Federgold - Regina Meißner - E-Book

Federgold E-Book

Regina Meißner

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Beschreibung

Prinzessin Idalia ist seit ihrer Kindheit Prinz Elric aus dem benachbarten Königreich Syllitist versprochen, und endlich ist der Tag da, an dem sie ihn persönlich treffen wird. Ihre Magd Scarlett soll sie zu ihm begleiten, doch diese hegt ihre eigenen Absichten. Getrieben von dunkler Magie überwältigt sie die Prinzessin und stiehlt deren Identität, um an ihrer statt den Thron zu besteigen. Idalia gibt allerdings nicht kampflos auf und nimmt eine Arbeit als Gänsemagd an. Sie will einen Plan schmieden, um ihr Geburtsrecht zurückzuerlangen. Unerwartete Hilfe erhält sie dabei von Norik, einem rastlosen Wanderer, dessen Geheimnisse bald schon zu Idalias Bürde werden könnten – ganz zu schweigen von dem Gefühlschaos, in das er sie stürzt. Doch je mehr sie über Scarlett in Erfahrung bringen, desto stärker kristallisiert sich heraus, dass die wahre Gefahr nicht in den dunklen Kräften der ehemaligen Magd, sondern vielmehr in den finsteren Wäldern des Reiches lauert. Und den unheilvollen Kreaturen, die dort leben, um jeglichen Vorhaben der Menschen einen Strich durch die Rechnung zu machen.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Kapitel 1 - Idalia

Kapitel 2 - Scarlett

Kapitel 3 - Idalia

Kapitel 4 - Scarlett

Kapitel 5 - Idalia

Kapitel 6 - Scarlett

Kapitel 7 - Idalia

Kapitel 8 - Scarlett

Kapitel 9 - Idalia

Kapitel 10 - Scarlett

Kapitel 11 - Idalia

Kapitel 12 - Scarlett

Kapitel 13 - Idalia

Kapitel 14 - Scarlett

Kapitel 15 - Idalia

Kapitel 16 - Scarlett

Kapitel 17 - Idalia

Kapitel 18 - Scarlett

Kapitel 19 - Idalia

Kapitel 20 - Scarlett

Kapitel 21 - Idalia

Kapitel 22 - Scarlett

Kapitel 23 - Idalia

Kapitel 24 - Scarlett

Kapitel 25 - Idalia

Kapitel 26 - Scarlett

Kapitel 27 - Idalia

Kapitel 28 - Scarlett

Kapitel 29 - Idalia

Kapitel 30 - Scarlett

Kapitel 31 - Idalia

Kapitel 32 - Scarlett

Kapitel 33 - Idalia

Kapitel 34 - Scarlett

Kapitel 35 - Idalia

Kapitel 36 - Scarlett

Zwischenspiel: Ein Fund mit Folgen - Scarlett

Kapitel 37 - Idalia

Kapitel 38 - Scarlett

Kapitel 39 - Idalia

Kapitel 40 - Scarlett

Dank/Schlusswort

 

Regina Meißner

 

 

Federgold

 

 

 

Fantasy

 

 

 

Federgold

Prinzessin Idalia ist seit ihrer Kindheit Prinz Elric aus dem benachbarten Königreich Syllitist versprochen, und endlich ist der Tag da, an dem sie ihn persönlich treffen wird. Ihre Magd Scarlett soll sie zu ihm begleiten, doch diese hegt ihre eigenen Absichten. Getrieben von dunkler Magie überwältigt sie die Prinzessin und stiehlt deren Identität, um an ihrer statt den Thron zu besteigen. Idalia gibt allerdings nicht kampflos auf und nimmt eine Arbeit als Gänsemagd an. Sie will einen Plan schmieden, um ihr Geburtsrecht zurückzuerlangen. Unerwartete Hilfe erhält sie dabei von Norik, einem rastlosen Wanderer, dessen Geheimnisse bald schon zu Idalias Bürde werden könnten – ganz zu schweigen von dem Gefühlschaos, in das er sie stürzt. Doch je mehr sie über Scarlett in Erfahrung bringen, desto stärker kristallisiert sich heraus, dass die wahre Gefahr nicht in den dunklen Kräften der ehemaligen Magd, sondern vielmehr in den finsteren Wäldern des Reiches lauert. Und den unheilvollen Kreaturen, die dort leben, um jeglichen Vorhaben der Menschen einen Strich durch die Rechnung zu machen.

 

 

Die Autorin

Regina Meißner wurde am 30.03.1993 in einer Kleinstadt in Hessen geboren, in der sie noch heute lebt. Als Autorin für Fantasy und Contemporary hat sie bereits viele Romane veröffentlicht. Weitere Projekte befinden sich in Arbeit.

Regina Meißner hat Englisch und Deutsch auf Lehramt in Gießen studiert. In ihrer Freizeit liebt sie neben dem Schreiben das Lesen und ihren Dackel Frodo.

 

 

 

 

 

 

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Juni 2023

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2023

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Wolma Krefting

Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-270-0

ISBN (epub): 978-3-03896-271-7

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für all die,

die mit Märchen aufgewachsen sind

und auch heute noch Trost

in einer guten Geschichte suchen.

Kapitel 1 - Idalia

 

Sie war im sicheren Glauben großgeworden, dass nichts für immer war. Dass alles irgendwann endete und das irdische Leben nur eine zeitlich begrenzte Episode darstellte. Idalia wusste, dass ihre Eltern nicht ewig da sein würden, schließlich hatte der frühe Tod ihres Vaters genau das gezeigt.

Und doch hatte sie das Wissen um das Ende immer weit von sich geschoben, in der Hoffnung, der Sensenmann würde sie selbst und alle, die sie liebte, verschonen.

Obwohl Idalia verstand, dass der Tod der sicherste Teil eines jeden Lebens war, hatte sie nicht mit ihm gerechnet. Zumindest nicht so früh.

Die Augen niedergeschlagen auf den Boden gerichtet, die Hände schützend vor der Brust verschränkt, hastete sie durch den Korridor. Der Tag hatte einer unbehaglichen Nacht Platz gemacht, die von einem blassen Mond am Firmament begleitet wurde.

Nur kurz ließ Idalia den Blick nach draußen schweifen, in den herrschaftlichen Schlossgarten und auf die dunklen Tannen, die hinter ihm aufragten. Ihre Hand ballte sich zur Faust, dabei war es nicht Wut, die sie empfand. Sondern Überforderung.

Vor einer imposanten Tür blieb sie stehen. Schaffte es nicht, am Knauf zu drehen, nicht einmal, anzuklopfen. Denn wenn sie das Zimmer erst betreten hatte, konnte sie die grausame Wahrheit nicht mehr leugnen.

Idalias Kehle war wie zugeschnürt. Obwohl ihr Kleid aus schwerem Samt bestand, fror sie. Als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, schreckte sie zusammen.

»Da bist du ja.« Ein Paar moosgrüner Augen schaute sie besorgt an. »Wo hast du dich so lange herumgetrieben?«

Die Prinzessin zog die Schultern hoch, unfähig, etwas zu sagen. Nahm wie durch einen Schleier wahr, wie ihre Amme die Tür öffnete und sie sanft in den Raum schob.

»Es ist Zeit, auf Wiedersehenzu sagen.«

Idalia stolperte in das Zimmer, ehe sie sich hilfesuchend nach Daphne umschaute. Lass mich nicht allein, flehten ihre Lippen stumm.

Die Tür wurde hinter ihr geschlossen. Dem Raum, in dem sie sich befand, fehlte die frische Luft. Die Fenster waren mit schweren, roten Vorhängen verdeckt. Eine einzelne Kerze auf dem Nachttisch sorgte für Beleuchtung.

Idalia blieb in sicherer Entfernung zum Bett stehen. Obwohl sie ihre Mutter Dutzende Male in demselben Zustand gesehen hatte, war sie doch nie auf den Anblick vorbereitet.

Die Krankheit hatte eine dürre Kreatur aus der Frau gemacht, die nichts mehr mit jener gemein hatte, die sie, Idalia, großgezogen hatte. Das einst dunkelrote, volle Haar war dünn geworden und binnen weniger Wochen ergraut. Die damals strahlend blauen Augen blickten nur noch dumpf und traurig drein. Das, was Idalia jedoch am meisten Angst bereitete, war der gräuliche Ton der Haut, der jeden Tag etwas mehr von ihrer Lebendigkeit raubte.

Tief in sich spürte sie, dass das Ende nah war. Dass sie das letzte Mal an das Kiefernbett trat, auf dem Teppich davor auf die Knie sank und nach der eiskalten Hand ihrer Mutter griff. Dass es das letzte Mal war, dass sie ihr das spinnwebfeine Haar aus dem Gesicht strich und ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte.

Wie sehr wünschte sie sich, dass ihre Mutter noch einmal lächelte!

