Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Vier Monate sind vergangen … vier Monate, in denen Tia versucht hat, in ein neues Leben zu finden – was ihr einfach nicht gelingen will. Sie musste einen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Lebt in einem fremden Schloss, das sie nicht ihr Zuhause nennen kann, und fühlt diesen Schmerz, bei dem es keine Aussicht auf Linderung gibt. Eine unerwartete Begegnung auf dem Dorfmarkt reißt sie allerdings schlagartig aus ihrer Lethargie. Gibt es doch noch Hoffnung für Venturia? Oder ist es nur die unbändige Sehnsucht nach einem guten Ende, die sie nach jedem Strohhalm greifen lässt?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 461
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
I – Über Lügen und Machtansprüche
II – Über ein Wiedersehen bei Kerzenschein
III – Über das Verschweigen der Vergangenheit
IV – Über verschneite Städte und Winterkälte
V – Über das, was eine Mutter weiß
VI – Über das Ergebnis einer langen Suche
VII – Über einen Plan mit Schwächen
VIII – Über einen sonderbaren Mann in einem sonderbaren Haus
IX – Über verborgene Wahrheiten unter der Erde
X – Über Hoffnungen, Euphorie und das, was danach kommt
XI – Über letzte Worte und eine Reise ins Ungewisse
XII – Über ein altes Gefühl an einem neuen Ort
XIII- Über ein Leben in Gefangenschaft
XIV – Über eine Enthüllung im Mondschein
XV – Über verlorene Seelen in einem Haus am Stadtrand
XVI – Über das, was nie ganz von uns geht
XVII – Über Erinnerungen und eine ungewisse Zukunft
XVIII – Über eine Wiedergeburt aus toter Asche
XVIV – Über bekannte Gesichter und eine Geschichte, die sich wiederholt
XX – Über einen ereignisreichen Morgen und die Stunden danach
XXI – Über ein Fest in der Nacht
XXII – Über das Leben, den Tod und wie es danach weitergeht
XXIII – Über Neuigkeiten, alte Missverständnisse und einen gefährlichen Plan
XXIV – Über ein Zaubermittel und den Gedanken an Veränderung
XXV – Über den ewigen Schlaf
XXVI – Über den selbst gewählten Tod
XXVII – Über zwei Menschen und die Zeit, die vergehen muss
XXVIII – Über eine Taube und das Leben nach dem Tod
Dank
Regina Meißner
Venturia
Band 2: Glanz und Bürde
Fantasy
Venturia (Band 2): Glanz und Bürde
Vier Monate sind vergangen … vier Monate, in denen Tia versucht hat, in ein neues Leben zu finden – was ihr einfach nicht gelingen will. Sie musste einen Mann heiraten, den sie nicht liebt. Lebt in einem fremden Schloss, das sie nicht ihr Zuhause nennen kann, und fühlt diesen Schmerz, bei dem es keine Aussicht auf Linderung gibt. Eine unerwartete Begegnung auf dem Dorfmarkt reißt sie allerdings schlagartig aus ihrer Lethargie. Gibt es doch noch Hoffnung für Venturia? Oder ist es nur die unbändige Sehnsucht nach einem guten Ende, die sie nach jedem Strohhalm greifen lässt?
Die Autorin
Regina Meißner wurde am 30.03.1993 in einer Kleinstadt in Hessen geboren, in der sie noch heute lebt. Als Autorin für Fantasy und Contemporary hat sie bereits viele Romane veröffentlicht. Weitere Projekte befinden sich in Arbeit.
Regina Meißner hat Englisch und Deutsch auf Lehramt in Gießen studiert. In ihrer Freizeit liebt sie neben dem Schreiben das Lesen und ihren Dackel Frodo.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Mai 2020
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2020
Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns
Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig
Korrektorat 2: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-127-7
ISBN (epub): 978-3-03896-128-4
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für alle, die in ein Leben gezwungen wurden,
in dem sie sich nicht zu Hause fühlen:
Ihr werdet euren Platz finden.
Und für Levon III.
Vier Monate später
Herzogtum Ulindo
Tiana Anastasia Valeria Serena Minné.
Mein Name war eine bunte Reise durch unsere Blutlinie und setzte sich aus Tanten, Cousinen und Großmüttern zusammen. Vor allem aber war mein Name eine Lüge. Eine Lüge, mit der ich viele Jahre gelebt hatte und zu der auch jetzt, da alles in Schutt und Asche lag, wieder übergegangen wurde, um meiner Existenz Sinn und Struktur zu verleihen.
Ich beobachtete das Schneegestöber, das sich vor meinen Augen hinter der Scheibe abzeichnete, sah Abertausende Flocken, die sich um ihre eigene Achse drehten und engelsgleich zu Boden glitten. Irgendwo tief in mir drin gab es noch immer das ungestüme Kind, das nach draußen laufen, einen Schneemann bauen und sich am Zauber des Winters erfreuen wollte. Doch an die Stelle des sorgenfreien Mädchens war eine junge Frau getreten, die an Tagen wie diesen glaubte, das Gewicht der Welt auf ihren Schultern zu tragen.
Ich wandte mich vom Fenster ab und nahm auf dem weißen Stuhl Platz. Am Tisch vor mir lag eine Stickerei, die mir als Zeitvertreib diente. Und obwohl ich jegliche Art der Handarbeit in Bel Aniz gelernt und beherrscht hatte, konnte ich mich nicht auf das komplizierte Muster und die vielen verschiedenen Farben konzentrieren, sodass meine Stickerei einem heillosen Durcheinander glich. Kurz überlegte ich, dem Ganzen noch eine Chance zu geben, entschied mich aber dagegen.
Die Tage in Ulindo waren lang, die Nächte oft schlaflos. Ich wusste nicht, worauf ich hinarbeitete, ob ich überhaupt noch ein Ziel hatte oder die Monate an mir vorbeizogen, ohne dass ich in der Lage war, ihnen eine Bedeutung zu verleihen.
Ein Gähnen kam über meine Lippen. Gelangweilt wanderte mein Blick durch das große Zimmer, das oberflächlich gesehen viele Möglichkeiten bot, sich die Zeit zu vertreiben.
An der Wand standen Dutzende Bücherregale, in denen mehr Geschichten auf mich warteten, als ich je lesen konnte. Im hinteren Teil des Zimmers war eine Staffelei aufgestellt, mit einer leeren Leinwand bestückt, sodass man sofort mit dem Malen beginnen konnte, wenn man nur wollte. In einer Kiste, die ihren Platz unter dem großen Fenster hatte, fand ich Wolle und Stricknadeln. Außerdem gab es Briefpapier, mehrere Federn und ein Tintenfässchen, um selbst kreativ zu werden.
Ich wollte etwas tun – irgendetwas. Aber sobald ich mich auf eine Sache zu konzentrieren versuchte, schweiften meine Gedanken ab, krallten sich an verbotenem Terrain fest und ließen sich nicht mehr kontrollieren. Dunkle Augen tauchten in meiner Erinnerung auf. Ein Lächeln, das nur mir galt. Ein Name, der sich auf meine Zunge schleichen wollte: Rabeo. Er hatte mein Herz erobert – und jetzt fand ich es in tausend Teile zersplittert vor. Auch wenn die Ereignisse in Venturia einige Monate her waren, fühlte ich den Schmerz, als wären sie gestern geschehen. Ich sah die verbrannten Häuser, das vernichtete Dorf, hörte die Schreie der Verwundeten … aber vor allem erblickte ich ihn – Rabeo. Wie er vor mir lag, leblos und kalt.
Weil ich zu frieren begann, stand ich vom Stuhl auf und nahm auf dem runden Teppich Platz, der vor dem Kamin lag, in dem das Feuer flackerte. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und beobachtete das Flammenspiel, das sich in roten, orangen und gelben Tönen zeigte. Missmutig schob ich die Lippe vor, konnte die dunklen Gedanken, die meinen Kopf wie ein kriegerisches Volk einnahmen, nicht mehr aufhalten und gab mich ihnen hin. Erst als die Tür hinter mir aufgerissen wurde, zuckte ich zusammen und drehte mich um.
