Love You in All Times - Regina Meissner - E-Book
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Love You in All Times E-Book

Regina Meißner

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Beschreibung

»Vielleicht haben unsere Seelen sich damals gefunden und bis heute nicht losgelassen.«

Ein Blick in einen alten Handspiegel und Raelyn wacht im Schottland der Vergangenheit auf. Nun ist sie Blair, Zofe einer jungen Lady. Blair hat ihre Herrin nach Violet Court begleitet – damit diese Adrik, den Sohn des Hauses, heiratet. Die Verbindung ist beschlossene Sache, doch Adrik sehnt sich nach Freiheit. Und als er und Blair sich näher kommen, stellt er alles infrage, was für ihn vorgesehen wurde. Außerdem ist da noch Braden, Raelyns Mitschüler, der ebenfalls durch die Zeiten reisen kann. Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen zusehends – auch die zwischen Adrik und Braden – und das stellt Raelyn vor eine unmögliche Wahl …   

Romantische Zeitreise-Fantasy in Schottland. Eine Heldin mit einem zweigeteilten Herzen, zerrissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

//»Love You in All Times« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//

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Das Buch

»Vielleicht haben unsere Seelen sich damals gefunden und bis heute nicht losgelassen.«

Ein Blick in einen alten Handspiegel und Raelyn wacht im Schottland der Vergangenheit auf. Nun ist sie Blair, Zofe einer jungen Lady. Blair hat ihre Herrin nach Violet Court begleitet – damit diese Adrik, den Sohn des Hauses, heiratet. Die Verbindung ist beschlossene Sache, aber Adrik sehnt sich nach Freiheit. Doch als er und Blair sich näher kommen, stellt er alles infrage, was für ihn vorgesehen wurde. Außerdem ist da noch Braden, Raelyns Mitschüler, der ebenfalls durch die Zeiten reisen kann. Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen zusehends – auch die zwischen Adrik und Braden – und das stellt Raelyn vor eine unmögliche Wahl …

Zeitreise-Romantasy in den schottischen Highlands

Die Autorin

© privat

Regina Meißner wurde 1993 in einer Kleinstadt in Hessen geboren. Durch lesebegeisterte Eltern entdeckte sie die Liebe zur Literatur früh und versuchte sich am Schreiben eigener Geschichten. Regina hat Lehramt auf Deutsch und Englisch studiert und arbeitet als Social-Media-Managerin in einem Medienunternehmen. Neben dem Schreiben liebt sie das Lesen, das Reisen, Disney und alles, was mit Schweden zu tun hat.

Für mehr Informationen über Regina Meißner und ihre Bücher folgt der Autorin auf Instagram: @regina_meissner_author

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Regina Meißner

Love You in All Times

Für meine Eltern.

Weil ihr mir eine Kindheit voller Geschichten ermöglicht habt.

Kapitel 1

Traust du dich?

»Ich sehe absolut lächerlich aus.« Erin mustert sich skeptisch, ehe sie den Blick auf mich richtet. »Wieso müssen wir noch mal auf diese Party?«

»Weil wir sowieso nichts Besseres vorhaben und die ganze Schule über die Halloweenpartys in der alten Fabrikhalle spricht«, erinnere ich sie.

Colleen neben mir zwirbelt eine Strähne ihres vollen, dunklen Haares. In ihrem schwarzen Kleid und den Lackschuhen sieht sie eher aus, als wollte sie auf eine Beerdigung gehen, aber das sage ich ihr nicht. Weil ich heilfroh bin, dass die beiden mich begleiten.

Entschlossen quetsche ich mich zwischen sie und hake mich bei ihnen unter. »Der Abend wird super, ganz sicher. Außerdem mögt ihr doch Halloween.«

Erin zupft an ihrem weiß-löchrigen Gewand, das wir mit Ketchup verziert haben, weil in ganz Rootley kein Kunstblut zu bekommen war. »Nur, wenn ich ihn auf der Couch mit ein paar Horrorfilmen verbringen kann.«

»Ich wäre auch lieber zu Hause.« Colleen verlagert ihr Gewicht von der einen auf die andere Seite. »Wollen wir uns nicht einfach ein paar Tacos holen und den Halloween-Marathon reinziehen?«

Ich bedenke die beiden mit einem langen Blick. »Wir haben doch darüber gesprochen. Ihr wisst, wofür wir das machen.«

Erin presst die Lippen aufeinander, dann nickt sie. »Ist ja nur ein Abend. Was soll schon schiefgehen?«

Bis zur alten Fabrikhalle ist es nicht mehr weit, die Musik höre ich jetzt schon. Unangenehm brennt sich der Bass unter meine Haut und verursacht, gepaart mit dem Lachen meiner Mitschüler, ein Kribbeln in meinem Magen. Fakt ist, dass ich selbst keine große Lust habe, Halloween zu feiern. Aber er ist hier – und diese Chance darf ich mir nicht entgehen lassen.

Ich straffe die Schultern, treibe meine Freundinnen zur Eile an und laufe über die dunkle Straße, die nur hier und da von Laternen erhellt wird. Der Himmel sieht aus, als würde es jeden Moment zu regnen beginnen, aber noch hält sich das Wetter. Hoffentlich ist mein Make-up wasserfest.

Aus den Augenwinkeln werde ich auf eine Gruppe Teenager aufmerksam, die Süßes oder Saures schreiend um die Häuser zieht. Vor zwei Jahren bin ich bei Trick or Treat noch dabei gewesen, mittlerweile fühle ich mich zu alt dafür. Auch wenn ich mich für einen Moment danach sehne, nach meinem Kürbiseimer zu greifen, von Tür zu Tür zu laufen und mir mit Süßigkeiten den Bauch vollzustopfen.

»Wir sind da.« Colleen deutet mit dem Zeigefinger auf ein heruntergekommenes Gebäude hinter dem Dusty River. Keine Ahnung, wofür es früher mal genutzt wurde. Es steht leer, solange ich mich erinnern kann, und wird für die unterschiedlichsten Partys genutzt.

Mein Herz verkrampft sich, als ich die Straße hinabgehe, über die baufällige Brücke, den Fluss entlang, am Tannenwäldchen vorbei. Die Musik wird lauter und ich immer unsicherer.

»Wir schauen einfach mal, wie die Stimmung ist, okay?«, rufe ich meinen Freundinnen zu und habe Mühe, gegen den Bass anzukommen, der so sehr dröhnt, dass ich am liebsten auf dem Absatz kehrtmachen würde.

»Hoffentlich gibt’s was zu essen«, knurrt Erin. Durch ihre kurzen Haare, die sie zum Sidecut trägt, zieht sich eine weiße Strähne.

»Ich darf nicht so spät zu Hause sein, ich hab morgen früh Gesangsunterricht«, erinnert Colleen mich.

Vor der Fabrikhalle lungern zwei Typen herum, die uns dümmlich angrinsen. Zigaretten in den Händen, blasen sie Rauchschwaden in die Luft.

»Mit der Deko haben sie sich ja richtig viel Mühe gegeben.« Bissig deutet Colleen auf eine Plastikspinne, die irgendjemand an die Außenwand geklebt hat. »Wenn da keine Stimmung aufkommt, weiß ich auch nicht.«

»Und dann noch diese gruselige Musik.« Erin verschluckt sich an ihrem eigenen Kichern. »Was passt besser auf eine Halloweenparty als Shawn Mendes ?«

»Na ja, seine Songs sind so schlecht, dass man es schon manchmal mit der Angst zu tun bekommt.« Colleen prustet los und betritt mit Erin die Fabrikhalle.

Eine offizielle Einladung zur Party gab es nicht – jeder kann kommen. Trotzdem gehören wir hier nicht hin, und das merke ich nicht erst, als wir die Location betreten haben.

