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Endlich hat Sofie die Spur ihrer verschollenen Mutter gefunden. Sie verfolgt sie zusammen mit Nat, Vivi, Isa und Jean, der den Ausflug schnell bereut. Die Fahrt ist lang und Isas Vorrat an Flachwitzen unendlich. Als sie mitten in Brandenburg von Harpyien angegriffen werden, wird klar, dass etwas nicht stimmt. Was ist damals geschehen, als Sofies Mutter ihren Tod vortäuschte? Wo verbirgt sie sich? Und warum? Enthält: einen Familienausflug, französische Minotauren und das tödlichste Geheimnis von ganz Magow.
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Impressum
Die Wächter von Magow 6: Fataler Familienausflug
Text Copyright © 2021, 2023 Regina Mars
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Regina Mars
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Stadtsilhouette: © FSEID/Adobe Stock
Schwert: © shaineast/Adobe Stock
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
Langsam hatte sie genug davon zu warten.
»Wo bleibt ihr?« Sofie trat nach einer Kastanie, die am Straßenrand lag. Die grüne Stachelhülle fiel ab und eine braunglänzende Frucht schoss über den Bürgersteig.
Hinter ihr quietschten die Bremsen eines Zugs. Vor ihr, auf dem Parkplatz, hielt ein roter Passat. Der Mann, der ausstieg, hatte einen Blumenstrauß in den Händen und ein glückliches Lächeln im Gesicht. Da wurde wohl jemand abgeholt. Dieser jemand hatte echt Glück.
»Beeilt euch«, murrte Sofie und trat nach einer weiteren Kastanie. »Es ist arschkalt hier.«
Der Wind pfiff in den Kragen ihrer Lederjacke. Nicht so brutal wie in Berlin, aber kalt genug. Sie hatte Cassa in der Hauptstadt besucht, ihre beste Freundin, die jetzt so weit weg schien, als wäre sie auf dem Mond. Kurz hatte sie befürchtet, dass Cassa nicht mehr die Gleiche sein würde, nach mehreren Monaten in der Großstadt.
Aber es war alles wie immer gewesen. Sie hatten gelacht, gequatscht, Cocktails getrunken, waren durch Bars gezogen … Okay, das war anders. Daheim in Globsow-Blens gab es keine Bars. Da hatten sie sich mit Eddies Kneipe begnügen müssen, oder mit der Kegelhalle zwei Dörfer weiter.
Cassa hat's gut, dachte Sofie.
Berlin hatte ihr gefallen. Dort gab es mehr zu entdecken, mehr zu erleben, als ein einzelner Mensch schaffen konnte. Cassa kam ihr vor wie ein Fisch, der von einem winzigen Teich in den Ozean gehüpft war und jetzt wie wild mit den Flossen schlug und die Freiheit genoss.
Ja, es war schön gewesen. Aber die Großstadt war nichts für Sofie. Sie sehnte sich nach ihrem Zuhause. Nach dem Geruch von Papas Auto mit den Lammfellsitzen, nach Monikas Käsekuchen. Nach Leon, der sie heute Nacht endlich wieder im Arm halten würde. Nach seinem Geruch, der Wärme seines Körpers.
Sie seufzte leise.
»Jetzt beeilt euch mal.« Pünktlichkeit war nicht die Stärke ihrer Familie, aber fast eine Stunde Verspätung ging nun wirklich zu weit. Und keiner von ihnen reagierte auf ihre Anrufe! Sie hatte jetzt schon dreimal versucht, Papa zu erreichen.
Der Zug hinter ihr fuhr an. Der Mann mit den Blumen kam aus dem Bahnhofsgebäude, eine lachende Frau im Arm. Leute marschierten an Sofie vorbei, ernste Pendler, grinsende Jugendliche. Niemand, den sie kannte.
Sie sah auf ihr Handy, genau in dem Moment, in dem es anfing zu klingeln. Es war Enrico, ihr Ausbilder. Was wollte der jetzt?
