsanwalt über vierzig, der in Anzug und polierten Lederschuhen auf der Terrasse einer Pop-up-Bar an der Bastille saß, sich davon durchaus angesprochen fühlte.

Aber er war verheiratet. Mit seiner großen Liebe.

Vanessa lächelte ihm zu, wickelte eine Haarsträhne um ihren frisch manikürten Zeigefinger, und Vincents Gehirn wurde überflutet von erotischen Phantasien, während Adrien versuchte, sich mit ihm zu unterhalten. Er stand auf Frauen wie Vanessa, sinnlich und ein bisschen vulgär, obwohl er sich immer verboten hatte, dieser zweifelhaften Vorliebe nachzugeben.

Er, der kleine Portugiese, hatte einen weiten Weg zurückgelegt, seitdem er mit seinen Eltern in der Pförtnerloge des schicken Hauses an der Avenue Victor-Hugo gewohnt hatte. Die Unterwürfigkeit, mit der seine Mutter den Wohlstandsbürgern des Viertels begegnete, und die Herablassung, die man ihr im Gegenzug zeigte, waren ihm schon immer zuwider gewesen. Entschuldigen Sie Marie, dass ich Sie an einem Sonntag störe, aber ich habe meinen Schlüssel vergessen, könnten Sie mir bitte den Ersatzschlüssel geben? Marie, putzen Sie auch im Haushalt? Marie, Sie haben Vertreter hereingelassen. Sie müssen besser aufpassen, Sie waren nicht an Ihrem Platz.

Seit frühester Jugend war er entschlossen, die kleine Pförtnerwelt und ihre Demütigungen hinter sich zu lassen. Ein Schlüsselmoment war für ihn ein Ausflug mit seinem Vater Rafael in den Bois de Boulogne gewesen. Der Vater wollte ihm das Radfahren ohne Stützräder beibringen. Und kaum war er auf den Sattel geklettert, hatte Rafael ihn losgelassen, und Vincent spürte jenes Gefühl der Freiheit und Unabhängigkeit, nach dem er für den Rest seines Lebens auf der Suche blieb. Ja, es war ein Glücksmoment gewesen, allein zu fahren, den Lenker zu halten, sich ohne Hilfe fortzubewegen. Da wusste er, dass er alles tun würde, um das Rad, die Wohnung, die Frau und den Urlaub zu bekommen, die er wollte, ohne den Kopf senken und anderen Menschen dafür danken zu müssen. Diese Freiheit würde er sich mit dem Geld erkaufen, das er verdienen wollte. Ein Ziel, das er seit jenem Tag hartnäckig verfolgte.

Stolz war er seit jenem Tag mit seinem Rad umhergefahren, hatte sich in der Schule in die erste Reihe gesetzt und ungerührt die Bemerkungen der Lümmel aus der letzten Bank hingenommen, die ihn als Streber beschimpften. Er war der Stolz seiner Eltern, heimste gute Noten und das Lob seiner Lehrer ein.

Doch hinter seinem Erfolg verbarg sich eine Aggression, die er eigentlich glaubte, erstickt zu haben. Sie flackerte immer auf, wenn es um Mädchen ging. In ihrer Gegenwart schämte er sich seiner Herkunft. In der neunten Klasse war es ihm gelungen, Constance zu verführen, die schöne Klavierspielerin mit den ordentlich geflochtenen Zöpfen und dem weißen Kragen. Das war seine geheime Rache: Er, der Portugiese, war in der Lage, ein Mädchen aus gutem Hause zu verführen. Er spürte den Neid der anderen Jungs, was ihm Antrieb genug war, diese Linie zu verfolgen. Seitdem wählte er seine Kleidung stets so aus, dass er die Aufmerksamkeit der feineren Mädchen auf sich zog – auch wenn sie nicht dem Typ Frau entsprachen, der ihn reizte. Das war nicht das Entscheidende.

Später, an der Uni, hatte er Éva kennengelernt, sie studierte im ersten Jahr Jura, bevor sie zum Journalismus wechselte. Sie schien alles zu verkörpern, was er sich wünschte. Sie kam aus guten Verhältnissen, war im Bett unverklemmt und drehte sich ihre Zigaretten selbst. Sie wirkte auf ihn wie ein freier Mensch. Zwei Jahre lang hatten sie sich leidenschaftlich geliebt und ganze Nachmittage lang in den Bars und Cafés von Paris über Politik diskutiert und die Welt zu ändern versucht, wahlweise bei einem Kaffee oder Bier vom Fass.

