Der Fluch der sechs Prinzessinnen (Band 1): Schwanenfeuer - Regina Meißner - E-Book + Hörbuch

Der Fluch der sechs Prinzessinnen (Band 1): Schwanenfeuer E-Book und Hörbuch

Regina Meißner

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Beschreibung

Am Tag ein Schwan, in der Nacht ein Mensch, gefangen an einem einsamen See mitten im Wald. Das ist das Schicksal der verwunschenen Prinzessin Estelle. Es erscheint ihr aussichtslos, den Fluch zu brechen. Der Sinn der rätselhaften Worte auf einem geheimnisvollen Pergament, das der einzige Schlüssel ist, bleibt ihr verborgen. Erst als der junge Jäger Ayden am Schwanensee auftaucht, erhält sie neue Hoffnung. Womöglich gelingt es mit seiner Hilfe, das Rätsel zu lösen und den Weg zu beschreiten, der Estelles Dasein als Schwanenprinzessin beenden könnte? Doch was wird dann aus ihren Schwestern, die ebenfalls von einem Fluch befallen zu sein scheinen?

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Seitenzahl: 364

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Zeit:8 Std. 5 min

Sprecher:Simone Scheuer
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Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Dank

Bonusmaterial

1) Das sagt die Autorin über sich und das Schreiben

2) Blogger fragen - Regina Meissner antwortet

Buchempfehlungen

 

Regina Meißner

 

 

Der Fluch der

sechs Prinzessinnen

 

Band 1: Schwanenfeuer

 

 

Märchen

 

 

Der Fluch der sechs Prinzessinnen (Band 1): Schwanenfeuer

Am Tag ein Schwan, in der Nacht ein Mensch, gefangen an einem einsamen See mitten im Wald. Das ist das Schicksal der verwunschenen Prinzessin Estelle. Es erscheint ihr aussichtslos, den Fluch zu brechen. Der Sinn der rätselhaften Worte auf einem geheimnisvollen Pergament, das der einzige Schlüssel ist, bleibt ihr verborgen. Erst als der junge Jäger Ayden am Schwanensee auftaucht, erhält sie neue Hoffnung. Womöglich gelingt es mit seiner Hilfe, das Rätsel zu lösen und den Weg zu beschreiten, der Estelles Dasein als Schwanenprinzessin beenden könnte? Doch was wird dann aus ihren Schwestern, die ebenfalls von einem Fluch befallen zu sein scheinen?

 

 

 

Die Autorin

Regina Meißner wurde am 30.03.1993 in einer Kleinstadt in Hessen geboren, in der sie noch heute lebt. Als Autorin für Fantasy und Contemporary hat sie bereits viele Romane veröffentlicht. Weitere Projekte befinden sich in Arbeit.

Regina Meißner studiert Englisch und Deutsch auf Lehramt in Gießen. In ihrer Freizeit liebt sie neben dem Schreiben das Lesen, Nähen und ihren Dackel Frodo.

 

www.sternensand-verlag.ch

[email protected]

 

1. Auflage, Oktober 2017

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2017

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski | Kopainski Artwork

Illustrationen: Melis Art | redbubble.com/de/people/melisart

Kapitelillustrationen: Fotolia.de | berdsigns

Lektorat / Korrektorat: Martina König | Sternensand Verlag GmbH

Satz: Sternensand Verlag GmbH

Druck und Bindung: Smilkov Print Ltd.

 

ISBN-13: 978-3-906829-45-6

ISBN-10: 3-906829-45-6

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für Mona.

Du bist so viel besser, als du glaubst. Fang an, zu

schreiben … und hör nie wieder auf..

 

Kapitel 1

Ayden

 

 

Der Mond warf seinen Schein auf die Lichtung, in deren Mitte der Schwanensee thronte. Leise ging der Wind durch die kahlen Äste der Bäume, spielte eine Melodie, die nur diejenigen vernehmen konnten, die genau hinhörten. Hoch oben auf den Bergen lag noch Schnee, aber im Tal hatte das Tauwetter Einzug gehalten. Vereinzelt standen Sterne am Firmament, winzige Lichtpunkte, Wegweiser im Labyrinth des Lebens.

Ayden zog den Schal enger um seinen Hals. Seit vielen Stunden war er unterwegs, mittlerweile peitschte die Kälte derart auf ihn ein, dass er sich nach einem warmen Bett und trockener Kleidung sehnte. Glücklicherweise hatte der Regen aufgehört.

Seufzend ging er weiter, die Armbrust geschultert. Sein Atem zeichnete sich in kleinen Dampfwolken ab. Fröstelnd schlang er die Arme um seinen Körper und schüttelte den Kopf über seine eigenen törichten Gedanken. Aufgeben durfte für ihn nicht infrage kommen. Der König von Talario zählte auf ihn, einen seiner besten Jäger.

Entschlossen griff Ayden nach der Armbrust und legte einen Bolzen in das Holz. Irgendwo musste es doch etwas zu schießen geben! Doch die Vögel waren noch in den warmen Sommerlanden und würden erst in einigen Monaten wiederkommen.

Der Jäger weigerte sich, daran zu denken. Der König hatte ihm aufgetragen, einen Vogel zu schießen, also würde er auch einen finden. Seine Majestät zu enttäuschen, wäre eine Schmach, der er sich niemals freiwillig ergeben würde.

Tapfer lief er weiter, auch wenn seine Hände vor Kälte klamm waren und die Waffe in seinem Griff kaum Halt fand. Der Wind peitschte ihm unbarmherzig ins Gesicht. Grimmig strich Ayden sich mit der freien Hand eine Strähne seines braunen Haares hinters Ohr.

In Talario gab es Vögel, die sich nur in der Nacht zeigten. Der Eiszar, dessen Fleisch zart war und äußerst delikat schmeckte, war einer von denen, auf die der Jäger hoffte. Trotz der kalten Temperaturen würde er sich noch in seiner Heimat aufhalten, da er zu den Wesen gehörte, denen Wind und Wetter nichts ausmachten.

Ayden kniff die Augen zusammen, den Himmel absuchend, doch dichte Wolken hatten sich vor den Mond geschoben, die ihm die Sicht erschwerten. Einen Fluch unterdrückend, stampfte er mit seinen braunen Winterstiefeln auf dem Boden auf, als er plötzlich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm.

Blitzschnell blickte er wieder nach vorn – und tatsächlich: Ayden konnte sein Glück kaum fassen, als sich unmittelbar vor ihm ein Schwan in die Höhe wagte. Sein Gefieder war so hell, dass der Jäger es sogar im Dunkel sah.

Ayden war wie gebannt von der Anmut des Tieres, besann sich aber schnell wieder seines Auftrags und machte die Armbrust bereit. Er wusste genau, was er tat – daher war es kein Wunder, dass der Bolzen kurze Zeit später zielsicher das Gefieder des Schwans durchbohrte, die Stelle, wo die Federn in das Bein übergingen. Schwer sank das Tier zu Boden und landete außerhalb von Aydens Blickfeld.

