Der Fluch der sechs Prinzessinnen (Band 3): Diamantkäfig - Regina Meißner - E-Book

Der Fluch der sechs Prinzessinnen (Band 3): Diamantkäfig E-Book

Regina Meißner

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Beschreibung

Gefangen in einem Turm, gepeinigt von ihrer Stiefmutter Rania … das ist Prinzessin Valyras Fluch. Es gibt kein Entrinnen, denn die Hexe zwingt die jüngste der sechs Schwestern, seltene Zutaten für einen Trank zu suchen, welcher Rania unendliche Macht verleihen wird. Als Valyra eines Tages unverhofft auf einen Verbündeten trifft, könnte dies die Wendung ihres schrecklichen Lebens bedeuten. Doch wird es ihr gelingen, das Rätsel um ihren Fluch zu lösen? Wie viele Opfer muss sie dafür bringen, wie stark muss sie dazu werden? Und – bergen Diamanten wirklich falsches Leben?

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Dank

 

Regina Meissner

 

 

Der Fluch der sechs Prinzessinnen

Band 3: Diamantkäfig

 

 

Märchen

 

Der Fluch der sechs Prinzessinnen (Band 3): Diamantkäfig

Gefangen in einem Turm, gepeinigt von ihrer Stiefmutter Rania … das ist Prinzessin Valyras Fluch. Es gibt kein Entrinnen, denn die Hexe zwingt die jüngste der sechs Schwestern, seltene Zutaten für einen Trank zu suchen, welcher Rania unendliche Macht verleihen wird.

Als Valyra eines Tages unverhofft auf einen Verbündeten trifft, könnte dies die Wendung ihres schrecklichen Lebens bedeuten. Doch wird es ihr gelingen, das Rätsel um ihren Fluch zu lösen? Wie viele Opfer muss sie dafür bringen, wie stark muss sie dazu werden? Und – bergen Diamanten wirklich falsches Leben?

 

Die Autorin

Regina Meißner wurde am 30.03.1993 in einer Kleinstadt in Hessen geboren, in der sie noch heute lebt. Als Autorin für Fantasy und Contemporary hat sie bereits viele Romane veröffentlicht. Weitere Projekte befinden sich in Arbeit.

Regina Meißner hat Englisch und Deutsch auf Lehramt in Gießen studiert. In ihrer Freizeit liebt sie neben dem Schreiben das Lesen und ihren Dackel Frodo.

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, August 2018

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2018

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski | Kopainski Artwork

Illustrationen : Melis Art | redbubble.com/de/people/melisart

Lektorat: Martina König | Sternensand Verlag GmbH

Korrektorat: Jennifer Papendick | Sternensand Verlag GmbH

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-906829-98-2

ISBN (epub): 978-3-906829-97-5

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für Jessy.

Weil Gauner zusammenhalten müssen.

 

Kapitel 1

 

Das Wesen vor ihr war gigantisch und stieß ein bedrohliches Knurren aus, das seinen Körper durchdrang. Speichel tropfte ihm aus dem Maul, die Zähne waren gebleckt. Sein schwarzes Fell hob sich kaum von der Dunkelheit ab. Es stellte einen von vielen Schatten dar, die Prinzessin Valyra noch immer Angst bereiteten.

Sie zitterte am ganzen Leib, während sie den kleinen Dolch umklammerte. Der einzige Weg, die Logdrosche zu besiegen, bestand darin, sie ruhigzustellen – genauso, wie Rania es ihr aufgetragen hatte.

Die blonde Prinzessin presste die Lippen aufeinander und ging einen Schritt auf das Tier zu. Dabei achtete sie darauf, die Augen nicht abzuwenden, denn Logdroschen waren gehemmt, solange sie angestarrt wurden. Aus dunklen Pupillen erwiderte das schwarze Wesen, das entfernt an einen Wolf erinnerte, ihren Blick. Noch immer knurrte es.

Valyras Atem ging unregelmäßig. Obwohl die Angst zu einem Bestandteil ihres Lebens geworden war, gewöhnte sie sich nicht daran. Ganz im Gegenteil: Jede Nacht, in der sie unterwegs war, kam ihr schlimmer vor als die vorherige.

Am Anfang hatte sie noch gedacht, dass es irgendwann ein Ende nehmen würde, aber nun glaubte sie nicht mehr daran. Ob Rania jemals zufrieden wäre? Ob es Valyra irgendwann gelingen würde, alle Zutaten zu finden?

Sie atmete tief durch, dann sprach sie die Worte aus, die Rania ihr mit auf den Weg gegeben hatte.

»Alea Yunis«, rief sie, so wie ihre Stiefmutter es ihr beigebracht hatte. »Alea Yunis, Alea Yunis!« Dabei ließ sie die Logdrosche nicht aus den Augen.

Bei der Erwähnung der Zauberformel spannte sich der Körper des großen Wolfes an, das Knurren wurde stärker und für einen Augenblick sah es aus, als wollte er zum Sprung ansetzen. Doch plötzlich stieß er ein Wimmern aus, das für eine Kreatur dieser Größe kläglich wirkte. Zuerst wurde der Blick der Logdrosche leer, dann warf sie sich auf den Boden und blieb bewegungslos liegen.

Valyra seufzte erleichtert auf. Das war gerade noch einmal gut gegangen.

Doch nun durfte sie keine Zeit verlieren.

Die Prinzessin hielt den Dolch erhoben in der rechten Hand, dann trat sie auf die Bestie zu, die regungslos vor ihr lag. Rania zufolge waren Logdroschen nicht zu töten, aber mit den richtigen Worten konnte man sie für eine Weile betäuben. Da der Bann jedoch nicht ewig hielt, musste Valyra schnell sein.

Ihre Hand zitterte, was kein gutes Zeichen war. Als der große Wolf unter ihr lag, wusste sie, dass sie sich nun überwinden musste – oder elendig sterben würde. Denn Logdroschen waren nachtragende Kreaturen und ein zweites Mal würde sie dem großen Wolf nicht entkommen.

Sie umklammerte den Dolch mit beiden Händen und fixierte das Auge der Logdrosche, das sie leer anblickte. Dann atmete Valyra tief durch – nur für einen Moment, um Kraft zu sammeln. Die Prinzessin zitterte mittlerweile so sehr, dass sie ihren Körper kaum noch kontrollieren konnte.

Entschlossen nickte sie. Jetzt oder nie.

Mit voller Wucht rammte sie den Dolch mitten in das Auge der Bestie. Valyra wusste, dass sie nicht das gesamte Sehorgan brauchte, ein Teil davon würde schon reichen. Mit dem Dolch versuchte sie, das Auge aus der Verankerung zu lösen. Dabei musste sie das ständig aufkommende Ekelgefühl unterdrücken. Auch mit solchen Operationen kam sie nach wie vor nicht gut klar, selbst wenn sie schon dem einen oder anderen Tier etwas hatte entnehmen müssen.

Valyra griff in ihren Beutel und holte ein Taschentuch hervor, in das sie die glibberigen Teile einwickelte. Den Würgereflex unterdrückend, ging sie in die Knie und verrichtete ihre Arbeit.

Zuletzt zog sie ihren Dolch aus den Überresten, behielt ihn aber in der Hand. Nur weil sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, bedeutete dies nicht, dass sie sicher war. Denn auch auf dem Heimweg konnten Gefahren lauern.

Hektisch entfernte sich Valyra von der verwundeten Logdrosche. Zunächst einmal galt es, Strecke zwischen sich und das grausame Wesen zu bringen, denn länger als zwanzig Minuten würde der Hypnosebann nicht anhalten.

Die Prinzessin sprang über eine Wurzel und duckte sich unter einem Ast hinweg. Ein Gutes hatte Ranias monatelange Qual: Valyra konnte sich mittlerweile gut im Dunkeln orientieren. Auch mit wenig Licht fand sie ihren Weg. Was blieb, war das ungute Gefühl, das sie in der Nacht immer überkam. Manchmal fühlte sie sich beobachtet. Ein anderes Mal ängstigte sie sich vor den Geräuschen der Finsternis. Doch heute schrie nur ein Käuzchen.