»Herzogin Tiana«, hörte ich die Stimme meiner Gesellschafterin Iskret. »Darf ich mich zu Euch gesellen?«
Mühsam erhob ich mich von meinem Platz vor dem Feuer und verdeutlichte Iskret durch eine Handbewegung, dass sie eintreten durfte. Wir nahmen an dem Tisch Platz, auf dem die Stickerei lag.
Iskret trug ein dunkelgrünes Kleid, das sie noch blasser erscheinen ließ, als sie ohnehin schon war. Am Anfang hatte ich mich gefragt, ob sie sich jemals unter freiem Himmel aufhielt. Ihre hellblonden Haare waren im Nacken zu einem Zopf zusammengefasst. Freundlich lächelte sie mich an.
»Wie geht es Euch?«, wollte sie wissen und machte gute Miene zum bösen Spiel.
Ich schaute an Iskret vorbei und verlor mich wieder im Flockenmeer vor der Fensterscheibe.
»Euer Ehemann wird in ein paar Stunden zurückkehren. Das Küchenpersonal ist bereits mit Eurem Abendessen beschäftigt«, fuhr Iskret fort, als ich ihr keine Antwort gab.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie ihre Hände im Schoß verschränkte und die Schultern anspannte.
»Zulah wird sich um Eure Garderobe kümmern und Euch frisieren. Ihr müsst von Freude erfüllt sein, Herzog Samél nach so langer Zeit wiederzusehen, nicht wahr?«
Ja, das müsste ich. Ich hatte Samél aufgrund seiner Regierungsgeschäfte über zwei Wochen nicht mehr getroffen. Nach der Hochzeit hatten wir jeden Tag und jede Nacht miteinander verbracht. Von ihm getrennt zu sein, war fremd für mich, weil ich mich an seine Anwesenheit gewöhnt hatte. Dennoch konnte ich nicht sagen, dass ich ihn vermisste. Ihm gehörte ein Teil meiner Gedanken, ein kleines Arsenal in meinem Kopf, aber niemals mein Herz.
Ich merkte, wie mich Iskret musterte. Am Tag, als wir uns kennenlernten, hatte sie mir erzählt, wie sehr sie sich freue, endlich wieder ihrer Arbeit als Gesellschafterin nachgehen zu dürfen. Wir waren etwa im gleichen Alter, und von Zeit zu Zeit, als mich mein schlechtes Gewissen plagte, hatte ich mir wirklich Mühe gegeben. Iskret konnte nichts für das, was mir widerfahren war. Nichts lag mir ferner, als ihr die Freude an ihrer Arbeit zu nehmen.
Jedes Mal, wenn sie mich ansah und sich unbeobachtet wähnte, erkannte ich die Enttäuschung in ihren grüngrauen Augen. Sie hatte sich sicherlich jemanden gewünscht, der gesprächsfreudiger war. Jemanden, der seine Sorgen und Nöte mit ihr teilte und wie eine Freundin für sie war. Ein Teil von mir wollte, dass es gut zwischen uns lief. Man hatte mich in dieses Leben hineingezwungen, wieso gab ich also nicht einfach mein Bestes und nahm es hin? Wieso akzeptierte ich Iskrets Versuche, mich zu beschäftigen, nicht und verbrachte schöne Stunden mit ihr?
Ich war wütend auf mich, dass ich immer wieder gegen mich selbst verlor. Und während mein Blick aus dem Fenster glitt und sich in der Sanftheit des Winters verfing, hörte ich Iskret seufzen.
Kommentarlos griff sie nach der Stickerei, verbesserte meine Fehler und legte den Rahmen wieder auf den Tisch. Normalerweise bemühte sie sich länger um eine Konversation, doch wahrscheinlich glaubte sie nicht mehr, dass ich die Mühe wert war. Irgendwann würde ich mich bei ihr entschuldigen.
Seit dem Tag, der mein Leben für immer verändert hatte, waren vier Monde vergangen. Vier lange Monate, die ich am Rande der Verzweiflung verbracht hatte, in denen ich mich mit Hoffnung herumschlagen musste, weil sie sich einfach nicht töten ließ, und schließlich kapituliert hatte.
Denn Rabeo kehrte nicht mehr zurück. Niemand von den Venturen tat es. Sie waren tot. Gestorben durch den Befehl meines Vaters.
Ich schluckte und ballte die Hand zur Faust. In mir wütete ein Sturm, der mit jedem Tag, an dem nichts geschah, wuchs.
»Iskret«, fing ich an, und meine Gesellschafterin musterte mich überrascht.
»Eure Hoheit?« Sie setzte sich aufrechter hin und legte den Kopf schief.
»Warst du schon einmal in einer Situation, die im echten Leben abgeschlossen war, aber deine Gedanken konnten sie nicht loslassen? Und je länger du dich damit beschäftigst, desto verrückter wirst du? Du suchst und suchst nach einer Lösung – auch wenn du dir sicher bist, dass es keine gibt?« Ich rang nach Atem.
Iskret schaute mich verwundert an. So viel hatte ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesprochen. Verlegen räusperte ich mich.
Erst dann schien die Gesellschafterin über meine Worte nachzudenken.
»Mein Vater ist vor vielen Jahren an einer heimtückischen Krankheit gestorben«, sagte sie schließlich. »Auch als er schon tot war, konnte ich nicht aufhören, nach einem Heilmittel zu suchen. Ich war wie besessen davon, ihn gesund zu machen, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass es schon zu spät war.« Kurz lächelte sie mich an, dann blickte sie auf ihre Hände.
»Wie hast du es geschafft?«, wollte ich wissen. »Wie ist es dir gelungen, loszulassen?«
»Es war nicht einfach«, gab Iskret zu. »Aber es ging irgendwann nicht mehr anders. Ich musste weitermachen. Ich habe die Stellung am Hof bekommen und konnte mich auf andere Dinge konzentrieren.«
»Du glaubst also, es ist die Ablenkung, die hilft?« Ich stützte den Kopf auf meine Hände und presste die Lippen aufeinander.
»Ablenkung auf der einen Seite«, sagte Iskret und nickte. »Und die Gewissheit, dass es vorbei ist. Dass man ohnehin nichts mehr tun kann und die beste Möglichkeit darin besteht, sein Leben weiterzuführen.«
Ich hob den Blick und sah sie offen an. Um ehrlich zu sein, wusste ich so gut wie nichts über Iskret, ich hatte mich nie mit ihrer Person beschäftigt. Doch die Art und Weise, wie sie die Augen zusammenkniff und den Mund öffnete, um etwas zu sagen, ihn aber gleich wieder schloss, zeigte mir, dass sie mindestens genauso neugierig auf meine Vergangenheit war wie ich jetzt auf ihre.
»Mit Verlaub«, kam es schließlich doch über ihre Lippen. »Ich habe manchmal im Gefühl, dass Ihr nicht glücklich seid. Dass Ihr etwas mit Euch herumtragt, das Euch nach unten drückt … die ganze Zeit.«
In meinem Kopf suchte ich nach einer Antwort, gleichzeitig wusste ich nicht, wie viel ich ihr verraten durfte. Iskret rutschte näher an den Tisch heran.
»Herzog Samél ist ein gut aussehender Mann, der über ein großes Stück Land regiert. Jede andere Frau würde sich glücklich schätzen, an seiner Seite zu sein, aber Ihr …« Bevor Iskret zu Ende sprechen konnte, presste sie sich die Hand vor den Mund, wohl wissend, dass sie gegen jegliche Etikette verstoßen würde, wenn sie ihre Zweifel äußerte.
Doch ich machte mir nicht mehr viel aus Regeln und Vorgaben, weswegen ich mich über den Tisch beugte und nach Iskrets kalten Händen griff. »Scheu dich nicht, mir die Wahrheit zu sagen. Ich will sie hören.« Ermutigend sah ich meine Gesellschafterin an, aber sie wirkte nicht überzeugt. »Bitte«, fügte ich hinzu, was sie schließlich erweichte.
»Wenn Herzog Samél Euch anschaut, wirkt er wie der glücklichste Mann auf der Welt. So als hätte er genau die Frau gefunden, nach der er sein Leben lang gesucht hat. Er ist bis über beide Ohren in Euch verliebt.«
Unter anderen Umständen hätte ich gelächelt, doch gerade machten mich ihre Worte nur traurig.
»Fahr fort, Iskret«, trug ich ihr auf.