Oft fuhren sie hinaus in das Landhaus von Évas Vater, einem berühmten Journalisten bei einer linken Tageszeitung. Ganz nach Plan hatte Vincent nur wenige Wochen nach seiner Volljährigkeit seinen Führerschein bestanden und von dem Geld, das sein Vater ihm zum Achtzehnten in einem Umschlag überreicht hatte, ein altes Auto gekauft, das Éva und er Caroline tauften. Sie sprachen so oft von Caroline, der Zeugin ihrer Liebe und ihrer Träume, dass man glauben konnte, es sei von ihrem Kind die Rede.

Éva war auch die Erste, die ihn in der Pförtnerloge seiner Eltern besuchen durfte. Er wusste, dass sie ihn liebte und niemals wegen seiner familiären Situation verachten würde.

In diesen Gedanken hinein vibrierte sein Handy in seiner Hosentasche. Éva – er hatte ihr gesagt, dass er spät nach Hause komme, vielleicht auch gar nicht. Ein Fall halte ihn auf. Er sah nicht nach, was sie ihm geantwortet hatte, sondern winkte den Kellner herbei, um zu zahlen.

»Gehst du schon?«

»Ja, ich muss zurück ins Büro.«

»Das kann noch bis morgen warten, oder? Möchtest du nicht tanzen?« Vanessa lächelte ihn an. Auf ihrem Gesicht war keine Spur von Angst, Frustration oder Verachtung zu erkennen, Gefühle, die sich so grausam in Évas Miene eingebrannt hatten. Ihre großen Augen, ihre üppigen Kurven, ihr schweres Parfüm erregten ihn. Er brachte kaum ein Wort heraus.

»Tanzen war noch nie so mein Ding, weißt du. Und dann noch im Anzug …«

»Dann lass uns noch was trinken.«

Sie stand dicht vor ihm, enthemmt von den Cocktails, die man ihr ausgegeben hatte. Weiter hinten entdeckte er Adrien. Engumschlungen und weltvergessen knutschte er mit Juliette und schwankte dabei idiotisch von einem Fuß auf den anderen – seine Art zu tanzen. Adrien wäre ihm bestimmt nicht böse, wenn er einfach ginge, ohne ihm Bescheid zu sagen. Und so ergriff Vincent kurzentschlossen Vanessas Hand und zog sie zum Ausgang. Kaum im Freien, hielt er es nicht mehr aus, drängte sie gegen eine Wand, übermannt von der Leidenschaft, die sie in ihm auslöste.

In seiner Tasche blinkte Évas Nachricht:

Komm bitte nach Hause.

2 »Was führt Sie zu mir, Monsieur …?«

»Marsac.«

Verdammt, seit zehn Jahren ging er zu diesem Hausarzt, und bis heute konnte der gute Mann sich nicht seinen Namen merken. Was bekäme er zu hören, wenn er den Namen eines Kunden vergessen würde! Zugegebenermaßen war er in all den Jahren selten zum Arzt gegangen, in der Regel hatte er darauf gesetzt, dass seine Leiden sich von selbst erledigten. Erst in letzter Zeit spürte er zunehmend das Bedürfnis, sich bescheinigen zu lassen, dass er gesund war. Böse Zungen würden behaupten, er sei hypochondrisch geworden.

Wie sollte man auch standhaft bleiben, wenn alle um einen herum den altersgemäßen Check-up beschworen? Pass bloß auf, Max, in unserem Alter kann es ganz schnell gehen. Der Freund eines Freundes hatte ganz plötzlich einen Herzinfarkt. Einfach so. Mit zweiundvierzig. Und bei deinem Lebenswandel …

Früher hätte er sie alle ausgelacht. Seit er denken konnte, war ihm eingetrichtert worden, dass man sich nicht beklagte und sich nicht vom erstbesten Quacksalber, den man in den Gelben Seiten gefunden hatte, behandeln ließ. Doch irgendwann hatte der Gedanke an heimtückische Krankheiten auch Max nicht mehr losgelassen.

Er dachte an den Tag zurück, an dem der Alptraum begonnen hatte. Es war ein Morgen wie alle anderen gewesen. Ein kalter, aber sonniger Morgen im März.