»Idalia«, sagte die Königin mit brüchiger Stimme. »Mein wunderschönes Kind.«

Mühsam kämpfte die Prinzessin gegen die Tränen an. »Wie geht es dir?«, flüsterte sie.

»Ich habe Frieden gefunden«, erwiderte ihre Mutter schlicht.

»Ich möchte nicht, dass du gehst.« Idalia rückte näher an das Bett heran, drückte die Hand der Königin etwas fester. »Es muss doch eine Möglichkeit geben. Vielleicht können wir einen anderen Doktor fragen …«

Das kleine, aber bestimmte Kopfschütteln ihrer Mutter brachte sie zum Schweigen. »Wir haben alles versucht.«

»Ich werde nicht aufhören zu kämpfen«, erwiderte Idalia entschieden.

»Aber ich will nicht mehr kämpfen.« Mühsam richtete sich ihre Mutter auf. »Ich bin bereit für die letzte Reise.«

Idalia schluchzte. »Wie soll ich ohne dich leben?«

»Schau mich an«, bat die Königin. »Ich weiß, dass es nicht leicht wird. Das ist es nie. Aber ich weiß auch, dass du es schaffen kannst. Weil du eine wundervolle, selbstständige junge Frau bist.« Tränen schimmerten in ihren Augen. »Ich würde dich nicht allein lassen, wenn ich mir nicht ganz sicher wäre, dass du ohne mich zurechtkommst.«

»Aber das tue ich nicht«, protestierte Idalia. Ihr Blick war tränenverhangen. Mit letzter Kraft richtete sie sich auf und nahm auf dem Stuhl Platz, den Daphne ihr neben das Bett gestellt hatte.

»Ich habe dich zu mir gerufen, weil ich einige Dinge mit dir besprechen muss, ich …« Ein röchelnder Husten erschütterte den dürren Körper der Königin.

»Du bist jetzt achtzehn Jahre alt«, hauchte sie schließlich. »Es ist Zeit, an deine Zukunft zu denken.«

Idalias Mutter deutete auf das braune Schmuckkästchen auf dem Nachttisch. Es war seit Generationen in der Familie, schon Idalias Großmutter hatte ihre Besitztümer darin verwahrt.

»Darin befindet sich alles, was von Wert ist«, erklärte ihre Mutter. »Juwelen und Schmuck. Ich habe alles für dich aufgehoben, damit dein Auskommen gesichert ist.«

Idalia hob den Deckel des Kästchens an. Ließ ihre Finger über Perlenketten und goldene Armbänder gleiten, ohne irgendetwas zu fühlen. »Was soll ich damit?«

»Sieh es als Geschenk für Prinz Elric an.«

Die Erwähnung seines Namens lichtete Idalias Blick für eine Sekunde.

»Du bist eine erwachsene Frau.« Kraftlos strich ihre Mutter über ihren Unterarm. »Eine Augenweide noch dazu. Prinz Elric wird sich überglücklich schätzen, dich zu seiner Gemahlin zu nehmen.«

»Das heißt, es ist so weit? Ich soll nach Syllitist reisen?«

Ihre Mutter nickte – und trotz all der Trauer und Hoffnungslosigkeit spürte Idalia eine erste, vorsichtige Freude.

»Nimm dir nach meinem Tod so viel Zeit, wie du brauchst. Du sollst dich nicht betrübt auf die Reise begeben. Immerhin heiratest du den Mann, von dem du schon so lange träumst.«

Da war es – ihr Lächeln. Für einen Moment verflüchtigte sich der dumpfe Ausdruck ihrer Augen.

Idalia schloss den Deckel des Schmuckkästchens. »Weiß er Bescheid?«

Die Königin nickte. »Wir sind an den Hof herangetreten, als wir wussten, dass ich nicht mehr gesund werden würde. Er kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen.«

Prinzessin Idalia ging es nicht anders. Ihr Leben lang wartete sie auf diesen Moment, hatte bloß gehofft, dass er unter glücklicheren Umständen eintreffen würde. Obwohl sie versuchte, Haltung zu bewahren, brach in diesem Moment alles über ihr zusammen. »Ich werde dich so vermissen«, schluchzte sie. Und da niemand sonst im Raum war, der sie für ihre ungefilterten Emotionen rügen konnte, kroch sie zu ihrer Mutter unter die Bettdecke.

»Ich bin unheimlich stolz auf dich«, flüsterte die Königin und legte ihren knochigen Arm um sie. »Du bist genauso geworden, wie ich es mir immer erträumt habe. Ich liebe deinen Großmut, deine Selbstlosigkeit und deine Freundlichkeit.«

Idalia weinte leise vor sich hin. Schon jetzt war der Körper ihrer Mutter kalt und sie fürchtete sich vor dem Moment, in dem auch die letzte Wärme aus ihr weichen würde.

»Ich möchte, dass du Baron mitnimmst«, sagte die Königin.

Überrascht hob Idalia den Kopf. »Baron? Ich habe ihn noch nie geritten.«

»Das macht nichts. Er war mir zeit seines Lebens ein treuer Begleiter und wird auch dich sicher ans Ziel bringen.« Für einen Moment wurde ihr Blick verklärt.

»Nimm dir Zeit, ihn kennenzulernen und dich auf ihn einzustellen. Baron ist ein altes Pferd, nicht mehr ganz so schnell wie vor ein paar Jahren – aber er wird dich nicht enttäuschen.«

»Danke«, murmelte Idalia, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.

Der Gedanke, den stattlichen Hengst ihrer Mutter zu reiten, bereitete ihr eine Heidenangst, dabei war sie geübt im Umgang mit Pferden. Aber ihre Stute Daniya, mit der sie über Felder und Wiesen preschte, war nicht im Geringsten mit Baron zu vergleichen.

Die Königin drehte sich vorsichtig um, sodass sie ihrer Tochter direkt in die Augen sehen konnte. Sanft strich sie ihr über die Wange, eine Mischung aus Stolz und Reue im Blick.

»Reite nach Syllitist, vereine unsere Königreiche und werde an Prinz Elrics Seite zur glücklichsten Version deiner selbst.«

Idalia senkte den Kopf. »Wie soll ich glücklich werden, wenn du nicht mehr da bist?«

»Was dir jetzt noch unmöglich erscheint, wird mit der Zeit leichter werden. Das verspreche ich dir.« Die Mutter drückte ihre Hand.

»Hast du Angst?«, brach es aus Idalia heraus, dabei war sie immer genau davor zurückgeschreckt. Vor der Frage nach dem Danach.

Zu ihrer Überraschung schüttelte die Königin den Kopf. »Ich fühle mich geborgen.« Da war eine tiefe Überzeugung in ihrer Stimme, sodass Idalia ihr glauben wollte.

»Tust du mir einen letzten Gefallen?«, bat die Königin sie. »Zieh die Vorhänge auf. Ich möchte noch einmal den Mond sehen.«

Idalia krabbelte unter der Decke hervor und lief zum Fenster. Mit einem Ruck zog sie die schweren Stoffbahnen beiseite, bis sie freie Sicht auf den Nachthimmel und die blasse Mondsichel hatte.

»Er wird mich für immer an dich erinnern«, murmelte sie, ehe sie sich zu ihrer Mutter umdrehte. Deren Augen waren aufgerissen, das Lächeln auf den Lippen erstarrt.

Eiskalte Panik ergriff von Idalia Besitz, während sie zum Bett hastete und ihre Finger um das Handgelenk der Königin legte. Hektisch suchte sie nach einem Pulsschlag, und als sie keinen fand, presste sie das Ohr auf den Brustkorb ihrer Mutter, in der Hoffnung, dass deren Herz noch schlug.

»Nein, nein, bitte nicht …«, flehte Idalia. Dann versagten ihre Beine den Dienst.

Kapitel 2 - Scarlett

 

Drei Wochen später

 

Es gab eine Zeit in ihrem Leben, da hatte sie sich vor der Sonne gefürchtet. Vor ihrem Glanz, ihrer Strahlkraft und der Tatsache, dass sie jeden noch so dunklen Ort erhellen konnte. Davor, dass sie Dinge zum Vorschein brachte, die man nicht zeigen wollte und lieber im Verborgenen hielt.

Und auch heute konnte Scarlett dem Lichtspektakel nicht viel abgewinnen, wenngleich es zugegebenermaßen schön anzusehen war. Dennoch sehnte sie sich nach kalten Tagen, nach Abenden, an denen es früh dunkel wurde und die Sonne sich auch am nächsten Morgen nur sporadisch zeigte.

Scarlett ließ sich rücklings ins Moos fallen. Über ihr spannte sich ein wolkenloser blauer Himmel, der jeden am Hofe Ryzunds begeistert hätte, ihr selbst jedoch nur ein müdes Lächeln entlockte. Der Korb neben ihr war mit Pfifferlingen gefüllt. Obwohl sie schon gestern Pilze im Palast abgegeben hatte, war sie heute noch einmal losgezogen.