Meine Hände werden schweißnass, als ich einen Blick auf das Innere des Gebäudes werfe, das aus einem vollgestellten Eingangsbereich und einem großen Saal besteht, in dem sich meine Mitschüler eng an eng drängen und ihre Getränke zur Musik in die Höhe reißen. Die Luft ist stickig – es ist so heiß, dass ich anfange zu schwitzen. Colleen zieht mich zur Garderobe, wo wir Jacken und Taschen ablegen. Wobei ich mir unsicher bin, ob wir sie in dem Berg jemals wiederfinden.

»Ich brauche dringend was zu trinken.« Colleen fasst ihre braunen Locken zu einem Zopf zusammen.

»Dahinten ist die Bar.« Der einzige Weg führt mitten durch die tanzende Menge und schon bald bin ich von schwitzenden, tanzenden Körpern umgeben. Mit Ach und Krach gelingt es mir, einem Typen auszuweichen, der sein Bier in hohem Bogen verschüttet und ich werde schneller, als ich Jesper O’Brien, der nervigsten Fratze aus der ganzen Schule, begegne. Wer ist noch mal auf die grandiose Idee gekommen, auf die Party zu gehen?

An der Bar ist weniger los. Ich atme tief durch und lasse meinen Blick schweifen. Nach etwas Alkoholfreiem sucht man hier vergeblich – nicht mal Wasser gibt es – egal, ich muss mir sowieso Mut antrinken.

»Die erste Runde geht auf mich«, sage ich zu Colleen und Erin. »Was wollt ihr?«

Erin entscheidet sich für einen Spinnencocktail. Colleen versucht sich an einer Bloody Mary und ich wähle den Hexentrank, der mir in einem kleinen Kessel serviert wird und dessen Flüssigkeit verdächtig blubbert. Geschmacklich erinnert er mich an Glühwein – er ist so heiß, dass ich mir die Zunge verbrenne.

»Rose will ein Foto von uns«, ruft Colleen gegen den Lärm der Musik an. Aus ihrer Kleidtasche zieht sie ihr Smartphone, welches sie auf unsere Gesichter richtet. »Sie wäre so gern hier.«

»Deine Schwester soll sich glücklich schätzen, dass sie zu Hause auf der Couch sitzen und den ganzen Abend Filme gucken kann«, kommt es von Erin.

Ich versuche mich an einem Lächeln, auch wenn mich die Kamera unweigerlich mit dem konfrontiert, was ich heute Abend ausblenden wollte: Meine Brille ist verrutscht, meine Haare, die ich ausnahmsweise offen trage, sehen aus, als wäre ich in einen Sturm geraten, was hier oben in den schottischen Highlands gar nicht mal unwahrscheinlich ist.

Verbissen blicke ich meinem Spiegelbild entgegen und trete zwei Schritte nach hinten, um mich in voller Größe zu sehen und mein Outfit zu mustern. Colleen und ich waren stundenlang unterwegs, wollten das perfekte Kleid für die Party finden. Und als ich das dunkelrote Gewand mit schwarzen Verzierungen auf Hüfthöhe gefunden habe, war ich begeistert. Darin würde ich wie eine Vampirbraut aussehen – so der Gedanke. Bloß hatte ich da noch keinen verschmierten Lippenstift und Haare wie eine Hexe. Wütend presse ich die Lippen aufeinander, als Colleen das Foto macht. Wir waren höchstens eine halbe Stunde unterwegs, wie kann ich da so zerzaust aussehen?

»Sag deiner Schwester, dass ich sie beneide.« Erin nimmt einen Schluck von ihrem Cocktail, während ich mir die rote Farbe vom Mund wische und meine Haare in einem Dutt ordne.

»Und jetzt?« Colleen sieht uns aus ihren dunkelblauen Augen an.

»Wir setzen uns dahinten auf die Bank und beobachten das Geschehen aus der Entfernung.«

Weil niemand etwas gegen Erins Plan einzuwenden hat, folgen wir ihr durch die Halle. Bunte Lichtreflexe tanzen an der Decke, lassen den Raum abwechselnd orange, grün und schwarz werden. Der DJ, ein Mann in den Zwanzigern, dreht die Musik lauter.

Mit dem Hexenkessel in der Hand nehme ich auf der Bank Platz und lehne mich gegen die Wand.

»Hast du ihn schon gesehen?« Erin nennt seinen Namen nicht, doch ich weiß, von wem sie spricht. Ich lasse den Blick durch die Menge schweifen und schüttele den Kopf. »Es ist früh. Wahrscheinlich ist er noch nicht da.«

»Hoffentlich kommt er überhaupt.« Colleen zupft an ihrem Kleid herum. »Nicht, dass diese Party unter Kiran Hunters Niveau ist.«

»Nicht so laut«, zische ich ihr zu, während mein Blick wie gebannt auf den offenen Türen kleben bleibt. Und als er die Halle betritt, zittern meine Hände.

»Wenn man vom Teufel spricht«, flüstert Erin. Colleens Erwiderung höre ich nicht mehr, denn ich bin wie gebannt. Von seiner Aura, die den ganzen Raum umschließt, obwohl er gar nichts weiter tut.

Kiran Hunter ist nicht verkleidet, die graue Boyfriend Jeans und den schwarzen Pullover habe ich schon öfter an ihm gesehen. Seine dunkelblonden Haare sind zur Seite gegelt, sein Blick, aufmerksam und eindringlich – gleitet über die Anwesenden.

Mir wird abwechselnd warm und kalt, als ich auch das letzte Detail seines athletischen Körpers in mir aufnehme. Niemand sonst könnte solche spitzen Lackschuhe anziehen und darin gut aussehen.

Das Lächeln auf meinen Lippen wird breiter, allerdings nur so lange, bis ich mich daran erinnere, was ich meinen Freundinnen für heute Abend versprochen habe.

»Na los, das ist deine Chance«, sagt Colleen, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Der sanfte Stoß, den sie mir gibt, verursacht ein flaues Gefühl in meinem Magen. Ich stelle meinen Cocktail auf die Bank, und als ich mich auf den Weg zu Kiran mache, sind meine Beine wie Pudding.

Jeder Schritt kommt einer Überwindung gleich und mit jedem Meter, dem ich mich ihm nähere, werde ich unsicherer. Was, wenn er mich auslacht? Wenn er gar nichts mit mir zu tun haben will?

Haltung, Rae! Entschieden recke ich das Kinn und strecke die Schultern durch, so wie ich es mit Colleen Dutzende Male geübt habe. Und das, was ich Kiran gleich sagen will, kenne ich auch auswendig: »Ich bin Raelyn Sinclair. Wir gehen beide auf die Rootley High. Hast du Lust, einen mit mir zu trinken?«

Neunzehn Wörter, die mich schon jetzt an den Rand der Verzweiflung treiben. Trotzdem werde ich schneller, denn ich muss den Moment ausnutzen, in dem Kiran noch nicht von seinen Kumpels umringt ist. Es ist selten, ihn allein zu sehen – vielleicht schenkt das Schicksal mir diese Gelegenheit.

Das enge Gefühl in meiner Kehle ignorierend, trete ich selbstbewusst auf ihn zu. »Hey, Kiran, ich …«, beginne ich, als sich Alice Lawrence, eine Blondine aus meinem Literaturkurs, aus der tanzenden Menge schiebt und bei Kiran unterhakt. »Na, mein Süßer«, flötet sie und klimpert mit ihren Fake-Wimpern.

Kiran zieht die Brauen hoch, lässt sich aber bereitwillig von ihr aufs Parkett ziehen, wo sie um ihn herumtanzt und ihren makellosen Körper an seinem reibt. Alice ist ebenfalls nicht verkleidet – wieso auch? Wenn man Alice Lawrence ist, will man niemand anders sein.