»Max, Monsieur Van der Bauer möchte Sie gern sprechen.«

Die Sekretärin des Chefs hatte ihn einige Tage zuvor angerufen, und er und Mathilde hatten gehofft, dass endlich die so lange erwartete und verdiente Beförderung anstand. Er war der kreative Kopf in seinem Team und hatte jahrelang keine Überstunden gescheut. Am Tag des angekündigten Personalgesprächs hatte Max also seinen besten Anzug angezogen und das große verglaste Büro des Chefs mit dem Selbstvertrauen betreten, das er in den zehn Jahren bei der Firma erworben hatte.

»Setzen Sie sich«, sagte der Chef matt und blätterte weiter in seinen Unterlagen, ohne ihn anzusehen.

Max fühlte sich unbehaglich. Durch die großen Glasscheiben betrachtete er die Bürotürme des Défense-Viertels. An jenem Tag erschien ihm die Umgebung, die ihn so oft bedrückt hatte, beinahe schön. Fast hätte er glauben können, in New York zu sein, und er erinnerte sich an die Zeit, als Mathilde und er noch keine Kinder hatten und einmal im Jahr verliebt den Big Apple durchstreiften. Der Himmel war leuchtend blau, ohne ein Wölkchen, und die Sonne schien auf die verspiegelten Fenster der futuristischen Hochhäuser, deren elegante kantige Architektur die Macht der Firmen symbolisierte, die dort ihren Sitz hatten.

Sein Blick wanderte auf den Schreibtisch des Chefs, wo ein Familienfoto in einem fast schon barock geschwungenen Silberrahmen stand. Van der Bauer thronte in der Mitte, umgeben von seiner Frau und seinen drei Kindern. Die Jüngste musste inzwischen achtzehn Jahre alt sein.

»Na schön, Max«, seufzte der Chef. »Wie lange sind Sie jetzt bei uns?«

»Zehn Jahre, Monsieur. Im Dezember.«

»Zehn Jahre … Kaum zu glauben! Da haben wir einiges zusammen durchgemacht, nicht wahr? Als ich angefangen habe, waren wir zehn Leute. Wissen Sie, ich habe diese Firma mit meinen eigenen Händen aufgebaut, aus dem Nichts.«

Max kannte die schöne Legende, die Van der Bauer gern den Medien und den Kunden auftischte, die er so meisterhaft bei seinen berühmten Geschäftsessen ins Netz zu locken verstand.

»Max, ich will gar nicht um den heißen Brei herumreden. Sie wissen, wie schwer uns die Krise getroffen hat, und leider sehe ich mich gezwungen, die Personalkosten zu reduzieren. Sie sind ein hervorragender Mitarbeiter, und ich mache mir keinerlei Sorgen um Ihre Zukunft. Doch ich kann mir nicht erlauben, weiterhin so viele Angestellte auf Posten wie dem Ihren zu beschäftigen.«

Max erbleichte. Er glaubte, sich verhört zu haben.

»Ich hätte Ihnen natürlich gern Zeit gelassen, sich anderweitig umzusehen. Doch im Hinblick auf unsere Bilanzen und, wie ich denke sowohl in Ihrem wie in unserem Interesse erscheint mir eine Trennung in gegenseitigem Einvernehmen als die beste Lösung. Bald fangen die Ferien an, genießen Sie die Zeit mit Ihrer Tochter.«

»Ich habe Söhne.«

»Ach ja, natürlich … Wie dem auch sei, Max, wenden Sie sich bitte an die Personalabteilung. Wir sind bereit, großzügig zu sein, vor allem, weil Sie so lange bei uns waren, aber … Sie müssen meine Situation verstehen.«

Einen Monat später verließ Max die Firma mit einer dicken Abfindung, die es ihm ermöglichte, »die Dinge erst mal auf sich zukommen zu lassen«. Zu seiner Abschiedsfeier gab es Chips, Erdnüsse und Wurstschnecken auf Plastiktellern, wozu mit gespielter Heiterkeit lauwarmer Sekt getrunken wurde. Damit war ein fast zehnjähriges Kapitel seines Lebens abgeschlossen, ohne dass irgendjemand besonderen Anteil daran nahm.