Meine Gesellschafterin rutschte unsicher auf ihrem Stuhl hin und her. Dann räusperte sie sich. »Während der Herzog Euch liebt, wie ein Mann seine Frau nur lieben kann, sehe ich nicht dieselben Gefühle in Euren Augen.« Für den Bruchteil einer Sekunde senkte sie den Blick, nur um mich dann entschlossener anzusehen. »Wenn Ihr ihn anlächelt, wirkt es immer etwas gekünstelt. Traurig beinahe, so als wolltet Ihr etwas für ihn empfinden, aber es gelingt Euch nicht.« Über ihre eigenen Worte schüttelte sie den Kopf. »Es tut mir leid, Herzogin Tiana«, sagte sie entschuldigend. »Ich weiß nicht, was heute mit mir los ist.«
Ich nickte unverfänglich. Eins stand fest: Ich würde Iskret nicht sagen, dass sie mit ihren Theorien den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. In der Öffentlichkeit gab ich mir alle Mühe, die glückliche Ehefrau zu mimen, doch sobald ich allein war, brach die Wahrheit über mir zusammen.
»Ich freue mich darauf, ihn wiederzusehen«, verkündete ich und nickte noch einmal, um mich selbst davon zu überzeugen.
Es gab tatsächlich unzählige Dinge, die ich an meinem Mann schätzte. Herzog Samél war ein herzensguter Mensch und es hätte mich weitaus schlimmer treffen können.
Wenn ich an den Ball vor einigen Monaten zurückdachte, überfiel mich jetzt noch eine Gänsehaut. Die Männer, die meine Eltern als geeignet empfunden und eingeladen hatten, kamen in meinen Augen zu einem Großteil einer Beleidigung gleich. Entweder waren sie zu alt, zu jung oder hatten sonderbare Marotten an sich, an die ich mich gar nicht näher erinnern wollte. Samél war die Ausnahme gewesen. Vielleicht nicht der Interessanteste, aber der Anständigste. Der mit dem größten Herzen.
Ich kam nicht umhin, auch an Rabeo zu denken. Sein breites Grinsen tauchte vor meinem inneren Auge auf. Damals … es schien so lange her. Und doch klangen seine Worte noch immer in mir nach. »Seid Ihr auf der Flucht oder habt Ihr gezielt nach mir gesucht?« Ich hatte ihn nicht gesucht und dennoch gefunden.
Ehe die Erinnerungen an ihn mein Innerstes erreichten und den alten Schmerz hervorriefen, verscheuchte ich die Gedanken.
Entschlossen klopfte ich mir den Staub vom Kleid und schob den Stuhl nach hinten. »Ich wäre bereit für meine Garderobe«, gab ich Iskret zu verstehen, die eilig aufstand und mir die Tür nach draußen öffnete.
Wie ein Schatten lief sie hinter mir her, als ich durch die verschlungenen Korridore des Schlosses irrte. Es hatte mehrere Wochen gedauert, um mich zurechtzufinden. Von außen wirkte der Palast klein und nicht sonderlich geräumig, aber innen erwartete einen ein Labyrinth aus Gängen und Treppen.
Getrieben lief ich durch den Flur, auch wenn bis zum Abendessen noch genügend Zeit war. Dennoch erschien die Aussicht, dass sich jemand um meine Haare und eine neue Garderobe kümmerte, verlockender als die Alternative, die darin bestand, dass Iskret weiterhin meine Gedanken las und ich diese nicht mehr loswerden konnte.
Vor dem Ankleidezimmer, das sich im zweiten Stockwerk befand, blieb ich stehen und wartete, bis Iskret mir die Tür geöffnet hatte. Einer von Saméls Dienern ging an uns vorbei, groß gewachsen und in eine Uniform gekleidet, die zu Hause in Bel Aniz nur Edelmänner trugen. Kurz streifte sein Blick Iskret, länger blieb er an mir hängen.
Würde ich mich je daran gewöhnen? Obwohl ich seit fast vier Monaten hier lebte, wurde ich noch immer gemustert, als wäre ich ein Fremdkörper, der nicht recht nach Ulindo passen wollte. Dabei lag das Herzogtum nicht mehr als einen Tagesritt von Bel Aniz entfernt.
Das Ankleidezimmer in meinem neuen Zuhause erinnerte mich schmerzhaft an Madame Rochers Nähstube. Doch im Gegensatz zu Madame war die hiesige Schneiderin ein Klappergestell mit rahmenloser Brille und spitzem Kinn. Nicht ein Mal hatte ich sie lächeln gesehen, noch weniger verstand sie Spaß.
Ich seufzte, als ich ihren drahtigen Rücken vor einer Schneiderpuppe stehen sah.
»Trohna?«, erklang Iskrets Stimme neben mir. »Herzogin Tiana ist bereit, für das Abendessen eingekleidet zu werden.«
Die Schneiderin drehte sich um und musterte uns aus ihren Habichtaugen. Ihr Alter konnte ich nur schätzen, ging aber davon aus, dass sie jenseits der fünfzig war. Trohna trug ein umständliches Kostüm, das sich eng an ihre knochige Gestalt schmiegte und sie optisch in die Höhe reckte.
Mit einer Handbewegung bedeutete sie mir, einzutreten. Iskret neben mir räusperte sich, woraufhin ich sie entließ. Ich hörte, wie die Tür hinter mir zufiel.
Ich nahm auf dem Stuhl Platz, den die Hofschneiderin mir zurechtgerückt hatte. Kommentarlos ging sie zu einem der großen Kleiderschränke und förderte ein dunkelgrünes Gewand zutage, das am Oberteil mit schwarzem Stoff verziert und an der Hüfte gerafft war. Die Mode aus Ulindo glich der aus Bel Aniz – immerhin eine Sache, an die ich mich nicht erst gewöhnen musste.
»Ich habe dieses Kleid für das Abendessen ausgesucht«, sagte die Schneiderin mit einer Stimme, die mich an raues Papier denken ließ.
Ich musterte das Kleid kurz, nickte und stand auf. Umständlich ließ ich mir von ihr aus der Robe helfen. Vor einem der großen Spiegel, dessen Rahmen mit Stuck verziert war, schlüpfte ich in das dunkelgrüne Gewand, das mit meinen schwarzen Haaren harmonierte.
Ich hatte gelernt, dass Trohna zufrieden war, wenn sie keinen Kommentar von sich gab, denn Lob verließ ihre Lippen nicht.
Als ich wieder saß, sprühte sie mich mit dem Parfüm ein, das ich über die Monate zu hassen gelernt hatte, weil es süßlich roch und mich an die billigen Wässerchen erinnerte, die meine Tante immer aufgetragen hatte.
Mit geschickten Handbewegungen puderte sie mein Gesicht und bürstete mein Haar. In Ulindo waren die Frisuren streng und hochgesteckt.
Ich biss mir auf die Lippen, weil Trohna meinen Kopf unsanft hin und her riss, während sie die Knoten aus meinem Haar löste. Routinemäßig drehte sie die einzelnen Strähnen am Nacken ein und türmte sie auf meinem Kopf auf, wo sie mit Bändern und Spangen zusammengefasst wurden.
»Ihr seid fertig, Herzogin«, sagte die Schneiderin schließlich und gab mir Zeit, mich im Spiegel zu mustern.
Die neue Tiana glich der alten. Ich war von einem Hof an den anderen gekommen und musste mich nicht erst an die Etikette gewöhnen. Wenn man mich ansah, die junge Frau mit dem rabenschwarzen Haar und den dunkelblauen Augen, könnte man meinen, dass es die Zeit in Venturia nie gegeben hätte.
Entschlossen straffte ich die Schultern und bedankte mich bei Trohna, die dabei war, das Kleid, das ich vorher getragen hatte, in einem Korb zu verstauen.
Ich wartete einige Sekunden auf ihre Antwort, stellte aber schnell fest, dass ich keine erhalten würde. Also stand ich auf und verließ das Schneiderzimmer schweigend.
Erst als ich die Tür hinter mir zugezogen hatte, konnte ich aufatmen.