Kirans Lachen dringt mir durch Mark und Bein. Die beiden sind zwar kein Paar, trotzdem ist er nicht immun gegen ihren Charme.

»Du musst forscher sein.« Colleen legt ihren Arm auf meine Schulter.

Ich seufze.

»Kein Selbstmitleid heute Abend«, kommt Erin mir zuvor. »Das hast du uns versprochen. Außerdem hat die Party gerade erst angefangen. Wir werden Kiran im Auge behalten und ihn in einem passenden Moment abfangen.«

Ein dumpfes Gefühl sagt mir allerdings, dass das meine einzige Chance war. Frustriert beobachte ich Kiran noch eine Weile und versuche Alice, die aufreizend um ihn herumtanzt, auszublenden.

»Lass mal schauen, was es zu essen gibt.« Colleen lotst mich Richtung Buffet, das auf einem langen Tisch aufgebaut ist. Da die Party von niemandem offiziell organisiert wird, haben alle das mitgebracht, das sie bei sich zu Hause gefunden haben. Und danach sieht es leider auch aus. Ich darf mich zwischen einem knurrenden Magen und einem streng riechenden Fischbrötchen entscheiden.

»Typisch Rootley High.« Erin lädt einen Pfirsich auf ihren Teller. »Alkohol gibt es in rauen Mengen, nur ans Essen denkt niemand.«

»Ich glaube, ich verzichte.« Colleen verzieht den Mund.

Erin beißt in den Pfirsich. »Und was machen wir jetzt?«

Überfordert sehe ich mich in der Halle um. Meine Erfahrung mit Partys beläuft sich auf eine Reihe Kindergeburtstage. Tanzen kann ich nicht und will es auch nicht versuchen.

»Noch ist es nicht zu spät für einen Filmabend.« Erins Augen funkeln. »Netflix hat einiges für Halloween reinbekommen.«

Die nächsten zwei Stunden beobachten wir unsere Mitschüler beim Trinken, Tanzen und Lachen. Auf einer riesigen Patchworkdecke finden Partyspiele statt, doch uns steht weder der Sinn nach einer Runde Wahrheit oder Pflicht noch nach einer Partie Flaschendrehen.

Es war eine verdammt blöde Idee, auf eine Party zu gehen, um Kiran auf mich aufmerksam zu machen. Wenn er in der Schule schon keinen Blick für mich übrig hat, werde ich ihm im Getümmel meiner weitaus schöneren Mitschülerinnen kaum auffallen.

»Hört ma’ alle her!« Troy, ein groß gewachsener, braunhaariger Typ aus der Stufe über mir, verschafft sich über ein Mikrofon Aufmerksamkeit. Er steht auf einer Art Tribüne, die aus aufeinandergestapelten Bananenkisten besteht. Wenn er spricht, entblößt er spitze Vampirzähne.

»Wer hat Lust auf eine Mutprobe?«

Seine Frage wird von Zustimmungs- und Buhrufen beantwortet.

Troy grinst. »Es is’ fast Middernacht. Die Untot’n verlassen langsam ihre Gräber. Wäres nich’ schön, ein paar von ihn’ su begegnen?« Effekt heischend breitet er seinen Mantel aus und macht ein zischendes Geräusch.

»Okay, follenermaßen.« Mir entgeht nicht, dass er leicht lallt. »Ihr kennt doch alle die Ruine im Wald? Und Old Greer, die’m Turm ihr Unwes’n treibt?«

»Lass den Scheiß, Troy!«, ruft ein blonder Junge aus der Menge. »Mit der Geschichte kriegst du hier keinen mehr.«

»Da wär’ ich vorsichig«, warnt Troy. »An jed’m anern Abend hätt’ ich dir sugestimmt, aber nich’ heute. Denn an Halloween is’ die Grenze zur Welt der Tot’n besonders durch… besonders durchlässig – und was passt da besser als Rootleys eig’ne Urban Legend?«

»Er sagt es, als wäre er stolz auf den Quatsch.« Erin verdreht die Augen; Colleen neben mir spannt sich an.

»Für den unwahr… den unwahrscheinlichen Fall, dass ihr die Geschichte um Old Greer noch nich’ kennt …« Gespannt sieht Troy sich um. Für den Bruchteil einer Sekunde bleibt sein Blick an mir hängen.

»Der Turm, in den sie damals gesperrt wurde, is’ verflucht. Old Greer war eine ganz … eine ganz normale Frau, ein Mensch wie du un’ ich, bis sie sich dd…der dunklen Seite anschloss und einen follenschwer’n Fehler beging.« Gespenstisch lacht er ins Mikrofon.

»Wollen wir einfach gehen?« Erin wirft mir einen langen Blick zu.

»Old Greer wurde in den Turm gesperrt und aufs Grausamste gefoltert. Sie hatte weder su ess… essen noch su trink’n, aber ihre dunkle Magie hat sie am Leben gehalt’n. Die Legende besagt …« Troy wird leiser. »Wer Old Greer in ihr’m Turm besucht und ihr in die Augen bllllickt, wird mit sein’n größten Ängsten konfrontiert. Er wünscht sich, tot umzufall’n, weil ein Blick in ihre weißen Pupill’n ihm all das zeigt, was er nich’ verkraften kann.« Troy holt tief Luft. Seine Fingernägel sind entsetzlich lang.

»Komm zum Punkt, Alter!«, brüllt ein Typ an der Cocktailbar. Trotz der ausgelassenen Stimmung läuft mir ein Schauder über den Rücken.

»Alles okay mit dir?« Colleen schaut auf meine gänsehautbedeckten Arme. Schnell nicke ich.

»Lasst uns die Alte Greer heut’ Nacht besuch’n!«, sagt Troy. »Wer wagt sich mit mir in den verwunsch’nen Wald, direkt zur Ruine?«

»Das ist doch bescheuert«, höre ich jemanden sagen, dem Colleen eifrig beipflichtet. Und auch mir steht nicht der Sinn danach, mich in der Halloweennacht in unseren Wald zu verirren, der mir schon bei Tageslicht nicht geheuer ist. Umso überraschter bin ich, als sich nach und nach einige Typen um Troy sammeln. Die meisten kenne ich vom Sehen. Brian, einer von ihnen, geht in meinen Geschichtskurs.

Und einer ist Kiran.

In meiner Kehle wird es eng. In der Menge halte ich nach Alice Ausschau, die aber keine Anstalten macht, sich zu den Jungs zu stellen.

»Na, na, nich’ so s…, so zögerlich!« Troy presst die Lippen aufeinander. »Wir brauchen noch ein paar un… ein paar unerschrockene Mädels, die uns begleiten. Nich’, dass wir noch Angst krieg’n.« Ich hasse ihn für sein selbstgefälliges Lachen.

»Nach denen kann er lange suchen«, murmelt Colleen vor sich hin. Erin tippt desinteressiert auf ihrem Smartphone herum.

»Niemand? Was is’, wenn Ol’ Greer sich über uns hermacht un’ wir nie zurückkomm’n?« Troy verzieht den Mund. »Dann seid ihr verantwortlich!«

Keine Ahnung, was mich antreibt: ein plötzlicher Anfall von Mut, eine Prise Wahnsinn oder einfach der Wunsch, von Kiran bemerkt zu werden. Aber auf einmal stehe ich auf.

»Wir kommen mit«, rufe ich – laut genug, dass binnen Sekunden Dutzende Augenpaare auf mir liegen. Ein Umstand, den ich definitiv nicht bedacht habe, mir steigt die Röte ins Gesicht und meine Wangen glühen.

»Was heißt das, wir kommen mit?«, kommt es von Colleen, aber ihre Bemerkung geht in Troys Jubelrufen unter.