Ohne Zeit zu verlieren, setzte er sich in Bewegung und rannte auf den großen Busch zu, hinter dem er seine Beute vermutete. Innerlich sah er sich bereits an der Tafel des Königs sitzen, von dem kostend, was er seiner Majestät geschossen hatte. Sein Puls ging schneller bei der Vorstellung. Er hatte den Befehl ausgeführt und konnte voller Stolz an den Hof zurückkehren.

Suchend schaute der Jäger in den kahlen Busch, der nur noch wenige Blätter trug, konnte den Schwan aber nicht ausmachen. Auch in der näheren Umgebung fehlte jede Spur von ihm.

Ayden runzelte die Stirn. Irgendetwas ging nicht mit rechten Dingen zu, immerhin hatte er doch gesehen, dass der Schwan zu Boden gestürzt war. Nachdenklich biss er sich auf die Lippe und ließ den Blick schweifen. Doch sosehr er sich auch anstrengte, umgab ihn nichts als Dunkelheit.

Voller Zorn warf er die Armbrust zu Boden, als er auf einmal ein sonderbares Geräusch vernahm. Ayden spitzte die Ohren und war sich sicher, das Wimmern einer Frau zu hören. Noch nie hatte er an diesem gottverlassenen Ort eine Menschenseele gesehen! Die Lichtung lag so tief in den Wäldern, dass er sich immer völlig allein gefühlt hatte. Aber je angestrengter er lauschte, desto sicherer war er sich, dass er Gesellschaft bekommen hatte.

Kurz entschlossen schulterte er seine Armbrust und folgte dem Geräusch. Er war erst wenige Schritte gegangen, als er über ein Hindernis stolperte.

»Verdammt«, entfuhr es ihm, während er sich die Zehenspitzen rieb. Dann schaute Ayden sich seinen Fund an.

 

Ein Mädchen, dachte er und schluckte. Eine junge Frau.

Im Nu war er auf den Knien und strich über den bebenden Körper. Die Frau wimmerte leise.

»Ganz ruhig«, murmelte er, nicht sicher, was zu tun war.

Der Jäger wühlte sich durch seinen Rucksack und entzündete die kleine Laterne, die er für Notfälle dabeihatte. Im warmen Schein des Lichts konnte er das Gesicht der jungen Frau erkennen. Sie hatte langes hellblondes Haar, das ihr strähnig über die Schultern hing. Ihre leuchtend blauen Augen starrten ihn verwirrt an – eine Mischung aus Schmerz und Angst lag in ihnen.

Beim näheren Hinsehen wurde Ayden bewusst, dass der gesamte Körper der Frau bebte, selbst ihre Unterlippe zitterte. Die Unbekannte trug ein schlichtes weißes Kleid und lag seltsam verdreht auf dem Waldboden. Ihre Beine waren angewinkelt, die Arme hingen schlaff über ihren Oberkörper.

»Was ist passiert?«, fragte der Jäger tonlos.

Seine Augen wurden groß, als die Frau zu weinen begann und er den Bolzen entdeckte, der in ihrem Unterschenkel steckte. Eine Lache aus Blut breitete sich darum aus.

»Oh mein Gott«, stieß Ayden hervor und presste sich die Hand vor den Mund. »Wer … wer hat auf dich geschossen?«

Mühsam versuchte sich die junge Frau an einer Antwort, aber der Jäger spürte nichts als den Hauch ihres Atems auf seinem Gesicht.

Ayden verstaute die Laterne wieder in seinem Gepäck, bevor er sanft die Arme um den zarten Körper der Fremden schlang. Er musste ihr helfen, bevor sich ein anderer ihrer bemächtigte.

Die Frau gab einen überraschten Laut von sich, protestierte aber nicht, als sie hochgehoben wurde. Ayden kam es so vor, als trüge er eine Feder in seinen Armen, so leicht war sie.

Vorsichtig bewegte er sich auf den See zu, an dessen Ufer er eben entlanggegangen war. Zunächst musste er sich um den Bolzen kümmern, aber danach sollte die Wunde gereinigt werden.

Der Jäger setzte die Fremde am Ufer ab. Er hatte keine Erfahrung damit, sich um Verletzte zu kümmern. Normalerweise war es der Tod, dem er ins Auge sah.

Er zog das Geschoss aus der Wunde, warf es achtlos ins Gras und erkannte, dass die Unbekannte in Ohnmacht gefallen war. Stirnrunzelnd fragte er sich, wer sie so verwundet haben konnte. Welch ein Mensch schoss auf eine unschuldige Frau? Überhaupt: Woher kam der Bolzen? Ayden war sich sicher gewesen, der einzige Mensch auf der Lichtung zu sein.

Ein leises Stöhnen unterbrach seine Gedanken und sein Blick fiel wieder auf die junge Frau, die selbst in ihrer Bewusstlosigkeit Schmerzen zu haben schien.

Erleichtert erkannte der Jäger, dass die Wunde nicht sehr tief war. Das Holz hatte sich zwar im Fleisch verfangen, war aber nicht so weit vorgedrungen, dass die Fremde mit bleibenden Schäden würde kämpfen müssen.

Weil er nichts zum Reinigen der Wunde bei sich trug, riss er ein Stück Stoff vom unteren Teil seines Hemdes und tauchte es in den See. So würde er die Verletzung zumindest auswaschen können, damit sie sich nicht entzündete.

Sehnsüchtig wünschte er sich eine der Zauberquellen herbei, die vereinzelt in Talario existierten. Ihr Wasser half gegen alle möglichen Arten von Gebrechen und konnte bei korrekter Anwendung sogar hartnäckige Krankheiten heilen. Aber bisher hatte sein Weg ihn nie an ein solches Gewässer geführt.

Erneut riss er ein Stück Stoff seines Hemdes ab. Beim Verbinden der Wunde fiel sein Blick auf die langen, marmorfarbenen Beine der Unbekannten. Sie sah unberührt aus, rein und unschuldig. Wer hatte sie verletzen wollen? Und wieso hatte der Angreifer sie einfach so im Gras liegen gelassen?

Kopfschüttelnd schlang Ayden den Stoff um die Wunde und sicherte den Verband mit einem Knoten. Innerlich fluchte er über denjenigen, der auf eine junge Frau schoss und sie ihrem Schicksal überließ.

Nun, da die Unbekannte eingeschlafen war, konnte er die Anmut ihres Gesichts erkennen. Der Schmerz und die Angst waren vollständig aus ihren Zügen gewichen.

Ayden betrachtete die Fremde fasziniert, die selbst in der Bewusstlosigkeit noch rosafarbene Lippen hatte. Ihr Gesicht wurde von hohen Wangenknochen eingerahmt, die Augenbrauen waren so hell, dass man sie kaum erkennen konnte.