Die lange Tafel, an der ich Platz genommen hatte, war üppig mit den erlesensten Kostbarkeiten gedeckt, die deutlich mehr als zwei Menschen sättigen könnten. Dennoch war sie nur für mich und Samél hergerichtet. Ich wartete bereits eine halbe Stunde auf ihn und blickte abwechselnd auf meine Hände hinab, die ich im Schoß verschränkt hatte, und auf den Silberteller, der noch leer vor mir stand. Rund um die Tafel hatten sich Diener aufgestellt, die ebenfalls auf Saméls Rückkehr warteten.
Es war Sitte und Tradition, dass sie auch bei den Mahlzeiten anwesend waren, doch glücklicherweise hatte sich Samél schon an unserem ersten gemeinsamen Abend dagegen gewehrt, weswegen ich den Moment, in dem sie endlich verschwanden und mich in Ruhe ließen, kaum abwarten konnte.
Sanfter Kerzenschein erhellte den Raum. Draußen war die Dunkelheit bereits eingekehrt, der Schneefall tobte jedoch noch immer. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie die Tür aufgerissen wurde. Nefeto, einer der Diener, die im Rang höhergestellt waren, schob sich in den Raum, doch der Mann mit dem schulterlangen blonden Haar und den dunkelbraunen Augen ließ ihn nicht seine Arbeit erledigen, sondern quetschte sich an ihm vorbei und lief geradewegs auf mich zu.
Auf Saméls ebenmäßigem Gesicht lag ein Strahlen. Jedes Mal, wenn ich merkte, wie sehr er mich liebte, wurde der Kloß in meiner Kehle größer.
»Endlich!«, flüsterte er, als er mich erreicht hatte und vor mir auf die Knie sank. Er griff nach meinen Händen und hauchte einen Kuss darauf. »Mir kommt es vor, als hätte ich dich ein ganzes Leben lang nicht mehr gesehen.« Ergriffenheit hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet, die auch mich nicht kaltließ.
Und auch wenn meine Liebe nicht ihm galt, hatte ich ihn in den letzten Monaten doch sehr in mein Herz geschlossen. Ich brachte ein aufrichtiges Lächeln zustande.
»Lasst mich und meine Frau jetzt allein«, schallte Saméls Stimme durch den Raum. Ungeduldig sah er die Bediensteten an, die sich eilig entfernten.
Wir würden sie heute nicht mehr brauchen, höchstens dann, wenn das Essen vorbei war und sie das Geschirr in die Küche räumen mussten.
Als der Letzte von ihnen den Salon verlassen und die Tür hinter sich zugezogen hatte, stand Samél auf und zog mich vom Stuhl hoch. Wenn er lächelte, entstanden Grübchen um seine Mundwinkel, die ihm etwas Jugendliches verliehen. Es lag ein Strahlen in seinen Bernsteinaugen, das mich gleichzeitig fröhlich und traurig stimmte.
Samél strich mir über die Wange und trat näher auf mich zu. Ich versank in seiner Umarmung, die so viel mehr zum Ausdruck brachte als die amourösen Empfindungen, die er für mich hegte. Da waren Sicherheit, Wärme und das Gefühl, zu Hause zu sein.
Ja, auch ich freute mich, ihn wiederzusehen. Nur auf eine andere Art und Weise.
Ich schloss die Augen, als er seine Lippen auf meine presste. Ich kämpfte gegen die Tränen an, die wie selbstverständlich über meine Wangen liefen. Vielleicht lag es daran, dass ich ihn nicht verletzen wollte. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass mich jede seiner Berührungen so sehr an Rabeo erinnerte, dass ich fast daran zerging.
Mühsam blinzelte ich die Tränen weg und öffnete meine Augen. »Es ist schön, dass du wieder hier bist.«
»Wie lang einem doch sechzehn Tage vorkommen können«, stimmte er mir zu und strich mir die Tränen von den Wangen, während er lächelte. Anscheinend nahm er an, dass ich aus Freude geweint hatte. »Ich bin jeden Abend mit dem Gedanken an dich eingeschlafen.« Samél griff nach meinen Fingern, umschloss sie fest in seiner Hand. Dann schaute er mir tief in die Augen.
Nach einer Weile, in der wir uns schweigend angesehen hatten, nahm der Herzog auf dem Stuhl mir gegenüber Platz und goss uns Rotwein in die silbernen Kelche. Seine Bewegungen, Berührungen und Blicke waren zu meinem Alltag geworden und ein großer Teil von mir hatte sich so an ihn gewöhnt, dass ich ihn sehr mochte. Aber das machte die Dunkelheit und den Weg, wie wir zueinandergefunden hatten, nicht ungeschehen.
Gedankenverloren nippte ich an meinem Wein und nahm den ersten Löffel der Lauchsuppe, die dampfend vor mir stand.
Ich hatte meinen Ehemann vor nicht allzu langer Zeit auf dem ersten und einzigen Ball getroffen, den meine Eltern in Bel Aniz veranstaltet hatten. Sie wollten diese Festivitäten nutzen, um mich an den Mann zu bringen, was letztlich auch funktioniert hatte, wenn auch ganz anders als zunächst geplant.
Samél war mir neben fünf anderen Männern vorgestellt worden und der Abend zu kurz gewesen, um ihn näher kennenzulernen und mir ein detaillierteres Bild von ihm zu machen. Aber er war – im Gegensatz zu den meisten der anderen Heiratskandidaten – eine gute Wahl. Trotzdem hatte ich an diesem Abend nicht mit dem Gedanken gespielt, ihn zu heiraten, was letztlich auch nicht aus freien Stücken geschehen war.
Ich schluckte schwer, als ich in meiner Suppe rührte. Über den Tisch hinweg musterte mich Samél besorgt.
»Ist in der Zeit, in der ich weg gewesen bin, etwas vorgefallen?«, fragte er mich hellhörig.
Schnell schüttelte ich den Kopf. »Es ist alles in Ordnung«, beteuerte ich, und nicht zum ersten Mal wünschte ich mir, alles mit ihm teilen zu können.
Das menschliche Herz war nicht in der Lage, unendlich viel Gewicht zu tragen, und ich wusste nicht, wie lange ich noch durchhalten würde. Was hätte ich für einen Vertrauten gegeben, für jemanden, bei dem ich vollkommen offen sein durfte!
Ich ließ die Schultern hängen.
»Schmeckt dir die Suppe nicht?«, riet Samél. »Wenn du möchtest, rufe ich nach Ditram, damit er sie nachsalzt und …«
Ich hob die Hand. »Das Essen ist wunderbar«, stellte ich klar. »Ohnehin komme ich mir durch die ganzen Speisen schon richtig verwöhnt vor.« Ich lachte gekünstelt, aber Saméls besorgter Blick blieb bestehen.
Er war nicht dumm – und manchmal, wenn ich in seine Augen schaute, hatte ich das Gefühl, dass er etwas in mir sah, das ich ihm nicht zeigen wollte. Dabei kannte der Herzog nur die offizielle Version meiner Geschichte. Jene, die mein Vater mir eingebläut und auch an die Öffentlichkeit getragen hatte. Laut ihm hätte ich nach dem ersten Ball Zeit gebraucht, um mich zu sammeln und meine Entscheidung zu treffen. Meine Entführung am Abend sei nur eine Farce der Hofnarren gewesen, die sich einen Spaß erlauben und die Gäste unterhalten wollten. Als ich wieder in Bel Aniz war, hätte ich mir sofort Gedanken über die Heiratskandidaten gemacht und mich gegen weitere Tanzveranstaltungen entschieden, weil ich mein Herz längst an Herzogsohn Samél aus Ulindo verloren hätte.
Glücklich gab mein Vater meinen Entschluss an das Volk und meinen zukünftigen Gemahl weiter, weil ich mich nicht dazu in der Lage sah und mich mit dem letzten bisschen Stolz, das mir geblieben war, dagegen sträubte.
Einen Tag später zog ich nach Ulindo, ebenso abrupt fand die Hochzeit statt. Samél freute sich über meine vermeintliche Entscheidung, wenngleich er sich auch überrascht über die Dringlichkeit zeigte, mit der der Bund der Ehe geschlossen werden musste.
An einem Tag im Frühherbst heiratete ich einen Fremden. Samél gab mir das Versprechen, für immer an meiner Seite zu sein, und meine Lippen versiegelten den Schwur.