»Da sin’ Frauen, wie ich sie mir wünsche.« Er winkt mich zu sich heran. Schon nach den ersten Schritten bereue ich meinen Entschluss. Trotzdem lasse ich mich von ihm auf die Tribüne ziehen, wo ich direkt neben Kiran lande. Ich traue mich nicht, den Blick zu heben. Doch das ist gar nicht nötig, denn er ist ohnehin überall. Seine breiten Schultern, die gleichzeitig einladend und einschüchternd sind. Sein herber Geruch, der mir das Atmen erschwert.

»Erin, Colleen«, zische ich, auch wenn ich weiß, dass sie mich über den Lärm der Musik hinweg nicht hören können. Meinen flehenden Blick nehmen sie aber zur Kenntnis. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit erscheint, setzen sie sich endlich in Bewegung.

Kapitel 2

Die Ruine im Wald

»Ich fass es nicht, dass wir das machen.« Colleen zieht den Reißverschluss ihrer Lederjacke bis auf Anschlag. »In der Halloweennacht zur Ruine gehen? Bist du wahnsinnig, Raelyn?«

Ich ziehe die Schultern hoch. »Es war eine Kurzschluss-reaktion. Aber das ist die Chance, mit Kiran ins Gespräch zu kommen.«

»Um Mitternacht in einem stockdunklen Wald? Da kann ich mir passendere Momente vorstellen.«

»Ich mach es wieder gut.« Flehend sehe ich Colleen an. Sie ist definitiv die Ängstlichste von uns.

»Die Jungs sind so betrunken, mich würde es wundern, wenn sie überhaupt die Ruine finden.« Erin schaut zu der fünfköpfigen Gruppe hinüber. »Wahrscheinlich endet das Ganze schon auf der Straße.«

»Hoffen wir es«, murmelt Colleen.

»Seid ihr fertig?« Troy lässt seine Vampirzähne blitzen. »Das wird toll! Wer seid ihr überhaupt? Geht ihr auf die Rootley High?«

Ja, will ich ihm sagen. Wir kennen uns seit dem Kindergarten, das hast du anscheinend vergessen.

Stattdessen murmele ich nur meinen Namen und stelle ihm Erin und Colleen vor. Ich würde darauf wetten, dass er unsere Namen Sekunden später schon wieder vergessen hat.

Als wir die Fabrikhalle verlassen, beschleicht mich ein ungutes Gefühl, das aber dank der Jungs schnell vertrieben wird. Sie sind albern, laut und lachen viel. Auch wenn es draußen stockdunkel ist und ich immer wieder an unsere Urban Legend denken muss, fällt ein Teil der Anspannung von mir ab, während wir mit ihnen unterwegs sind. Ich kenne sie alle vom Sehen, manche mehr, manche weniger gut. Kiran geht in der Mitte, weswegen ich zunächst keine Gelegenheit habe, mit ihm zu reden.

»Na los, nun mach schon«, nervt Colleen mich. »Ich werde nicht im Wald tausend Tode sterben, nur damit du stumm wie ein Fisch neben mir herschlurfst.«

»Ich warte auf einen guten Augenblick.«

Wir überqueren die Brücke, die den Fluss in zwei Hälften teilt und gehen eine Weile die schummrigen Straßen entlang. Außer uns ist niemand mehr unterwegs. Für die Kinder, die um die Häuser ziehen, ist es mittlerweile zu spät.

»Meine Eltern haben mir verboten, zur Ruine zu gehen.« Colleen sieht mich vorwurfsvoll an.

Erin zuckt die Schultern. »Ich glaube, das haben sie uns allen verboten. Im Endeffekt erfährt es sowieso niemand. Wir treffen höchstens ein paar Betrunkene, die ihren Rausch ausschlafen.«

Ich mustere Kiran von hinten. Seine breite Gestalt zeichnet sich in der Dunkelheit vor meinen Augen ab. Geschmeidig, beinahe ästhetisch bewegt er sich voran. Ich bin mir sicher, dass auch er getrunken hat, doch man merkt es seinem Gang nicht an.

Ich nehme all meinen Mut zusammen. »Was genau machen wir im Wald?«

Fünf Köpfe drehen sich zu mir um, darunter auch Kiran. Es ist nicht das erste Mal, dass er mich ansieht – diese flüchtigen Momente hat es auch in der Schule schon gegeben, aber ich hoffe, dass er irgendwann länger hinschaut.

Und vielleicht etwas entdeckt, das ihm gefällt.

»In den Turm kommen wir nicht rein, nur die Ruine ist zugänglich«, sagt Troy. »Vor Ort fällt uns bestimmt noch mehr ein.«

Wie ein dunkles Omen zeichnen sich die ersten Tannen vor uns ab, die so dicht beieinanderstehen, dass auch bei Tag wenig Licht durch sie dringt. Als Kind habe ich mich oft in diesem Wald aufgehalten, habe mit meinem Dad zwischen Bäumen und Büschen Verstecken gespielt. Aber seit der Schatten in meinem Leben ist, gibt es keinen Grund mehr, durchs Unterholz zu jagen.

»Kennt irgendjemand von euch überhaupt den Weg zur Ruine?«, fragt Erin die Jungs.

Troy sieht seine Freunde an. »Ich war schon ’ne Ewigkeit nicht mehr da.«

Der Typ neben ihm, der als Mumie verkleidet ist, zieht die Schultern hoch. »Soweit ich weiß, müssen wir nur geradeaus und uns beim Fluss links halten. Wir gehen schon nicht verloren.«

Sein letzter Satz hinterlässt in mir einen faden Beigeschmack, den ich auch nicht abschütteln kann, als wir uns ins Unterholz begeben. Die Stille des Waldes wird durch unsere unüberlegten Schritte durchbrochen. Jedes Mal, wenn es irgendwo raschelt, zucke ich zusammen.

Die Dunkelheit hier ist nicht mit der auf den Straßen zu vergleichen. Sie ist unerbittlich, undurchdringlich und so tief, dass ich die Hand vor Augen nicht erkenne.

Taschenlampen von Smartphones werden angemacht, erleuchten einen Weg, der mit Licht beinahe schauriger wirkt als ohne. Mein Herz schlägt immer schneller, doch ich lasse es mir nicht anmerken. Stattdessen hole ich zu Kiran auf, der die Gruppe jetzt anführt.

»Du kennst dich aus?«, frage ich ihn von der Seite, während er den Wald mit seiner Taschenlampe ableuchtet. Der Schrei eines Käuzchens beschert mir eine Gänsehaut.

»Auskennen würde ich es nicht nennen, doch wenn ich einem von diesen Knallköpfen die Führung gebe, kommen wir nie an.«

»Bist du öfter in der Ruine?« In der vollkommenen Finsternis ist es leichter, ihn anzusehen. Er merkt nicht, wie rot ich werde.

»Das letzte Mal ist schon ein paar Jahre her …«, murmelt er. Ich warte darauf, dass er etwas hinzufügt, doch die Stille verschluckt den Moment, das Gespräch und uns. Ich zermartere mir den Kopf nach einem neuen Thema, möchte den Augenblick nicht einfach so vorbeiziehen lassen.

»Ey, da war irgendein Tier«, schreit einer der Jungs. »Da vorne, ich hab’s gesehen!« Eine Taschenlampe flackert wild umher, verschiedene Areale des Waldes werden beleuchtet.

»Bestimmt ein Bär«, fügt er hinzu, was Colleen kurz aufschreien lässt.

»Hier gibt es keine Bären«, stellt Erin klar.

»Aber da war was! Es war riesig und …« Ein Rascheln ist zu hören, ein Knacken und dann – ein Schrei.

»Was zur Hölle?«, ruft Erin.