Behutsam streichelte Ayden ihr Gesicht. Dabei verhakten sich seine Finger in ihren Haaren.

»Schlaf ruhig, meine Schöne«, flüsterte er. »Ich werde bei dir bleiben, bis du wach wirst.«

Der Jäger warf einen Blick zu dem hellen Mond. Die Wolken waren mittlerweile weitergezogen. Er fragte sich, wo die Fremde wohnen mochte. Was hatte sie mitten in der Nacht auf der Lichtung gesucht? War sie vom rechten Weg abgekommen?

Einerseits hoffte er, dass es Menschen gab, die sich nach ihr auf die Suche machen würden, andererseits wollte er nicht, dass sie ihm gleich wieder weggenommen wurde. Obwohl er sie nicht kannte, faszinierte sie ihn. Sie strahlte etwas aus, das ihn neugierig machte. Außerdem fühlte er sich für sie verantwortlich. Er musste einfach wissen, dass es ihr gut ging.

Die Augen der Frau waren so friedlich geschlossen, als befände sie sich in einem Traum. Noch einmal überprüfte Ayden den Verband, den er fest um die Wunde gebunden hatte. In wenigen Tagen würde die Heilung hoffentlich so weit fortgeschritten sein, dass die Fremde das Bein wieder normal benutzen konnte.

Während der Blick des Jägers erneut über sie glitt, erkannte er eine dünne Silberkette an ihrem Hals. Ein Saphir baumelte in der Mitte, der das Mondlicht zu reflektieren schien.

Ayden suchte in der Dunkelheit seinen Rucksack, dann zündete er abermals die Laterne an. Spätestens wenn die junge Frau aufwachte, würde sie frieren, daher war es besser, vorzusorgen.

Er breitete seine Decke aus, die er auf Reisen immer bei sich hatte, hob die Unbekannte sanft an und platzierte sie auf dem warmen Stoff. In seinem Rucksack fand er zudem ein altes Hemd, mit dem er sie notdürftig bedecken konnte. Seine Finger zitterten, wenn er die junge Frau unabsichtlich berührte. Eine Situation wie diese war Neuland für ihn. Dann setzte er sich neben die Unbekannte an den Rand des Sees und lauschte ihren gleichmäßigen Atemzügen.

 

 

Estelle

 

Wo bin ich?, fragte sich Estelle, als sie die Augen aufschlug. Sie lag auf einer Decke, die sie nie zuvor gesehen hatte, gleich neben dem See.

Verwirrt runzelte sie die Stirn und versuchte sich aufzurichten. Schmerzverzerrt biss sie die Zähne zusammen.

Was ist das?

In einer einzigen schnellen Bewegung zog sie das zerschlissene Hemd zur Seite und untersuchte ihr pochendes Bein. Da, um ihren Unterschenkel war ein Verband angebracht. Was war geschehen?

Ihr Kopf dröhnte, während sie die letzten Stunden zu rekapitulieren versuchte. Auf einmal hielt sie in ihren Gedanken inne. Sie war ein Schwan gewesen, als sie verletzt wurde. Wie war das möglich, wenn sie in der Nacht doch ihre menschliche Gestalt zeigen durfte? Nun hatte sie Arme, Beine, ein hübsches, wenn auch etwas ausgemergeltes Gesicht und einen zu schlanken Körper … aber wieso vorher nicht? Wie spät mochte es sein? Wie viel Zeit blieb ihr, bevor …

»Hallo«, hörte sie auf einmal eine fremde Stimme.

Verwirrt drehte sie ihren Kopf in die Richtung, aus der diese gekommen war. Im Schein des Mondes sah sie einen jungen Mann mit dunklem, lockigem Haar, der neugierig auf sie hinabblickte.

Ihr erster Impuls war es, zu fliehen, aber allein der Gedanke daran ließ ihre schmerzende Wade explodieren.

»Du musst keine Angst vor mir haben«, sprach der Fremde weiter und beugte sich zu ihr hinab. Er roch nach Erde und Wald. Es war ein ungewöhnlicher Duft, aber nicht unangenehm. »Mein Name ist Ayden.«

Ayden. Kein seltener Name.

Kritisch beäugte Estelle den Mann, versuchte, ihn einzuschätzen. Was machte er mitten in der Nacht am Schwanensee? Nie zuvor hatte sie eine menschliche Seele zu so später Stunde hier gesehen.

»Ich habe dich verletzt gefunden«, ergänzte er. Seine Stimme hatte etwas Tröstendes, sodass Estelle nicht die Chance dazu bekam, ängstlich zu werden. »Du lagst dort hinten«. Ayden deutete auf eine Stelle etwas weiter entfernt.

Estelle zuckte zusammen, als sich ein Erinnerungsfenster in ihren Gedanken öffnete. Der Schwan. Sie war angeschossen worden. Dann hatte sie ihre Gestalt gewechselt, aber noch vor ein paar Stunden war sie …

Ayden unterbrach sie. »Willst du mir nicht deinen Namen sagen?« Ein Paar kastanienbraune Augen musterte sie.

Die junge Frau senkte den Blick. »Ich heiße Estelle«, antwortete sie leise.

»Estelle«, sinnierte der Fremde. »Ein schöner Name. Recht untypisch für ein Mädchen aus diesen Gefilden.«

»Danke, dass du mir geholfen hast.« Estelle wich seinem Blick weiterhin aus. Seine Augen waren so durchdringend, als könnten sie auf den Grund ihrer Seele schauen.

»Wo kommst du her? Was hast du hier so spät gemacht?«, fragte Ayden weiter.

Estelle mochte seine Neugierde nicht, konnte sie ihm aber nicht übel nehmen. Wäre sie in seiner Situation, hätte sie sich ähnlich verhalten. Man sah schließlich nicht alle Tage eine einsame Frau an einem See, den niemand besuchte.

»Ich komme zurecht«, murmelte sie statt einer Antwort. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, richtete sie sich auf, verzog aber sogleich schmerzvoll das Gesicht.

»Nicht aufstehen«, meinte Ayden und richtete sich auf. »Du musst dich noch ein bisschen ausruhen, bevor du wieder laufen kannst.«

»Ich … habe keine Zeit«, stieß Estelle erstickt hervor. Ängstlich sah sie zum Mond hinauf. Bis sie ihre Gestalt wechselte, musste der Fremde auf jeden Fall verschwunden sein.

»Ist jemand auf der Suche nach dir? Ich warte gern, bis …«

Schnell schüttelte sie den Kopf. »Ich kenne mich in dieser Gegend aus«, unterbrach sie ihn hastig und lächelte ihn an. »Ich bin oft hier.«

»Aber wieso wurdest du angeschossen? Wer hat das getan?«

Estelle zögerte mit ihrer Antwort. Einerseits war sie froh, dass der Fremde nicht gesehen hatte, wie aus dem Schwan eine junge Frau geworden war, andererseits wusste sie nicht, wie viel sie ihm verraten durfte. Ob sie ihm überhaupt etwas verraten konnte.