In den Wochen darauf war er weiterhin früh aufgestanden, brachte die Kleinen in den Kindergarten, schrieb den ganzen Vormittag Lebensläufe, aktualisierte sein Profil in den professionellen Netzwerken und verschickte Mails an seine Bekannten. Oft traf er sich zum Mittagessen mit einem Freund oder mit seinem Vater, zu dem er ein enges Verhältnis pflegte, obwohl vieles zwischen ihnen unausgesprochen blieb. Seine Mutter war inzwischen so dement, dass kaum mehr ein vernünftiges Gespräch möglich war. Er besuchte sie, vielleicht aus Feigheit, nie ohne die beruhigende Begleitung Mathildes oder der Kinder. Sie lenkten ihn ein wenig ab, so dass er sich nicht allzu schmerzlich bewusst machen musste, in welchem Maße diese Frau, die ihn großgezogen hatte, ihre eigene Vergangenheit vergessen hatte.

»Warum wollen Sie den Check-up machen lassen, Monsieur Marsac?«, fragte der Arzt. »Haben Sie Beschwerden? Beunruhigende Symptome?«

»Nein. Oder doch, eigentlich jeden Tag. Aber nichts Konkretes. Sie wissen doch, wie das ist. Mal erwacht man morgens mit Kopfschmerzen, am nächsten Tag zwickt es im Bein, dann im Rücken, oder es sticht in der Schulter. Nichts Schlimmes.«

Der Arzt schrieb sorgfältig mit, was Max umtrieb. Glaubte er womöglich, Max habe Krebs, eine akute Leukämie? Aber er hatte doch im Leben noch gar nichts erreicht! Er konnte doch nicht schon so früh abtreten. Was würde man nach seinem Tod über ihn sagen? Max – er hat zehn Jahre für eine Firma geschuftet und sich dann rausschmeißen lassen. Seitdem hat er überall Arbeit gesucht. Und jetzt, na ja, jetzt ist er tot.

»Trinken Sie Alkohol?«

»Ja … Also, es ist nicht so, dass ich trinke, ich bin kein Alkoholiker. Ich trinke Alkohol, wenn ich ausgehe.«

»Wie häufig?«

»Wie häufig ich ausgehe?«

»Ja. Wie häufig trinken Sie?«

»Ich weiß nicht. Zwei-, dreimal pro Woche. Na ja, im Sommer habe ich jeden Tag getrunken. Aber das war die Ausnahme.«

»Könnte man sagen, im Durchschnitt fünf Gläser pro Woche?«

Fünf Gläser? Wo lebte der Typ? Fünf Gläser trank er zum Abendessen. Aber das würde er dem Arzt nicht auf die Nase binden … Auch nicht, dass sie sich im Sommerurlaub den ganzen Tag unbekümmert mit literweise Rosé versorgt hatten. Mist, er trank zu viel.

»Vielleicht eher … sieben oder zehn.«

Der Arzt machte sich weiter fleißig Notizen.

»Rauchen Sie?«

»Ja. Aber nicht viel, ein halbes Päckchen pro Tag. Manchmal weniger. Ich treibe ziemlich viel Sport. Ich könnte sofort aufhören, wenn ich wollte.«

»Welchen Sport treiben Sie?«

»Im Urlaub spiele ich Fußball und Tennis, und im Winter fahre ich Ski.«

Noch während er es aussprach, erkannte Max, dass er seit der Uni nicht mehr richtig Sport getrieben hatte. Was er aufgezählt hatte, waren eher Freizeitbeschäftigungen. Welche Hobbys hatte er eigentlich? Jedes Mal blieb er an dieser verflixten letzten Rubrik des Lebenslaufs hängen, von der es hieß, sie sei beinahe die wichtigste, weil sie die Originalität und die Vielfalt einer Persönlichkeit verrate. Was war seine Passion? Er war Vater, Ehemann – nicht gerade der beste – und Freund. Und? Schlechter Sohn und gescheiterter Angestellter, unfähig, seine Arbeitsstelle zu behalten und den Lebensunterhalt seiner Kinder zu sichern?

»Und wie geht’s mit der Arbeit?«

»Ich habe zurzeit keine. Ich … Ich will mich verändern. Ich will mich selbständig machen.« Es war ihm einfach so entschlüpft.