Die Handytaschenlampen richten sich auf den Boden, mein Herz rast.

»A’es gg…gut, Leute«, lallt der Junge, der als Mumie verkleidet ist. »Ich bin nur gestolpert.«

»Alter, hast du mich erschreckt!« Tyler zieht ihn vom Boden hoch.

»Lasst uns umdrehen.« Colleens Stimme klingt eine Oktave zu hoch. »Das ist eine Schnapsidee. Nicht, dass wir uns noch verlaufen oder sich jemand verletzt!«

»Da spricht die Stimme der Angst«, lamentiert Troy. »Du kannst ja umdrehen, Cody, wenn du uns nicht mehr begleiten willst.«

»Mein Name ist Colleen. Und ich bin nicht so dumm, allein umzudrehen.«

»Dann eben nicht.« Troy zuckt mit den Schultern.

»Ich finde, sie hat recht«, meldet sich einer der Jungs zu Wort. In der Dunkelheit sehe ich nicht, wer es ist – auch seine Stimme kann ich nicht zuordnen. »Das ist eine Scheißaktion. Lass zurück zur Party, es ist verdammt kalt.«

»Bla bla bla«, ruft Troy durch die Nacht. »Ich zwinge niemanden zu seinem Glück.«

»Lass uns nach Hause gehen.« Erin greift nach meiner Hand.

Ich bin kurz davor zu nicken, weil ich mir selbst nicht mehr viel hiervon erhoffe, als Kiran schneller wird.

»Wir sind fast da«, verkündet er. »Ich kann die Spitze vom Turm schon sehen.« Gespenstisch leuchtet er nach links, aber die Funzel seines Smartphones reicht nicht aus, um irgendetwas zu erkennen. Stattdessen werfe ich meinen Freundinnen einen aufmunternden Blick zu, den sie in der Finsternis wahrscheinlich nicht sehen können, und geselle mich wieder zu Kiran.

Fünf Minuten später haben wir den Turm erreicht. Die Ruine liegt wenige Meter daneben.

»Wie lange gibt’s dieses Scheißding eigentlich schon?« Kiran lässt den Blick schweifen.

»Mein Dad sagt, dass das niemand genau weiß. Die Ruine war mal ein Anwesen von wohlhabenden Leuten. Mehr weiß ich nicht.«

»Wir sind ja auch nicht für eine Geschichtsstunde hier.« Troy geht mit schnellen Schritten auf die Ruine zu und wirkt zum Glück wieder etwas nüchterner. »Sondern um uns das Schätzchen genauer anzusehen. Allllsoooo – wer traut sich rein?« Er klopft gegen den massiven Stein.

Wir sind lange genug im Wald unterwegs, dass ich mehr als nur ein paar Konturen und Schatten erkennen kann. Die Ruine erhebt sich wie ein gigantisches Ungetüm vor uns. Nur schwer kann ich mir vorstellen, wie sie früher ausgesehen hat. Dafür ist das Gemäuer zu sehr in die Jahre gekommen, zu eingefallen.

Der Turm wiederum scheint gut erhalten. Ich lege den Kopf in den Nacken, um seine ganze Größe aufzunehmen. Ich muss an das denken, was Troy eben erzählt hat – an die alte Frau, die im Turm sitzt und nur durch schwarze Magie am Leben gehalten wird. Bevor die Angst Besitz von mir ergreifen kann, geselle ich mich zu den anderen.

»Okay, die Mutprobe sieht folgendermaßen aus.« Troy lehnt an den Überresten der Außenmauer und hält die Taschenlampe so, dass sie mir unangenehm in die Augen scheint. »Wir gehen nacheinander rein und bleiben dort mindestens zwei Minuten.«

»Und was soll das bringen?«, fragt Erin.

Troy seufzt. »Muss es immer einen Grund für alles geben? Es geht darum, die eigenen Ängste zu überwinden und über sich selbst hinauszuwachsen.«

»Übertreibst du jetzt nicht?«, erwidert Erin. »Ich habe als Kind in der Ruine gespielt.«

»Dann bist du die Erste, die hineingehen darf.« Troys Augen funkeln belustigt, doch Erin hebt die Arme.

»Sorry, verzichte.«

Colleen schüttelt ebenfalls den Kopf.

»Also ich werde gehen.« Kiran fährt sich durch die Haare. »Der Erste muss ich trotzdem nicht sein.«

Und da ist er wieder – der seltsame Anfall von Mut, der schon in der Fabrikhalle von mir Besitz ergriffen hat und mich auch jetzt antreibt.

»Ich gehe«, verkünde ich – und bereue es eine Sekunde später. Doch Kirans anerkennender Blick ist es wert.

Auf wackligen Beinen nähere ich mich der Ruine, die man nur von hinten durch ein Loch im Stein betreten kann. Ich vergrabe meine Hände in den Manteltaschen, damit niemand merkt, wie sehr sie zittern. Denn die anderen sind mir längst gefolgt und beobachten mich aufmerksam.

Es ist schon eine Weile her, dass ich hier war. So lange, dass ich mich an den letzten Besuch nicht mehr erinnern kann. Aber vielleicht ist es auch nicht der letzte, auf den es ankommt. Sondern auf die Stimme meines Vaters, die von den steinernen Wänden hallt. Verstecken, Suchen, Finden, Umarmen. Jedes Lachen hat sein eigenes Geräusch.

Ich schlüpfe durch den Spalt im Stein, betrete die untere Etage der Ruine. Mir ist alles andere als wohl dabei, auch wenn ich eigentlich weiß, dass nichts passieren kann. Die anderen sind nur einen Ruf entfernt.

Ich schalte die Taschenlampe meines Smartphones ein, um die Umgebung abzuleuchten. Der Raum, in dem ich mich befinde, ist groß geschnitten, sodass ich ihn nicht auf einmal überblicken kann. Es ist zugig hier drin, der steinerne Untergrund bedeckt mit Abfall. In der Ecke liegen ein paar Decken, was den Verdacht bestätigt, dass die Ruine von Obdachlosen zum Übernachten genutzt wird.

Ich atme tief durch, warte, bis sich mein Puls normalisiert hat und gehe auf die Steintreppe zu, die in die obere Etage führt. Die Stufen erscheinen mir stabil, dennoch passe ich auf, wohin ich meine Füße setze.

Auf dem Weg nach oben frage ich mich, wie die Ruine vor mehreren Hundert Jahren ausgesehen hat. Wer einmal hier gewohnt hat. Sosehr ich die Vergangenheit auch zu visualisieren versuche, ich schaffe es nicht. Für mich ist die Ruine nicht mehr als eine Ansammlung von Schutt und Geröll.

Ich stelle mich vor eines der Fenster und strecke den Kopf nach draußen. Genieße die kalte Nachtluft, gepaart mit dem Gefühl der Ruhe, das von mir Besitz ergriffen hat. Ich werde einfach ein paar Minuten hier oben bleiben und dann zurück zu den anderen gehen.

Ob Kiran mich für meinen Mut bewundert? Oder ist es ihm total egal?

Ich bin im Begriff, umzudrehen, als mich etwas innehalten lässt. Ein Schaben, gefolgt von einem Knacken und schnellen Schritten. Ist mir jemand gefolgt? Ich wirbele herum, mein Herz klopft immer schneller, und leuchte mit dem Smartphone geradeaus.

Ein bleiches Gesicht lässt mich aufschreien, aber nur so lange, bis ich erkenne, wer da vor mir steht.

»Braden?« Ich mustere den Eindringling. Beinahe geisterhaft steht er vor mir, die Augen vor Schreck geweitet, das schulterlange, braune Haar durcheinander.

Ich taumele ein paar Schritte zurück, bis ich gegen die Steinwand pralle. Braden steht noch immer da und sieht mich an.