»Ich … kann mich nicht erinnern«, wich sie aus, weil es ihr am unverfänglichsten erschien.

Damit er ihr die Lüge nicht an den Augen ablesen konnte, senkte sie abermals den Blick und zupfte an ihrem Kleid, das durch all die Zeit am Schwanensee mitgenommen aussah. Zu Hause in Brahmenien hätte sie damit als liederliche Dirne gegolten. Aber ihre Heimat war weit, weit weg.

Bevor Trauer in ihr aufsteigen und ihren Körper lähmen konnte, setzte sie sich aufrecht hin. »Ich danke dir noch einmal, Ayden. Du hast dich gut um meine Verletzung gekümmert. Nun darfst du wieder deiner Wege gehen.«

Wieso tat er nicht einfach, was sie sagte? Wieso sammelte er nicht seine Sachen zusammen und ging davon? Estelle seufzte leise.

»Ich werde dich hier nicht einfach liegen lassen«, erwiderte Ayden bestimmt.

Unter anderen Umständen hätte sie sich über seine Anteilnahme gefreut, doch jetzt war ihr genau diese ein Dorn im Auge. Verzweifelt sah sie sich um. Wie konnte sie ihn nur überzeugen?

»Es ist tiefste Nacht«, begann sie. »Deine Familie macht sich sicher Sorgen um dich. Ich komme gut allein klar.«

»Meine Eltern habe ich schon lange verlassen und gebunden bin ich nicht«, hielt Ayden entgegen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Wieso ist er nur so störrisch!?

Nach kurzem Überlegen kam Estelle eine Idee. Vielleicht würde er sich überzeugen lassen, zu gehen, wenn sie ihm ihre Höhle zeigte. Er würde sehen, dass es ihr gut ging und … Ja, das würde sie versuchen!

Entschlossen sah sie ihn an. »Ich bin öfter am See«, startete sie das Gespräch und lächelte. »Manchmal verbringe ich meine Nächte hier und werde auch heute in der Nähe des Schwanensees bleiben. Nicht weit von hier gibt es eine Höhle, in der ich unterkrieche.«

»Eine Höhle?« Ayden hob seine Augenbrauen.

»Wenn du mir aufhilfst, kann ich sie dir zeigen.«

Estelle war es unangenehm, als Ayden sich hinter sie stellte und ihr half, aufzustehen. Außer ihrem Vater hatte nie zuvor ein Mann sie berührt. Schweiß brach auf ihrer Stirn aus, aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

Ayden schlang seinen Arm um Estelles Hüfte. Sobald sie sich auf ihr verletztes Bein stützte, hätte sie vor Schmerz aufschreien können. Gleichzeitig wusste sie aber, wie wichtig es war, dass sie sich nichts anmerken ließ. Nur wenn sie jetzt die Starke mimte, würde er sie allein lassen.

Tapfer setzte sie mithilfe des jungen Mannes einen Schritt vor den anderen. Glücklicherweise war es bis zur Höhle nicht weit. Je näher sie der Behausung kamen, desto mulmiger wurde Estelle zumute. Sie hatte ihr kleines Reich noch niemandem gezeigt und Ayden jetzt dorthin zu führen, kostete sie viel Überwindung.

»Tut das Laufen weh?«, erkundigte er sich vorsichtig.

»Ich habe es mir schlimmer vorgestellt«, meinte Estelle und lächelte, obwohl ihre Wunde wie verrückt pochte.

Im Geiste schätzte sie die Entfernung bis zur Höhle ab. Wenn sie erst angekommen und allein war, würde sie Ruhe haben, damit die Wunde heilen konnte.

»Wie kommt es, dass du hier eine Höhle hast?«, fragte Ayden neugierig. Für Estelles Geschmack wollte er eindeutig zu viel wissen.

»Ich mag diesen Ort«, wich sie seiner Frage aus und konzentrierte sich weiterhin auf den Weg. Nur noch den kleinen Steinpfad würden sie beschreiten müssen, dann wären sie schon angekommen.

»Es ist ungewöhnlich, eine Frau in deinem Alter an so einem Ort zu treffen. Noch dazu in der Nacht. Ganz allein.« Er ließ nicht locker.

Auch wenn er gerade keine direkten Fragen stellte, wollte er doch einiges wissen. Hinzu kam, dass er sie immer wieder von der Seite ansah. Estelle wurde dieses Gespräch zunehmend unangenehmer, weswegen sie ihrem Impuls nachkam und den Spieß umdrehte.

»Was hattest du denn am See zu suchen? Denn soweit ich weiß, ist es auch nicht normal, sich als Mann hier so spät allein aufzuhalten.«

Für einen Moment flackerte es in seinen Augen. Estelle feierte einen kleinen Triumph. Je mehr er über sich erzählte, desto mehr Zeit würde vergehen und desto schneller würde sie wieder allein sein.

»Ich bin Jäger Seiner Majestät«, erzählte er nicht ohne Stolz. »Mir wurde aufgetragen, einen Vogel zu schießen und die Beute mit ins Schloss zu bringen.«

Estelle schauderte, als sie daran dachte, wie sich der Bolzen durch ihr Federkleid gebohrt hatte, und richtete den Blick weiterhin auf den Boden.

Endlich erreichten sie die Höhle. Sie lag verborgen hinter einem dichten Busch, der grüne Blätter trug. Auf eine besondere Weise schien dieser Ort verzaubert zu sein, denn selbst im ausklingenden Winter gab es Blattwerk zu bestaunen.

»Wir müssen hier durch«, erklärte Estelle und bückte sich.

Nacheinander schoben sie sich durch den Busch und landeten kurz darauf in Estelles bescheidener Behausung.

»Und hier schläfst du manchmal?« Skepsis haftete Aydens Stimme an. Ihr Plan, ihn zu überzeugen, war noch nicht aufgegangen.

Entschieden befreite sie sich aus seinem Griff und humpelte zur linken Seite der Höhle. Dort bewahrte sie auf einer Anhöhe Kerzenreste und Streichhölzer auf. Da Aydens Laterne die einzige Lichtquelle war, entzündete sie einen weißen Stumpen, der die Höhle zusätzlich erleuchtete.

Seit nunmehr fünfzehn Monaten war dies ihr Zuhause. Estelle zählte jeden einzelnen Tag, malte in jeder Nacht mit Kohle einen Strich an die Höhlenwand. Schon bald würde sie die rechte Seite hinzunehmen müssen, auf der ihr Bett stand. Zumindest nannte sie es so, in Wahrheit war es nicht mehr als eine warme, trockene Stelle, die sie mit Gräsern ausgelegt hatte. Aber Estelle schlief ohnehin selten, wenn sie in Menschengestalt war. Zu gut tat es, ihre Beine zu gebrauchen. Zu schön war es, in der Spiegelung an der Wasseroberfläche des Sees ein menschliches Gesicht zu erspähen.