»Hi«, sagte sie. »Was gibt's?«
Er schwieg, nur einen Moment lang. Und eine furchtbare Ahnung kroch durch ihre Brust. Fiese, stachelige Angst breitete sich aus.
»Sofie.« Enrico räusperte sich. Seufzte. »Sofie, es hat einen Unfall gegeben. Es tut mir leid.«
Die Worte klangen abgehackt, hölzern. Als würde er jedes einzelne nur mit Mühe herauspressen. Und Sofie verstand. Es war die Nachricht, die kein Polizist überbringen wollte. Selbst Enrico machte es Angst, Enrico, der schon seit über zwanzig Jahren dabei war.
Papa, dachte sie. Oder Monika. Oder … Leon?
Ihre Knie krachten auf den Bürgersteig. Der Rucksack glitt von den Schultern und Haare fielen in ihr Gesicht. Alle Kraft verließ ihren Körper. Alles, was sie noch hatte, brauchte sie, um den Hörer an ihr Ohr zu pressen.
»Was für ein Unfall?«, krächzte sie.
Sie hatte schlecht geschlafen. Wie immer, wenn sie vom Bahnhof geträumt hatte, war sie mit Kopfschmerzen und harten Kiefermuskeln erwacht.
Seltsam, dass sie immer von dem Moment davor träumte. Nie von der Fahrt zur Leichenhalle. Nie davon, wie sie das Tuch zurückgeschlagen hatten, von dem knisternden Geräusch, von dem furchtbaren Anblick. Natürlich hatte sie gesagt, dass sie es schaffte. Dass sie die Leichen identifizieren könnte.
Die Leichen.
Es waren alle gewesen. Alle drei. Es war so furchtbar gewesen, dass der Schmerz viel später angekommen war, zurückgedrängt vom weißen Rauschen der ersten Tage.
»Alles in Ordnung?«, fragte Isa. Sie kratzte sich mit dem Schwert am Rücken.
»Ja. Ja, alles gut.« Sofie richtete sich auf. »Nur schlecht geschlafen.«
Irgendwann würde sie ihren Freunden davon erzählen. Irgendwann, wenn sie nicht mehr in Tränen ausbrach, sobald sie darüber redete. Ihre Wächterkollegen hielten sie für cool und abgebrüht, und den Eindruck mochte sie so gern, dass sie ihn nicht zerstören wollte.
Isa warf das Schwert in die Luft und fing es wieder auf. »Machen wir eine Pause, hm? Das ist mir schon wieder viel zu anstrengend.«
Sofie zwang sich zu lächeln. Die Geräusche kehrten zurück, das Quietschen von Sohlen auf dem Boden, der Geruch nach Turnhalle und Schweiß. Mit ihnen trainierten ein paar Dutzend andere junge Wächter.
»Wir haben erst vor zehn Minuten angefangen«, sagte sie.
»Sag ich doch, das geht schon viel zu lange.« Isa stützte sich auf ihr Schwert und sah sich um.
Weiter hinten kämpften Nikolas und Liliflora mit den Holzschwertern. Mehrere Wächter hatten ihr eigenes Training unterbrochen, um ihnen zuzusehen. Seine schwarzen Haare und ihre grünen leuchteten, als sie sich umkreisten wie zwei Katzen, blitzschnell zustießen und sich wieder entfernten.
Isa und Sofie umkreisten sich wie zwei alte Hunde mit drei lahmen Beinen. Isa täuschte links an und schlug rechts zu. Sofie parierte, viel zu langsam.
»Nicht schlecht.« Isa grinste und schlug wieder zu. Sie erwischte Sofies Daumen.