So undurchdringbar und schaurig der Wald auch manchmal wirkte, er war ihr Zuhause. Der einzige Ort, an dem sie sich wirklich wohlfühlte.

Entschlossen griff sie nach dem Korb und spazierte tiefer ins Dickicht hinein. Auf den breiten Wegen traf man öfter auf Wanderer oder Kutschen, auf Menschen, die sie grüßten und sich im schlimmsten Fall mit ihr unterhalten wollten. Doch je weiter sie in den Wald eindrang, desto leiser wurden die Geräusche der Menschenwelt.

Sie lief an hochgewachsenen Tannen vorbei, stieg über einen Stamm hinweg, für den der letzte Sturm verantwortlich war, und stillte ihren Durst an einer Quelle zwischen Farnen und Büschen. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto aufgeregter wurde sie, spürte beinahe so etwas wie Freude.

Scarlett kletterte eine moosbewachsene Anhöhe hinauf, lief dann einen Hügel hinab, bis sie eine versteckte Lichtung erreichte, die die Sonne geheimnisvoll zum Leuchten brachte. In unmittelbarer Nähe einer uralten Eiche, die ihre Wurzeln tief in den Boden grub, befand sich ein Loch im Waldboden.

Scarlett grinste, dann klopfte sie dreimal auf die Erde, die die Öffnung verbarg. Geduldig wartete sie, bis von innen ein Rascheln zu hören war. Kurz darauf kämpfte sich eine schwarze Schnauze durch den Boden, umrahmt von einem dichten Kranz von Schnurrhaaren.

Der Fuchs hatte sie sofort erkannt, dafür reichte ein Hauch ihres Geruchs. Blitzschnell schob er sich durch das enge Loch nach draußen und umkreiste Scarletts Füße wie eine verliebte Katze.

Lachend beugte sie sich zu dem Tier hinab und strich über sein rotbraunes Fell, das nach Erde und Wald roch.

»Nokano«, sprach sie ihn bei dem Namen an, dem sie ihm gegeben hatte. »Ich habe mich den ganzen Tag auf dich gefreut.«

Als der Fuchs mit den Ohren wackelte, wünschte sie sich nicht zum ersten Mal, die Sprache der Tiere verstehen zu können. Doch das war eine Fähigkeit, die ihr niemand mitgegeben hatte und die sie sich nicht beibringen konnte.

Nokano warf sich zu ihren Füßen auf den Rücken und streckte ihr seinen weißen Bauch entgegen. Sie gesellte sich zu ihm, die Beine zum Schneidersitz angezogen. Der Boden war matschig, nass vom Regen der letzten Nacht, doch ihr Kleid brauchte ohnehin eine Wäsche.

Kaum hatte sie Platz genommen, sprang Nokano auf ihren Schoß und ließ sich von ihr hinter den Ohren kraulen. Dass sein Verhalten für einen Fuchs ungewöhnlich war, wusste Scarlett. Vielleicht mochte sie ihn deswegen so gern. Weil seine Spezies ihm vorschrieb, wie er zu sein hatte und er sich dem widersetzte.

Sie griff in den Lederbeutel, der um ihre Hüfte hing, und holte das saftige Stück Fleisch, das sie aus der Schlossküche gestohlen hatte, heraus. Mit Belustigung nahm sie wahr, wie die Augen des Fuchses kreisrund wurden. Verschwörerisch legte Scarlett den Finger an die Lippen. »Kein Wort zu niemandem«, ermahnte sie Nokano. »Wenn das rauskommt, bin ich dran.«

Dann holte sie mit dem rechten Arm aus und ließ den Fleischbrocken über die Lichtung sausen. Nokanos Kopf schoss nach rechts, ehe er laut bellend über die Wiese rannte. Die Muskeln unter seinem Fell waren zum Zerreißen gespannt, seine gesamte Aufmerksamkeit galt der Beute in seinem Maul, die er stolz zurück zu Scarlett trug.

»Lass es dir schmecken«, wollte sie sagen, da hatte Nokano das Fleisch bereits heruntergeschlungen. Erwartungsvoll baute er sich vor ihr auf.

»Tut mir leid, das war alles für heute.« Bedauernd hob sie die Hände. Was den Fuchs nicht davon abhielt, sie unablässig zu umkreisen und seine Schnauze in ihren Lederbeutel zu stecken. Selbst die Pilze beschnüffelte er neugierig, doch seine Faszination dafür hielt nicht lange an.

»Du bist ein Vielfraß, habe ich dir das schon mal gesagt?« Grinsend stupste sie gegen seine feuchte Schnauze. »Sei dankbar, dass du überhaupt was bekommen hast.« Sie zog die Bänder des Lederbeutels zusammen und hängte ihn sich über die Hüfte.

Für einen Moment verlor sich ihr Blick in der scheinbar endlosen Weite der Lichtung. Bis zum Abend dauerte es nicht mehr lange.

Mit der rechten Hand hob sie Nokano an und setzte ihn auf ihren Schoß. Es hatte mehrere Wochen gedauert, um sein Vertrauen zu gewinnen. Neben Geduld hatte Scarlett vor allem eine große Menge Fleisch gebraucht.

Sein Fell war so weich, dass sie am liebsten ihr Gesicht darin vergraben hätte.

»Ich hab dich echt gern«, sagte sie leise, mehr zu sich selbst als zu dem Tier. »Ich freu mich jeden Tag auf dich, und obwohl du immer dasselbe machst, bekomme ich nicht genug von dir.«

Ihre Hand wanderte von seinem Kopf den Rücken hinunter, bis sie seinen buschigen Schwanz erreicht hatte. Nokano stieß ein Geräusch aus, das Scarlett an das Schnurren einer Katze erinnerte. Jedes Mal, wenn er sie aus seinen Kulleraugen ansah, zerbrach irgendetwas in ihr. Schmerzlich wurde sie daran erinnert, dass dies nicht der richtige Weg war. Nicht der Weg, der für sie vorgesehen war.

Ihre Hand erstarrte mitten in der Berührung. Kaum hatte sie aufgehört, ihn zu streicheln, sah Nokano Scarlett vorwurfsvoll an. Ihr Blick verdunkelte sich, das Lächeln auf ihren Lippen erstarb. Wie ferngesteuert griff sie nach dem Gürtel, der um ihre Hüfte hing. Fand die Ledertasche, in der sich ihr Dolch befand.

Scarlett schloss die Augen und atmete tief durch. Sie war viel zu weich geworden. Dieses vermaledeite Fellknäuel hatte sie an der Nase herumgeführt, sie eingelullt mit seinem treuen Blick.

Ihr Herz blutete, als sie den Dolch aus der Halterung zog. Seine Klinge reflektierte das Sonnenlicht.

»Dämliches Tier«, murmelte sie, als der Fuchs keine Anstalten machte, wegzulaufen. Er sah sie allenfalls verwundert an.

Scarlett umklammerte den Dolch fester, nahm ihn in beide Hände, um besseren Halt zu haben. Langsam richtete sie sich auf, visierte Nokano an – und wusste, dass es schnell gehen musste. Denn auf einmal war da eine Getriebenheit im Blick des Fuchses, die ihren Plan vereiteln könnte.

Die Augen zu Schlitzen verengt, ließ Scarlett den Dolch hinabsausen. Nur dass sie nicht das Tier traf, sondern den Waldboden.

Sie schaffte es nicht. Sie war hasserfüllt, aber sie war auch schwach.

Nokano jaulte auf, schien zu verstehen, was Scarlett im Begriff war zu tun. Erschrocken rannte er davon.

»Hau ab!«, schrie sie ihm hinterher. »Wenn du dich noch einmal hier blicken lässt, bist du dran!« Der Dolch fiel ihr aus der Hand, zitternd sank sie auf den Boden und zog die Beine an den Körper. Dort blieb sie mehrere Minuten sitzen, über ihre eigene Unfähigkeit nachdenkend.

Ohne einen Blick zurückzuwerfen, hastete sie anschließend durch den Wald, in der Hoffnung, den Palast vor Sonnenuntergang zu erreichen.

 

Scarletts Wangen glühten, als die spitzen Türme des Schlosses vor ihr aufragten. Obwohl ihr die Füße wehtaten, wurde sie schneller. Zu oft hatte sie in den letzten Wochen ihre Arbeit vernachlässigt, auf den Ärger wollte sie heute verzichten.

War der Himmel eben noch wolkenlos und strahlend blau gewesen, mutete er nun beinahe lila an. Für einen Moment genoss Scarlett das Spektakel, das sich ihr bot, dann betrat sie den verlassenen Schlossgarten.