»Ah, sehr gut. Dann machen Sie gerade sicher eine etwas stressige Phase durch?«

»Nein. Mir geht es gut.«

»Umso besser. Leben Sie in einer Beziehung?«

»Was hat das alles eigentlich mit meinen Blutwerten zu tun?«

»Sie müssen mir nicht antworten, wenn Sie nicht wollen. Aber je mehr Informationen ich über Ihre Lebensweise habe, desto besser kann ich beim Check-up auf Sie eingehen. Wissen Sie, viele alleinstehende oder geschiedene Männer ernähren sich schlecht, gehen viel aus und betreiben Raubbau an ihrer Gesundheit. Wenn das bei Ihnen der Fall ist, wenn auch erst seit kurzer Zeit, sollten Sie es mir sagen, damit ich Ihnen gegebenenfalls besser zu einer Veränderung Ihres Lebensstils raten kann.«

»Ich bin verheiratet. Glücklich. Aber meine Frau ist berufstätig, und sie stellt sich abends nicht noch lange an den Herd, damit ich nach der Arbeit gesund esse.«

»Ich dachte, Sie seien arbeitslos?«

»Sind Sie vielleicht Psychologe? Ich bin wegen eines Check-ups hier. Ich will meinen Cholesterinspiegel untersuchen lassen und wissen, wie hoch das Risiko ist, dass ich in den nächsten fünf Jahren an einem Herzinfarkt krepiere, weil ich mehr als fünf Gläser Alkohol pro Woche trinke und seit zwanzig Jahren täglich meine Lunge teere. Wenn Sie über das ärztlich Notwendige hinausgehen wollen, dann bin ich hier falsch. Ich brauche niemanden, der mir etwas von zerplatzten Träumen erzählt.«

Max traten Tränen in die Augen, seine Hände zitterten. Stumm reichte der Arzt ihm ein Päckchen Taschentücher. Und plötzlich brach der Damm, er weinte, was er sich sonst nie erlaubte. Er war fix und fertig und wusste nicht mehr weiter. Er war dabei, seine Mutter zu verlieren, und seine Ehe ging den Bach runter. Er hatte keine Arbeit und kein Selbstbewusstsein mehr. Man hatte ihm immer eingeredet, ein Mann müsse stark sein, Brust raus, Bauch rein. Ein Mann ging ins Büro und brachte abends das Geld mit nach Hause, von dem er seine Familie ernährte. Wann hätte er unter solchen Umständen weinen sollen?

Nachdem diese viel zu lange unterdrückten Tränen aus ihm hinausgeflossen waren und er wieder zu Atem kam, hob er den Kopf und wagte, die Frage zu stellen, die ihn seit Wochen quälte:

»Glauben Sie, dass ich unter Depressionen leide?«

3 »Ja, Anouk?«

Fred war nervös und angespannt, weil an diesem Tag das Restaurant zum ersten Mal nach der Sommerpause wieder öffnete. Normalerweise ließ sich der Sternekoch, der an Hektik gewöhnt war, nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Doch Anouk hatte es geschafft. Sie war seine jüngere Schwester, die meist monatelang nichts von sich hören ließ und nur einmal im Jahr wie eine Bombe in sein Leben platzte. Diesmal hatte sie ohne Vorwarnung Jérémie bei ihm abgegeben, ihren Sohn, der aus einer kurzen Affäre mit einem Skilehrer stammte. Anouk zog den Jungen alleine groß und lehnte die Hilfe ihres zu Wohlstand gekommenen Bruders ab, der regelmäßig mit Engelszungen auf sie einredete, sie solle doch bei ihm im Restaurant arbeiten – obwohl er wusste, dass das vermutlich keine gute Idee war – oder wenigstens eine kleine monatliche Unterstützung von ihm annehmen, bis sie wieder auf eigenen Beinen stand. Bis sich ihr Erfolg als Schauspielerin einstellte, auf den sie seit inzwischen fünfzehn Jahren hoffte. Unterdessen nahm sie an mehr oder weniger seriösen Castings teil und wartete tagelang in den Fluren hässlicher Studios darauf, dass sie eine Probeaufnahme für einen Werbespot machen durfte, in der Fusselbürsten oder Haushaltsseife angepriesen wurden.

An diesem Morgen hatte Anouk sich vorgenommen, eine Rolle als Synchronsprecherin zu ergattern – und zwar in einer angeblich weltweit erfolgreichen Serie, die nun endlich auch im französischen Fernsehen anlaufen sollte. Da Fred keinen Fernseher besaß, hatte er weder von dem zu synchronisierenden amerikanischen Starlet noch von der Serie jemals gehört. Vor ihm kletterte der fünfjährige Jérémie mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms auf die kleine Rutsche des verlassenen Spielplatzes, wohin sie sich geflüchtet hatten.