Valyra lief eilig durch den dunklen Wald. Ihre Aufgabe war erfüllt und das bedeutete, dass es keinen Grund gab, aus dem Rania unzufrieden sein könnte. Vielleicht würde sie ihr erlauben, früher schlafen zu gehen, und sie weniger lange quälen als sonst.

Während Valyra durch das Dickicht rannte, schlug der Beutel unablässig gegen ihre Seite. Sie hörte das Klopfen ihres Herzens, laut und unregelmäßig.

Ob die Bestie schon erwacht war? Nein, ausgeschlossen. Sie war noch nicht so lange unterwegs. Doch man sagte Logdroschen einen ausgezeichneten Geruchssinn nach. Wenn sie erst aufgewacht war, würde es nicht lange dauern, bis sie sich auf die Suche nach Valyra begäbe. Dafür reichte ihr auch ein Auge.

Die Prinzessin steigerte ihr Tempo noch einmal, selbst wenn der Boden uneben und matschig wurde. Auf dem Hinweg hatte es geregnet. Glücklicherweise war es bis zum Turm nicht mehr weit.

Valyra ballte die freie Hand zur Faust, während sie sich eine Närrin schalt. Freute sie sich gerade, den Turm zu erreichen? Jenen Ort, in dem sie die schlimmsten Dinge erlebt hatte? Aber manchmal war das Leben genau so: Man musste sich zwischen zwei Übeln entscheiden und wählte das, das einen am Leben ließ.

Rania ließ sie leben. Denn sie brauchte sie. Valyra wusste nicht, wie lang die Liste an Zutaten war und was Rania darüber hinaus für sie geplant hatte. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie es auch gar nicht wissen. Es würde niemandem helfen, wenn sie im Voraus zusammenbrach. Sie musste stark bleiben.

Die Prinzessin erinnerte sich an den Tag, an dem sie zum ersten Mal den Turm von außen gesehen hatte. Er war ihr riesig vorgekommen – gigantisch und erdrückend. Und auch jetzt, als sie den Kopf in den Nacken legte und das steinerne Mauerwerk in Augenschein nahm, fühlte sie sich winzig und unbedeutend.

Der Turm hatte nur ein einziges Fenster – und hinter diesem brannte Licht.

Abrupt wurde Valyra in die Luft gehoben – auch dies hatte ihr am Anfang Angst bereitet. Mittlerweile glich es einer sich ständig wiederholenden Routine. Valyra verlor zuerst den Boden unter den Füßen, dann spürte sie, wie Ranias dunkle Hexenkraft sie immer weiter nach oben trieb. So lange, bis sie das Fenster erreicht hatte und in die Küche getragen wurde.

Im Innenraum des Turmes brannten vier große Kerzen. Der Tisch war bereits gedeckt – sie und Rania nahmen das Abendessen immer sehr spät ein. Valyra war froh, wieder Boden unter den Füßen zu haben, und schlüpfte aus ihren braunen Schuhen, an denen die Erde des Waldes haftete. Anschließend zog sie die Jacke aus und platzierte den Beutel auf dem Tisch.

Das Esszimmer war klein und rund geschnitten. Nicht viel mehr als eine Kochzeile und ein schmaler Tisch mit drei Stühlen fanden dort ihren Platz. Insgeheim hatte sich die Prinzessin immer gefragt, für wen der freie Schemel bestimmt war.

Valyra schob die Vorhänge vor das Turmfenster, nachdem sie dieses geschlossen hatte. Dann setzte sie sich an das gedeckte Tischchen, auf dem zwei Teller und zwei Becher standen sowie Besteck lag. Obwohl es im Turm wärmer war als draußen, fröstelte sie. Sie schlang die Arme um ihren bibbernden Körper und zuckte zusammen, als sich die einzige Tür öffnete, die aus der Küche führte.

Aus bangen Augen schaute Valyra Rania an, die heute Nacht ein bodenlanges schwarzes Kleid trug, das teuer und edel wirkte. Auf leisen Sohlen kam sie in den Raum geschlichen und blickte die Prinzessin kühl an. Ihre Gesichtszüge waren so ernst wie immer, aber wenigstens schien ihre Stiefmutter nicht wütend zu sein. Dennoch faltete Valyra unter dem Tisch die Hände zu einem stummen Gebet, in der Hoffnung, dass sie die Nacht unbeschadet überstehen würde.

Ranias dunkle Haare fielen ihr in Wellen den Rücken hinab. Passend zu ihrer schwarzen Aura hatte sie die Augen dunkel geschminkt und die Lippen in einem braunen Ton angemalt.

»Da bist du ja endlich«, merkte sie eisig an und stellte den Kerzenleuchter, den sie in der Hand getragen hatte, auf der Anrichte ab. »Warst du erfolgreich?« Rania war nur noch wenige Schritte von Valyra entfernt. Sie durchbohrte die Prinzessin regelrecht mit ihren unnatürlich grünen Augen.

Valyras Hände begannen zu zittern. »Ich war erfolgreich«, sagte sie mit bebender Stimme.

»Dann zeig gefälligst, was du mir mitgebracht hast«, zischte Rania und brachte Valyra dazu, den Beutel blitzschnell zu ergreifen und ihn ihrer Stiefmutter zu reichen. »Du warst lange weg, Valyra.« Die Hexe musterte die Sechzehnjährige nachdenklich. »Ich hoffe, dein Ausflug hat sich gelohnt.«

Sie schnippte einmal mit den Fingern, dann schwebte das Taschentuch aus dem Beutel und offenbarte Rania die Überbleibsel des Auges. Zunächst warf sie einen prüfenden Blick darauf, nickte aber schließlich.

»Du hast deinen Auftrag erfüllt«, bemerkte die schwarzhaarige Frau, woraufhin Valyra erleichtert ausatmete.

Sie hatte es geschafft.

Rania verstaute das Auge in einer hölzernen Schale, die sich in einem Schränkchen auf der Anrichte befunden hatte, und kniff die Lippen zusammen. »Bald nenne ich dir die nächste Zutat«, sagte sie geheimnisvoll.

Valyra nickte und spürte, wie die Angst ihren Körper lähmte. Sie konnte sich kaum an eine Zeit erinnern, in der sie der Zukunft positiv gegenübergestanden hatte. Wann hatte sie sich das letzte Mal auf etwas gefreut?

»Nun gut, lass uns zu Abend essen.« Rania setzte sich Valyra gegenüber. »Worauf hättest du Lust, mein Liebling?«, fragte die Hexe mit falscher Stimme.

Valyra ballte die Hände unter der Tischplatte zu Fäusten. Bevor sie etwas sagen konnte, hatte Rania wieder das Wort ergriffen.

»Was hältst du von weichen Klößen in brauner Soße?«, schlug sie vor.

Valyras Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Im Geiste zählte sie bis zehn, dann bis zwanzig.

Rania zwinkerte ihr zu. Sie genoss ihr Spiel. Sie genoss es, Valyra jede Nacht das gleiche Essen vorzusetzen – das Essen, das ihrem Vater das liebste gewesen war und das sie anfangs in Tränen hatte ausbrechen lassen, wenn sie nur daran dachte.

Dies geschah mittlerweile nicht mehr. Valyra wurde noch immer traurig, wenn Rania die Leibspeise des Königs erwähnte – aber darin bestand nicht das größte Problem. Hauptsächlich ekelte sie sich vor den Klößen, die sie seit ihrer Ankunft im Turm jede Nacht essen musste. Sie hatte die Küche nach etwas anderem durchsucht, aber da Rania die Mahlzeiten durch Magie heraufbeschwor, gab es keinerlei Nahrung in dem hohen Gemäuer. Also hatte Valyra die ersten Abendmahle unter Tränen zu sich genommen und war während der letzten kurz vor dem Übergeben gewesen.