Estelle bemerkte, wie Ayden sich in der Höhle umsah. Mit interessierten Blicken betrachtete er jeden Winkel und bewegte sich im Raum hin und her. Er machte nicht einmal vor ihrem Schmuckkästchen Halt. Estelle hatte es auf einem ihrer Ausflüge gefunden. Es war aus Holz, ohne jegliche Verzierungen, aber es erfüllte seinen Zweck.

»Hübsche Schachtel«, meinte der Jäger und griff danach. Doch bevor Ayden eine Chance hatte, sie zu öffnen, humpelte Estelle auf ihn zu.

»Darin ist nichts Interessantes«, sagte sie mit freundlicher, aber entschiedener Stimme.

Ayden blieb unschlüssig stehen und schaute sie nachdenklich an. Als sich Stille zwischen den beiden auszubreiten drohte, straffte Estelle die Schultern.

»Wie gesagt, Ayden, ich danke dir vielmals, dass du dich um meine Verletzung gekümmert hast. Ohne dich wäre es mir schlecht ergangen. Der See ist den Menschen zwar recht unbekannt, aber im Wald lauern Feinde tierischer Natur.«

Ihr Blick fiel auf den goldenen Ring, der nicht weit entfernt vom Schmuckkästchen lag. Ein paar Tage hatte sie ihn in der Schachtel aufbewahrt, doch er kam ihr nicht kostbar genug vor. Sie hatte ihn vor sechsundsechzig Tagen im Schnee gefunden, an einem Ort nicht weit vom See entfernt. Er musste einem Edelmann gehört haben.

Entschlossen nahm Estelle ihn in die Hand und reichte ihn Ayden. »Nimm das als Zeichen meiner Dankbarkeit.«

»Ich habe nur getan, was jeder getan hätte«, entgegnete der Jäger, ohne nach ihrem Geschenk zu greifen. »Dafür musst du mich weder mit Gold noch mit Gut entlohnen.«

»Es wäre mir eine Ehre, wenn du ihn annehmen würdest«, hielt sie entgegen, aber mit dem Jäger war nicht zu feilschen. Er ging ein paar Schritte zurück und hob die Hände, um ihr seine Entscheidung zu verdeutlichen.

Seufzend zog Estelle ihren ausgestreckten Arm zurück und legte den Ring neben das Schmuckkästchen.

»Du bist sicher, dass du allein klarkommst?«, fragte Ayden nun stirnrunzelnd, woraufhin Estelle übertrieben nickte und sich an einem Lächeln versuchte.

»Ganz sicher. Ich werde noch ein wenig ausruhen und mich morgen um meine Heimreise kümmern.«

Noch immer sah er nicht überzeugt aus, aber immerhin gab er keine Widerworte mehr. »Na schön«, meinte er in Aufbruchstimmung. »Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Estelle.«

»Ebenfalls, Ayden.«

Erst als sie sich die Hand gegeben und der groß gewachsene Jäger die Höhle verlassen hatte, erlaubte Estelle dem Schmerz, ihre Gesichtszüge zu verziehen.

Kapitel 2

Ayden

 

 

Ayden stahl sich aus der Höhle in die Nacht. Ein seltsames Gefühl, das er nicht einordnen konnte, hatte von ihm Besitz ergriffen. Vorsichtshalber spähte er über die Schulter, aber Estelle war ihm nicht gefolgt.

Was hatte es mit der mysteriösen jungen Frau auf sich, die allein in einer Höhle die Nächte verbrachte? Estelles Haut war so rein, die Hände so zart, dass sie unmöglich schon öfter in der rauen Natur unterwegs gewesen sein konnte.

Sie hatte etwas an sich, das ihn stutzig machte. Auf den ersten Blick wirkte sie sicher, wusste genau, was sie tat, aber Ayden glaubte, hinter ihre Fassade blicken zu können. Je länger er sie angesehen hatte, desto deutlicher war ihm etwas in den blauen Augen aufgefallen: Traurigkeit.

Was war geschehen, das die Fremde so unglücklich gemacht hatte? Und wieso erlaubte sie sich nicht, ihre Gefühle zu zeigen, sondern hatte eine Mauer aus Stärke errichtet?

Ayden musste sich regelrecht überwinden, zum See zu gehen und Estelle zu verlassen.

 

Nach einer Weile, die er nachdenkend verbracht hatte, sammelte er sein Gepäck ein und schulterte die Armbrust. Erst da fiel ihm wieder der Schwan ein, den er abgeschossen hatte. Irgendwo musste der Vogel doch noch liegen.

Weil er nicht mit leeren Händen zurückkehren wollte, suchte er abermals den großen Busch und die Umgebung ab. Hatte sich möglicherweise schon ein wildes Tier über den Schwan hergemacht? Wahrscheinlich würde Ayden nichts anderes übrig bleiben, als sich auf den Heimweg zu begeben.

Ihm wurde übel, als er an die Reaktion des Königs dachte. Zwar zeigte sich Seine Majestät nur selten wütend, aber sicher würde der Jäger Enttäuschung in seinen alten Augen sehen.

Frustriert stieß er einen Stein mit seinem Fuß weg und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war ein Fehler gewesen, zu diesem See zu gehen! Hätte er sich doch auf den befestigten Wegen gehalten. So wäre er zwar auch ohne Beute, aber immerhin einige Stunden früher zu Hause gewesen.

Während Ayden am See entlanglief, um diesen Ort für immer zu verlassen, blieb sein Blick mit einem Mal an einem Gegenstand im Gras hängen. Fast wäre er achtlos daran vorbeigegangen, aber ein unbestimmtes Gefühl sorgte dafür, dass er ihn genauer in Augenschein nahm.

Kurz darauf kniete er am Boden, den Bolzen in seiner rechten Hand. Es handelte sich um denjenigen, der sich in Estelles Bein gebohrt hatte. Ayden ließ das Geschoss durch seine Finger gleiten, schaute es sich von allen Seiten an und schüttelte ungläubig den Kopf.

Das … kann nicht sein.

Er war sich beinahe vollkommen sicher, dass ihn seine Wahrnehmung trog. Aber es bestand kein Zweifel. Hierbei handelte es sich zweifellos um einen seiner Bolzen. Der König selbst hatte deren Fertigung für ihn in Auftrag gegeben, als Dank für seine gute Arbeit und Zuverlässigkeit. Seine persönlichen Geschosse verfügten über ein Brandzeichen, das oberhalb der Spitze in das Holz eingelassen war und welches eine Krone zeigte – als Zeichen dafür, dass Seine Majestät ihn respektierte.