Ihre erhitzten Wangen kühlten langsam ab, und sie begann zu frösteln. Kritisch ließ sie den Blick über die graue Fassade des Palasts wandern. Hatte sie als Kind das Schloss aus der Ferne bewundert, kam es ihr nun alt und hässlich vor. Ein Eindruck, der vor allem durch die fleckigen Wände und den wild wuchernden Efeu zustande kam. Sonderlich groß war das Schloss auch nicht, nicht im Entferntesten mit dem in Brahmenien zu vergleichen. Und doch kam Scarlett nicht umhin, den Kopf in den Nacken zu legen und den Blick auf den Balkon ganz oben zu richten. Dorthin, wo die Gemächer von Prinzessin Idalia lagen.

Scarlett umrundete das Gebäude und schlich durch den Dienstboteneingang, der sich versteckt auf der Hinterseite befand. Der Geruch von deftigem Essen wehte ihr entgegen, erinnerte sie daran, dass sie nicht wie vereinbart in der Küche ausgeholfen hatte. Während sie sich in Gedanken eine Ausrede zurechtlegte, zog jemand an ihrem Arm.

Scarlett zuckte zusammen und ärgerte sich gleichzeitig über ihre Reaktion. Nur Schwächlinge erschraken. Wütend hob sie den Blick und sah in das aufgedunsene Gesicht von Daphne, Prinzessin Idalias Amme. Mit vor der Brust verschränkten Armen schaute jene auf Scarlett hinab.

»Wir haben dich in der Küche vermisst«, sagte sie mit einer Stimme, von Vorwürfen getragen.

»Ich habe die Zeit vergessen.« Scarlett zog die Schultern hoch. »Aber ich habe Pilze mitgebracht.« Auffordernd streckte sie der Amme den Korb entgegen, die ihn jedoch nicht weiter zur Kenntnis nahm.

»Ich muss mit dir reden«, erwiderte sie stattdessen.

Daphne führte sie in einen der angrenzenden Räume, die als Gästezimmer genutzt wurden, und schloss die Tür hinter ihnen.

Wurde sie entlassen? Hatte man ihre Verfehlungen der letzten Wochen zusammengezählt und war zu dem Entschluss gekommen, dass sie als Magd untragbar war?

Darauf bedacht, sich nichts von ihrer Nervosität anmerken zu lassen, lehnte sich Scarlett an die Fensterbank und blickte gelangweilt im Raum umher.

Daphne hatte auf dem schlichten Bett Platz genommen und richtete ihre graue Haube. »Ich habe eine Aufgabe für dich.« Sie drehte sich in Scarletts Richtung. »Prinzessin Idalia ist bereit, die Ehe mit Prinz Elric einzugehen. Sie begibt sich übermorgen auf den Weg nach Syllitist und du wirst sie begleiten.« Ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch.

Was ohnehin nicht nötig war. Scarlett konnte die Freude, die sich in ihr ausbreitete, kaum kontrollieren. »Wieso ich?«, fragte sie dennoch.

Die Amme neigte den Kopf und klopfte sich Staub von ihrem Kleid. »Du bist die Einzige, die infrage kommt. Inga und Paulena sind in der Küche beschäftigt.«

Scarlett biss sich auf die Lippe, um nicht breit zu grinsen. »Wird mir eine Ehre sein, mit der Prinzessin zu gehen.«

Daphne drückte die Schultern durch. »Wir haben nicht viel Zeit, um dich vorzubereiten, aber du kennst dich gut in den Wäldern aus. Mit Pausen seid ihr etwa vier Tage unterwegs. Prinzessin Idalia wird auf Baron reiten.«

»Bleibe ich in Syllitist? Oder soll ich zurück nach Ryzund, nachdem die Prinzessin dort angekommen ist?«

Daphne schüttelte den Kopf. »Idalia ist fremd am Hofe Prinz Elrics. Sie wünscht sich eine Gesellschafterin. Jemanden, mit dem sie reden kann.«

»Das heißt, ich bleibe dort?«

»Vorerst ja. Wenn Idalia dich nicht mehr braucht, steht es dir frei, zurückzukommen. Für dein leibliches Wohl und eine Unterkunft ist gesorgt.«

Scarlett trat auf das Bett zu, auf dem Daphne saß. Es gefiel ihr, die Amme um mehrere Köpfe zu überragen. »Ich hoffe, ich langweile mich am Hof nicht«, gab sie zu bedenken. »Kann man in Syllitist überhaupt etwas Spannendes unternehmen?«

»Das ist zweitrangig. Deine Aufgabe besteht darin, die Prinzessin unbeschadet an den Hof zu bringen und ihr in der Phase der Eingewöhnung zu helfen.« Daphne stockte, so als müsste sie ihre Gedanken ordnen. Dann stand sie auf und stellte sich direkt vor Scarlett.

»Idalia hat eine schwere Zeit hinter sich«, beschwor sie die Magd. »Der Tod ihrer Mutter hat sie stark mitgenommen. Sei freundlich zu ihr, sie verdient etwas Wärme.«

Nur mühsam konnte sich Scarlett das Schnauben verkneifen. Wenn Idalia etwas nicht kannte, dann waren es schwere Zeiten. Egal in welcher Situation sie sich befunden hatte, sie musste nie um ihr Leben bangen. Nie Angst haben, an Unterernährung zu sterben oder keinen Schlafplatz für die Nacht zu finden. Sie war mit einem goldenen Löffel im Mund geboren.

Scarlett nickte knapp. »Wir werden miteinander auskommen.«

Daphne musterte sie skeptisch, was sie ihr nicht übelnehmen konnte. In der Dienerschaft galt Scarlett als unbeliebt, unnahbar und unsympathisch. Eigenschaften, auf die sie nicht bewusst hingearbeitet hatte, die sie aber auch nicht störten. Dennoch spürte sie, dass sie überzeugender sein musste.

»Idalia ist ein umgänglicher Mensch. Die Reise mit ihr wird bestimmt angenehm. Ich kenne den Wald in- und auswendig und kann sie sicher nach Syllitist bringen.«

»Kümmere dich gut um sie. Es ist das erste Mal, dass sie ihr Zuhause verlässt – und dann gleich für immer.« Die alten Augen der Amme wurden feucht. Verstohlen wischte sie sich mit dem Kleidärmel über das Gesicht. »Auch wenn ich sie nicht allein großgezogen habe, ist sie wie eine Tochter für mich. Es ist schwer, sie gehen zu lassen.«

»Es ist aber richtig«, erwiderte Scarlett, ehe sie sich ermahnte, etwas mehr Wärme in ihre Stimme zu legen. »Die Heirat mit dem Prinzen ist seit Jahren geplant und Idalia wurde auf die Aufgabe vorbereitet. Ryzund profitiert davon, wenn die beiden Königreiche verbunden werden. Und bis es so weit ist, kümmert sich ihr Cousin Ferdon um das Schloss.«

»Das weiß ich doch.« Daphne schniefte. »Dennoch fühlt es sich an, als würde ich einen Teil von mir verlieren.«

Scarlett hätte der Amme gern gesagt, wie sehr sie sie für ihre Schwäche verachtete. Wie sehr es sie anwiderte, ihre Tränen zu sehen und ihr Leid auf dem Silbertablett serviert zu bekommen. Doch sie riss sich zusammen und wartete geduldig ab, bis die Frau sich gefangen hatte.

»Idalia möchte dich vorab kennenlernen. Ihr seid euch bisher nur im Speisesaal begegnet; sie will wissen, wer du bist, bevor sie mit dir abreist.«

Scarlett setzte ein zuckersüßes Lächeln auf, während ihre Hand wie beiläufig zum Dolch wanderte, den sie unter ihrem Kleid versteckt hatte. »Ich kann es kaum erwarten.«

Kapitel 3 - Idalia

 

Sein Gesicht war als solches schon gar nicht mehr zu erkennen. Das Bild in ihren Händen war an den Ecken abgegriffen, leicht vergilbt und mit einem Fleck in der Mitte, weil sie vor ein paar Jahren Tee darauf verschüttet hatte. Wenn man ehrlich war, konnte man eigentlich nur noch die Augen sehen. Und sein wildes, dunkelbraunes Haar. Doch das machte nichts, denn das waren die beiden Partien, die Idalia am liebsten an ihm mochte. Sie wusste, dass Prinz Elric mittlerweile älter war, dass die Malerei eine jüngere Version von ihm zeigte. Vielleicht war ihm ein Bart gewachsen, der einen Schatten um sein Kinn warf. Vielleicht gab es diesen Schalk in seinem Blick nicht mehr, vielleicht trug er das lockige Haar nun kürzer.

Trotzdem war sich Idalia sicher, dass das leichte Flattern ihres Herzens sich intensivieren würde, wenn sie den Prinzen zum ersten Mal erblickte. Jahrelang hatte sie auf dieses Treffen hingefiebert, und nun war es in wenigen Tagen so weit.