So auch heute.

Die Hände der Prinzessin zitterten, als sie sah, wie Rania eine ausschweifende Geste machte und eine Zauberformel aussprach. Wenige Sekunden später hatte sich der Teller vor Valyra mit drei großen Klößen und brauner Soße befüllt.

Rania aß etwas anderes – jede Nacht – und immer genau das, worauf sie Lust hatte. Dieser Luxus blieb der Prinzessin verwehrt, denn sie bekam nur eine einzige Mahlzeit am Tag – und diese war stets gleich. Der Hunger nagte jede Stunde an ihr, doch wenn es endlich so weit war, bekam sie kaum einen Bissen herunter.

»Ich muss immer an deinen Vater denken, wenn ich dich die Klöße essen sehe«, sagte Rania und mischte falsche Sehnsucht in ihre Stimme. Sie nahm einen Schluck von ihrem Wein und schnitt sich ein Stück vom Braten ab. Genüsslich schob sie sich das faserige Fleisch in den Mund und seufzte wohlig.

Valyras Magen knurrte, aber am liebsten hätte sie sich übergeben. Tapfer griff sie nach der Gabel und drückte den ersten Kloß platt. Sie redete sich ein, dass das Essen anders schmecken würde, wenn es nicht so aussah wie immer. Eine Weile bearbeitete sie die Klöße, bis sie weichem Brei ähnelten, dann nahm auch sie den ersten Bissen.

Eines Nachts, als sie ihre Gedanken nicht hatte abschalten können, hatte Valyra sich beim Essen die Nase zugehalten, um den Geschmack, der ihr mittlerweile so zuwider war, nicht in sich aufnehmen zu müssen. Doch Ranias Reaktion – ein heftiger Schlag in den Rücken – hatte deren Missfallen deutlich gemacht. Und seitdem ließ sie es.

Valyra kaute und schluckte. In ihr kämpften Hunger und Ekel um die Oberhand. Sie merkte, dass Rania sie genau beobachtete. Ein kleines teuflisches Lächeln lag auf ihren Lippen, die Wimpern so schwarz wie der Abgrund ihrer Seele.

Die Prinzessin trank ihr Wasser viel zu früh leer, auch wenn das nicht klug war, denn ihr standen pro Tag nur drei Gläser zu, die sie sich gut einteilen musste. Was im Hochsommer schier unmöglich gewesen war, funktionierte nun schon etwas besser. Allein die Angst blieb, dass Rania die Ration irgendwann schmälern würde.

Mit Mühe und Not schaffte Valyra es, den ersten Kloß zu essen. Sie wusste, dass sie Nahrung brauchte, wenn sie überleben wollte. Und das wollte sie. Gleichgültig, wie schrecklich Rania zu ihr war, gleichgültig, wie sehr sie sie quälte – Valyra wollte am Leben bleiben. Für ihre Schwestern. Für ihren Vater. Und für sich selbst. Sie wollte diesen schrecklichen Fluch brechen, der ihr Leben in einen Albtraum verwandelt hatte.

»Erinnerst du dich noch an deinen fünften Geburtstag, Liebling?«, fragte Rania in diesem Moment und suchte über den Tisch hinweg Valyras Blick. Scheinheilig sah sie die Prinzessin an. »Du hast von deinem Vater ein Schaukelpferd bekommen und es war dein liebstes Spielzeug. Kannst du dich an die Freude erinnern, die du empfunden hast, als du das rote Papier gelöst und das Pferd in Empfang genommen hast? Dieses Glück, diese Zufriedenheit?«

Rania seufzte ergriffen und Valyra hatte größte Mühe, ihren Zorn zu kontrollieren. Sie schaute ihre Stiefmutter nicht länger an, sondern war damit beschäftigt, den zweiten Kloß hinunterzuwürgen.

»Deine Freude hat deinen Vater so glücklich gemacht. Er hatte Tränen in den Augen, als du auf das Pferd gestiegen bist! Und deine Mutter – Gott hab sie selig –, wie froh sie war, wie ausgelassen!«

»SCHWEIG!«, schrie Valyra, weil sie es nicht mehr aushielt. Weil sie es nicht ertrug, wie Rania jede Nacht die Vergangenheit heraufbeschwor, wie sie durch ihre magischen Kräfte Valyras Erinnerungen nutzte, um die schönsten Tage hervorzukramen, die ihr am meisten wehtaten.

Der Zorn flammte heiß in ihr, dennoch presste sie sich die Hand vor den Mund. Sie hatte schon viel zu viel gesagt. Panik durchzuckte ihren Körper und als Ranias Gesicht eine starre Maske wurde, wusste Valyra, dass sie zu weit gegangen war.

»Rania, es … Ich …«

»SCHWEIG STILL!«, rief diese mit funkelnden Augen, aus denen die Wut sprach. »Wer bist du, dass du mir in meinem eigenen Turm Befehle erteilst? Du hast wohl immer noch nicht verstanden, wer hier das Sagen hat?«

Rania schob ihren Stuhl nach hinten und stand auf. Langsam – bedrohlich langsam – bewegte sie sich auf Valyra zu und baute sich vor ihr auf.

»Es tut mir leid, ich wollte nicht … Ich …«, stammelte die verfluchte Prinzessin und biss sich versehentlich auf die Zunge.

»Fanema est«, murmelte Rania, dann drehte sie ihre Hand in der Luft.

Valyra spürte drei heftige Schläge auf ihrer Wange. Bei jedem traten ihr Tränen in die Augen, auch wenn sie sich fest vorgenommen hatte, nicht mehr zu weinen. Sie wollte stark sein.

In den ersten Wochen hatte Rania Valyra anfassen müssen, um ihr wehzutun. Sie hatte Hand anlegen müssen, um ihr Schmerzen hinzuzufügen. Doch mittlerweile war es ihr gelungen, ihre Magie weiter auszubauen und immer stärker zu werden, sodass sie die Gedankenkontrolle beinahe fehlerfrei beherrschte.

»Hast du es endlich verstanden?«, fragte Rania kühl.

Valyra nickte schnell. Sie wagte es nicht, noch ein Wort zu sagen. Wie ein Racheengel thronte ihre Stiefmutter über ihr; die Kontrolle lag vollends in ihrer Hand.

»Du wirst morgen in den Eisigen Wald gehen«, trug Rania Valyra auf. »Dort wartet eine Aufgabe auf dich.«

Die Prinzessin, die vor Angst wie gelähmt war, zitterte nun noch mehr. Sie war schon einmal im Eisigen Wald gewesen und es war ihr alles andere als gut bekommen.

»Nun geh schlafen«, sprach Rania endlich die erlösenden Worte. »Morgen erfährst du mehr über deinen Auftrag.«

Vor Valyras Augen löste sich die Hexe in Luft auf.

Die Prinzessin konnte die Küche gar nicht schnell genug verlassen. Der Moment, in dem sie in ihre Kammer geschickt wurde, war der Höhepunkt jedes Tages. Zumindest im Schlaf schien sie vor Rania sicher zu sein.

Auf wackeligen Füßen erreichte Valyra den schmalen Korridor und nahm die erste Tür rechts. Zwar besaß sie keinen Schlüssel, um ihr Zimmer abzuschließen, aber bisher hatte ihre Stiefmutter sie nie in der Kammer besucht. Das gab Valyra Hoffnung, dass es auch in Zukunft so bleiben würde.

Sie atmete tief durch, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Kurz darauf gaben ihre Beine unter ihr nach. Der anstrengende Tag forderte seinen Tribut und zwang Valyra in die Knie. Auf dem nackten Steinboden rollte sie sich zu einer Kugel zusammen und deckte sich notdürftig mit dem Flickenteppich zu. Ein Kissen besaß sie nicht.