»Aua!«
»Tschuldigung.«
»Nein, das war meine Schuld. Ich bin zu lahm.«
»He, du übst doch erst seit ein paar Wochen.«
»Monaten.«
»Na und? Das dauert. Und du machst Fortschritte. Ruh dich lieber mal aus und genieß das Leben.«
»Gute Idee, Tante Isa. Und was soll ich deiner Meinung nach tun, um das Leben zu genießen?«
»Wie lange ist dein letztes Date her?«
Sofie zögerte. »Fünf Monate? War furchtbar. Außerdem war ich erst gestern beim teambildenden Serienabend, das ist Entspannung genug.«
»Das war nett, stimmt.« Isa schlug zu. Sofie parierte, etwas schneller. »Ha! Siehst du, das wird.«
»Meinst du?« Sofie schlug zu. Isa wehrte das Schwert mit einer müden Handgelenkdrehung ab. »He, du kämpfst gar nicht richtig.«
»Bin zu faul.«
Sofie sah sie böse an. »Von wegen. Wie soll ich denn besser werden, wenn all meine Lehrer zu lieb sind, um mir wehzutun? Nat bringt mir gerade nur die richtigen Schrittfolgen bei.«
»Fordere doch Liliflora heraus, wenn du richtig kämpfen willst.«
Sofie sah nach rechts, wo Liliflora gerade einen Salto rückwärts machte, um Nikolas' Schwert zu entgehen. Sie landete elegant und stieß gleich wieder zu. Nikolas verzog das Gesicht. Sie hatte seinen Oberarm erwischt.
Sofie räusperte sich. »Ach, äh, lass mal. Aber kannst du dir ein bisschen mehr Mühe geben?«
Isa klopfte ihr mit dem Schwert auf den Kopf. »So?«
»Ja. Genauso.« Sofie seufzte.
Es war hoffnungslos. Auf der Rangliste, die groß und peinlich an der Wand hing, war ihr Name weit unten. Ganz weit. Und ihr Team war das Letzte in der Rangfolge. Was eigentlich eine Frechheit war, da sie letzte Woche die Schmugglerbande enttarnt hatten, die die magischen Amulette vertrieben hatte. Die Amulette, die gerade überall auftauchten und Schaden anrichteten.
Na gut, Nat und Jean hatten die Bande erwischt. Versehentlich. Okay, die Bandenmitglieder hatten sich größtenteils gegenseitig ausgeschaltet, während die beiden gefesselt herumgelegen hatten. Aber trotzdem.
»Bist du nervös?«, fragte Isa und hüpfte einen Schritt zurück, um Sofies Schwert zu entgehen. »Wegen morgen?«
»Nein.« Sofie setzte nach und ignorierte ihren rasanten Herzschlag. Der kam nur vom Training. »Na gut, vielleicht ein bisschen. Aber wahrscheinlich kommt eh nichts dabei rum und wir verbringen das Wochenende in einem langweiligen Kaff, wandern und sitzen abends in der Dorfkneipe.«
»Fänd ich gar nicht schlecht.« Isa lächelte. »Aber ich glaube, wir finden was. In letzter Zeit haben wir da echt … Glück. Oder Pech. Echt, gerade können wir nicht die Straße runtergehen ohne, dass uns ein Verbrecher vor die Füße fällt.«
Hoffentlich nicht. Morgen ging es los nach Neuduffelbach, um nach Sofies Mutter zu suchen. Ihrem magischen Elternteil. Die Frau, an die sie sich kaum erinnern konnte, die verschwunden war, als Sofie fünf Jahre alt gewesen war. Adina Azalea Caligari, die größte Hexe aller Zeiten. Sie hatte ihre Kraft an ihre Tochter weitergegeben, aber leider nicht ihre Selbstbeherrschung. Sofies Kontrolle über ihre Kräfte tendierte immer noch gegen null. Nicht, dass sie bis vor kurzem überhaupt eine Ahnung gehabt hatte, dass sie magische Kräfte hatte. Oder, dass ihre Mutter eine Hexe war.