»Bitte, Bruderherz, pass auf ihn auf. Ich verspreche dir, dass ich spätestens um elf wieder da bin. Ich brauche diese Rolle unbedingt. Wenn sie mich nehmen, garantiert mir das für die nächsten Monate ein sicheres Einkommen, und du weißt, was es für mich bedeutet.«

Ja, das wusste er. Es bedeutete, dass sie ihren Job als Kassiererin im Supermarkt aufgeben, sich eine eigene Wohnung leisten und vielleicht sogar mit ihrem Sohn in den Urlaub fahren könnte. Deswegen hatte Fred zugesagt. Natürlich. Außerdem hatten sie einander versprochen, immer für den anderen da zu sein, und die Aussicht, ein wenig Zeit mit seinem Neffen zu verbringen, bezauberte den hartgesottenen Junggesellen, der er war. Er wusste, dass man über ihn tuschelte. Ein komischer Kauz, findest du nicht? Warum ist er nicht verheiratet? Glaubst du, er ist schwul? Es ging ihm auf die Nerven, wenn im Restaurant zu später Stunde noch diese Tussis herumlungerten, ganz offenbar entschlossen, ihn seinem Junggesellendasein zu entreißen. Tatsächlich war er eine Ausnahme unter seinen gleichaltrigen Freunden, die verheiratet waren, wie glücklich auch immer, oder geschieden mit Kindern. Er war sozusagen Brachland, jemand, mit dem man noch etwas aufbauen konnte. Ein angenehmes Leben, wie selbstverständlich angenommen wurde, da er wohlhabend war und es immer Leute geben würde, die seine Küche zu schätzen wussten, Krise hin oder her. Er ignorierte sie alle, dabei lebte er durchaus nicht wie ein Mönch. Es gab flüchtige Beziehungen in seinem Leben, doch keine Leidenschaft.

»Guck mal, Tonton!«

»Was denn, mein Junge?«

»Da kommt Mama!«

Endlich! Hätte sie nicht zwischendurch mal anrufen können? Anouk. Sie war drei Jahre jünger als er und ebenso wie er gewissermaßen als Halbwaise aufgewachsen, nachdem ihre Mutter eines Tages festgestellt hatte, dass sie das Leben mit ihnen nicht mehr aushielt. Sie hatte keine Lust mehr, Wäsche zu waschen und darauf zu warten, dass sich das Leben wie ein Teppich vor ihr ausrollte in ihrer kleinen Provinzstadt, wo die Langeweile nur von gelegentlichen Gerüchten über einen Ehebruch durchbrochen wurde. Fred und Anouk waren in Beaune aufgewachsen, in der Familiengaststätte, wo sie Abende lang zwischen den Tischen umhergelaufen waren, während die Gäste, die zu Freunden geworden waren, zu laut lachten, angeregt vom Wein, der in Strömen floss. Fred hatte seine Eltern für glücklich gehalten, doch eines Tages war ihre Mutter Liliane fortgegangen und hatte ihrem Vater nichts als einen kleinen Zettel hinterlassen, auf dem sie ihn um Verzeihung bat, dass sie der Sehnsucht nach einem anderen Dasein nachgeben müsse.

Ihr Duft hing noch lange Zeit in ihrem Kleiderschrank, in dem der kleine Frédéric sich oft versteckte und heimlich diese Mutter einatmete, die ihn nicht mehr gewollt hatte.

Bertrand, sein Vater, hatte zwar versucht, das Familiengeschäft weiterzuführen, war aber mit dem Herzen nicht mehr bei der Sache. Er war relativ schnell in eine barmherzige Demenz versunken, die es ihm unmöglich machte, seine beiden turbulenten, präpubertären Kinder zu erziehen. Fred wurde auf eine Hotelfachschule geschickt, wo man in ihm ein außergewöhnliches Talent erkannte. Die Ernsthaftigkeit, mit der er seine Ausbildung absolvierte, hatte ihm schon bald die Chance verschafft, bei den Besten zu lernen und schließlich sein eigenes Restaurant zu eröffnen. Anouk war ins Internat zu den Nonnen gegangen, hatte sich später um ihren geschwächten Vater gekümmert und einige unerfreuliche Beziehungen zu Männern geführt. Fred empfand Schuldgefühle seiner Schwester gegenüber, weil es ihn so glücklich und sie so unglücklich getroffen hatte. Weil er durch das Leid, das der Fortgang seiner Mutter verursacht hatte, gereift und gewachsen war, und weil Anouk offensichtlich nicht damit fertig wurde. »Die ist mir scheißegal«, behauptete Anouk stets trotzig, »von mir aus kann sie krepieren.«

Doch die Wahrheit war eine andere.