Mit dem Einschlafen hatte sie keine Probleme. Denn wenn sie sich in tiefem Schlummer befand, gab es eine Möglichkeit, ihre verfluchten Schwestern wiederzusehen – und für genau diese Minuten lebte sie.

 

Die Angst war nicht von ihr gewichen, als Valyra in der Scheinwelt erwachte. Noch immer klopfte ihr Herz wie verrückt, noch immer schlotterten ihre Knie. Im Grunde wusste sie, dass sie hier sicher war. Gleichzeitig war ihr aber bewusst, dass die Besuche bei ihren Schwestern meist nur einige Minuten dauerten und sie dann wieder in die Wirklichkeit zurückkehrte.

Die Scheinwelt war ein sonderbarer Ort, der sich jeglicher Zeit entzog. Es handelte sich um eine große Kuppel mit durchsichtigen Wänden, in der sich ihre Schwestern in den Nächten trafen. Seit Rania den Fluch über sie ausgesprochen und sie alle an unterschiedliche Orte geschickt hatte, war die Scheinwelt die einzige Möglichkeit, um mit den anderen verwunschenen Prinzessinnen in Kontakt zu treten.

Die Zwillinge Penelopé und Genevieve standen am Rand der Kuppel und redeten miteinander, Tatjana, die Zweitälteste, hielt sich abseits auf und schien nachzudenken.

Valyra hätte so gern mit ihren Schwestern gesprochen, hätte ihnen so gern ihr Herz ausgeschüttet, aber ihre Lippen waren versiegelt. Über belanglose Dinge konnte sie mit ihnen reden, aber sobald es um den Fluch ging, starb ihre Stimme.

Was ihre Schwestern wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass Rania sich bei ihr aufhielt? Valyra hatte sich viele Gedanken über die Aufenthaltsorte von Penny, Ginny und Tati gemacht, aber sie konnte nur mutmaßen. Sicher wusste sie nichts.

Außer einer Sache: Estelle, die älteste Schwester und Valyras engste Bezugsperson, war verschwunden und tauchte seither nicht mehr in der Traumwelt auf. Im Gegensatz zu Arabella, die es nie in die Scheinwelt geschafft hatte, war Estelle vom einen auf den anderen Moment nicht mehr erschienen.

Der alleinige Gedanke an ihr mögliches Schicksal reichte aus, um Valyra ein Engegefühl in der Kehle zu bescheren. Sie ballte die Hände zu Fäusten und atmete tief durch. Ein und aus, ein und aus.

»Was ist los, Kleine?«, fragte Penny sie auf einmal.

Valyra hob den Kopf und sah, dass ihre ältere Schwester neben ihr stand und neugierig auf sie hinabblickte.

»Alles in Ordnung mit dir?«, wollte sie wissen und kniff ihr in die Wange.

Valyra seufzte. Sie wusste, dass sie für ihre Schwestern noch ein Kind war – das Nesthäkchen, das es zu beschützen galt. Doch das war sie nicht mehr. Rania und der Fluch zwangen sie dazu, erwachsen zu werden.

»Alles in Ordnung«, sagte sie und nickte.

Penny sah sie weiterhin zweifelnd an.

»Und bei dir?«, erkundigte sich Valyra, auch wenn ihr klar war, dass sie keine zufriedenstellende Antwort erhalten würde. So könnte Penny lediglich mit Ja oder Nein antworten, Details musste sie sich sparen.

»Ich bin glücklich über jeden Tag, den wir überstehen«, sagte ihre Schwester mit einer seltsamen Schwermut in der Stimme.

»Da stimme ich dir zu«, mischte sich Tatjana ein, die zu den anderen gekommen war. Um ihren Mund lag ein strenger Strich, der sie älter wirken ließ. »Wir haben es immerhin so weit geschafft. Arabella und Estelle hingegen …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, aber Valyra ahnte, worauf sie hinauswollte.

Trotzig presste sie die Lippen aufeinander. »Sie sind nicht tot!«, verkündete sie mit fester Stimme.

»Und was macht dich da so sicher?« Tatjana drehte sich zu ihr um und musterte sie kühl.

Unter ihrem starren Blick wurde Valyra immer kleiner, auch wenn sie sich vorgenommen hatte, nicht mehr zu kuschen. Sie stemmte die Hände in die Hüfte. »Ich glaube ganz fest daran. Mama hat uns beigebracht, dass das Gute siegt. Immer.«

Als Tatjana nur ein Schnauben für Valyra übrighatte, wurde diese zorniger. Zu allen Schwestern hatte sie ein gutes Verhältnis, aber mit Tatjana war sie nie richtig warm geworden. Schon als sie Kinder gewesen waren, hatte ihr deren kühle Art Sorgen bereitet. Während Estelle, Ginny, Penny und Arabella ihr stets positiv und mit viel Wärme in der Stimme begegneten, blieb Tatjana auf Abstand. Estelle hatte Valyra einmal erzählt, dass Tatjana eine Einzelgängerin war und sich nicht viel aus der Gesellschaft der Schwestern machte. Dennoch sollte Valyra sich um sie bemühen.

»Was schaust du mich so an?«, fragte Tatjana in diesem Moment und blies sich eine Strähne ihres dichten braunen Haares aus der Stirn. »Die Chancen, dass du eine der beiden wiedersehen wirst, stehen nicht sonderlich gut.«

Valyra hatte schon den Mund zu einer Antwort geöffnet, als die Glaskuppel sich vor ihren Augen verflüchtigte und die Scheinwelt verschwand.

Kapitel 2

 

Ihr Kopf dröhnte, als sie aufwachte. Valyra blinzelte zweimal, dann streckte sie die Arme aus und seufzte. Auch wenn es ihr schwerfiel, aufzustehen, waren die Vormittage am erträglichsten. Wenn der Morgen noch früh war und die Sonne jung, hielt sich Rania selten im Turm auf.

Valyra wusste nicht genau, wo die Hexe hinging – ob sie bei ihrem Vater war oder an einem anderen Ort Schrecken verbreitete –, aber das schien gar nicht so wichtig. Wenigstens ließ sie Valyra für ein paar Stunden allein.

Auf leisen Sohlen verließ die Prinzessin ihre Kammer und durchquerte den Korridor, bis sie in die Küche gelangte. Hier nach etwas Essbarem zu suchen, war aussichtslos, denn Rania sorgte dafür, dass es nichts gab.

Jeden Vormittag überprüfte sie, ob die Tür zu Ranias Zimmer geschlossen war – oder ob ihre Stiefmutter im Eifer des Gefechts vergessen hatte, ihre Kammer zu verriegeln. Bisher war dies nie geschehen – auch heute nicht, wie Valyra seufzend erkannte.

Noch nie war es ihr gelungen, einen Blick in dieses Zimmer zu werfen. Noch nie hatte sie Ranias privates Domizil erspähen dürfen – und das, obwohl die Neugier in ihr riesig war. Die Prinzessin wusste, dass dieser magische Turm, aus dem es kein Entkommen gab, Geheimnisse barg. Und da es außer dem Korridor, ihrer Schlafnische und der Küche nur Ranias Zimmer gab, musste sich ein Teil des Rätsels dort befinden.

Rätsel.

Das Wort rief etwas in Valyra wach, an das sie gar nicht denken wollte. Aber nun, wo sich das Erinnerungsfenster geöffnet hatte, gab es kein Zurück mehr.

Ebenso wie ihre Schwestern hatte auch sie ein Rätsel bekommen, geschrieben auf einen Schnipsel Pergamentpapier. Sie bewahrte ihn unter ihrem Flickenteppich auf, weil ihr ein besseres Versteck nicht eingefallen war und sie in der Kammer Rania nicht fürchten musste. Obwohl die verwunschene Prinzessin das Rätsel schon lange nicht mehr angeschaut hatte, kannte sie seinen Wortlaut längst auswendig.