»Vielleicht kann sie dir helfen, wenn wir sie finden«, flüsterte Isa. »Adina, meine ich. Die wird ja dasselbe Problem gehabt haben wie du.«
»Wenn wir sie finden.« Sofie weigerte sich, sich Hoffnungen zu machen. Ihre ganze Familie war mit einem Schlag ausgelöscht worden. Auf eine neue zu hoffen, öffnete Türen, die sie nicht öffnen wollte. »Na ja, im schlimmsten Fall haben wir einen teambildenden Familienausflug.«
»Genau. Das klingt doch ziemlich gut.«
Das klingt, als würdest du lustig in der Weltgeschichte herumziehen, statt dich um deine magische Ausbildung zu kümmern, sagte Gurke und landete auf Sofies Schulter. Er roch nach altem Frittenfett. Er war schwer. Und er war so lange weg gewesen, dass sie ihn fast vermisst hatte, den alten Täuberich.
»Runter von mir, Gurke«, sagte sie. »Ich trainiere.«
Isa hob eine Augenbraue, also setzte Sofie das Gespräch in Gedanken fort.
Wo warst du?
Hier und da, gurrte er. Und überall. Mein Privatleben ist Privatsache.
Dein Privatleben? Hast du etwa eine Taubenfamilie, von der ich nichts weiß? Gehst du zum Taubentennis und betreust ein Heim für taubstumme Taubenkinder?
Deine Witze sind so flach wie vorhersehbar. Er schüttelte die Federn. Sei lieber froh, dass ich hier bin. Sonst hätte ich nie erfahren, dass wir einen Familienausflug machen.
Ach, du kommst mit? Sie stolperte. Schön. Moment mal, wie lange bist du schon hier?
Lange genug, um deinem völligen Versagen beim Schwertkampf beizuwohnen. Eine wahre Hexe hätte mich längst bemerkt. Waldemar konnte spüren, dass ich nahte, wenn ich noch einen Kilometer entfernt war.
Und dann hat er sich versteckt, richtig?
Natürlich nicht! Täubisches Räuspern. Nun ja, von Zeit zu Zeit wünschte er, seine Ruhe zu haben. Er war ein Genie, weißt du? Er musste nachdenken.
Die Taube behauptete immer noch, vor 300 Jahren Waldemar dem Wüsten gedient zu haben, dem größten Magier aller Zeiten. Und der größten Saufnase. Ihre Freunde hatten Sofie versichert, dass das nicht sein konnte. Und Frau Murik, ihre Ausbilderin, hatte gesagt, dass Gefährten ein durchschnittlich langes Tierleben hatten. Wenn ein Gefährte starb, bekam man einen neuen. Also log die Taube. Das musste sie einfach.
Ich wette, Waldemar hat dich mit einer Fliegenklatsche verscheucht, wenn du ihn beim Nachdenken gestört hast.
Natürlich nicht. Ein oder zwei Mal hat er mit einer Weinflasche nach mir geworfen. Aber das war selbstverständlich nur ein Scherz.
Selbstverständlich.
Und? Wann fahren wir los?
»Hast du deine Zahnbürste eingepackt? Und ein Handtuch?« Cassa sah sie fragend an.
»Ich hab alles, Mutti.«
»Nicht so frech, junge Dame.«
Sie saßen auf den Stufen ihres Hauses, Sofie mit dem Rucksack auf den Knien und Cassa mit einem Lächeln im Gesicht. Autos tuckerten über das Kopfsteinpflaster vor ihnen. Die Abendsonne färbte ihre Scheiben orange. Der Wind wurde kälter und Sofie klappte den Kragen ihrer Lederjacke hoch. Etwas klopfte an ihr Gedächtnis. Es war Herbst, genau wie damals. Der Baum gegenüber trug Kastanien. In regelmäßigen Abständen fielen grüne Stachelkugeln auf den Gehweg und gaben ihren Inhalt frei. Sie schauderte.
»Oh, Soffie! Ich bin so froh, dass du wieder was unternimmst. Einen richtigen Ausflug mit deinen komischen Nachtwächterfreunden!« Cassa grinste. »Sag ehrlich, ist da einer dabei, der dich interessiert?«
»Was?« Sofie sah ihre Freundin verständnislos an.