Jedes Mal, wenn sie daran dachte, wurden ihre Hände schweißnass. Sie zweifelte nicht daran, dass ihr Prinz Elric gefallen würde. Viel mehr fürchtete sie sich davor, dass sie selbst ihm nicht genug war.

Idalia versteckte das Bild unter ihrer Matratze und stellte sich vor den goldumrahmten Spiegel, der inmitten ihres Schlafzimmers stand. Ihr rotblondes Haar lag in leichten Wellen und wurde am Hinterkopf von einer Schleife zusammengehalten. Eine hellblaue Bluse mit weißen Ornamenten endete in einem ausgestellten Rock. Wenn sie den Hals reckte und ihrem Spiegelbild leicht zulächelte, gefiel sie sich. Und auch auf die Männer des Hofes hatte Idalia eine betörende Wirkung. Nur dass es auf die nicht ankam. Sondern auf den zweiundzwanzigjährigen Königssohn aus Syllitist.

Jemand riss die Tür auf. Erst als Daphne den Raum betrat, fiel Idalia ein, dass sie Besuch erwartete.

»Ich hoffe, ich störe nicht.« Keuchend kam die Amme auf sie zu. Ihre grauen Haare waren an den Spitzen nass, bestimmt war sie draußen im Regen gewesen.

»Scarlett ist gekommen, um Euch kennenzulernen.«

Neugierig reckte Idalia den Kopf in Richtung Tür. Draußen auf dem Korridor stand die Magd, die sie ein paar Mal in der Küche gesehen, zu der sie aber nie Kontakt gehabt hatte. Sie schien in ihrem Alter zu sein.

Scarlett hatte lockiges, feuerrotes Haar, das ihr ein wildes, ungebändigtes Aussehen gab. Ihre Augen waren karamellfarben, strahlten Wärme aus, die aber durch den strengen Zug um ihren Mund zunichtegemacht wurde.

»Komm herein«, bat Idalia freundlich, woraufhin die Magd sich in Bewegung setzte.

»Du kannst uns allein lassen«, sagte sie zu Daphne.

Sie bot Scarlett einen Stuhl an und nahm ihr gegenüber Platz. Nicht zum ersten Mal fiel ihr auf, dass die Magd sich nicht an die höfische Ordnung hielt, nach der niedere Angestellte sich in gedeckten Farben kleideten, um nicht aufzufallen. Scarletts Kleid war so rot wie ihr Haar – und am Saum etwas schmutzig.

»Es freut mich sehr, dich kennenzulernen.« Die Prinzessin lächelte. »Und dass du mich auf der Reise begleitest. Ich habe mir sagen lassen, dass niemand den Wald so gut kennt wie du.«

Das Gesicht der Magd blieb regungslos.

»Ich denke, ich muss mich nicht vorstellen«, fuhr Idalia fort, um das Gespräch am Laufen zu halten. »Aber ich würde gern wissen, wer du bist.« Aufmunternd berührte sie leicht das Knie der Magd, woraufhin diese nach hinten rutschte.

»Scarlett.« Ihre Stimme war dunkel, beinahe ein bisschen rau. Sie sah Idalia nicht an, während sie mit ihr sprach. »Ich bin achtzehn und wurde in Ryzund geboren. Meine Eltern waren einfache Leute. Nach ihrem Tod bin ich zu Euch an den Hof gekommen. Dort arbeite ich als Magd, aber das wisst Ihr.« Sie blies sich eine Strähne ihres roten Haares aus dem Gesicht.

»Und wer bist du?«, bohrte Idalia weiter. »Was macht dich als Mensch aus? Wofür interessierst du dich?«

Die Magd hob eine Augenbraue. »Was tut das zur Sache?«

»Viel.« Idalia setzte sich aufrechter hin. »Wir werden einige Tage gemeinsam unterwegs sein, und auch danach möchte ich dich als meine Gesellschafterin behalten, wenn es menschlich zwischen uns passt. Dafür muss ich wissen, wer du bist.« Auffordernd schaute sie die Magd an. Als abermals keine Antwort kam, fügte Idalia hinzu: »Ich liebe das Reiten. Ich bin gern stundenlang auf meiner Stute unterwegs. Wenn ich reite, fühle ich mich frei.«

Scarlett beugte sich auf ihrem Stuhl vor. »Ich bin auch gern draußen«, sagte sie dann. »Ich mag es, den Wald zu erkunden und mich um die Tiere zu kümmern.«

Idalia strahlte. »Das klingt fabelhaft. Was kannst du mir über den Weg nach Syllitist erzählen?«

»Ziemlich unwirtliches Gelände. Zumindest im letzten Drittel. Da könnte es mit dem Pferd schwierig werden. Ansonsten sollte nichts passieren, solange wir uns auf den breiten Wegen halten.« Kurz sah Scarlett die Prinzessin an, dann senkte sie den Blick wieder.

»Was geschieht, wenn wir die Wege verlassen?«, erkundigte sich Idalia.

Es dauerte eine Weile, bis die Magd antwortete. Betont langsam richtete sie sich auf und band ihr Haar im Nacken zu einem Zopf zusammen. »Dinge, die eine Prinzessin nicht erleben sollte«, antwortete sie schlicht, doch das, was Idalia wahrhaft irritierte, war das Lächeln auf ihren Lippen.

Ihre Verwirrung abschüttelnd fragte sie: »Wie geht es dir damit, dein Zuhause zu verlassen und in die Fremde zu ziehen? Hast du Familie hier, die du zurücklässt? Freunde?«

Scarlett schüttelte den Kopf. »Ich bin ungebunden. Frei wie ein Vogel.« Sie grinste, als würde sie diesen Umstand nicht bedauern.

»Frei bin ich auch«, erwiderte Idalia. »Aber das bedeutet nicht, dass es mir leichtfällt. Der Tod meiner Mutter ist nicht mal einen Monat her. Neben Daphne war sie meine engste Bezugsperson und meine Amme werde ich auch verlieren, wenn ich gehe.« Ihr Blick glitt zum Fenster. Der Regen dauerte noch immer an. »Seit ich ein Kind war, kenne ich mein Schicksal, und doch fällt es mir schwer, Ryzund zu verlassen.«

»Aber das ist der Gang der Dinge.« Scarlett folgte ihrem Blick. »Frauen verlassen ihre Elternhäuser, um sich an einen Mann zu binden und eine Familie zu gründen.«

»So ist es wohl.« Idalia seufzte. »Außerdem freue ich mich auf den Prinzen. Vielleicht findest du ja auch dein Glück in Syllitist.«

Als Idalia Scarlett ansah, glich deren Gesicht einer starren Maske. »Einen Mann zu finden, hat für mich keine besonders große Dringlichkeit.«

»Wieso nicht?« Idalia wusste, dass sie neugierig klang, aber sie wollte nicht, dass das Gespräch ein vorschnelles Ende fand.

Scarlett griff nach der kleinen Vase, die auf dem Tisch zwischen ihnen stand und strich die Maserung mit dem Finger nach.

»Ich bleibe lieber für mich«, sagte sie nach einem Moment des Schweigens. »Ich habe genug mit mir selbst zu tun, da bleibt keine Zeit für einen Mann.«

»Du bist wirklich interessant, weißt du das?«

Die Magd hielt in der Bewegung inne, ehe sie den Kopf hob. Der Blick, den sie der Prinzessin zuwarf, war irgendwo zwischen Erstaunen und Verwirrung angesiedelt. Für einen Moment sah es aus, als wollte sie etwas sagen, dann erhob sie sich ruckartig.

»Es tut mir leid, Prinzessin, aber meine Pflichten rufen. Ich muss in die Küche, sofern Ihr heute Mittag ein warmes Essen haben wollt.«

Ohne Idalias Antwort abzuwarten, stürmte sie durch das Zimmer und ließ die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fallen.

 

 

Als Idalia die Stallungen betrat, war die Sonne lange untergegangen und hatte einem Mond Platz gemacht, der schwaches Licht auf Wiesen und Felder schickte. Kein einziger Stern stand am Firmament, stattdessen tummelten sich dichte Wolken, die unbehaglich anmuteten.

Idalia zog sich die Kapuze ihres Capes tiefer ins Gesicht. Eigentlich hatte sie früher hier sein wollen, doch die Vorbereitungen für die Reise dauerten länger als angenommen. Stunde um Stunde war Daphne durchs Schloss gelaufen, um ihr Gepäck zusammenzusuchen. Obgleich sie sich darauf geeinigt hatten, nur das Wichtigste mitzunehmen und sich nicht zu sehr an materiellen Besitz zu klammern, war doch eine Menge zusammengekommen. Allen voran die Schmuckstücke, die ihre Mutter ihr vor ihrem Tod überlassen hatte.