 

Im Knochen liegt die Wahrheit begraben,

denn Knochen waren’s die ganze Zeit.

Diamanten bringen falsches Leben,

Alpha ist der Käfig, Omega das Grab.

 

Wie schwer konnten schon vier Zeilen zu lösen sein?

Jedes Mal, wenn Valyra über die Wörter nachdachte, wurde sie wahnsinnig. Sie kam einfach nicht voran, wusste nicht, was sie tun sollte und was das Rätsel bedeutete. Die erste Zeile bereitete ihr eine Gänsehaut, weil sie automatisch an Tod und Verderben denken musste, doch mit den anderen wusste sie gar nichts anzufangen.

Die Prinzessin spürte den Zorn in sich. Wahrscheinlich lag die Lösung des Rätsels irgendwo dort draußen – im Wald. Das Problem war nur, dass sie diesen nicht auf eigene Faust auskundschaften durfte und das Gebiet, in das Rania sie schickte, durch einen magischen Schutzwall begrenzt wurde. Das wiederum bedeutete, dass Valyra nicht weglaufen konnte – auch nicht, wenn sie sich frei und nicht unter Beobachtung wähnte.

Müde sank das blonde Mädchen auf einen der Küchenstühle und schloss die Augen. Sie fühlte sich so unfähig! Auch wenn ihre Schwestern immer behaupteten, nicht voranzukommen, konnte Valyra sich nicht vorstellen, dass sie noch weniger wussten als sie selbst. Es machte sie wahnsinnig, dass sie nichts tun konnte, jeder Tag dem anderen glich und sie für die Person arbeiten musste, die sie am meisten auf der Welt verachtete.

Was ihre Schwestern wohl von ihr halten würden, wenn sie das wüssten?

Anfangs hatte Valyra alles versucht, um Rania Kontra zu geben. Sie hatte sich geweigert, in den Wald zu gehen und die Zutaten für einen Trank zu sammeln, dessen Wirkung sie schaudern ließ. Doch Valyra war menschlich durch und durch, nicht in der Lage, etwas gegen eine Hexe auszurichten. Rania hatte nicht viel gebraucht, um ihren Willen zu brechen – aber die Prinzessin fühlte sich wie eine Verräterin.

Von ihrer Unruhe in die Höhe getrieben, stand sie auf und ging zu dem großen Fenster, das ihr einziger Kontakt zur Außenwelt war. Seufzend blickte sie hinab – hinein in den grünen Wald, der an diesem Morgen so friedlich aussah, dass es beinahe wehtat. Valyra ließ ihren Blick über die grünen Baumwipfel schweifen und beobachtete den Flug eines Vogels.

Wie gern wäre sie so frei wie er. Wie gern würde sie dem Käfig entfliehen, der sie gefangen hielt.

Alpha ist der Käfig, Omega das Grab.

Bedeutete das, dass der Käfig nur den Anfang ihrer Reise markierte, diese aber unweigerlich in ihrem Tod enden würde? Musste sie den Turm hinter sich lassen? Das hatte sie ohnehin vor, aber die Umsetzung gestaltete sich als schwierig.

Gerade wollte Valyra sich vom Fenster abwenden, als ein Geräusch an ihre Ohren drang. Verwirrt hielt sie in der Bewegung inne und lauschte.

War Rania doch nicht gegangen?

Das Mädchen runzelte die Stirn. Sie konnte nicht sagen, welcher Art das Geräusch war. Es hatte sie an einen lang gezogenen Laut erinnert – an eine Art Gesang …

Flink verließ die Prinzessin die Küche und schob sich in den schmalen Flur. Vor Ranias Tür blieb sie stehen, presste ihr rechtes Ohr gegen die hölzerne Oberfläche. Doch hier hörte sie nichts.

Als Valyra in die Küche zurückging, wurde der seltsame Gesang wieder lauter. Noch einmal stellte sie sich vor das Fenster, um zu entschlüsseln, ob der Urheber der Melodie sich im Wald aufhielt. Doch das Geräusch wurde leiser.

Ihre Sinne waren geschärft, dennoch fiel es ihr schwer, auszumachen, wo der Gesang seinen Ursprung nahm. Sie presste ihr Ohr nacheinander gegen alle Wände, aber die Melodie schien von weiter unten zu kommen.

Die Prinzessin sank auf die Knie und auf den hölzernen Boden, der stellenweise mit einem schmalen Flickenteppich bedeckt war. Schon viele Male hatte sie unter ihn geschaut und sie war der felsenfesten Überzeugung, dass sich darunter nichts befand, doch als sie ihn in die Hand nahm und zur Seite schob, wurde das Gewimmer lauter.

Valyras Atem ging schneller. Mit Schwung schob sie den Teppich zur Seite – nur um zu erkennen, dass ihr Instinkt sie nicht getäuscht hatte. Sie sah nichts als Dutzende Holzlatten, die sich aneinanderreihten.

Dennoch wollte der Gesang nicht aufhören und brachte Valyra dazu, ihr Ohr gegen den Boden zu pressen. Zur selben Zeit spürte sie, wie ein warmes Gefühl ihren Oberkörper durchdrang und sie für einen Moment in Hitzewallungen ausbrechen ließ.

Verwundert griff Valyra unter ihr Leinenoberteil – und holte die Brosche hervor, die sie versteckt an ihrem Körper über dem Herzen trug und die in der Stoffinnenseite festgesteckt war. Sie leuchtete wie verrückt. Der in sie eingesetzte Rosenquarz war warm, beinahe heiß, und blinkte in unregelmäßigen Abständen. Seit Valyra ihn von ihrer Mutter bekommen hatte, war er nie mehr gewesen als ein kalter Stein. Sie wusste nicht einmal, dass er die Fähigkeit besaß, seine Temperatur zu verändern.

Noch blickte sie auf den Stein hinab, der die Größe einer Kastanie hatte, als das Licht des Rosenquarzes auf einmal auf den Boden überging. Die Holzlatten wurden rosa erleuchtet und bildeten ein Rechteck.

Die Prinzessin hielt die Brosche in ihrer rechten Hand. Mit der linken tastete sie die Holzlatten ab – und tatsächlich: Auf einmal spürte sie eine Art metallenen Griff, der anscheinend unsichtbar gezaubert war. Ihr Herz klopfte wie wild und das Blinken der Brosche wurde immer schneller.

Entschlossen zog Valyra an dem Griff und musste ihre ganze Kraft zusammennehmen, um ihn anheben zu können. Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn, doch endlich öffnete sich die Falltür quietschend.

Sie schaute mit riesigen Augen auf die Treppe hinab, die sich unter ihr ergab und mitten in die Dunkelheit führte. Aufregung drohte sie zu lähmen, die Nervosität fraß sich durch ihre Eingeweide.

Zum ersten Mal seit … überhaupt … hatte sie etwas entdeckt.

Panisch schaute sie sich um. Wann würde Rania wiederkommen? Sie durfte auf keinen Fall mitbekommen, was Valyra herausgefunden hatte. Ob sie bis morgen warten sollte?

Nein. So würde sie nie vorankommen.

Hastig suchte Valyra in den Schubladen der Küche nach einem Licht. Was sie fand, waren der Stummel einer Kerze und ein paar Streichhölzer. Nicht perfekt, aber besser als nichts.

Mit zittrigen Fingern entzündete sie den Stumpen und steckte sich anschließend die Brosche wieder an die Innenseite ihrer Bluse. Sie fühlte sich sicherer, wenn sie das Schmuckstück bei sich trug. Dann stellte sie sich vor den geheimen Gang und blickte in die Dunkelheit hinab. Als Kind hatte sie sich vor der Nacht und dem Fehlen von Licht gefürchtet, doch durch ihre Ausflüge war sie gezwungen gewesen, sich daran zu gewöhnen.