Cassa grinste noch breiter. »Komm schon, wie lange ist dein letztes Date her?«
Erst Isa und jetzt auch noch Cassa? »Fünf Monate und es war furchtbar. Das weißt du.«
»Oh, war das der Typ, der unser Basilikum geklaut hat?«
»Ja.« Sofie schüttelte den Kopf. »Er hat den halben Abend von seiner Exfreundin geredet.«
»Warum hast du den überhaupt mit nach Hause gebracht?«
Sofie zuckte mit den Achseln. »Ich wollte … Ich dachte … Keine Ahnung. Ich glaube, ich wollte wieder etwas fühlen. Seit Leon …« Sie atmete tief ein. »Ich fühle nichts mehr, seit Leon. Gar nichts. Ich bin total unromantisch geworden.«
Hoffentlich verstand Cassa, dass sie nicht mehr drüber reden wollte.
»Das versteh ich, Soffie.« Cassa strahlte. »Höchste Zeit, dass einer deine Gefühle wiedererweckt. Hast du Kondome dabei?«
»Nein.« Hoffentlich hörte Gurke nicht zu. Sofie sah zu der Regenrinne im fünften Stock hoch, auf der er ein Nickerchen hielt. Wie weit ging ihre telepathische Verbindung? »Brauch ich nicht.«
»Aber was, wenn doch?« Cassa stupste sie mit dem Ellenbogen an. »Was dann?«
»Cassa. Ich bin noch nicht so weit.« Sofie sah auf ihre schwarzen Stiefel. Sie waren staubbedeckt und abgetreten. »Vielleicht nie wieder.«
»Ach, Soffie.« Cassa legte den Arm um ihre Schultern. »Das war doch nur Spaß … Whoah!« Sie stupste Sofie an. Die sah auf.
Ein grauer Nissan bremste vor ihnen, auf dessen Flanke man mehrere heulende Wölfe und einen Vollmond gesprüht hatte. »Grimm-Rudel – wild, stark und frei« stand darauf. Isa saß hinter dem Lenkrad und winkte. Neben ihr hockte Vivi und die hintere Bank teilten sich Jean und Nat. Der Vampir hatte sein Lieblings-Tagesoutfit an: eine Burka.
»Hallo!«, rief Isa durch das offene Fenster. »Sorry, dass wir so spät sind. Auf der Merlinstraße war Stau.«
Sofie warf Cassa einen Seitenblick zu. Aber der war der seltsame Straßenname nicht aufgefallen. »Hi!«, rief sie und winkte ins Innere. Dann beugte Cassa sich zu Sofie rüber und flüsterte: »Soffie! Der Kerl da. Hot!«
Sofie wusste erst nicht, wen sie meinte. Nat war verdeckt und der einzige andere Kerl war … Sie stutzte.
Sie hatte Jean seit dem teambildenden Pizzaessen nicht mehr gesehen und da war er gezeichnet von seiner Gefangenschaft gewesen. Nun sah er deutlich gesünder aus. Und besser. Bisher war ihr nie aufgefallen, dass sein Gesicht so symmetrisch war, als hätte es ein ziemlich begabter alter Grieche gemeißelt.
Das Amulett, dachte sie. Das liegt daran.
Trotz seiner verschränkten Arme und des genervten Gesichtsausdrucks wirkte er lockerer als sonst. Er hatte sich verändert, in den paar Tagen, seit sie ihm das Amulett geschenkt hatten. Das Ding, das seine Kräfte unterdrückte. Anscheinend hatte er sich so weit entspannt, dass sein natürlich gutes Aussehen zum Vorschein kam. Incubi halt. Die hatten alle Gesichter wie Models.
Cassa strahlte ihn an. »Hi, ich bin Cassa. Schön, euch kennenzulernen.«
Jean nickte nur, aber Isa und Vivi begrüßten sie.