Wie gebannt starrte Ayden auf den Bolzen, während sich seine Gedanken überschlugen. Überstürzt zählte er nach, wie viele Geschosse er noch bei sich trug. Als er losgezogen war, hatte er acht von ihnen bei sich getragen. Nun waren es … sieben.

Er zählte noch einmal und ein drittes, viertes und fünftes Mal. Das konnte nicht sein! Irgendetwas lief hier gehörig schief! Aber er war nicht in der Lage, zu leugnen, dass das Holz, das die Haut der jungen Frau durchbohrt hatte, ihm gehörte.

Wie aber sollte das geschehen sein? Er hatte doch auf den Schwan geschossen! War es so dunkel gewesen, dass seine Augen ihm einen Streich gespielt hatten? Konnte er womöglich nicht mehr Mensch von Tier unterscheiden?

Anklagend sah Ayden zum Vollmond hinauf, als wäre die Kugel der Auslöser all seiner Probleme. Dann verstaute er den Bolzen bei den anderen.

 

Er war im Begriff, den See zu verlassen, aber die letzten Schritte wollten seine Füße nicht gehen. Wie angewurzelt stand er auf dem kalten Boden und konnte sich nicht mehr bewegen.

Das schlechte Gewissen hatte sich in ihm breitgemacht. Sosehr Ayden es auch versuchte, er konnte den Gedanken nicht aus seinem Kopf verbannen, dass er etwas mit Estelles Verletzung zu tun haben musste. Wenn dem so war, sollte er hierbleiben. Es war nicht nur seine Pflicht, sich um die Verletzte zu kümmern, sondern zeugte auch von Ehrgefühl.

Dennoch wollte er sie nicht stören. Wahrscheinlich schlief sie bereits, was in ihrer Situation wohl das Beste war.

Kurzerhand schlug Ayden sein Lager an einem verborgenen Platz unter einem Busch nahe Estelles Höhle auf. Die Decke legte er gefaltet auf den Boden, sodass er notfalls darunter schlüpfen konnte, wenn der Wind zu stark wurde.

Dort verharrte er und wartete.

 

 

Estelle

 

Die Nacht war bereits fortgeschritten, als Estelle zwischen zitternden Fingern das schmale Stück Papier hielt. Sie kannte die Worte, die darauf geschrieben standen, mittlerweile auswendig und doch wurde sie nicht schlau aus ihnen. Sie hatte gedacht, dass der Vers ihre Eintrittskarte in die Freiheit sein könnte, und verzweifelt versucht, einen Sinn hinter den Begriffen zu erkennen. Aber mittlerweile war sie es leid und wurde nur noch traurig, wenn sie die Nachricht las.

Das Papier war neben ihrer Kette ihr kostbarster Besitz – denn exakt diese zwei Dinge waren es, die sie an ihr altes Leben erinnerten. Ein Leben, das sie nie vergessen, aber in dem sie wahrscheinlich nie mehr eine Rolle spielen würde.

Seufzend faltete sie das Pergament in der Mitte und verstaute es wieder in dem Schmuckkästchen. Heute wollte sie sich nicht damit befassen. Heute wollte sie ihre menschliche Gestalt genießen, die ihr nur noch wenige Stunden vergönnt war.

Mit einem Stofffetzen säuberte sie das Glas des kleinen Spiegels, der auf einer Steinreihe lehnte. Sie musste sich ein wenig bücken, um ihr Gesicht in der unförmigen Scherbe zu erkennen.

Sanft fuhr sie sich durch das Haar, das einen zerzausten und wilden Eindruck machte. In all der Zeit, die sie nun schon hier leben musste, war es ihr nie gelungen, eine Bürste herzustellen. Daher blieb ihr nichts anderes übrig, als die Knoten mit den Fingern zu lösen. Mit einem Band frisierte sie sich einen Zopf und genoss den Augenblick, in dem ihr Haar über ihren Rücken fiel.

Dann nahm sie auf ihrer Schlafstätte Platz, löste den Verband und besah sich die Wunde näher. Die Verletzung tat noch immer weh, aber es war auszuhalten.

Sowieso musste sie sich keine Gedanken über die Beschaffenheit ihrer Haut machen. Sobald sie sich zurückverwandeln würde, wäre ihr Körper wieder geheilt. Die Schwanengestalt barg keine Wunden, das hatte sie herausgefunden, als sie ihre Finger an einem Dornenbusch verletzt hatte. Schon in der nächsten Nacht war davon nichts mehr zu sehen gewesen. Dies war ein kleiner Vorteil, wenn man nur zur Hälfte ein Mensch war. Der Körper begann zu heilen, sobald sie ihn wechselte. Nicht unbedingt vollständig, aber je öfter sie die Gestalt änderte, desto schneller ging der Heilungsprozess vonstatten. Wenn sie sich wieder in einen Menschen verwandelte, würde die Wunde sicher nicht mehr so tief sein.

In den letzten Stunden, die ihr als Prinzessin blieben, dachte Estelle an Ayden. Dutzende Wochen schon hatte sie keinen Mann mehr gesehen; sie lebte allein und abgeschieden von allem gesellschaftlichen Leben. Die Präsenz des Jägers verzauberte sie auf eine Weise, die sie schon beinahe vergessen hatte. Es war ein Gefühl, das einem anderen Leben angehörte.

Für einen Moment dachte die junge Frau an kastanienbraune Augen, in denen sie versinken würde, wenn sie es zuließe. Doch genau das durfte nicht geschehen. Er durfte nicht hinter ihr Geheimnis kommen, weil sie streng genommen nicht in diese Welt gehörte.

Aber wieso machte sie sich überhaupt Gedanken darüber? Der Jäger war längst über alle Berge – und das war gut so.

 

 

Ayden

 

Der kalte Wind machte es ihm unmöglich, einzuschlafen. Gleich, wie Ayden sich hinlegte, an Schlummer war nicht zu denken.

Irgendwann sah er, wie der Mond langsam einer aufgehenden Sonne Platz machte, und blickte auf die wachen Stunden zurück.

Er gähnte ausgiebig, starrte wiederholend auf den Eingang zu Estelles Höhle. Erst raschelten die Blätter des Busches, dann sah Ayden, wie die junge Frau durch den Eingang trat. Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, rutschte er ein Stück zurück.

Angestrengt die Augen zusammengekniffen, beobachtete er Estelle, die sich in Richtung des Sees aufmachte.

Die junge Frau drehte sich nicht um, sah weder nach links noch nach rechts. Zielsicher steuerte sie das Gewässer an, an dessen Ufer er vor wenigen Stunden ihre Wunde verbunden hatte. Sie hinkte noch immer, aber das Bein schien ihr keine allzu großen Probleme zu bereiten.

Gut, das war sehr gut. Falls er tatsächlich für den Unfall verantwortlich war, hatte Ayden sie zumindest nicht so schlimm verletzt. Obwohl er immer noch nicht ganz verstand, wie das möglich sein sollte.