Valyra umklammerte den Kerzenstumpf und ging die Stufen hinab, die knarrende Geräusche von sich gaben. Schon bald war sie unten angekommen und brauchte das Licht, um die Umgebung zu erleuchten. Sie fand sich in einem schmalen Gang wieder, in dem es muffig roch. Angestrengt spitzte sie die Ohren und erkannte, dass die Melodie noch einmal lauter geworden war. Sie war auf dem richtigen Weg.

Einen letzten Blick nach oben werfend, setzte Valyra sich in Bewegung und tat erste unsichere Schritte.

Ob Rania etwas von diesem Geheimgang wusste? Ob sie ihn am Ende selbst erschaffen hatte?

Das Herz der Prinzessin klopfte unregelmäßig und sie spürte, wie die Anspannung in ihr immer größer wurde.

Was würde sie in dem unterirdischen Korridor finden?

Mit der Kerze leuchtete sie die Wände ab und stieß schon bald auf eine halb vermoderte Tür. Zunächst versuchte Valyra, durch das Schlüsselloch zu schauen, doch dafür war es zu dunkel.

Die Melodie erklang an dieser Stelle am deutlichsten – und nicht nur das: Je angestrengter Valyra lauschte, desto mehr konnte sie verstehen. Denn bei dem seltsamen Gesang handelte es sich nicht nur um eine scheinbar zufällige Tonabfolge.

Schon bald konnte Valyra einen Text ausmachen. Zunächst nur einige Wörter, die sich aber nach einer Weile zu vollständigen Sätzen verbanden. Die Stimme klang jung und hell, beinahe jugendlich.

»Es war einmal ein Vater, der hatte sechs Kinder. Sechs Kinder hatte der König. Er liebte sie alle, doch es reichte nicht aus. Nun sind die Kinder tot.«

Valyra überlief eine Gänsehaut, als sie den Inhalt des Liedes verstand. Doch obwohl die Sätze grausam waren, klang die Melodie fröhlich. Beinahe beschwingt.

Noch eine Weile blieb die Prinzessin vor der Tür stehen, in der Hoffnung, mehr zu erfahren, doch die Stimme wiederholte nur dieselben Worte, das Lied schien nur aus den immer gleichen Zeilen zu bestehen.

Dann atmete Valyra tief durch und drehte am Knauf, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Enttäuscht biss die Prinzessin sich auf die Unterlippe und lauschte noch einen Moment, bevor sie all ihren Mut zusammennahm.

»Hallo? Ist da jemand?«, rief sie.

Zunächst war ihre Stimme zögerlich und zitterte, doch schnell wurde Valyra lauter. Die Möglichkeit, dass sich hinter der Tür jemand befand, der ihr helfen konnte, machte sie mutig.

»Hallo? Könnt Ihr mir öffnen? Ich muss mit Euch reden!«

Als sie keine Antwort bekam, ballte Valyra die Hand zu einer Faust und trommelte gegen das Holz. Da stoppte der sonderbare Gesang für einen Moment.

Hastig rief Valyra: »Könnt Ihr mich bitte reinlassen? Oder zumindest mit mir sprechen? Wer seid Ihr? Seid Ihr auch eingesperrt wie ich?«

Sie zwang sich zur Ruhe, auch wenn die unausgesprochenen Fragen in ihr wüteten. Angespannt wartete sie auf eine Antwort, doch statt einer Erwiderung setzte wieder der Gesang ein.

»Bitte!«, flehte Valyra. »Bitte redet mit mir! Ich bin hier eingesperrt und …«

Abrupt brach sie ab, weil sie außer der fremden Stimme noch ein anderes Geräusch gehört hatte. Ein Geräusch, das … von oben kam. Schweiß brach Valyra aus, ihr Herz klopfte in einem wilden Stakkato und für einen Moment war sie wie gelähmt.

»Oh nein«, flüsterte sie und presste die Lippen aufeinander.

Ängstlich starrte sie den Gang entlang. Kurz darauf kam Leben in ihren Körper.

»Ich muss weg«, meinte sie hektisch und lief so schnell durch den Korridor, dass das Licht der Kerze ausging.

Überstürzt rannte sie die Stufen hinauf, die so laut knarzten, dass die Prinzessin nur hoffen konnte, dass niemand sie hörte. Als sie oben angekommen war, sah sie sich panisch in der Küche um, die zu ihrer Erleichterung verlassen dalag. Dann schloss sie mithilfe ihrer Brosche den Zugang zum Geheimkeller und platzierte den Flickenteppich darauf.

Valyra hatte gerade noch Zeit, die Kerze zurück in die offene Schublade zu legen, da wurde die Tür zur Küche geöffnet.

Rania betrat den Raum, die Haare streng am Hinterkopf festgesteckt, ein boshaftes Lächeln auf ihren Lippen. Die Prinzessin starb innerlich tausend Tode. Sie wusste, dass der Turm nur einen Eingang hatte und dieser direkt durch das Fenster der Küche führte. Rania musste also den Raum durchquert haben, als sie angekommen war. Was unweigerlich bedeutete, dass sie die offene Tür im Boden gesehen hatte.

Valyra zitterte wie Espenlaub. Ihr wurde so schwindlig, dass sie die Hand vor ihren Magen pressen musste, um sich nicht zu übergeben.

Was würde Rania dieses Mal mit ihr anstellen? Wie musste sie heute für ihre Missetat bezahlen?

Sie hielt sich an der Lehne eines Stuhls fest, weil sie sonst zu fallen drohte, und starrte Rania angsterfüllt an. Diese war vor ihr stehen geblieben und musterte sie kühl. Noch hatte der Zorn nicht von ihr Besitz ergriffen, aber Valyra wusste, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte. In ihrem Kopf formten sich Tausende wenig überzeugende Entschuldigungen, doch kein Wort wollte über ihre Lippen kommen.

»Du musst heute zweimal für mich losziehen«, sagte Rania schließlich und setzte sich an den Tisch. Mit einer Handbewegung verdeutlichte sie Valyra, ihr gegenüber Platz zu nehmen.

Verwirrt tat das Mädchen wie ihm geheißen. Lag darin die Bestrafung? Aber wieso blieb Rania so ruhig?

»Ich brauche für den Trank ein Kraut, das nur einmal im Jahr wächst. Und das ist heute«, fuhr Rania mit nüchterner Stimme fort. »Erinnerst du dich an den Tausend-Wunder-Wald?«

Valyra nickte geistesabwesend.

Rania faltete die Hände in ihrem Schoß. »Schön.«

Aus einer Tasche ihres dunkelblauen Kleides förderte sie eine Zeichnung zutage, auf der Valyra ein Gewächs erkannte. Es erinnerte an einen Farn, war allerdings von etwas hellerem Grün und kleiner.

»Nimm das Bild mit und mache dich auf den Weg«, trug Rania ihr auf. »Du hast zwei Stunden Zeit, dann will ich dich wieder hier haben. Wenn nicht …« Ihre Augen blitzten verräterisch.

Valyra wusste, was das bedeutete.

Rania stand auf. Sie baute sich vor Valyra auf und streckte die feingliedrigen Finger ihrer rechten Hand aus. Unsanft wurde die Prinzessin von ihrem Stuhl in die Höhe gewirbelt. Gerade so konnte sie sich einen Schrei verkneifen. Mit einem energischen Kopfnicken öffnete Rania das Turmfenster und ließ Valyra nach draußen schweben.

Jedes Mal, wenn die Prinzessin so hoch in der Luft hing, hatte sie Angst, dass der Hass mit Rania durchgehen würde. Dass sie sie einfach fallen ließ. Doch Valyra ahnte, dass dies nicht passieren würde, solange sie noch einen Auftrag hatte.

Ihre Unterlippe zitterte, während sie versuchte, nicht nach unten zu schauen. Wenn Rania zu boshaften Späßen aufgelegt war, ließ sie Valyra auch mal mehrere Minuten in der Luft baumeln. Obwohl die Prinzessin es ihr nie gesagt hatte, schien Rania zu wissen, dass sie unter grauenhafter Höhenangst litt.