Wenn ich auf meine Hochzeit zurückblickte, breitete sich Leere in meinem Kopf aus. Ich hatte die Prozession nur halb mitbekommen, war überfordert und hilflos gewesen. Man verlangte von mir, eine Rolle zu spielen, die ich nicht erfüllen konnte und die sich wie ein zu enges Korsett um meinen Körper schnürte.
Wenn ich an die Trauung zurückdachte, erinnerte ich mich an den penetranten Geruch von Rosen, den ich auch Tage danach noch in der Nase hatte. Ich dachte an Saméls beigefarbenen Anzug, der perfekt mit seinem vollen blonden Haar harmonierte, und die Augen meiner Mutter, die mich bang aus dem Publikum musterte. Doch vor allem erinnerte ich mich an meinen Vater, den König von Bel Aniz, der selbstgefällig in der ersten Reihe saß und seinen Sieg über mich feierte.
Wie zufällig wanderte mein Blick auf meine Hände hinab. Hände, die in Venturia wahre Wunder vollbracht hatten und jetzt zu nichts mehr zu gebrauchen waren. Ich wusste nicht, wohin meine magischen Kräfte verschwunden waren, aber seit dem Angriff gegen meinen Vater hatte ich sie nicht mehr einsetzen können.
Vielleicht lag es daran, dass ich mich außerhalb Venturias befand, vielleicht war aber auch mit dem Tod der Venturen jeglicher Zauber aus mir gewichen. So oder so … da gab es nichts mehr in mir, mit dem ich mich gegen höhere Mächte verteidigen konnte. Höhere Mächte … oder meinen Vater.
Samél erzählte mir von seiner Reise und obwohl ich mir wirklich Mühe gab, ihm zuzuhören, fiel es mir schwer, ihm zu folgen. Dennoch schaffte ich es, an den richtigen Stellen zu nicken, die Augen aufzureißen oder die Lippen zu einem Lächeln zu bewegen. Einmal stellte ich sogar eine Nachfrage, die er mir ausführlich beantwortete.
Als Samél den Braten gegessen hatte und auch mit dem Nachtisch, einer Himbeercreme, fertig war, stand noch immer der Teller Suppe vor mir. Mehr als ein paar Löffel hatte ich nicht herunterbekommen. Glücklicherweise fiel Samél mein fehlender Appetit nicht auf. Er wartete mein Zugeständnis ab, dann stand er auf, kam um den Tisch zu mir herum und reichte mir seine Hand. Dankbar ließ ich mich von ihm hochziehen.
»Ich bin sehr müde«, gab Samél zerknirscht zu.
»Ich habe nichts dagegen, schlafen zu gehen«, erwiderte ich. »Lass uns lieber ausgeruht in den morgigen Tag starten.«
Samél nickte, führte mich aus dem Speisesaal, durch den dunklen Korridor und die Treppe hoch bis zu unserem Schlafgemach. Ursprünglich hatte der Herzog seine Zimmer in einer anderen Etage gehabt, doch sie waren für eine zweite Person zu eng gewesen, weswegen man seinen Besitz nach oben geschafft und ihm dort ein neues Zuhause eingerichtet hatte.
Sanftes Kerzenlicht brannte auf dem Korridor und warf Schatten an die Wand. Unter anderen Umständen hätte mich die Dunkelheit, verbunden mit der absoluten Stille, die hier oben herrschte, geängstigt, aber Saméls Hand lag fest in meiner, sodass ich nichts zu befürchten hatte.
Er öffnete die Tür zu unserem Schlafzimmer, das sich am höchsten Punkt des Schlosses befand und durch den runden Schnitt gemütlich und einladend wirkte. Routiniert entzündete Samél mehrere Kerzen, die er auf den Tisch, die Kommode und unsere Nachttische stellte. Vor dem Dachfenster schneite es leicht. Ein blasser Mond stand am Himmel.
Ich merkte, wie mein Körper von einer bleiernen Müdigkeit erfüllt wurde, als ich auf das große Bett blickte, das am Tag zuvor frisch bezogen worden war. Auch Saméls Augen glitten über das Sammelsurium an Kissen, doch schließlich griff er nach meinen Händen. Die Tür hatte ich hinter uns geschlossen.
»So ungern ich dich auch verlasse«, raunte Samél, »umso schöner ist es, wenn ich wiederkomme. Ich war auch früher schon oft unterwegs, aber nie hat mich die Aussicht, nach Hause zu kommen, so sehr erfüllt, wie sie es jetzt tut. Du bist ein Geschenk, Tiana.«
Gänsehaut kroch meinen Nacken hoch, als Saméls Finger über meine Wangen strichen. Schüchtern senkte ich den Blick, aber er hob mein Kinn an, sodass ich ihn ansehen musste. Das Feuer der Leidenschaft loderte in seinen Augen, kämpfte gegen die Müdigkeit an, die seinen Körper lähmte.
Samél trat einen Schritt auf mich zu. Zuerst sah es aus, als wollte er mich küssen, doch er zog mich in eine Umarmung und lehnte den Kopf an meine Schulter. Geschickt lösten seine Hände die Bänder meines Kleides.
Mein Herz begann wild zu klopfen, wie immer, wenn ich realisierte, was geschehen würde. Es war eine seltsame Mischung aus Furcht und Erregung, die ich empfand. Emotional gesehen wollte ich das Bett nicht mit ihm teilen, weil ich mich nicht wie seine Ehefrau fühlte. Doch mein Körper reagierte willig auf seinen und wollte sich ihm hingeben.
Ich zog meine Schultern zusammen und ließ mir von Samél aus dem Kleid helfen. Achtlos warf ich es auf den Boden, kletterte aus Schuhen und Strumpfhose, bis ich nur noch in Unterwäsche bekleidet vor ihm stand. Ich genoss es, wie sein Blick über meinen Körper glitt. Wie einen Schatz sah er mich an – wie ein Geschenk, das seinen Namen trug.
Betont langsam schlüpfte ich aus der Unterwäsche, weil ich wusste, dass ihm das gefiel und ich selbst Freude daran hatte, mich ihm zu präsentieren.
Saméls Augen funkelten. Einige Sekunden blieb sein Blick an meinen Brüsten hängen, dann entkleidete er sich ebenfalls, schlang die Arme um mich und küsste mich stürmisch.
Wie von selbst fanden wir den Weg auf das Bett. Samél ließ mich auf die Matratze fallen und positionierte sich über mir. Sein Körper war schlaksig, beinahe drahtig, doch die nicht vorhandene Muskelmasse verlieh ihm eine Eleganz, die ich schön fand.
Gierig glitten seine Hände über meinen Körper und obwohl er meine Haut mittlerweile in- und auswendig kennen musste, erfreute er sich immer wieder daran.
Saméls Stöhnen hallte laut in meinen Ohren nach, sein Atem streifte meinen Hals. Ich schloss die Augen, genoss das, was er mit mir anstellte, und verlor mich für eine Weile in einer Welt, die alle negativen Einflüsse aussperrte und nur uns beiden Zutritt gewährte. Einer Welt, in der ich es schaffte, Samél aufrichtig und als vollstem Herzen zu lieben.
Meine Lippen bebten unser seinen, ich drängte ihm meine Hüfte entgegen und seufzte, als er mir den Atem raubte. Ungestüm drehte mich Samél im Bett um, sodass ich über ihm lag und diejenige war, die das Tempo vorgab.
Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen, als ich auf ihn hinabschaute. Nur für den Bruchteil einer Sekunde löste sich mein Blick von ihm und wanderte zum Bücherregal, das mir gegenüberstand. Doch es war dieser Bruchteil, der ausreichte, um mein Herz in einen schmerzhaften Klumpen zu verwandeln und das warme Gefühl, das sich in mir ausgebreitet hatte, zu vertreiben.
Es war die kleine Löwenzahnzeichnung, die in einem Bilderrahmen vor der Bücherreihe stand. Ich hatte sie mir schon dutzendfach angesehen – ebenso wie die anderen Pflanzenbilder daneben – und dabei auch schon an Rabeo gedacht, aber gerade schnürte mir die Zeichnung die Kehle zu und rief Erinnerungen in mir wach, die ich so tief vergraben hatte, dass ich nur selten auf sie zugreifen konnte. Tränen schossen in meine Augen, ein Wimmern löste sich aus meiner Kehle.