Mit angehaltenem Atem sah er, wie die blonde Frau nicht vor dem See anhielt, sondern langsam in das Wasser watete. Schritt um Schritt tauchte sie weiter ein, bis sie von der Hüfte abwärts komplett verschwunden war.

Ayden musste gegen das Licht der aufgehenden Sonne anblinzeln. Mit immenser Kraft schienen die Strahlen direkt auf den kleinen See und erhellten Estelles Körper, sodass dieser zu schimmern schien.

Die junge Frau hatte ihm den Rücken zugewandt, daher wagte Ayden es, aufzustehen, und ging ein paar Schritte auf das Gewässer zu. Für einen kurzen Moment dachte er, dass Estelle sich waschen wollte, und er wäre alles andere als ein Ehrenmann, wenn er nicht den Blick senkte. Aber wer stieg schon komplett angezogen in einen See?

Estelle tauchte ihre Finger in das Wasser und zog sanfte Kreise mit den Armen. Als sie sich ruckartig umdrehte, erstarrte Ayden mitten in der Bewegung. Hatte sie ihn gesehen? Lohnte es sich noch, sich zu verstecken?

Gerade als er hinter einem Baum Zuflucht suchen wollte, sah er, wie Estelles ausgestreckte Arme sich veränderten. Zunächst schienen sie blasser zu werden, beinahe weiß, bevor sich eine feine Schicht … Federn auf sie legte.

Federn?

Aydens Herz schlug wie verrückt, seine Fingernägel bohrten sich in den Stoff der Hose.

Mittlerweile waren Estelles Arme komplett von Federn bedeckt.

Ayden schluckte schwer, als er Sekunden später einen Schwan auf dem See schwimmen sah. Es dauerte nicht lange, bis sich auch Estelles anmutiges Gesicht in das eines Vogels verwandelt hatte. Anstelle einer Nase thronte ein langer Schnabel in der Mitte ihres Antlitzes. Der Jäger beobachtete staunend, wie sich ihre mandelförmigen blauen Augen in kleine schwarze Schlitze verwandelten.

Der Schwan strahlte Eleganz aus, aber als er den Schnabel tief im Gefieder vergrub, hatte der Anblick etwas derart Trauriges, dass es Ayden beinahe das Herz brach.

Zwei Dinge wurden ihm gleichzeitig bewusst:

Zum einen war sehr wohl er derjenige gewesen, der Estelle angeschossen hatte. Nur war sie zu diesem Zeitpunkt in ihrer Schwanengestalt gewesen und hatte sich höchstwahrscheinlich kurz darauf in einen Menschen verwandelt.

Zum anderen barg die junge Frau ein tiefes Geheimnis. Es musste mit schwarzer Magie zu tun haben, vielleicht mit einem Bann, der sie gefangen hielt, sie dazu zwang, die Gestalt eines Schwans anzunehmen.

Ayden wurde schwer ums Herz. Gleichzeitig war er so fasziniert von der Schwanenfrau, dass er immer näher an den See herantrat.

Würde sie ihn erkennen? Konnte sie überhaupt noch menschliche Gedanken fassen, wenn sie ein Schwan war? Fragen über Fragen häuften sich und brachten seinen Kopf beinahe zum Platzen.

Auf Zehenspitzen schlich er immer weiter, stets darauf achtend, dass der Schwan seinen Kopf noch immer im Gefieder vergraben hatte. Er wollte keinen unnötigen Lärm verursachen.

Irgendwann war er dem Gewässer so nah, dass er es beinahe mit den Füßen berühren konnte. Aus der Nähe wirkte die verzauberte Frau noch sehr viel bekümmerter. Hätte Ayden es nicht besser gewusst, hätte er angenommen, dass sie im Sterben lag.

Je näher er kam, desto mehr Details erkannte er. So fiel ihm jetzt erst auf, dass der Schwan noch immer die Kette trug, die auch Estelle um den Hals gehangen hatte: das dünne silberne Band mit dem Saphir als Anhänger.

Als der Schwan seinen Kopf hob und die Flügel ausbreitete, erstarrte Ayden. Noch sah der Vogel ihn nicht an, aber wenn er sich umdrehte …

Kurzerhand versteckte der Jäger sich hinter einem Baumstamm und spähte zu dem Tier. Anmutig reckte der Schwan den Hals, bevor er die Flügel abermals spannte und sich in die Höhe wagte. Nur wenige Sekunden später hatte er die Lichtung verlassen.

 

Estelle

 

Normalerweise verbrachte Estelle die Hälfte ihres Tages als Schwan damit, sich auszuruhen und zu schlafen. Wenn die Stunden im Schlummer an ihr vorbeizogen, war es nicht so schlimm, zu akzeptieren, dass sie nicht mehr sie selbst war. Wenn sie träumte, sah sie sich als Frau und nicht als Vogel. Am liebsten war es ihr, wenn sie direkt nach der Verwandlung einschlief und die Augen erst kurz vor dem Gestaltwechsel öffnete.

Aber an Schlummer war heute nicht zu denken. Sie wusste nicht, woran es lag – vielleicht schien die Sonne zu hell, vielleicht hatte sich etwas anderes verändert. Jedenfalls spürte sie zum ersten Mal den Drang in sich, wegzufliegen, den Wolken entgegenzuschweben, den Himmel zu betrachten, der immer blauer wurde.

Kraftvoll schlug sie mit ihren Flügeln und gewann an Höhe. So früh am Morgen waren noch keine Menschen unterwegs und Vögel traf man zu dieser Jahreszeit ohnehin nur selten. Stolz reckte Estelle den Schnabel. Als Schwan hatte sie keine Verletzung mehr.

Sie flog eine ganze Weile, über Berge, auf denen noch Schnee lag, und über Wälder, die sie an ihre Heimat denken ließen, aber irgendwann schwand ihre Ausdauer und sie sehnte sich nach einem ruhigen Plätzchen. Sie würde sich ein Gewässer suchen, das nicht so weit entfernt war wie der Schwanensee. Ihre Kräfte verließen sie und sie wollte sich ausruhen.

Bald entdeckte sie einen Tümpel, der auf den ersten Blick verlassen wirkte. Kurzerhand drosselte sie ihr Tempo und steuerte den Teich an. Das Wasser zog Kreise, als sie darauf landete.

Noch ehe sie dazu kam, die Umgebung näher zu inspizieren, überfiel sie auf einmal eine bleierne Müdigkeit, die sich – an ihren Flügelspitzen beginnend – über ihren ganzen Körper legte.

 

»Estelle, wieso kommst du so spät? Wir haben auf dich gewartet!«, sagte die junge Frau mit den braunen Haaren und stemmte die Hände in die Hüften. Gespielte Entrüstung fand sich in ihren Augen wieder, aber Estelle wusste, dass Tatjana nie wirklich böse auf sie sein konnte.