»Hallo«, sagte Nat. »Sofie erzählt dauernd von dir.«
»Echt? Was …« Cassa legte den Kopf schief und sah ihn an. »Du klingst wie ein Mann.«
»Ich bin ein Mann.« Seine Stimme klang dumpf durch den schwarzen Stoff. »Ich habe eine schwere Sonnenlichtunverträglichkeit und muss meine Haut tagsüber bedecken.«
»Ach so.« Cassa zögerte einen Moment. Dann strahlte sie. »Cool. Also, dass ihr einen Ausflug macht. Nächstes Mal komme ich mit, wenn ich nicht mitten in den Prüfungen stecke.«
Sofie zögerte noch, Cassa und ihre magischen Freunde zusammenzubringen. Es würde eine Menge Erklärungen geben müssen und sehr viel Vertuschung und ab und zu würde Cassa das Gedächtnis verlieren müssen und das wollte sie nicht. Fremden Leuten Memorial Ex ins Gesicht zu sprühen war eine Sache, aber ihrer besten Freundin? Es würde sich wie Verrat anfühlen.
»Ja, komm mit.« Sie hörten Nats Lächeln. »Fünf ist eine zu ungerade Zahl. Wir können nie gleich große Teams beim Spieleabend bilden.«
»Ich liebe Spieleabende!« Cassa strahlte, dann beugte sie sich zu Sofie hinüber. »Soffie! Der Kerl da. Bist du sicher, dass du keine Kondome brauchst?«
»Nein«, zischte sie zurück.
»Ganz sicher?«
»Ja.« Jean war jetzt hübscher als früher, aber weder war er ihr Typ, noch fühlte sie irgendetwas, wenn sie in seine symmetrische Fresse schaute. Außerdem endete Sex mit einem Incubus gern mal tödlich.
Etwas knisterte und Cassas Hand schob sich in Sofies Hosentasche. »Trotzdem, hier ist eins. Nur für den Fall.«
Sofie sah sie böse an. Dann umarmte sie Cassa, wünschte ihr viel Glück beim Lernen und stieg in den Wagen. Gurke flatterte in letzter Sekunde hinein und machte es sich auf ihrer Schulter bequem.
»Ich wusste gar nicht, dass du ein Auto hast, Isa.«
Sie versuchte, neben Nat Platz zu finden, welcher wiederum neben Jean saß, der wütend aus dem Fenster starrte und wirkte, als sei er in der Hölle gelandet.
»Hab ich von meinem Vater geliehen«, sagte Isa und startete. Der Motor surrte und sie rollten los. Ein herber Unterschied zum Putzmobil, das startete wie ein Hustenanfall. »Hier passen wir alle rein.«
Sofie lehnte sich in den Polstern zurück. Irgendwie fühlte sie sich gut. Als hätte ein neues Kapitel begonnen.
Sie bogen in die Görlitzer Straße ein und fuhren mit der Bahn um die Wette. Die Straßen waren voll mit lachenden, essenden, telefonierenden Leuten. Ja, so langsam fühlte Sofie wieder etwas. Zum ersten Mal seit Langem hatte sie Lust, wegzugehen, auch durch die Straßen zu schlendern, sich lebendig zu fühlen.
»Wir versuchen, Jean zum Lachen zu bringen«, sagte Isa und wandte sich um. »Aber er springt nicht auf meine guten Flachwitze an.«
»Die sind das Letzte.« Jeans Gesicht verzog sich zu seiner Fußballtrainerfresse.
»Gar nicht. He, ich hab noch einen.«
»Will ich nicht hören.«
»Was ist weiß und schaut durchs Schlüsselloch?«
»Deine Mutter?«
Isa lachte. »Fast. Ein Spannbettlaken. Verstehst du? Ein SPANNbettlaken.«
Niemand sonst lachte, aber das störte Isa nicht. Sie hatte noch mehr auf Lager und erst als sie am Teupitzer See vorbeifuhren, hörte sie auf. Mit entspannten 120 km/h brausten sie die A13 entlang.