Ich ging in die Knie und griff nach einem Löwenzahn, der sich durch den toten Boden schlängelte. Obwohl um ihn herum nichts als Leid herrschte, blühte er in voller Pracht.
»Genau so müssen wir sein«, entschied Rabeo, der sich mir genähert hatte. »Wir müssen blühen, auch wenn um uns herum die Welt untergeht.«
Er gesellte sich zu mir und umschloss meine Hand mit der seinen. Vorsichtig drehte er am Stiel des Löwenzahns und riss die Blüte aus der Erde. Eine Weile blickte er auf die gelben Blätter hinab, dann steckte er sie mir ins Haar. »Du bist diese Blume«, hauchte er und streichelte über mein Gesicht. »Du kannst aufrecht stehen, wenn alles um dich herum zugrunde geht. Daran glaube ich ganz fest.«
»Tiana, was hast du?«, drang Saméls besorgte Stimme durch meine Gedanken.
Als ich ihn anschaute, stand Furcht in seinen Augen. Umständlich kletterte ich von ihm herunter, zog die Beine an und breitete eine Decke über mir aus.
Normalerweise fiel es mir leichter, mich zusammenzureißen, aber die Tränen flossen unaufhörlich meine Wangen herab, sodass ich machtlos ihnen gegenüber war.
Samél kroch auf mich zu, sein Körper noch warm und weich, und legte seinen Arm um meine Schulter. Tröstend zog er mich an sich heran und hauchte mir einen Kuss auf den Scheitel.
Ein Schluchzen ließ meinen Körper erbeben. Es kam mir vor, als würde der ganze Schmerz, den ich monatelang zurückgehalten hatte, über mir zusammenbrechen. Ich schmiegte mich enger an Samél, genoss die Wärme, die er mir spendete, und schloss die Augen.
Ich rechnete es ihm hoch an, dass er mich nicht nach dem Grund für meinen Gefühlsausbruch fragte, zumindest noch nicht, sondern mich an seiner Brust weinen ließ.
Sanft strich er über meine Haare und schmiegte sich enger an mich. Ich zog die Nase hoch und spürte, wie mein Körper zu zittern begann. Samél kroch unter meine Decke, sodass wir nah nebeneinandersaßen.
»Es wird alles wieder gut«, flüsterte er an meinem Ohr und drückte mich fest an sich. »Egal was es ist, wir bekommen das hin.«
Wie gern hätte ich seinen süßen Worten geglaubt und mich in die sichere Welt führen lassen, die er mir darbot. Wie sehr wünschte ich mir, dass er recht hatte. Doch es konnte nicht mehr gut werden. Rabeo und alle anderen Venturen waren tot. Mein Vater hatte ein ganzes Volk ausgelöscht und mich an einen Fremden verheiratet.
Abermals glitt mein Blick zu der filigranen Löwenzahnzeichnung.
Rabeo war der erste und einzige Mann gewesen, dem ich mein Herz geschenkt hatte. Der Einzige, dem ich mich voll und ganz offenbarte. Doch er war aus meinem Leben gerissen worden, und ich hatte keine Möglichkeit bekommen, mich auf seinen Verlust vorzubereiten. Der Schmerz, den ich darüber empfand, fraß mich von innen auf. Und dennoch schaffte ich es, die Tränen zu unterdrücken.
Mehrmals wischte ich mir über die feuchten Augen und schluckte den Kloß in meiner Kehle herunter.
Samél beobachtete mich aufmerksam und ich wusste, dass ich ihm eine Erklärung schuldete. Aber welche Ausrede konnte ich ihm auftischen? Was würde er mir glauben?
»Ich … bin heute etwas emotional, tut mir leid«, stammelte ich vor mich hin und wich seinem Blick aus. »Deine Rückkehr, die Zeit, die ich allein in Ulindo verbracht habe … alles ist immer noch so neu für mich.«
In Saméls Augen schimmerte der Zweifel. Er war ein Stück von mir abgerückt und musterte mich aus der Entfernung.
»Tiana«, fing er in einem Tonfall an, der mir fremd war und nicht zu seinem optimistischen Wesen passte. Samél spielte an seinen Fingern herum und lachte freudlos auf. »Ich glaube nicht, dass es meine Rückkehr ist, die dich in solch einen Zustand versetzt. Und mit dem Leben hier hast du dich doch mittlerweile auch angefreundet, oder? Was also beschäftigt dich wirklich?«
Ich kroch tiefer unter die Decke und zwirbelte eine Strähne meines Haars zwischen den Fingern. »Jede Frau hat einmal im Monat ein paar schwierige Tage«, versuchte ich mich aus der Affäre zu ziehen, aber als ich mitbekam, wie Samél die Augen verdrehte, stoppte ich.
»Ich will keine Ausreden, Tiana. Was ist wirklich los mit dir?« Er rutschte wieder ein Stück auf mich zu und griff nach meiner Hand, die aus der Decke hervorschaute. »Du kannst mir alles sagen, das weißt du doch, oder? Es gibt nichts, was du vor mir geheim halten musst. Wir sind miteinander verheiratet.«
Flehend sah er mich an, und die Mauer, die ich in mir hochgezogen hatte, begann zu bröckeln. Dennoch wandte ich den Blick ab.
»Tiana.« Samél setzte sich aufrecht hin. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab und ich merkte, dass er nervös war. »Wir sind nun schon über drei Monate miteinander verheiratet. Genug Zeit, um den anderen kennenzulernen und sich in ihn zu verlieben. Ich für meinen Teil …« Er rang nach Atem. »Ich für meinen Teil kann dir versichern, dass ich dich liebe. Anfangs war es ein Funken, aber er hat sich in ein Feuer verwandelt. Ich liebe dich mit ganzem Herzen und ganzer Seele. Und dennoch … habe ich manchmal das Gefühl, dass ich dich nicht kenne. Dass du mir nur einen Teil von dir zeigst und den anderen sicher verschlossen hältst.« Er räusperte sich. »Vielleicht hast du Angst vor mir. Vielleicht hast du Bedenken, dass ich dir deine Vergangenheit, worin auch immer diese besteht, übel nehme. Ich kann dir versichern, dass es keinen Grund dafür gibt. Was auch immer du mit mir teilen wirst, ich werde es verstehen.«
Seine Stimme war wie flüssiger Honig. Er hatte weitaus Besseres verdient als mich. Samél gebührte eine Frau, die sich ebenso sehr nach ihm verzehrte wie er sich nach ihr.
»Ich merke, dass es da etwas gibt, Tiana«, fuhr er fort und umschlang meine Hand fester. »Etwas, das dich nachts aus dem Schlaf reißt und nur schwer wieder zur Ruhe kommen lässt. Etwas, das dich manchmal mitten am Tag erwischt und dein Lächeln gegen eine dunkle Regenwolke eintauscht.«
Ich hatte den Mund zu einer Erwiderung geöffnet, aber Samél hob die Hand. Seine Stimme hallte in mir wider, als er sagte: »Wenn wir möchten, dass diese Ehe funktioniert und wir auch noch in einem Jahr glücklich sind, müssen wir uns einander anvertrauen. Nur dann können wir eine gute Grundlage schaffen, die uns ein solides Fundament für die Zukunft bietet.«
»Und was, wenn dich das, was ich dir erzählen würde, verletzt? Ist es dann nicht besser, unwissend zu bleiben?«, fragte ich ihn.
Entschieden schüttelte Samél den Kopf. »Alles, was ich nicht über dich weiß, steht zwischen uns.«
»Aber da gibt es auch eine Menge, die ich nicht über dich weiß«, hielt ich dagegen und saugte meine Unterlippe ein.
»Das weiß ich«, stimmte er mir zu. »Du kannst mich fragen, was immer du willst. Ich möchte nichts vor dir verbergen. Aber ich möchte wissen, was es ist, das dich so beschäftigt. Damit wir es gemeinsam aus der Welt schaffen können.«
Er kam mir immer näher, bis er mein Gesicht erreicht hatte, über das er sanft strich. Ich beging den Fehler, mich in seinen Bernsteinaugen zu verlieren. Wie schön es wäre, wenn wir die Vergangenheit gemeinsam bewältigen könnten.
»Sag nicht, dass ich dich nicht gewarnt habe«, flüsterte ich gegen seine Lippen.