»Was machst du hier?«, frage ich ihn.

Er zieht die Augenbrauen zusammen, als wüsste er selbst keine Antwort. Ich senke mein Smartphone, damit er nicht geblendet wird.

»Ist dir nicht kalt?« Erst jetzt fällt mir auf, dass er nur ein T-Shirt und eine dünne Hose trägt. Ein Teil von mir will ihm meinen Mantel geben, um die Gänsehaut auf seinen Armen zu vertreiben.

»Ich … ich muss weg«, stammelt er, macht auf dem Absatz kehrt und hastet die Treppe hinunter.

»Warte!«, rufe ich ihm hinterher, stürze nach vorn und stolpere prompt über eine leere Bierflasche. Fluchend schleudere ich sie in die Ecke und halte mir das schmerzende Knie. Braden hat die Ruine längst verlassen. Was hat er hier zu suchen, noch dazu mitten in der Nacht? Dass er ein komischer Typ ist, weiß ich, dass er so komisch ist, ist mir neu.

Mühsam kämpfe ich mich hoch, ein Stechen fährt durch mein Knie.

Das Auftreten tut höllisch weh, die ersten Stufen sind eine einzige Tortur. Wütend beiße ich die Zähne zusammen.

»Blair, bleib hier.«

Die Stimme ist nur ein Hauch, flüchtig, konturlos – und doch bringt sie mich dazu, mich umzudrehen.

»Es ist an der Zeit.«

»Wer ist da?« Meine Stimme wird von den nackten Wänden zurückgeworfen. »Zeig dich!« Ich gehe zurück nach oben und leuchte den Raum mit meiner Taschenlampe aus. »Braden?«

Ein Schatten löst sich aus der Dunkelheit; eine Gestalt, so groß wie ein ausgewachsener Mann, kommt auf mich zu. Schritte bringen mein Trommelfell zum Bersten, das Geräusch von zersprungenem Glas – und dann ist da wieder diese Stimme.

»Bereite dich vor.«

Der Schatten springt von links nach rechts, kommt mir immer näher. Ich taumele nach hinten, der Entsetzensschrei erstirbt in meiner Kehle. Meine Knie zittern so stark, dass sie mein Gewicht nicht mehr tragen können. Kraftlos sinke ich in mich zusammen.

Dann ist da nur noch Schwärze.

Kapitel 3

Erinnerungen an den Schatten

Mein Kopf brummt, als ich wach werde. Verkrampft wälze ich mich von der einen Seite auf die andere.

Ein Blick zum Wecker zeigt mir, dass es längst Zeit zum Aufstehen ist. Mühsam schiebe ich die Decke von mir – ich trage noch immer das Kleid von der Party. Die Party!

Tausende Bilder prasseln auf mich ein, überfordern mich in ihrer Intensität und lassen mich aufstöhnen.

Mit einem Ruck wird meine Tür aufgerissen.

»Nicht jetzt, Mum.« Ich massiere meine schmerzenden Schläfen, da sitzt meine Mutter schon auf der Bettkante und legt ihre Hand auf meine Stirn.

»Was ist gestern passiert, Raelyn?« Durch die Gläser ihrer randlosen Brille sieht sie mich besorgt an.

»Mir geht’s gut«, beteuere ich, dabei bin ich mir da gar nicht sicher. Wann bin ich heimgekommen? Wie bin ich heimgekommen?

»Du warst vollkommen fertig.« Mums Blick wird ernst. »Seit wann schlägst du so über die Stränge?«

Dass nicht der Alkohol schuld an meinem Zustand war, weiß ich, dennoch nutze ich ihn dankbar als Vorwand. »Wir haben es etwas übertrieben«, sage ich zerknirscht. »Aber mir geht’s gut, wirklich.«

Mum sieht nicht überzeugt aus, aber ich weiß, dass sie genug um die Ohren hat und nicht weiter nachbohren wird. Endlich nickt sie und drückt meine Hand.

»Ich habe dir Frühstück in die Küche gestellt. Skye ruft uns in einer Stunde an. Ich gehe vorher einkaufen. Brauchst du was?«

Ich schüttele den Kopf, und atme auf, als sie mein Zimmer verlassen hat. Dann suche ich nach meinem Smartphone und öffne die WhatsApp-Gruppe mit Erin und Colleen.

Was ist gestern Nacht passiert? Ich hab den totalen Filmriss.

Colleens Antwort kommt wenige Sekunden später: Erinnerst du dich an gar nichts? Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt!

Ich setze mich aufrecht hin und nehme das Smartphone in beide Hände, damit ich schneller tippen kann.

Ich habe in der Ruine seltsame Geräusche gehört – dann war alles schwarz. Mehr weiß ich nicht.

Erin kommt online.

Wir haben draußen gewartet und nach dir gerufen, aber du bist nicht gekommen. Dann sind Colleen und ich in die Ruine, um nach dir zu suchen. Du warst ohnmächtig.

Ohnmächtig?, antworte ich mit einem Emoji, der die Augen aufreißt. Wie lange?

Colleen tippt. Du bist zu dir gekommen, als wir dich geweckt haben. Du hast dir irgendwie dein Knie verletzt und konntest nicht gut laufen. Wir haben dich nach unten getragen und sind dann nach Hause gegangen.

Und Kiran?, traue ich mich zu schreiben. Etwa eine Minute ist es still, dann kommt die vernichtende Antwort von Erin.

Die Jungs waren weg, als wir mit dir draußen waren. Wir sind dann zu dir nach Hause und haben dich ins Bett gelegt. Wie geht’s dir?

Am liebsten würde ich das Smartphone in die Ecke schleudern.

Wie einmal gegessen und wieder ausgespuckt. Das Ganze war eine Scheißidee. Will gar nicht wissen, was Kiran jetzt von mir hält. Falle wie in Kleinkind in Ohnmacht.

Was ist überhaupt passiert?, möchte Colleen wissen und erweckt jene Bilder zum Leben, die mir auch jetzt, bei Tageslicht, noch eine Heidenangst bescheren. Ich beginne zu tippen, um den beiden von der seltsamen Stimme und dem Schatten zu erzählen. Doch irgendetwas hält mich ab. Vielleicht die Befürchtung, dass sie mir nicht glauben und mich für verrückt halten. Vielleicht aber auch die Tatsache, dass ich noch nicht bereit bin, das, was ich erlebt habe, mit ihnen zu teilen.

Allerdings gibt es da eine Sache, die sie erfahren sollten.

Ich habe Braden in der Ruine getroffen.

Colleen: Braden Dunn? Gestern Nacht?

Raelyn: Keine Ahnung, was er da getrieben hat. Er ist verschwunden, bevor er es mir sagen konnte.

Erin: Der Kerl ist superkomisch. Passt irgendwie zu ihm, sich dort rumzutreiben.

Raelyn: Aber an Halloween? Um Mitternacht in einem verlassenen Gebäude? Das ist selbst für Braden eine Nummer zu viel.

Colleen: Er hat dir aber nichts getan, oder?

Die Vorstellung, dass Braden Dunn mit seinen Spindelarmen mir etwas antun könnte, bringt mich zum Grinsen.

Nein, schreibe ich. Er hat die Ruine fluchtartig verlassen, nachdem er mich gesehen hat.

Meine Schwester Skye ist all das, was ich nie sein werde: gertenschlank, beneidenswert schön mit ihren pechschwarzen Haaren und den Sommersprossen und so zielstrebig, dass mir manchmal schon beim Zuhören schwindlig wird. Sie studiert Communication Design in Glasgow und arbeitet nebenbei an ihrer ersten Modelinie, die sich auf androgyne Schnitte und nachhaltige Produktion fokussiert. Da sie nicht mehr bei Mum und mir in Rootley lebt, skypen wir einmal die Woche miteinander, um uns gegenseitig auf dem Laufenden zu halten. Während Skye davon erzählt, was sie alles erreicht hat, an welchen Projekten sie arbeitet und wie gut ihre Beziehung läuft, erzähle ich jede Woche dieselben langweiligen Dinge über mein langweiliges Leben.