Idalia atmete den Geruch nach Stroh und Mist ein, während sie sich an den Boxen vorbeischlich, in denen die Pferde untergebracht waren. Ihrer Stute hatte sie gestern schon Lebewohlgesagt. Unter anderen Umständen hätte sie sie mit nach Syllitist genommen, aber Idalia wollte den letzten Wunsch ihrer Mutter erfüllen.

Baron stand in der letzten Box auf der rechten Seite. Idalias Herz klopfte, als sie auf ihn zulief. Mit seinem weißen Fell, der seidigen, beinahe silbernen Mähne und dem dunklen Fleck über den Nüstern war er eines der schönsten Pferde, die sie je gesehen hatte. Was angesichts seines stolzen Alters von achtundzwanzig Jahren erstaunlich war.

»Na, du«, begrüßte sie den hochgewachsenen Hengst und streichelte seinen Hals.

Baron wieherte leise und Idalia wurde schwer ums Herz. Wann immer sie ihn sah, war es ihre Mutter, die sie vor Augen hatte. Die stolze Königin, die mit ihm durch die Wälder geprescht und ihr die Liebe zum Reiten vererbt hatte. Ihre Mutter, deren Haar Winden und Stürmen trotzte, die gefährliche Wege nicht mied und dennoch immer wohlbehalten zu Hause ankam.

Mit Baron unterwegs zu sein, war gleichzeitig ein Fluch und ein Trost. Denn mit ihm würde auch die Erinnerung an ihre Mutter Idalia begleiten.

»Morgen geht es los«, flüsterte sie und strich über die Mähne des Hengstes. »Wir reiten nach Syllitist. Prinz Elric wartet auf mich.« Ihre Stimme wurde leiser. »Verrate es niemandem; aber ich habe Angst. Meine Kehle ist schon den ganzen Tag wie zugeschnürt.«

Baron streckte ihr seinen Kopf entgegen, als wollte er ihr Mut zusprechen.

»Deswegen bin ich froh, dass du dabei bist. Du hast schon so viel gesehen, so viel erlebt.«

Idalia war im Begriff, die Box zu öffnen, um dem Pferd frisches Wasser und etwas zu fressen zu geben, als sich ein Schatten aus der rechten Ecke des Stalls löste. Erschrocken wich sie zurück und griff nach dem Rechen, der an der Wand lehnte.

Aufgrund der diffusen Beleuchtung erkannte Idalia die Gestalt erst, als sie kurz vor ihr zum Stehen kam.

»Zurik.« Ausatmend ließ sie den Rechen los. »Du hast mir eine Heidenangst eingejagt.«

Der Stallbursche setzte seine Kapuze ab und kam noch einen Schritt näher. Sein narbiges Gesicht wurde nur teilweise vom Licht erhellt. »Was macht Ihr hier so spät?«, wollte er wissen. Sein Akzent gab Hinweis darauf, dass er von weit her kam. Wo genau seine Heimat lag, hatte er ihr allerdings nie verraten.

»Ich wollte nach Baron sehen«, erwiderte Idalia. »Er hat eine lange Reise vor sich.«

Zurik warf dem Hengst einen abschätzigen Blick zu. »Dieses Pferd ist ein Wunder«, meinte er. »Es müsste längst tot sein, aber zeigt nicht ein einziges Anzeichen von Schwäche.«

»Mutter hat sich immer gut um ihn gekümmert«, erwiderte Idalia. »Und das möchte ich fortführen.«

Sie rechnete damit, dass Zurik ihr eine gute Reise wünschen und sich entfernen würde. Stattdessen blieb er wie festgewachsen an Ort und Stelle stehen.

Idalia war ihm schon viele Male begegnet und tagsüber wirkte er wie ein gewöhnlicher Mann. Doch jetzt, da die Sonne untergegangen und die Nacht angebrochen war, jagte ihr irgendetwas an ihm einen Schauder über den Rücken. Vielleicht waren es seine hellen Augen, die sie so durchdringend ansahen, als könnten sie auf den Grund ihrer Seele blicken. Oder die dürren Hände, die sich um das Gitter von Barons Box legten.

»Passt auf, wenn Ihr durch den Wald reitet«, sagte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. »Ihr seid im Licht groß geworden. Ihr kennt die Dunkelheit nicht.«

Seine Worte brachten sie zum Frösteln. Entschieden straffte sie die Schultern, um sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. »Du sprichst in Rätseln. Wovor genau soll ich mich in Acht nehmen?«

Zurik biss sich auf die Unterlippe und deutete ein Kopfschütteln an. »Nicht so wichtig«, nuschelte er.

»Doch, es ist wichtig«, sagte Idalia mit Nachdruck und baute sich vor ihm auf. »Du darfst nicht irgendwelche Dinge andeuten und sie dann nicht ausführen.«

Für eine Sekunde begegnete er ihrem kühnen Blick, dann knickte er ein. »Da draußen im Wald gibt es Gefahren. Das Leben in Ryzund ist sicher, aber es stellt nur einen Teil der Welt dar.«

»Sprichst du von den dunklen Wesen?« Idalia legte die Stirn in Falten.

»Ihr habt also von ihnen gehört.«

»Ich habe Schauermärchen über sie gelesen.«

Überrascht sog Idalia die Luft ein, als Zurik nach dem Ärmel ihres Capes griff und sie in eine Ecke zog. »Ich dürfte gar nicht mit Euch darüber reden. Bloß … Der Wald, der Ryzund und Syllitist miteinander verbindet, ist voller dunkler Kreaturen. Sie lassen uns Menschen in Ruhe, wenn wir sie nicht stören. Doch wenn die Grenze erst überschritten ist …«

»Was soll das werden?«

Daphnes entschiedene Stimme hallte durch die Stallungen und ließ Idalia herumwirbeln. Obwohl sie nichts Verbotenes getan hatte, fühlte sie sich ertappt.

Mit energischen Schritten kam die Amme auf sie zu und fasste sie beim Arm. »Du solltest längst im Bett sein. Morgen wird ein anstrengender Tag.«

Idalia entging nicht, wie sie Zurik einen wütenden Blick zuwarf.

 

Die Prinzessin hatte damit gerechnet, in der Nacht vor ihrer großen Reise nicht schlafen zu können. Doch jetzt fühlte sie sich gestärkt und ausgeruht.

Die Sonne schien sanft in ihr Zimmer, brachte sie dazu, in ihrem Nachtkleid aufzustehen und sich vor das weiß umrahmte Fenster zu stellen. Schon als Kind hatte sie es geliebt, so lange in die Sonne zu schauen, bis sie kurz blind wurde. Als sich ihre Augen an das helle Licht gewöhnt hatten, ließ Idalia ein letztes Mal den Blick schweifen. Über den Schlossgarten mit dem Springbrunnen in der Mitte und dem Rosenfeld auf der rechten Seite, zu den Stallungen, in denen die Pferde untergebracht waren, und der monumentalen Statue, die in der Nähe des Palasteingangs stand und ihren Vater, den ehemaligen König über Ryzund, zeigte. Ferdon, ihr Cousin, war bereits auf dem Weg zum Schloss und würde alles instand halten, bis die beiden Reiche miteinander verbunden waren.

Die Gewissheit, ihre Heimat zum letzten Mal zu sehen, schnürte ihr die Kehle zu. Idalia war nicht gut im Abschiednehmen, auch wenn sie wusste, dass ihr keine andere Wahl blieb.

Deswegen ließ sie sich von ihrer Zofe waschen und ankleiden und das rotblonde Haar zu zwei dicken Zöpfen flechten. Sie ließ sich aus ihrem Zimmer in den Speisesaal führen, wo sie ein leichtes Frühstück zu sich nahm.

Ihr blieben nicht mehr als zehn Minuten Zeit, um sich von den Bediensteten zu verabschieden. Jenen Menschen, die sie schon ihr Leben lang kannte.

Es war nicht vorgesehen, dass Idalia je zurückkehrte. Ein paar enge Vertraute würden ihrer Hochzeit beiwohnen, darüber hinaus war kein Wiedersehen geplant.

Prinzessin Idalia ließ sich in ihren dunkelgrünen Mantel helfen und zog die schwarzen Stiefel an, die auch für unebenes Gelände geeignet waren. Fratis, der Diener, öffnete die Palasttüren, nachdem sie nach unten gegangen war.

Baron wartete gesattelt vor dem Schloss auf sie. Mit etwas Abstand zu ihm stand Scarlett, neben ihr ein hölzerner Karren, beladen mit ihrem Gepäck, der von einem Ochsen gezogen wurde. Idalia nickte der Magd kurz zu, dann zog sie Daphne, die nach ihr nach draußen getreten war, in eine lange Umarmung.