Nat streifte die Burka ab, sobald das letzte Rot am Horizont verschwunden war. Mit einiger Mühe, da sein Arm immer noch in einer Schlinge hing. Sofie half ihm.
»Geht's?«, fragte sie und deutete auf die blaue Schlinge.
»Ja, schon viel besser«, sagte er. »Vampire regenerieren schneller als Menschen. Vor allem, wenn wir genug Blut trinken. In ein paar Tagen ist es verheilt.«
»Du wärst noch schneller verheilt, wenn du mein großzügiges Angebot angenommen hättest«, sagte Isa von vorn.
»Nein, danke.« Nat schüttelte den Kopf. »Und außerdem schmeckt Werwolfblut nach nassen Hundehaaren, hab ich gehört.«
»Woher willst du das wissen, wenn du es nicht probiert hast?« Sie lachte.
»Ich will das gar nicht wissen.«
»Na gut.« Sie zuckte mit den Achseln.
»Du hast ihm angeboten, dein Blut zu trinken?«, fragte Sofie. »Du?« Die Werwölfin konnte ihr eigenes Blut nicht sehen.
»He, dann wäre er schneller wiederhergestellt. Nichts heilt einen Vampir schneller als Menschenblut. Oder Menschenähnlichenblut, oder wie das heißt.«
Sofie sah Nat an. Der wirkte ungewöhnlich verbissen.
»Ich kann dir auch ein bisschen Blut spenden, wenn du Werwolfblut eklig findest«, sagte sie und wunderte sich, wie normal ihr das Gespräch vorkam. So war das wohl, wenn man mit einem Vampir, einem Werwolf, einem Incubus und einer Meerjungfrau unterwegs war. »Wenn du dann schneller gesund wirst.«
»Nein. Ich trinke aus Prinzip kein Menschenblut«, sagte er. »Oder menschenähnliches Blut. Oder magisches.«
»Warum? Bist du so was wie ein Vampir-Veganer?«
»Es ist illegal. Und das zu Recht.« Er sah zu Boden. »Wir verfallen in einen Blutrausch, wenn wir frisches Menschenblut trinken. Es … ist nicht schön. Jean kann das bestätigen. Er hat es erst vor Kurzem gesehen.«
Jean sah aus dem Fenster. »He, du hast doch rechtzeitig aufgehört. Leider.«
»Ja, weil es nur ein Tropfen war.« Nats Adamsapfel hüpfte. »Wäre es mehr gewesen, hätte ich diesen armen Succubus leergesaugt und umgebracht.«
Jean verzog den Mund. »Dieser arme Succubus hat drei Zwerge und einen Vampir auf dem Gewissen.« Er verharrte. »Haben sie die gefunden?«
Vivi räusperte sich. Sie sahen nur ihren Hinterkopf und mit abgewandtem Gesicht war sie noch schwerer zu verstehen. »Ja. Sie haben sie vorgestern aus dem See gezogen. Drei Kopfschüsse, einer mit durchgeschnittener Kehle, einer, nun …«
»Totgevögelt?«, schlug Sofie vor.
»Hast du das aus dem streng geheimen Intranet?«, fragte Isa.
»Nein, äh, das hat Gantar mir erzählt. Er hat es von Hinnerk gehört, und der hat es in der Kantine aufgeschnappt.«
»Hatten die Profi-Wächter nicht den Fall übernommen?«, fragte Sofie. »Ich meine, unterliegt der nicht der höchsten Geheimhaltungsstufe?«
Die anderen zuckten mit den Achseln. Die Geheimnisse der Zentrale waren notorisch schlecht geschützt.
Kein Wunder, dass Adina ihren eigenen Tod vorgetäuscht hatte. Eine Sekte war hinter ihr her gewesen. Wenn sie sich auf den Schutz der Wächter verlassen hätte, wäre sie wohl längst tot. Vermutlich hatte sie lieber auf eigene Faust eine neue Identität angenommen und war an den Oderbruch geflüchtet. Hatte eine Familie gegründet und ein unscheinbares Leben geführt.