Samél hatte sich neben mich gesetzt, was es mir erleichterte. So musste ich ihn nicht ständig ansehen, sondern konnte mich auf meine Geschichte konzentrieren. Noch immer war ich nicht überzeugt davon, ob es den richtigen Weg darstellte, ihn in alles einzuweihen, aber jetzt konnte ich keinen Rückzieher mehr machen.
Samél legte mir seine Hand auf den Rücken, doch ich schüttelte sie ab und atmete tief durch.
»Das, was dir mein Vater über mich erzählt hat, stimmt nicht. Zumindest nicht alles davon. Er hat das Wichtigste ausgelassen und die Details so miteinander verknüpft, dass sie in seinen Augen Sinn ergaben, aber nicht der Wahrheit entsprechen.«
Warum fiel es mir so schwer? Wo sollte ich nur anfangen? Wie brachte ich den Knoten in mir zum Platzen?
»Was auch immer es ist … ich werde Verständnis haben«, kam es da von Samél.
»Die Entführung in der Nacht des Balls war keine Farce«, begann ich. »Sie war echt und nicht, wie mein Vater es dir einreden wollte, gestellt. Mich hat einer der Heiratskandidaten entführt. Damals dachte ich noch, sein Name wäre Clej, aber es stellte sich heraus, dass er Rabeo heißt und aus Venturia kommt.«
Obwohl Ulindo nicht weit weg von Bel Aniz und damit von Venturia lag, sah ich kein Erkennen in Saméls Augen.
»Er entführte mich und brachte mich in ein Land, in dem Magiebegabte leben. Venturia war einmal viel größer, doch es ist nur noch ein kleiner Landstrich übrig. Ich hatte Angst und fragte mich, was das Ganze sollte …«
Mit jedem Wort, das meine Lippen verließ, wurde ich sicherer. Ich ließ die Vergangenheit, die ich in mir verschlossen hatte, lebendig werden und teilte sie mit Samél.
Das Risiko des Ganzen war mir bekannt, denn ich wusste nicht, wie die Menschen aus Ulindo Magie gegenüberstanden und ob sie überhaupt daran glaubten. Mein Vater hatte damals jedes Gespräch über die dunklen Künste verboten. Was Samél von Magie hielt, konnte ich nur mutmaßen.
Ich blickte den Löwenzahn an, als ich ihm von Venturia erzählte. Von Venturia, meiner Mutter und auch von der Sache zwischen Rabeo und mir. Jedes Mal, wenn es darum ging, meine Gefühle für den Venturen zu beschreiben, stolperte ich über meine eigenen Worte. Erstens war ich nicht geübt darin, meine amourösen Empfindungen in Sätze zu packen, zweitens wollte ich Samél nicht verletzen, indem ich ihm gestand, dass ich einen anderen Mann liebte.
Samél erfuhr von meiner Vergangenheit und meiner Kindheit, die ich als magiebegabtes Wesen in Venturia verbracht hatte.
Ich erzählte ihm von meiner Rückkehr ins Schloss, der Unterredung mit meinem Vater und dass ich es geschafft hatte, die Magie, die mir ins Blut gelegt worden war, gegen ihn einzusetzen. Ich berichtete ihm, wie ich im Gefängnis des Schlosses gelandet war und mir schließlich die Flucht gelang. Doch ich kam zu spät und Venturia war bereits verwüstet. Ich fand die Leichen jener Menschen, die ich längst in mein Herz geschlossen hatte und von denen ich auf eine unschöne Art und Weise Abschied nehmen musste.
Ich verschwieg Samél auch die Taube nicht, die mir Rabeos Nachricht übermittelt hatte. Die Taube, die Hoffnung in mir schürte und deren Botschaft darin bestand, dass wir niemals unseren Augen trauen dürften. Die Taube, die vielleicht Venturia selbst zu mir geschickt hatte – das Land, das eine eigene Dynamik besaß und dessen volle Zauberkraft ich noch immer nicht greifen konnte.
An dieser Stelle legte ich eine Pause ein und rang nach Atem. Die Haare auf meinen Unterarmen hatten sich aufgestellt und mein Herz schlug unregelmäßig. Samél beugte sich nach vorn, sodass ich ihn ansehen konnte. Die Angst, die ich vor seiner Reaktion gehabt hatte, verflog, als ich einen Blick auf sein ebenmäßiges Gesicht warf.
»Ich danke dir für deine Ehrlichkeit, Tiana«, sprach er. »Wirklich, ich weiß das sehr zu schätzen.«
Seine Worte gaben mir den Mut, fortzufahren und ihn in den Teil der Geschichte einzuweihen, der für sein Leben Relevanz besaß. Ich schloss die Augen, um mich besser auf Vergangenes besinnen zu können.
»Ich war auf dem Rückweg von Venturia, als die Wachen meines Vaters mich einfingen und zurück ins Schloss brachten. Es mussten nur wenige Stunden vergangen sein, bis der König mein Fehlen bemerkt hatte und aktiv wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt war es mir nicht gelungen, meine magischen Kräfte einzusetzen. Rabeo hatte mir erzählt, dass dies in der Menschenwelt wahrscheinlich der Fall sein würde, aber immerhin hatte ich es auch davor geschafft, meinen Vater anzugreifen. Doch all der Zauber, den ich einmal beherrscht hatte, war verschwunden. Ich stellte nicht mehr als eine gewöhnliche Frau dar und war leicht zu überwältigen.« Ich legte den Kopf in den Nacken. »Die Wachen meines Vaters brachten mich zurück nach Bel Aniz, wo der König mit großer Zufriedenheit erkannte, dass ich keine Magie mehr wirken konnte. Er machte mich zu seiner Geisel, erklärte meinen Geist für gestört und meinte, er müsste mich vor dem Volk schützen. Es war offensichtlich, dass er mich nicht mehr an seinem Hof haben wollte, aber das Risiko, mich zu verbannen und mich meiner Wege ziehen zu lassen, war ihm zu hoch.« Ich presste die Lippen aufeinander. »Die Idee, mich zu verheiraten, war nicht neu, weswegen er auch nicht lange nachdenken musste. Meine Mutter war es schließlich, die sich dafür einsetzte, dass ich nach Ulindo kam. Erstens, weil es nur ein Tagesritt bis Bel Aniz ist, und zweitens, weil du mit Abstand der erträglichste Kandidat des ersten Balls warst.«
Ich öffnete die Augen, in der Angst, ihn mit meinen harschen Worten beleidigt zu haben. Doch Samél verzog keine Miene.