Da sie die alte Frau schon ihr ganzes Leben kannte, roch sie immer ein bisschen nach Kindheit. Nach unbeschwerten Tagen in der Sonne und Versteckspielen im Palast. Mit Daphne war Leichtigkeit verbunden – und eine Menge Trost.

Idalias Augen füllten sich mit Tränen. »Sag mir, dass alles gut werden wird. Dass es nichts gibt, vor dem ich Angst haben muss.«

Daphne schob sie ein Stück von sich, ehe sie leicht, aber bestimmt den Kopf schüttelte.

»Da draußen gibt es Dinge, vor denen man Angst haben muss«, murmelte sie, »aber du hast die Kraft, ihnen zu begegnen.«

Idalia blinzelte und drückte ihre Amme noch einmal an sich. »Danke für alles, was du für mich getan hast. Ich werde dich vermissen.«

Daphne wischte sich über die Augen. »Auf dich wartet eine wundervolle Zukunft. Ich kann es kaum erwarten, dich im Brautkleid zu sehen.«

Kapitel 4 - Scarlett

 

Prinzessin Idalia war den Umgang mit Pferden gewohnt. Selbst nach mehreren Stunden über Stock und Stein, Felder und Wiesen saß sie fest im Sattel, führte Baron, als hätte sie nie etwas anderes getan. Scarlett kam nicht umhin, sie zu bewundern.

Idalia beklagte sich nicht. Fragte nicht im Fünf-Minuten-Takt, wie lange die Reise noch dauerte oder ob sie rasten konnten. Tatsächlich hatten sie erst eine Pause eingelegt, in der sie etwas Wasser aus der Feldflasche getrunken und einen Apfel gegessen hatte.

Scarlett schwitzte unter der Sonne, die mit voller Kraft auf sie niederschien. Zwar hatte sie ihren Mantel bereits abgelegt, doch half das nur wenig. Es war anstrengend, so lange zu Fuß unterwegs zu sein.

Der Wagen, den der Ochse schnaufend hinter sich herzog, war über und über mit Idalias Gepäck beladen.

Man hatte Scarlett versichert, dass die Prinzessin sich nur auf die wichtigsten Besitztümer beschränkt hatte. Auf jene Gegenstände, die eine emotionale Bedeutung für sie hatten. Wer hätte wissen können, dass ihr das halbe Schloss am Herzen lag?

Grummelnd setzte Scarlett ihren Weg fort.

»Das tut mir wirklich leid.«

Scarlett hob den Blick.

»Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich reiten kann, während du die ganze Strecke laufen musst. Wenn wir rasten sollen, sag Bescheid.«

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Scarlett zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Wäre ja noch schöner, wenn sie vor der verwöhnten Prinzessin Schwäche zeigte. Stur richtete sie den Blick geradeaus. Die Wiese, auf der sie sich befanden, schien kein Ende zu nehmen und war über und über mit Gänseblümchen bedeckt. Bis zum Wald dauerte es noch einige Stunden. Jedes Mal, wenn der Karren über eine Unebenheit fuhr, wackelten Idalias Besitztümer bedrohlich.

Es war absurd, dass sie nur zu zweit unterwegs waren. Absurd, dass der Hof ihnen keinen Tross Männer zum Schutz mitgegeben hatte. Die Wälder waren nicht ungefährlich, die Reise mehrere Tage lang – und doch vertrauten die Menschen in Ryzund Scarlett genug, dass sie es nicht für nötig hielten, eine weitere Begleitung zu organisieren.

»Lenna hat uns mehr zu essen mitgegeben, als wir je verdrücken können.« Idalia lachte. »Kennst du ihre Honigplätzchen? Normalerweise backt sie die nur an Weihnachten, aber weil heute ein besonderer Tag ist, hat sie eine Ausnahme gemacht.« Idalias Stimme wurde sehnsuchtsvoll. »Sie sind mit einer dicken Schicht Zuckerguss überzogen und zergehen wie Gelee auf der Zunge.«

Scarlett musterte sie schweigend. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie es wäre, ein Leben wie Idalia zu haben. Ein Leben, in dem die größte Angst darin bestand, dass das neue Kleid an der Hüfte nicht eng genug anlag oder der Absatz der exquisiten Schuhe abbrach. Bevor die Wut in ihr überhandnehmen konnte, schob sie sie energisch beiseite.

»Wenn wir das Tempo beibehalten, sollten wir den Wald vor Anbruch der Dämmerung erreicht haben. Von dort aus wird der Weg komplizierter.«

»Wie kommt es, dass du dich hier so gut auskennst?«

Scarlett seufzte. Woher kam ihr endloses Interesse an ihrer Person? Warum diese unsägliche Neugier?

Sie richtete den Blick gen Horizont. »Ich bin gern draußen unterwegs«, sagte sie das, was Idalia schon wusste.

»Ich hatte gestern Abend eine seltsame Begegnung mit unserem Stallburschen«, fuhr die Prinzessin fort. Ihre Stirn legte sich in Falten, als müsste sie sich die Details erst in Erinnerung rufen. »Kennst du die dunklen Wesen aus dem Wald?«

Die Frage kam so unerwartet, dass Scarlett stehen blieb. Sie brauchte ein paar Sekunden, um ihre Mimik unter Kontrolle zu bringen, dann bückte sie sich. »Wieso interessiert Ihr euch für die dunklen Dinge?«, fragte sie die Prinzessin, als sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatte.

»Das heißt, du kennst sie?« Idalias Gesicht hellte sich auf. Sie ließ Baron über einen umgefallenen Baumstamm springen. Scarlett lotste den Ochsen nach rechts, damit er ihn umgehen konnte.

Die Sonne knallte auf sie hinab, der Schweiß lief ihr in Strömen das Gesicht hinunter. Wieso war es so warm?

»Was kannst du mir über sie erzählen?«

Die Prinzessin ließ nicht locker – und langsam ging sie Scarlett auf die Nerven. Hatte sie nie gelernt, wann es besser war, den Mund zu halten? Oder war sie schlichtweg daran gewöhnt, jeden in den Wahnsinn treiben zu dürfen?

Scarlett nahm einen großen Schluck aus der Feldflasche und tupfte sich den Schweiß mit einem Stück Stoff von der Stirn.

»Ich kann Euch gar nichts über sie erzählen«, beantwortete sie Idalias Frage schließlich. »Und ich wüsste auch nicht, was Euch das zu interessieren hat.«

Über ihren forschen Tonfall hinwegsehend berichtete die Prinzessin: »Ich lebe seit achtzehn Jahren in diesem Königreich und doch habe ich manchmal das Gefühl, dass ich gar nichts über das Land weiß. Geschweige denn über das, was hinter dem Licht lauert.«

Der Ochse hatte sich dazu entschieden, eine Rast einzulegen. Hungrig rupfte er Gras aus der Wiese und kaute geräuschvoll darauf herum. Engerisch zog Scarlett am Seil, das dem Tier um das Maul gespannt war, und trieb es zur Eile an. Ihre Ungeduld wuchs. Sie biss sich auf die Unterlippe und erinnerte sich daran, dass sie nicht mehr lange durchhalten musste. Dass sie lediglich den Schutz der Tannen brauchte, um zur Tat schreiten zu können. So lange würde sie sich noch zusammenreißen.

Mit einem bittersüßen Lächeln auf den Lippen meinte sie: »Wie ich das sehe, gebt Ihr Euch größte Mühe, Euren Untertanen auf Augenhöhe zu begegnen. Das Volk liebt Euch – und in Syllitist wird es den Menschen ebenso gehen.«

Ein überraschter Ausdruck glitt über Idalias Gesicht. »Danke für dein Lob, aber manchmal kommt es mir ganz anders vor.«

Scarlett gab einen abfälligen Laut von sich. »Man ist mit sich selbst immer am kritischsten. Und was die Dunkelheit angeht: Euer Königreich liegt im Licht. Den Menschen geht es gut. Ihr habt nichts zu befürchten.«

Für einen Moment sah es aus, als wollte Idalia etwas entgegnen, doch dann nickte sie nur.

 

Scarlett begrüßte den Sonnenuntergang wie einen verloren gegangenen Freund. Genoss den Moment, in dem das Licht hinter den Bergen verschwand, der Himmel dunkler wurde und die Dämmerung ihre Umgebung in gedeckte Farben tauchte.

Idalias Rededrang war auf der Hälfte der Strecke versiegt. Sie war müde geworden und befand sich mittlerweile in einem Zustand, in dem sie sich kaum aufrecht auf dem Pferd hielt. Immer wieder beobachtete Scarlett deren schlanke Statur, die zur Seite glitt, nur um sich im letzten Moment noch zu fangen. Ein Gähnen verließ ihren Mund.