»Ich habe gestern das erste Probestück genäht. Der Saum ist nicht ganz ordentlich … Wie findet ihr die Puffärmel?« Skye hält eine rosa Bluse in die Kamera, die am Kragen mit goldenen Stickereien verziert ist und aus dünnem, beinahe durchsichtigem Stoff besteht. Während ich den Daumen nach oben recke, verfällt Mum in Begeisterungsstürme.

»Skye, das sieht großartig aus! Du bist unheimlich talentiert! Wie kommst du nur immer auf diese Ideen?«

Meine Schwester senkt schüchtern den Blick, was sie nur hübscher aussehen lässt. Ein Stich der Eifersucht durchfährt mich.

»Ich brauche einfach einen Ausgleich. Das Studium ist so anstrengend.« Sie lächelt. »Aber ich will nicht die ganze Zeit von mir reden. Was gibt es Neues in Rootley?«

»Wir haben eine neue Bank vor der Bushaltestelle«, fällt mir ein. »Davon abgesehen müsstest du wissen, dass sich hier so gut wie nichts ändert. Und dasselbe gilt für mich.«

Kurz schiebt sich ein Schatten der Enttäuschung über Skyes Gesicht, doch sie wäre nicht meine Schwester, wenn sie schon aufgeben würde.

»Wie läuft die Schule? Stehen nicht bald die Prüfungen an?«

Meine Antwort fällt einsilbig aus. Ich habe so meine Probleme mit Small Talk, schließlich dient er meist nur dazu, peinliches Schweigen zu übertönen.

Mum scheint der Umstand nicht zu stören. In aller Ausführlichkeit erzählt sie von ihrer Arbeit im Reisebüro, vom wechselnden Urlaubsverhalten der Kunden und der Frage, ob sie ihre Stunden in geringem Umfang reduzieren kann. Ich höre nur mit halbem Ohr zu, lasse stattdessen den Blick durch unser Wohnzimmer schweifen. Seit Skye nicht mehr hier lebt, kommt es mir unnötig groß vor.

Seit Dad nicht mehr da ist, ist es schrecklich leer.

Mein Blick bleibt an einer gerahmten Fotografie von uns vieren hängen, und obwohl ich weiß, dass Mum es nicht gefallen wird, stehe ich von der Couch auf und nehme das Bild von seinem Platz. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, werde ich in die Vergangenheit katapultiert. Jedes Mal, wenn ich sein Gesicht vor Augen habe, werde ich daran erinnert, dass gar nichts gut ist – und dass es vielleicht nicht mehr gut werden wird. Egal wie erfolgreich Skye im Studium ist oder wie viele Urlaubsreisen Mum vermittelt.

»Was machst du da, Raelyn?«, fragt sie mich mürrisch. »Setz dich wieder zu uns.«

Das tue ich. Aber das Bild nehme ich mit. Als Mum einen Blick auf die Fotografie wirft, verhärtet sich ihr Gesicht. Es gleicht einem Wunder, dass das Bild überhaupt noch hier stehen darf. Wenn es nach Mum ginge, würde sie alle Erinnerungen an Dad verbannen.

»Was willst du damit?«, fragt sie mich. Die Kälte in ihrer Stimme verletzt mich. Schützend presse ich den Rahmen gegen mein Herz.

»Es ist bald drei Jahre her«, erinnere ich sie.

»Und wir müssen nach vorn schauen«, lautet ihre nicht besonders mitfühlende Antwort.

»Wieso reden wir nie über ihn? Wieso … macht ihr einfach weiter, als wäre nichts geschehen?« Ich sehe erst meine Mum, dann Skye an, die überfordert die Schultern hochzieht. Ihr Schweigen ist nichts Neues. Mit Dad sind all ihre Worte gestorben.

Mum seufzt. »Wir haben darüber geredet, Raelyn. Monatelang haben wir über nichts anderes geredet, nur um zu erkennen, dass wir die Antwort auf die Frage niemals finden werden. Und damit müssen wir uns abfinden.«

Ich schiebe die Lippe vor, weiß, dass meine Reaktion dem Trotz geschuldet ist, der noch immer in mir wütet. Weil ich es satthabe, zu schweigen und so zu tun, als hätte es Dad nie gegeben. Weil ich im Gegensatz zu Skye und meiner Mum noch immer nach dem Warum suche.

»Uns geht es doch gut.« Ungelenk legt meine Mutter mir den Arm um die Schultern und zieht mich an sich. »Wir brauchen ihn nicht. Wir sind ohne ihn besser dran.«

Ich kneife die Augen zusammen, um die Tränen zu unterdrücken. Denn Weinen macht es nicht besser, das habe ich gelernt.

»Stell das Bild weg«, fordert Mum mich auf. »Vielleicht sollten wir es einlagern.«

»Und wieso?« Wütend sehe ich sie an. »Nur weil sein Bild hier nicht mehr steht, bedeutet das nicht, dass es ihn nie gegeben hat. Du kannst die Vergangenheit nicht ungeschehen machen!«

»Raelyn!« Mums Blick ist schneidend wie Eis. »Stell das verfluchte Bild weg! Dein Vater hat sich dazu entschieden, uns alleinzulassen. Da kann ich mich dafür entscheiden, ihn aus unserem Leben auszuschließen!«

»Du verstehst nicht, dass du es dadurch nur schlimmer machst«, schluchze ich, das Bild noch immer gegen meine Brust gepresst. »Redet ihr nur weiter über euer banales Leben – ich kann das gerade nicht.«

Vielleicht, weil es sich wie Verrat anfühlt. Und ich im Gegensatz zu meiner Familie nicht wütend auf Dad bin.

Bloß traurig. Unendlich traurig.

In meinem Zimmer lege ich mich bäuchlings auf das Bett, das Bild vor mir. Ich habe es aus dem Rahmen geholt und den Teil, der Skye und meine Mutter zeigt, abgeknickt, damit ich mich auf meinen Dad konzentrieren kann. Auf sein warmes Lächeln, das ich seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen habe. Die Geheimratsecken über seinen Schläfen. Die pechschwarzen Haare, die er Skye vererbt hat, während ich das Rot meiner Mum bekommen habe.

An diesem Tag erlaube ich mir, ihn zu vermissen. An ihn zu denken und mir einzugestehen, wie sehr er mir fehlt. Und auch wenn Mum wahrscheinlich recht hat und ich nie herausfinden werde, wieso er gegangen ist, kann ich nicht aufhören, nach einem Grund zu suchen. Nach etwas, das mehr ist als die nichtssagende Notiz in der Schublade meines Nachttischs.

Kapitel 4

Regen und Kakao

Er sitzt am Ende der Mensa, unter der Fensterfront, durch die eine kalte Mittagssonne scheint. Seine Haare fallen ihm verwegen ins Gesicht und verdecken sein linkes Auge. Er ist ins Gespräch vertieft, während er sein Essen – eine Lasagne, die auch vor mir auf dem Teller liegt – in sich hineinschaufelt. Neben ihm sitzt ein Typ, der ihn immer wieder zum Grinsen bringt.

Verdammt, warum sieht er so gut aus? Und wieso macht das so viel mit mir?

»Na, bist du schon wieder am Träumen?« Erin schlägt mit ihrer Hand so fest auf den Tisch, dass ich das halbvolle Glas Wasser über mein Essen kippe.