Nur, warum war sie dann ein zweites Mal untergetaucht? Warum hatte sie ihre Tochter verlassen und war verschwunden?
Die Zeit verging mit weiteren Flachwitzen, mürrischem Schweigen und einer Diskussion darüber, welche Playlist für einen teambildenden Familienausflug passte. Schließlich gewann »Disney-Soundtracks Instrumental« mit zwei Stimmen: Nat und Vivi. Während Sofie die aufkeimende Rührung unterdrückte, als »King of Pride Rock« durch das Wageninnere schallte, blinzelte Nat ungehemmt Tränen weg. Bäume zogen links und rechts vorbei, gefolgt von weiteren Bäumen und noch mehr Bäumen. Eichen, Buchen, Kastanien und Birken wurden zu einem grünen, weißen und braunen Mischmasch und irgendwann wussten sie nicht mehr, wie lange sie schon gefahren waren. Alles sah gleich aus.
Es war stockfinster, als sie sich Neuduffelbach näherten.
»Sieben Kilometer«, sagte Isa und griff in die Chipstüte zwischen ihr und Vivi. »Fast da. Schon aufgeregt, Sofie?«
»Ein bisschen.« Das war untertrieben. Es prickelte in ihrem Magen und sie konnte nicht stillhalten. Gurke, der auf ihrer Schulter eingeschlafen war, wachte auf und beschwerte sich. Dann döste er wieder weg. Sie hörte sein Tauben-Geröchel, viel zu nah an ihrem Ohr.
Adina würde nicht mehr hier sein, oder? Bestimmt nicht. So lange hielt es niemand an einem Ort aus, wenn er auf der Flucht war. Vor was auch immer. Einer Sekte zum Beispiel.
»Wurde auch Zeit«, sagte Jean mit der Erschöpfung eines Mannes, der die Flachwitze satt hatte, und zutiefst bereute, einem teambildenden Familienausflug zugestimmt zu haben. »Ich kann keine Bäume mehr sehen.«
»Grün entspannt die Nerven«, behauptete Nat, der teambildende Familienausflüge liebte.
Isa grunzte. »Also mir reicht's auch mit der NatuAAAH!«
»AAAAAH!«, stimmten die anderen ein.
Etwas Riesiges prallte gegen die Windschutzscheibe. Sofie sah dunkle Federn, gigantische Klauen und dann splitterte Glas. Tausende Scherben regneten ins Innere, auf Vivi und Isa hinab.
Sofie drängte sich an die Rückenlehne und versuchte, mit ihr zu verschmelzen. »Was ist DAAAAAH!!!«
Ledrige Klauen drangen durch die geborstene Scheibe. Giftig gelb mit gebogenen schwarzen Spitzen, groß wie Dolche. Sie packten Vivi an der Schulter. Sofie erkannte nichts, aber sie handelte instinktiv: Sie schnappte nach dem einzigen Teil der Meerjungfrau, den sie erreichen konnte: ihrem Arm. Ein Dutzend goldene Armbänder klimperte. Ein Ruck und Sofie wurde nach vorne gerissen. Der Sicherheitsgurt hielt sie zurück. Quetschte ihr die Luft aus den Lungen.
Vivi schrie. Ihr Arm entglitt Sofies Fingern.
»Babe!« Isa hatte sich abgeschnallt. Sie griff nach Vivis Arm, aber die wurde durch die offene Windschutzscheibe gezerrt, heraus aus ihrem Sicherheitsgurt. Sie sahen die Sohlen ihrer goldenen Sneakers. Panisches Zappeln.
Isa sprang über das Lenkrad auf die Motorhaube. Dunkle Flügelspitzen schlugen, Isa duckte sich, schnellte hoch und verschwand. Über ihnen kreischte etwas, schrill.
Sofie öffnete die Tür und stolperte aus dem Auto.
Blöde Idee, flüsterte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Sie ignorierte sie. Jean war auf der anderen Seite ausgestiegen.