»Ihr habt es beinahe geschafft.« Mit der freien Hand deutete Scarlett auf die Tannen, die sich am Horizont abzeichneten. »Wenn wir den Wald erreicht haben, ist der Weg bis zum ersten Rastplatz nicht mehr weit. Dort baue ich uns den Unterschlupf für die Nacht.«

»Das wird auch höchste Zeit«, entgegnete Idalia. »Sonst verdaut sich mein Magen noch selbst.«

Scarlett hätte ihr gern entgegengeschleudert, dass sie keine Ahnung hatte, was echter Hunger war. Dass sie nicht einen Tag in ihrem Leben mit einem flauen Gefühl im Magen hatte schlafen gehen müssen. Aber es würde ihr nichts bringen, einen Streit anzuzetteln.

Etwas Seltsames geschah mit der Magd, als sie den Schotterweg hinter sich ließen und den Wald betraten, der still und verlassen dalag. Die innere Unruhe, die sie den Weg über begleitet hatte, verschwand und machte einem beruhigenden, beinahe heimeligen Gefühl Platz. Sie atmete tief durch, froh darüber, dass die Hitze des Tages gegangen war und sie einen milden Abend genießen durften.

Der Wald, der die Königreiche Ryzund und Syllitist miteinander verband, war so groß, dass man sich unweigerlich in ihm verlief, wenn man sich nicht auskannte. Früher hatte es einen breiten Weg gegeben, der vor allem von Wanderern und Reisenden genutzt wurde, aber ein Sturm vor einigen Jahren hatte den Wald derart verwüstet, dass selbiger kaum noch zu erkennen war. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand im Unterholz verloren ging, weil er nicht mehr herausfand.

Zumindest war das die offizielle Geschichte.

Scarlett wusste, dass die Gründe für das Verschwinden der Menschen nicht immer so eindeutig waren.

Idalia hatte Mühe, Baron in den Wald zu lotsen. Weil er sich weigerte, stieg sie von seinem Rücken und nahm ihn an den Zügeln. »Alles gut«, flüsterte sie und strich ihm über die Nüstern. »Ich mag die Dunkelheit auch nicht.«

»Wieso nicht?« Scarlett sah zu ihr hinüber und zog am Seil, damit der Ochse, der stehen geblieben war, sich wieder in Bewegung setzte. Er gab ein unzufriendes Schnauben von sich.

»Ist das nicht offensichtlich?« Idalia lachte nervös. »Die Äste der Bäume sehen wie knochige Arme aus, die nach dir greifen wollen.«

Ihr naiver Kommentar entlockte Scarlett ein Grinsen. Dass die Prinzessin keine Ahnung hatte, wunderte sie nicht, trotzdem erfreute sie sich an deren Gutgläubigkeit.

»Ich denke nicht, dass Ihr Euch vor einem Baum fürchten müsst«, erwiderte sie, nicht ohne Abscheu in der Stimme.

Der Weg wurde steiler, was bedeutete, dass der Ochse mehr Kraft aufbringen musste, um den Wagen zu ziehen. Immer, wenn er über einen Stein oder Wurzeln rumpelte, wackelte der Inhalt gefährlich.

»Wo werden wir rasten?« Idalia kam nun, da sie nicht mehr auf Baron saß, ebenfalls langsamer voran.

»Den Hügel hinauf und weiter geradeaus.« Scarlett reckte den Kopf. »Weiter östlich gibt es ein windgeschütztes Plätzchen. Dort habe ich schon öfter übernachtet.«

»Wieso?«

Scarlett seufzte. »Das tut nichts zur Sache«, erwiderte sie, ehe sie den Ochsen an Idalia vorbeilotste, um das Tempo zu bestimmen.

Kapitel 5 - Idalia

 

Vom Reiten tat ihr der Rücken weh. Sie war so steif, dass sie kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Im Schneckentempo bewegte sie sich vorwärts, während Scarlett ihr wiederholt vorwurfsvolle Blicke zuwarf.

Idalia seufzte. So hatte sie sich das Ganze nicht vorgestellt. Sie war es gewöhnt, auf ihrer Stute unterwegs zu sein und über Felder zu galoppieren. Doch dauerten ihre Ausflüge meistens nur ein paar Stunden und nicht den ganzen Tag. Hinzu kam, dass Baron sich anders ritt als Daniya.

Obwohl sie kaum vorankam, war Prinzessin Idalia froh, ihre eigenen Füße benutzen zu dürfen. Keuchend folgte sie Scarlett den Hügel hinauf.

Die Übernachtungsstelle, von der die Magd gesprochen hatte, war ein Stück Wiese inmitten des Waldes, gerade groß genug, dass sie nebeneinander Platz fanden und ein Feuer anzünden konnten.

Während Scarlett Pflöcke für die Plane in den Boden rammte und losging, um Holz zu suchen, nahm Idalia ihr Gepäck in Augenschein. Sie wusste, dass ihre Kleidung zuunterst lag, sehnte sich aber nach etwas Sauberem. Ihr Unterrocksaum war mit Matsch bespritzt; die Bluse durchgeschwitzt. Scarlett hatte von einem Bach in der Nähe gesprochen, aber sie wollte in der Dunkelheit nicht allein losziehen. Sie musste wohl oder übel bis zum Morgen warten.

Um ihren ersten Hunger zu stillen, schnappte sich Idalia zwei von Lennas Plätzchen und knabberte an einer Scheibe Brot.

Müde ließ sie sich auf das dunkelrote Plaid sinken, das auch genug Platz für Scarlett bot. Kurz dachte sie darüber nach, wie es wäre, neben der Magd die Nacht zu verbringen. Weil jene sich im Wald so gut auskannte, hatte sie nichts zu befürchten. Dennoch wurde sie aus Scarletts Verhalten nicht schlau. Sie schien eine grundsätzliche Abneigung gegen sie zu haben, die sie nicht verstand. Aber vielleicht war es genau das, was sie so interessant für sie machte. Idalia war es gewohnt, bewundert und geliebt zu werden.

»Hält die Plane?« Scarlett ließ einen Stapel Holz auf den Boden fallen.

Idalia nickte, dann setzte sie sich auf und begann, das Holz zu schichten. Dass sie keine Ahnung hatte, wie man am besten vorging, entging Scarlett nicht, die ihr die Scheite aus der Hand riss.

Sie fühlte sich nutzlos, als sie die Beine an den Körper zog und der Magd bei der Arbeit zusah.

»Wir können Stockbrot machen«, schlug Idalia vor. »Lenna hat uns eine Schüssel mit Teig mitgegeben. Hier sind sogar Stöcke, die sich eignen.« Sie fasste neben sich.

Scarlett warf einen schnellen Blick auf die Äste. »Die sind giftig. Nehmt die da hinten.« Mit dem Finger deutete sie auf einen Baum weiter entfernt.

Idalia schoss die Röte ins Gesicht, als sie sich in Bewegung setzte. Ihr Wissen über Wald und Natur war schlichtweg nicht vorhanden.

Ehe sie sich wieder zu Scarlett gesellte, machte sie Halt bei Baron, der an einem Baumstamm festgebunden war. Eben hatte Idalia ihm etwas von ihrem Wasser und drei Möhren gegeben. Der Ochse graste in nicht allzu großer Entfernung.

Es beruhigte sie, über Barons Fell zu streicheln und seine spitzen Ohren zu kraulen. So einsam sie sich auch fühlte, mit ihm war ein Teil ihrer Familie hier.

»Meine Mutter wollte unbedingt, dass er mich begleitet«, sagte sie zu Scarlett. »Ich hätte lieber meine Stute genommen, aber im Endeffekt glaube ich, dass es so richtig ist. Baron ist ein unheimlich weises Pferd. Er hat uns gute Dienste erwiesen.«

Scarlett bedachte den Hengst mit einem kurzen Blick. Im schwindenden Tageslicht sahen ihre Augen beinahe schwarz aus. »Gebt mir die Stöcke.«

Idalia setzte sich dicht vor das Feuer, das ihre kalten Hände wärmte. Während sie darauf wartete, dass der Teig gebacken wurde, erhitzte Scarlett Wasser in einem kleinen Teekessel. Es wurde minütlich dunkler und Idalia immer unbehaglicher zumute. Obwohl die Finsternis ihr nie etwas angetan hatte, schien sie eine natürliche Abneigung gegen sie zu haben.

Um möglichst wenig von dem Wald um sich herum sehen zu müssen, wandte sie sich dem Feuer zu. Beobachtete die rotorangen Flammen, die unbändig züngelten und leise zischten.

»Euer Tee, Prinzessin.« Scarlett streckte ihr die Tasse entgegen, in die sie Kräuter gegeben hatte. Sie selbst nahm ebenfalls einige Schlucke aus ihrem Becher.

»Wie lange arbeitest du schon für uns?« Idalia nahm die heiße Tasse zwischen ihre Hände.