»Meine Mutter stand schon immer unter dem Scheffel meines Vaters. Sie ist oft nicht seiner Meinung, hat aber keine Möglichkeit, ihre durchzusetzen. Wäre es nach meinem Vater gegangen, hätte er mich wohl an meinen schrecklichen Onkel Theobald verheiratet, aber immerhin in diesem Punkt gelang es meiner Mutter, ihn von ihren Ansichten zu überzeugen.«
»Und du?«, unterbrach Samél meine Erzählungen, woraufhin ich ihn verwirrt ansah. »Was hast du getan?«
»Ich habe versucht, wegzulaufen. Ich wollte herausfinden, ob es die Venturen noch gibt und wie ich ihnen helfen kann. Die Nachricht der Taube hat mir keine Ruhe gelassen. Aber die Wachen meines Vaters waren überall und beobachteten mich mit Adleraugen. Ich hatte schlicht und einfach keine Möglichkeit, das Schloss zu verlassen. Mein Vater jedoch bemerkte, wie sehr meine Gedanken noch immer an Venturia hingen und dass ich nicht abschließen konnte. Deswegen war es ihm auch so wichtig, dass die Hochzeit schnell über die Bühne ging.« Ich blies mir eine Strähne meines schwarzen Haares aus dem Gesicht und ließ die Schultern hängen. »Das brachte mich nach Ulindo. Mein Vater liebt das Gefühl, Macht über mich zu haben … und alles ist genauso geschehen, wie er es sich vorgestellt hatte. Ich weiß nicht, was meine Mutter über die ganze Sache denkt, aber sie hat wie gesagt keine Chance, sich gegen ihn zu stellen. Am Abend meiner … unserer Hochzeit versprach sie mir, mich regelmäßig zu besuchen. Leider hat sie es bisher nicht ein einziges Mal nach Ulindo geschafft – wahrscheinlich, weil mein Vater sich dagegen stellt und er nicht möchte, dass weiterhin Kontakt zu mir gehalten wird … so missraten, wie ich bin. Ich glaube auch, dass er nur zu unserer Trauung gekommen ist, weil er sich davon überzeugen wollte, dass er seinen Willen bekommen hat. Auch er ist mich nicht mehr besuchen gekommen, aber darum bin ich froh.« Ich tauschte einen schnellen Blick mit Samél, der mir zunickte. »Ich würde dir gern beschreiben, wie ich mich gefühlt habe, als ich dir unser Eheversprechen gab, aber es ist unmöglich, all diesen Gefühlen ein Gesicht zu geben. Unmöglich, sie zu ordnen oder zu definieren. So viel sei sicher: Ich war ein Wrack. Und ich habe mein Bestes gegeben, das niemandem zu zeigen. Schon gar nicht dir – denn du verdientest es nicht. Und mich verdienst du auch nicht.«
»Sag so etwas nicht«, ereiferte sich Samél und sah mir tief in die Augen. »Du schätzt dich selbst viel geringer ein, als du bist. Ich habe mich in dich verliebt, Tiana, und …«
»Aber ich werde dich nie so sehr lieben können wie du mich«, hielt ich dagegen, auch wenn ich damit seine Hoffnung im Keim erstickte. Dennoch war es nötig, dass er die Wahrheit erfuhr. »Ich wollte mir am Tag unserer Hochzeit eine Chance geben. Dir und mir – uns beiden als Paar. Doch es war schwierig, weil Rabeo wie ein Phantom durch meinen Kopf spukte und ich einfach nicht abschließen konnte, solange ich nicht wusste, wie es wirklich um ihn stand und ob es ihn nicht noch irgendwo gab.«
»Die Schachstunden in Myla«, fiel es Samél ein und ich nickte. »Wochenlang hast du im Spiel der Könige Unterricht genommen – begleiten durfte ich dich nie. Du bist mit einer Kutsche hingefahren, hast dann darauf bestanden, allein zu sein. Einmal warst du mehrere Tage weg, auf einem Schachseminar. Du sagtest, du tust es, um dich zu bilden und irgendwann eine Chance gegen mich zu haben, aber in Wahrheit …«
Der Anflug eines schlechten Gewissens durchflutete mich, doch ich kämpfte dagegen an.
»Ich habe nach Rabeo gesucht«, bestätigte ich Saméls Vermutung. »Nach Rabeo und den Venturen. Ich bin zurück in das magische Land, nur um festzustellen, dass es das nicht mehr gibt. Ich habe mein Bestes gegeben, bin jedem noch so kleinen Hinweis nachgegangen, nur um zu erkennen, dass ich nichts tun konnte. Venturia existiert nicht mehr und all seine Bewohner sind gestorben.« Bitterkeit hatte sich in meine Stimme gemischt, die Samél dazu brachte, den Kopf schief zu legen und mich nachdenklich anzusehen. »Mit diesem Wissen lebe ich nun seit einigen Wochen, und obwohl ich mir sicher bin, dass ich keinen von ihnen je wiedersehen werde, macht es mich wahnsinnig. Manche Tage sind leichter als andere. Heute war kein guter Tag.« Ich brachte ein mühsames Lächeln zustande.
Als ich Samél ansah, war die Distanz, die ich mit meiner Erzählung zwischen uns hergestellt hatte, mit Händen greifbar. Er hatte die Beine an den Körper gezogen und schien in seinen eigenen Gedanken versunken. Die Zeit, in der er meine Geschichte unkommentiert ließ, zog sich endlos. Nervosität nahm von mir Besitz. Samél kam mir nicht zornig vor, aber ich konnte auch nicht mit Sicherheit sagen, wie er sich stattdessen fühlte.
»Ich bin nicht böse, dass du mich angelogen hast«, sagte er schließlich. »Nichts liegt mir ferner. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es sein muss, mit dieser Wahrheit zu leben und sich niemandem anvertrauen zu können.« Er schüttelte den Kopf. »Und dennoch werde ich eine Weile brauchen, um das Ganze zu verarbeiten.«
»Das verstehe ich«, kam ich ihm entgegen. »Das verstehe ich besser, als du es dir vorstellen kannst. Ich bin schon froh, dass du mich nicht wie mein Vater festnehmen lässt, weil ich magische Kräfte in mir trage … oder trug, je nachdem, wie man es nimmt.« Verstohlen schaute ich auf meine Hände hinab.
Aus den Augenwinkeln erkannte ich, wie Samél den Mund verzog. »Es gibt nichts zu befürchten, Tiana. Das habe ich dir am Anfang gesagt und ich verspreche es dir auch jetzt. Ich werde mich nie gegen dich wenden, egal was passiert.«
Ein schwaches Lächeln hob meine Mundwinkel. »Und Magie? Wie stehst du dazu?«
Samél verzog den Mund, fing sich aber schnell wieder. »Die Menschen aus Ulindo gelten als aufgeklärt, was bedeutet, dass sie nicht an Magie glauben und sich auch nie mit ihr beschäftigt haben.« Er fuhr sich mit der rechten Hand durch sein dichtes Haar. »Ich bin dem gegenüber etwas skeptischer. Es gibt so viele alte Überlieferungen, so viele Geschichten und Sagen, dass ich unmöglich ohne Zweifel behaupten kann, dass Magie nicht existiert.«
»Also glaubst du mir?«, ging ich dazwischen.
Samél nickte knapp. »Ja, ich glaube dir. Ich glaube dir die ganze Geschichte.«
Ein vorsichtiges Flattern entstand in meinem Herzen. Samél war ein Edelmann, und genau das schätzte ich so sehr an ihm. Doch als ich auf sein Gesicht blickte, merkte ich, dass er noch immer mit etwas kämpfte. Ich rutschte näher an ihn heran und platzierte meine Hand auf seiner Schulter.
»Was hast du?«, hauchte ich, woraufhin er tief durchatmete.
»Das zwischen uns … es ist eine arrangierte Ehe«, brach es schließlich aus ihm heraus. »Eine Ehe, die deine Eltern – oder vor allem dein Vater – angeordnet haben. Du hast dich ihrem Willen gebeugt, weil du keine andere Wahl hattest. Wärst du frei gewesen, hättest du dich nie für mich entschieden, sondern für ihn.« Er schluckte schwer. »Ich kann dir nicht mal einen Vorwurf machen. Wir können uns nicht aussuchen, in wen wir uns verlieben und für wen unser Herz schlägt. Und dennoch …« Er legte den Kopf in den Nacken, bevor er mich wieder ansah. »Dennoch muss ich wissen, was das zwischen uns ist. Woran ich bin.«
Ich öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch Samél kam mir zuvor.
»Auch wenn ich nicht die Liebe deines Lebens sein kann … bist du glücklich? Fühlst du dich wohl hier? Ich würde es nicht ertragen, wenn du …«
Im Bruchteil einer Sekunde hatte ich meine Lippen auf seine gepresst. Es war nur ein kurzer Kuss, aber er sollte ihm zeigen, dass seine Befürchtungen sich jeder Realität entzogen.
»Samél«, sprach ich mit belegter Stimme. »Es geht nicht mehr darum, sich für dich oder für Rabeo zu entscheiden. Rabeo ist tot … ich habe einfach noch nicht gelernt, mit der Vergangenheit abzuschließen. Es gibt keinen Weg mehr zurück, aber es gibt einen nach vorn. Und angesichts der Umstände … und überhaupt … freue ich mich, die Frau an deiner Seite zu sein. Ich schätze dich … über die Maßen. Deine Großmut, deine Liebenswürdigkeit und dein Verständnis. All diese Eigenschaften habe ich in dir gefunden. Ich … will mein Leben mit dir verbringen. Ich brauche nur Zeit.«
Erleichterung glitt über sein Gesicht. »Ich liebe dich, Tiana«, sagte er.
Gedanklich legte ich mir eine Erwiderung zurecht, aber dieses Mal war es Samél, der mich mit einem Kuss stoppte. Seine Lippen waren warm und weich, vermittelten mir Sicherheit in einem Leben voller Eventualitäten.