»Na, mein Dicker, wie bist du zurechtgekommen?«, rief Anouk.

»Was glaubst du denn, ich kann wohl noch auf ein Kind aufpassen! Das ist nicht komplizierter, als auf mich selbst aufzupassen.«

»Ach, das kannst du also? Hast du schon mal in den Spiegel geguckt? Dir wächst ein Haar aus der Nase. An genau solchen Kleinigkeiten erkennt man die Typen, die keine Frau haben. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«

Fred zuckte mit den Schultern, als sei ihm das vollkommen gleichgültig, doch natürlich brannte er darauf, sich dieses verdammte Haar auszureißen, bevor Alice es entdeckte.

»Und, wie ist das Casting gelaufen?«

»Ich habe ein gutes Gefühl! Sie haben es mich mehrmals versuchen lassen, und das ist ein positives Zeichen!«

»Meinst du wirklich?«, fragte Fred skeptisch.

»Gut, dass du nicht mein Agent bist … Wie aufmunternd du sein kannst!«

»Hast du einen Agenten?«

»Nein, war nur so dahingesagt. Aber eines Tages werde ich einen haben, und ich verspreche dir, du wirst es nicht sein. Also, jedenfalls muss ich diese Woche noch mal zu Probeaufnahmen, ich bin jetzt unter den letzten fünf. Stell dir vor, es würde klappen, stell dir das mal vor, Bruderherz!«

Er wünschte es ihr so sehr. Wenn es auch meilenweit von dem Oscar und den Hauptrollen entfernt war, die sich seine Schwester erträumt hatte. Anouk hielt mit ihren bald fünfunddreißig Jahren hartnäckig an diesem Traum fest, obwohl sie wusste, dass sie für eine Schauspielerin allmählich ins Rentenalter kam.

»Mama!«

Jérémie hatte sich auf Anouk gestürzt, und sie wirbelte ihn freudig durch die Luft.

»Und, hast du Spaß gehabt mit Tonton Fred?«

»Ja! Wir haben bei ihm im Restaurant Schokolade getrunken und uns Fotos von euch angeschaut, als ihr klein wart. Du sahst lustig aus, Mama, mit deinen Shorts und den kurzen Haaren. Wie ein Junge.«

»Du hast ihm das Album gezeigt?«

»Ja klar. Willst du ihm seine Vergangenheit verheimlichen? Er fand es toll.«

»Und Opa, warum besuchen wir ihn nie?«

Anouk und ihr Bruder hielten einen stummen Dialog:

Was fällt dir ein? Es ist meine Entscheidung, ob ich mit meinem Sohn über ihn rede oder nicht.

Fred verteidigte die Erinnerungen an ihre gemeinsame Vergangenheit: Der Kleine hat kaum Bindungen, umso besser, wenn er seine Wurzeln kennenlernt. Es wird ihm guttun, sich nicht so allein auf der Welt zu fühlen. Ich weiß genau, dass man Wurzeln braucht, auch wenn sie einem weh tun.

Freds Handy klingelte und beendete das stumme Wortgefecht unter den Geschwistern.

»Ja, Alice?« Er lächelte unwillkürlich, als er ihre Stimme vernahm. »Natürlich, bring sie ruhig, aber beeile dich. Wir müssen noch viel erledigen, bevor wir aufmachen, und ich bin noch nicht im Restaurant … Nein, ich erklär’s dir später.«

Er beendete das Gespräch und hatte es plötzlich eilig, in sein Geschäft zu kommen. Er bückte sich, schloss seinen Neffen in die Arme und versprach ihm, dass sie sich bald wiedersehen würden.

»Du kannst ihn mir bringen, wann immer du willst, Anouk. Sogar ins Restaurant, wenn du keine andere Möglichkeit hast. Er kann in meinem Büro spielen, genau wie Laura, als sie klein war. Laura ist die Tochter von Alice.«

»Die berühmte Alice … Wann stellst du sie mir denn endlich mal vor?«, raunte Anouk.