Im Geiste zählte Valyra von zehn herunter und atmete tief durch, als sie schon bei vier sicheren Boden unter den Füßen spürte. Rania hatte ihr einen Mantel sowie Schuhe angezaubert.

Ohne einen weiteren Blick zurück lief Valyra los und verschwand schon bald im Dickicht der Wälder. Die Zeichnung der Pflanze befand sich in ihrer Manteltasche und bis zum Tausend-Wunder-Wald war es nicht sonderlich weit.

Vor allem in ihren ersten Tagen hatte Valyra ihn oft aufsuchen müssen, um Zutaten für den Trank zu beschaffen. Der Tausend-Wunder-Wald stellte einen der wenigen Orte dar, vor dem sie sich nicht fürchtete. Er bot viele verwunschene Verstecke und schöne Wiesen, auf denen sich das Licht in unzähligen Farben brach. Außerdem schien in diesem Teil der Welt fast immer die Sonne – und in jeder Ecke gab es kleine Wunder zu bestaunen: seltene Blumen, zutrauliche Tiere oder besondere Steine.

Hinzu kam, dass es jetzt hell war und das leise Zwitschern der Vögel Valyra in Sicherheit wog.

Die Sonne stand hoch am Himmel und für einen Moment legte die Prinzessin den Kopf in den Nacken und seufzte. Immer wenn es warm war, musste sie an ihr Zuhause denken. An den Ort, der ihr mit jedem Tag fremder wurde und immer mehr wie ein Märchen vorkam.

Sie lief etwa eine halbe Stunde, bevor sie den heimischen Wald verließ und ein großes Kornblumenfeld sie an ihr Ziel brachte. Der Tausend-Wunder-Wald war klein, mehr eine Ansammlung von Baumgruppen. In ihm konnte man sich kaum verlaufen, außerdem wirkte er stets friedlich und beinahe ein wenig gemütlich.

Valyra nahm auf einem umgekippten Stamm Platz, weil sie wusste, dass sie noch Zeit hatte, und dachte nach. Rania hatte mit keinem Wort erwähnt, dass sie Verdacht geschöpft hatte, und dieser Ausflug kam ihr auch nicht wie eine Bestrafung vor. Andererseits musste sie die offene Tür, die in den Keller führte, bemerkt haben.

Aus welchem Grund hatte Rania also nichts gesagt? Der unwahrscheinlichste Fall bestand darin, dass es ihr gleichgültig war und die Kellerräume nichts verbargen, was nicht entdeckt werden sollte.

Entschieden schüttelte Valyra den Kopf. Diese Möglichkeit erschien ihr alles andere als plausibel. Außerdem hatte sie die seltsame Stimme vernommen – und ein Teil von ihr ahnte, dass Rania es nicht gutheißen würde, wenn sie der Spur der Sängerin weiter folgte.

Nachdenklich presste das blonde Mädchen die Lippen aufeinander und blickte auf den Boden.

Würde Ranias Rache noch kommen? Überlegte sie sich bereits, was sie tun sollte, um es Valyra heimzuzahlen?

Mit zitternden Fingern fuhr sich die Prinzessin durch ihr Haar, welches kurz geschnitten war. Mit Schaudern dachte sie an den Tag zurück, an dem Rania sich ihrer bemächtigt hatte.

Valyra war es nicht gelungen, eine Blume zu finden, die nur alle zwei Monate wuchs. Als ihre Stiefmutter erkannte, dass sie weitere acht Wochen auf die Vollendung ihres Trankes warten musste, verlor sie ihre Geduld. Sie fesselte Valyra an den Hand- und Fußgelenken und positionierte sie vor dem großen Spiegel im Flur. Nachdem sie der Prinzessin einige schallende Ohrfeigen verpasst und sie gewürgt hatte, förderte sie eine große, silbern glänzende Schere zutage, mit der sie ihr nach und nach eine Strähne nach der anderen abschnitt.

Valyra erinnerte sich an ihre Klagelaute, an ihr stummes Flehen – und an die vielen Tränen, die geflossen waren, als Rania nicht aufgehört hatte. Jedes Mal, wenn Valyra im Begriff gewesen war, die Augen zu schließen, um das Unheil nicht mit ansehen zu müssen, hatte Rania ihr mit der Schere in den Rücken gestochen. Noch heute trug Valyra zwei rote Male auf ihrer Haut. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, als mit hocherhobenem Kopf zu beobachten, wie sie sich von einer mädchenhaften Prinzessin mit langen Haaren in eine kahlköpfige Gestalt verwandelte.

Ihre Schwester Tatjana hätte vielleicht sogar mit Glatze gut ausgesehen, aber Valyras Gesicht war nicht ausdrucksstark genug, um die fehlenden Haare wettzumachen. Durch den kahlen Kopf wirkten ihre wasserblauen Augen sonderbar klein, die Nase im direkten Vergleich zu groß und ihre Lippen hatte Valyra sowieso noch nie sonderlich gemocht. Sie waren weder rot noch rosa, viel zu blass, um einladend zu wirken.

Mittlerweile waren ihre Haare wieder gewachsen. Natürlich nicht vollständig, aber wenn Valyra ihren Kopf betastete, spürte sie feine Strähnen, die in alle Richtungen abstanden. Sie wusste nicht, ob Rania erneut Hand anlegen würde, wenn die Haare länger wären, aber sie wollte auch nicht daran denken.

Jeden Morgen fühlte sie sich wieder ein bisschen weiblicher. Und dennoch mied sie den Blick in den Spiegel. In ihren Gedanken war sie noch immer die blonde Prinzessin, deren Haare sich leicht lockten, wenn sie nach dem Waschen trockneten.

Auch in der Traumwelt besaß sie noch ihr altes Erscheinungsbild. Aus welchem Grund dies der Fall war, konnte sie nicht sagen, aber sie vermutete, dass der Fluch es ihr verbot, größere Veränderungen zu zeigen, und die Schwestern so wenige Hinweise wie möglich bekommen sollten.

Seufzend erhob Valyra sich, um sich auf die Suche nach dem Kraut zu machen. Überraschenderweise fand sie gleich eine ganze Sammlung davon auf einer kleinen Anhöhe. Vorsichtshalber pflückte Valyra zwei Exemplare, so wäre es nicht schlimm, wenn sie eines verlieren würde.

Sie verstaute die Pflanzen in ihrer Manteltasche und blieb noch eine Weile in dem beschaulichen Wäldchen, bevor sie sich auf den Weg zurück zum Turm machte.

 

Rania nahm das Kraut entgegen, musterte es kritisch und nickte zufrieden. Ihr Blick wanderte nach oben – wahrscheinlich dachte sie gerade daran, wie viele Zutaten ihr noch fehlten. Mit dem Zeigefinger tippte sie auf die Tischplatte, dann lächelte sie kurz. Weiterhin ließ sie den Kellerausflug unkommentiert.

Ob Rania wirklich nichts bemerkt hatte?

Die Stiefmutter schaute auf Valyra hinab und die jüngste der Prinzessinnen wurde sich bewusst, dass ihre Unterlegenheit auch durch die physische Größe zustande kam. Valyra war mit ihren sechzehn Jahren noch nicht ganz ausgewachsen – zumindest hoffte sie, dass sie im Laufe der nächsten Monate ein paar Zentimeter dazugewinnen würde. Rania wiederum glich einer Riesin.

»Was starrst du mich so an?«, zischte diese auf einmal.

Valyra zuckte zusammen und wandte rasch den Blick ab. »Gar nichts«, murmelte sie und spielte an den Ärmeln ihres Oberteils herum. Sie spürte Ranias brennenden Blick noch eine Weile auf sich, doch schließlich räusperte sich die Stiefmutter.