Neugierig sah sie sich in der durchsichtigen Glaskuppel um, die keinen einzigen Gegenstand barg, und entdeckte ihre anderen drei Schwestern. Stets waren sie fünf – nicht sechs, wie es in Brahmenien der Fall gewesen war. Eine hatte den Weg nicht gefunden, sie war verschwunden – und niemand wusste, wieso.

»Wie lange seid ihr schon hier?«

»Eine Weile«, antwortete Estelles jüngste Schwester keck und reckte das Kinn. Sie trug ein sonnengelbes Kleid, das bis zum Boden reichte und sich in mehreren Schichten Tüll bauschte.

Estelle lächelte ihr zu. Es war immer eine Freude, ihre Valyra zu sehen. In einer Welt voller Dunkelheit war sie das Licht, das alles etwas weniger schlimm machte.

Mit sorgenvoller Stimme fragte sie: »Gibt es etwas Neues? Hat irgendjemand etwas herausgefunden?«

Neugierig blickte sie in den Kreis ihrer Schwestern. Tatjana schüttelte den Kopf, Genevieve zupfte verlegen an ihrem Kleid und die anderen beiden schauten sie mit betretenen Gesichtern an.

Natürlich, wieder nichts.

Estelle seufzte.

»Hat sich bei dir etwas geändert?«, ergriff Tatjana die Initiative und fasste ihre Schwester bei der Hand.

»Du siehst verändert aus«, stellte Genevieve fest und kam ebenfalls auf sie zu.

»Verändert?«, wiederholte Estelle verwundert und schaute an sich herab.

»Nicht das Kleid, du Dummerchen«, erwiderte Tatjana und lachte. »Deine Art. Dein Blick. Irgendetwas hat sich geändert.«

Gern hätte sich Estelle von der Euphorie ihrer Schwestern anstecken lassen, aber sie schüttelte den Kopf. »Ich muss euch enttäuschen. Es gibt nichts Neues. Absolut nichts.«

Valyra, der Jüngsten, fiel das Lächeln aus dem Gesicht. »Du bist die Klügste von uns allen, Estelle. Wenn du das Rätsel nicht lösen kannst, wer dann?«

»Wir dürfen nicht aufgeben«, meinte Estelle entschlossen.

Was sie ihren Schwestern verschwieg, war die Tatsache, dass sie schon lange keine Hoffnung mehr hatte. Dafür waren zu viele Tage vergangen. Dafür war sie zu lange an diesem vermaledeiten Ort, der sich Schwanensee nannte.

»Hat schon einer daran gedacht, dass wir das Rätsel vielleicht gar nicht lösen können?«, meldete sich auf einmal Penelopé, die Drittjüngste, zu Wort, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. »Dass diese Fetzen, diese Wörter gar nichts bedeuten und wir einfach für immer verloren sind?«

Als Estelle sah, wie Valyra die Tränen kamen, schaltete sie sich ein. »Kein Fluch ist so stark, dass es nicht einen Umkehrzauber dafür gibt. Auch keiner von Rania.«

»Aber vielleicht tragen wir das Gegenmittel nicht bei uns«, hielt Penelopé entgegen und schürzte die Lippen. »Vielleicht muss uns jemand von außen befreien. Das Problem ist, dass es da niemanden gibt.« Sie senkte den Blick und wirkte fortan abwesend.

»Vater würde uns befreien, da bin ich mir sicher«, meinte Valyra und klang nicht mehr ganz so traurig. »Das würde er doch, Estelle, oder?«

Die junge Frau schaute ihre Schwester an. Nicht eine Sekunde ihres Lebens hatte sie an der Liebe ihres Vaters gezweifelt, aber auch an ihm war die Zeit nicht einfach so vorübergegangen. Der Verlust ihrer Mutter hatte aus ihm einen alten Mann gemacht.

»Vater liebt uns, da bin ich mir sicher«, beteuerte sie nun und nahm Valyra in den Arm.

Mit erschrockener Klarheit wurde ihr bewusst, dass aus ihrer Schwester eine junge Frau geworden war. Nur zu gut erinnerte sie sich an die Zeit, als Valyra ihr kaum bis zur Brust gereicht hatte. Nun blickte sie in die Augen einer Sechzehnjährigen, die schon sehr viel Leid gesehen hatte.

»Irgendwie schaffen wir es schon«, beteuerte Estelle nochmals.

»Mir kommt es vor, als würde ich jeden Tag das Gleiche machen. Es ist wie ein Teufelskreis, aus dem ich nicht herauskomme«, beklagte sich Penelopé und hielt sich den Rücken.

Genevieve, die das Gespräch eher schweigend verfolgt hatte, trat nun in die Mitte. Heute trug sie ein fliederfarbenes Kleid, das um die Taille eng geschnürt und mit Perlen am Saum bestickt war. Sie fuhr sich durch die rötlichen Haare und verkündete: »Wir müssen uns gegenseitig versprechen, dass wir noch einmal versuchen, das Rätsel zu lösen. Ab morgen setzen wir uns alle an unseren Pergamentschnipsel und grübeln. Ich weigere mich, zu glauben, dass er keine Bedeutung hat, wenn jede von uns einen bekommen hat.«

Tatjana wollte gerade protestieren, als Genevieve fortfuhr.

»Ich weiß, dass ihr das alles Abertausende Male versucht und jedes Wort so oft untersucht habt, dass ihr sie auswendig kennt. Aber irgendetwas muss es bedeuten. Wir dürfen nicht aufgeben, sonst haben wir schon verloren.« Sie sah ihre Schwestern so bedeutend an, dass sich keine von ihnen mehr traute, zu widersprechen.

Nur Tatjana seufzte tief. »Ich vermisse Brahmenien«, sagte sie, einen sehnsüchtigen Blick in den Augen. »Ich vermisse die rauschenden Feste, das weite Land und unseren Vater. Ich würde ihn so gern wiedersehen.«

»Und aus diesem Grund müssen wir alles tun, damit es klappt«, bestätigte Genevieve.

Valyra nickte, auch Penelopé stimmte zu.

Schlussendlich meldete sich Estelle: »Na schön. Versuchen wir es noch einmal. Vielleicht ist dieses Mal ja etwas anders.« Sie erwähnte nicht, dass sie die Chancen als gering einschätzte.

Noch einmal schaute sie an sich hinunter, strich das traumhafte dunkelblaue Reifrockkleid glatt und drehte sich um die eigene Achse. Dann war es Zeit, sich zu verabschieden.

Nacheinander verschwanden ihre Schwestern, Valyra zuerst, gefolgt von Penelopé, Genevieve und Tatjana. Für einen kurzen Moment verharrte Estelle allein in der gläsernen Kuppel, schließlich wurde auch sie in ihre Welt zurückkatapultiert.

 

 

Ayden