Fred verdrehte zur Antwort nur die Augen. Er umarmte seine kleine chaotische Schwester, die trotz all ihrer Sorgen immer noch eine jugendliche Ausstrahlung besaß.

Dann ging er mit eiligen Schritten zum Parkplatz. Er hatte Alice seit einem Monat nicht gesehen. Seit einem Monat!

4 »Guten Abend, meine Herren. Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«

»Für mich einen doppelten Whisky. Was nehmen Sie, Christophe?«

»Ein Zitronen-Soda, bitte.«

Es war selten, dass in dem exklusiven Sportclub, in dem Jacques einen Job als Kellner gefunden hatte, jemand ein alkoholfreies Getränk bestellte. So selten, dass man diese Gäste schnell mit Namen kannte.

Jacques trat hinter die große Bar aus kostbarem Holz und begann, unter dem prüfenden Blick seines erfahrenen Kollegen die Bestellungen vorzubereiten. Letzten Endes war es gar nicht so schwierig gewesen, eine Arbeit zu finden, mit der er seinen Lebensunterhalt verdienen konnte, obwohl er zunächst befürchtet hatte, er würde es nicht schaffen.

Nachdem er seinen schockierten Eltern verkündet hatte, er wolle sein Jurastudium aufgeben, um sich ganz seiner Musik zu widmen, hatte er sich bis zu seinem dreißigsten Geburtstag Zeit gegeben, um als Musiker Erfolg zu haben. Er hatte seiner Mutter damit schlaflose Nächte bereitet, und sein Vater hatte längst aufgehört, auf die Fragen seiner Freunde zu antworten, wenn sie sich nach dem Schicksal seines ältesten Sohnes in Paris erkundigten. Doch Jacques hatte durchgehalten. Wozu war man am Leben, wenn man nicht seine Leidenschaft auslebte – sofern man das Glück hatte, eine zu besitzen? Er war in Bars, an sommerlichen Stränden, auf Festivals, Hochzeiten, Taufen und Bar Mitzwas aufgetreten, wo das Publikum ihm kaum Beachtung schenkte, wenn er seine eigenen Kompositionen vortrug, sich jedoch wie auf Kommando erhob, sobald er ein Stück von Claude François oder von David et Jonathan anstimmte. Als er auf YouTube einmal eines seiner Stücke gepostet und das Video Tausende Klicks erhalten hatte, glaubte er sich kurz vor dem Durchbruch. Es erschienen sogar ein paar Artikel über ihn auf den einschlägigen Internetseiten, eine Journalistin prophezeite ihm einen phänomenalen Erfolg, da man seinem tiefen Blick, seinen Sommersprossen und seiner lässigen Art kaum widerstehen könnte. Eines Tages hatte ein Produzent Kontakt zu ihm aufgenommen, ihm das Blaue vom Himmel versprochen – und dann nie wieder von sich hören lassen.

Es war einen Monat her, da Jacques schließlich seinen gefürchteten Dreißigsten gefeiert hatte. Die Bilanz, die er für die vergangenen Jahre zog, empfand er als durchaus ermutigend: Er hatte sich fröhlich durch die Musik- und Kunstszene treiben lassen, war wie ein junger Hund durch die Bars der Hauptstadt und die Schlafzimmer hübscher Pariserinnen gestreift, immer neugierig darauf, ein neues Universum zu entdecken, denn er war schließlich an nichts gebunden.

Er liebte die Frauen, doch er blieb nur selten bei ihnen, jedenfalls nicht so, wie sie es sich gewünscht hätten, was ihn manchmal bekümmerte, weil er nichts Böses im Sinn hatte. Er verstand nicht, warum es nicht möglich war, nach einer leidenschaftlichen Begegnung im Bett eine ganz normale, freundschaftliche Unterhaltung zu führen.

Seitdem er als Kellner in dem schicken Sportclub arbeitete, sprachen ihn oft Frauen im besten Alter an. Frauen, die keine Lust mehr hatten, ihren untreuen Ehemännern hinterherzulaufen. Frauen, die Jacques unvergleichliche und unvergessliche Nächte bereitet hatten. Manchmal jedoch verliebten sie sich in ihn, dann wurde es schwierig. Sie unterstellten ihm, auf Jüngere zu stehen, deren Jugend sie ihm nicht bieten konnten. Wie unrecht sie hatten! Jacques liebte die Verführungskraft der Älteren, ihre Erfahrung und ihre Unaufgeregtheit.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.