»Spätestens jetzt nicht mehr.« Seufzend mustere ich die Sauerei. »Ich sollte ihn mir aus dem Kopf schlagen.«

»Definitiv«, erwidert Erin.

»Aber es klappt nicht.« Mein Blick wandert wieder zu Kiran, der sich auf seinem Stuhl lasziv nach hinten lehnt und seine Umgebung sondiert. Selbst wenn er mittlerweile weiß, wer ich bin, kann ich mir nicht vorstellen, dass er Interesse an mir hat. Scham erhitzt meine Wangen, als ich daran denke, wie ich in der Ruine ohnmächtig geworden bin und er die Flucht ergriffen hat.

»Mal ehrlich, was ist es, das dich so fasziniert? Warum er?« Erin mustert Kiran, und obwohl sie dasselbe vor Augen hat wie ich, sieht sie doch etwas vollkommen anderes. Einen x-beliebigen Jungen, der ihr nicht mal ein Schulterzucken entlockt, mir aber Herzrasen beschert.

Ich schneide mir ein Stück von meiner durchweichten Lasagne ab. »Wenn ich das wüsste. Er sieht gut aus, ich glaube, darauf können wir uns einigen. Aber darüber hinaus? Ich habe absolut keine Ahnung.«

Erin streicht sich durch die kurzen Haare und schiebt die Lippe vor. Ich kenne ihren Denkerblick, und als sie den Mund öffnet, weiß ich, dass sie etwas zu sagen hat, das ich nicht hören möchte.

»Betrachten wir das Ganze realistisch.« Sie beugt sich über den Tisch, wobei der Herzanhänger ihrer Kette die Platte berührt. »Kiran ist …«

»Mir ist klar, dass ich keine Chance bei ihm habe«, falle ich ihr ins Wort, weil es manchmal leichter ist, die Wahrheit selbst auszusprechen, als sie von anderen zu hören. »Und die Wahrscheinlichkeit, dass er sich in mich verliebt, ist extrem gering. Und trotzdem …« Ich werfe einen Blick auf sein lächerlich perfektes Gesicht. »Und trotzdem gibt es da die winzige Chance, dass er mich sieht. Irgendwann.« Ich zwirbele eine Strähne meines roten Haares und schiebe mir die Brille zurück auf die Nase.

Die Schulglocke reißt mich aus meinen Träumereien. Erin hat eine Freistunde, ich gehe zum Spind, um mein Geschichtsbuch zu holen.

Im Kursraum setze ich mich auf meinen Platz in der letzten Reihe, direkt am Fenster. Für einen Moment verliere ich mich in den Winterwolken am Himmel, dann holt mich Mr Effenbergs Stimme ins Hier und Jetzt. Verzweifelt versuche ich mich daran zu erinnern, ob wir Hausaufgaben aufhatten, aber mir fällt nicht mal das Thema ein, mit dem wir uns gerade beschäftigen.

Die Tür wird aufgerissen und ein völlig verschwitzter Braden betritt den Raum. Seine Haare glänzen feucht und stehen in alle Richtungen ab. Eine viel zu weite Hose schlackert um seine Hüften. Hastig verschwindet er auf seinem Platz.

»Schlagt im Buch Seite 127 auf. Wir machen dort weiter, wo wir das letzte Mal stehen geblieben sind. Französische Revolution. Marian, würdest du bitte vorlesen?« Mr Effenberg nimmt auf dem Lehrerpult Platz, das Buch geöffnet auf seinem Schoß. Ich versuche mich auf Frankreich im 18. Jahrhundert zu konzentrieren, doch mein Blick gleitet immer wieder zu Braden.

Bisher habe ich mich nie aktiv mit ihm beschäftigt, was daran liegt, dass er in meinem Leben keine Rolle spielt. Offiziell kenne ich ihn, seit ich auf die Rootley High gehe, doch ich weiß so gut wie nichts über ihn. Colleen hat ihn schnell in die Schublade Einzelgänger gesteckt, und ich glaube, dass er sich da auch ganz wohlfühlt. Keine Ahnung, ob er Freunde hat. Keine Ahnung, ob ihm so was wie Freunde überhaupt wichtig sind.

Ich richte mich auf meinem Stuhl auf, um besser sehen zu können. Braden scheint sich genauso wenig wie ich für die Französische Revolution zu interessieren, stattdessen tippt er auf seinem Smartphone herum.

Was hast du an Halloween in der Ruine gemacht?, würde ich ihn gern fragen. Wobei ich mir nicht mal sicher bin, ob er einen Grund hatte. Eventuell sind Aktivitäten dieser Art ein Teil seiner Freizeitgestaltung.

Ich bin versunken in meine Gedanken, weswegen ich zu spät realisiere, dass Braden sich zu mir umgedreht hat und mich ansieht. Mehrere Sekunden ruht sein Blick auf meinem. Er hat graue, aufmerksame Augen. Etwas in mir öffnet sich – wie ein Bild, das sich vor meine Wahrnehmung schiebt und alles, was real ist, verdrängt. Ich höre ein tiefes Lachen – und auf einmal ist da Leichtigkeit.

Das Heaven’s Corner liegt direkt in der Innenstadt, ein kleines, uriges Café, in dem man Colleen, Erin und mich als Stammgäste kennt. Sooft es uns möglich ist, mindestens aber an einem freien Nachmittag in der Woche, treffen wir uns hier, um warmen Apfelstrudel mit Sahne zu essen, Kakao zu trinken und uns über Neuigkeiten auszutauschen.

Unser Stammplatz liegt ganz hinten, dort, wo die Musik nur leise aus den Boxen dringt und die Sitzbänke mit Kissen und Decken dekoriert sind.

Draußen regnet es – ein stürmischer Novembertag, der den Übergang zwischen Herbst und Winter markiert. Ich schließe meine kalten Finger um den Kakao und nehme einen ersten Schluck. Colleen säbelt sich ein Stück vom Apfelstrudel ab, Erin beobachtet die Regentropfen durch die beschlagene Fensterscheibe.

»Willst du dieses Jahr etwas an deinem Geburtstag machen?« Colleens Locken sind zu einem Dutt aufgetürmt, der mit kleinen Stäbchen befestigt ist. »Ich würde gern mal wieder nach Craves fahren.«

»Das können wir an einem anderen Tag machen«, weiche ich aus.

Erin hebt den Kopf. »Und an deinem Geburtstag? Wie sieht da der Plan aus?«

»Ich verkrieche mich im Bett und hoffe, dass der Tag schnell vorbeigeht«, murmele ich in mich hinein, bin mir aber sicher, dass die beiden mich gehört haben.

Colleen greift über den Tisch hinweg nach meinen Händen.

»Wenn du jedes Jahr so weitermachst, wirst du nie lernen, darüber hinwegzukommen. Dann wird dein Geburtstag immer mit etwas Schlechtem verbunden sein.«

Ich stecke mir eine Strähne hinters Ohr. »Es fühlt sich falsch an, normal weiterzumachen. An jedem anderen Tag – ja. Aber nicht am 11. November.«

Erin rutscht näher an den Tisch heran. Der Blick aus ihren hellgrünen Augen ist sanft, beinahe mütterlich. »Du weißt, dass du immer mit uns reden kannst, Rae, oder?«

Ich nicke – und weiß das Angebot wirklich zu schätzen. Colleen und Erin sind die besten Freundinnen, die man sich wünschen kann. Und doch ist da eine Mauer in mir, wenn ich mit ihnen über den Tod meines Vaters sprechen will. Trotz ihrer aufrichtigen Sorge können sie nie den Schmerz nachfühlen, den ich empfinde. Nicht in seiner Gänze.

»Ich bin wahnsinnig froh, euch zu haben. Aber diesen einen Tag brauche ich für mich allein.«

Ende der Leseprobe