»Ich werde nun aufbrechen. Heute Abend komme ich wieder, dann hast du Zeit, deine zweite Aufgabe zu erfüllen.« Ihre Stimme war leise, melodiös – aber absolut bedrohlich.

Valyra nickte.

Anfangs hatte sie sich danach erkundigt, wohin Rania verschwand, aber mittlerweile verstand sie, dass sie keine Antwort bekommen würde. Daher rechnete die Prinzessin damit, dass Rania entweder ihren Vater besuchte, um ihre Rolle der liebenden neuen Frau aufrechtzuerhalten, oder selbst auf der Suche nach Zutaten war.

Was sie auch tat: In diesem Moment schwebte sie zum Turmfenster, das bereits geöffnet war. Ohne Valyra einen letzten Blick zu schenken, flog sie hinaus in den Wald.

In Gedanken zählte die Prinzessin bis hundert, erst dann war sie sich sicher, dass Rania wirklich verschwunden war. Anschließend schloss sie das Fenster und musste prompt an den verschlossenen Kellerraum denken.

Entschlossen stand Valyra auf und ging vor dem Flickenteppich in die Knie. Vielleicht würde sie jetzt mehr herausfinden. Sie griff unter ihr Leinenoberteil und förderte die Brosche zutage.

Dieses Mal fand Valyra den unsichtbaren Griff schneller – und nachdem sie Kerze und Streichhölzer besorgt hatte, ging sie die verstaubten Stufen in den Kellerraum hinab. Vor Aufregung hielt sie den Atem an und hörte in der vollkommenen Stille ihr Herz klopfen.

Sie kam der verschlossenen Tür immer näher, doch dieses Mal hörte sie niemanden singen. Valyra drehte am Knauf, aber nach wie vor war die Tür abgesperrt.

»Hallo?«, rief sie und presste ihr Ohr gegen die Holzlatten. Dann klopfte sie zweimal hintereinander energisch an, doch nichts geschah.

Die Prinzessin biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Wenn es einen Schlüssel zu dieser Tür gab, bewahrte Rania ihn sicherlich in ihrer Kammer auf. Doch da diese verschlossen war …

Das Mädchen sank auf den Boden des Kellers und spielte an seiner Brosche herum, als diese zu leuchten begann. Doch nicht nur das: Obwohl Valyra das Schmuckstück fest umschlungen hielt, machte es sich selbstständig und kämpfte sich frei.

Alsbald schwebte es über der Prinzessin, die versuchte, danach zu greifen, doch ihre Arme waren nicht lang genug. Sie rappelte sich auf und sah, dass sich die Brosche wie eine Art Schlüssel vor die Tür legte. Eine Sekunde später öffnete sich diese knarrend.

Valyra hielt den Atem an, nahm die Brosche wieder an sich und spähte durch den Spalt, der sich ergeben hatte. »Auch Monster haben ein Herz, das man durchbohren kann«, murmelte sie das Mantra ihrer Kindheit.

Tatjana hatte ihr den Spruch beigebracht und dafür gesorgt, dass sie ihn nie vergaß. Auf diese Weise sollte Valyra die Angst vor den Monstern unter ihrem Bett verlieren. Mittlerweile sehnte sie sich nach den dunklen Kreaturen, die ihr Albträume bescherten, denn diese waren nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie gewesen. Doch Rania war real – und das größte Monster von allen.

Entschlossen stieß Valyra die Tür auf und rümpfte prompt die Nase. Der Weg in den Keller war schon von unangenehmen Gerüchen begleitet gewesen, aber mit dieser abgestandenen Note nicht vergleichbar.

Die Prinzessin spürte, wie ihr schwindlig wurde. Sie presste sich die Hand vor die Nase, dann erst sah sie sich in dem Raum um, der in völliger Dunkelheit dalag. Mit zitternden Fingern leuchtete sie mit der Kerze das Zimmer ab.

Der unterirdische Raum bestand aus kahlen, schmucklosen Wänden, an denen Spinnen ihre Netze woben. Staub lag auf dem Steinboden und der muffige Geruch schien sich festgesetzt zu haben. Dennoch machte Valyra einen Schritt in den Raum und richtete die Kerze weiter nach oben, um die Mitte des Kellers zu beleuchten. Sie kniff die Augen zusammen, dann stockte ihr der Atem.

Ein großer goldener Käfig mit dicken Stäben hing von der Decke.

»Hallo?«, flüsterte Valyra ängstlich. »Kann mich jemand hören?«

Sie trat einen weiteren Schritt in die unbekannte Dunkelheit, doch erst als sie direkt vor dem Käfig stand, erkannte sie, was sich in ihm befand.

Auf dem Boden lag, bedeckt mit einer löchrigen Decke, ein Mensch. Valyra hielt die Luft an. Die Angst überrollte sie so stark, dass sie am liebsten auf den Hacken kehrtgemacht und wieder nach oben gelaufen wäre. Doch die Neugier und das Bedürfnis nach Antworten waren größer.

Mit der freien Hand wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und zwang sich, genauer hinzuschauen.

Der Mensch, der auf dem Boden des Käfigs lag, war weiblich. Das erkannte Valyra an den langen braunen Haaren, die spröde aussahen und an den Enden brüchig waren. Das Gesicht des Mädchens war nicht erkennbar, doch anhand der gleichmäßigen Atemzüge erkannte Valyra, das es lebte.

Ihr wurde schwer ums Herz. Ihr Leben im Turm war alles andere als ein Zuckerschlecken, doch wie musste es dieser Person gehen, deren Bewegungsradius sich auf wenige Zentimeter beschränkte? Wie lange Rania sie wohl schon gefangen hielt?

Valyra trat noch einen Schritt an den Käfig heran, bis sie ihre freie Hand um die Stäbe legen konnte. Sie wusste nicht, wie viel Zeit ihr blieb, daher beeilte sie sich. Mit dem Finger stupste sie den Käfig an, bis er sich quietschend in Bewegung setzte und langsam hin und her schwang.

»Hallo? Hallo, hörst du mich?«, rief die Prinzessin dieses Mal etwas lauter. Sie hoffte, dass die Schlafende durch das plötzliche Geschaukel und ihre Stimme aufwachen würde. »Ich muss mit dir reden!«, sagte Valyra mit Nachdruck. »Ich bin hier ebenso eingesperrt wie du und vielleicht können wir uns helfen.«

Immer wieder schaute sie panisch zur Tür und spitzte die Ohren, aber Rania schien weit weg zu sein. Aus diesem Grund stieß sie den Käfig noch einmal fester an.

»Du musst aufwachen! Ich weiß nicht, wie lange ich noch hier sein kann!«, rief sie und war über den lauten Klang ihrer Stimme selbst überrascht.

Gebannt starrte sie auf das menschliche Bündel, das unter der Decke verborgen lag – und tatsächlich: Etwas regte sich.

Valyra hielt den Atem an, als das braunhaarige Mädchen sich aufsetzte und seine Gelenke streckte. Noch konnte Valyra nur die Rückseite der Gefangenen sehen, aber kurz darauf drehte sich die junge Frau zu ihr um.

Verwirrte graue Augen blickten Valyra an.

Und dann schrie die Prinzessin.

Ihre Beine zitterten so stark, dass sie ihr Gewicht nicht mehr halten konnten und sie auf den Boden prallte. Ihr Atem ging abgehackt und unregelmäßig, aber sie konnte den Blick nicht von der jungen Frau abwenden, die sie nun mit schief gelegtem Kopf ansah.

Die braunen Haare fielen ihr ins Gesicht – ein Gesicht, das von Schmutz und Erde gekennzeichnet war, das Valyra aber niemals vergessen würde.

Mühsam kämpfte sie sich wieder auf die Beine und hielt sich schließlich an den goldenen Stäben des Käfigs fest, um nicht schon wieder die Haltung zu verlieren.

»Arabella?«, flüsterte sie und blickte zu ihrer Schwester hoch.