Fehlender Mindestabstand -  - E-Book

Fehlender Mindestabstand E-Book

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Beschreibung

In den Anti-Corona-Protesten wurde deutlich, wie tief inzwischen die Skepsis gegenüber parlamentarischer Demokratie und wissenschaftlichen Erkenntnissen in ganz unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung verankert ist: Impfgegner, Klimawandelleugner, Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und Neonazis marschieren nebeneinander – ohne Abstand. Dieses Buch analysiert das Phänomen einer erschreckend breiten Allianz: von neuen und alten Feinden einer aufgeklärten Gesellschaft und des demokratischen Rechtsstaats. Dabei werden auch Entwicklungen in Frankreich, den USA oder Österreich in den Blick genommen. Matthias Meisner und Heike Kleffner haben zahlreiche Expertinnen und Experten versammelt, die sich fundiert den einzelnen Gruppierungen und Milieus widmen, deren Vernetzung aufzeigen und vor den Auswirkungen einer antidemokratischen "dritten Welle" warnen. Mit Beiträgen von Katharina Nocun und Pia Lamberty, Matthias Quent, Michael Blume, Karolin Schwarz, Dunja Hayali u.v.a. Interviews mit Dunja Hayali, Heiner Fangerau und Sven-Georg Adenauer.

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Heike Kleffner, Matthias Meisner (Hg.)

Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde

Mit freundlicher Unterstützung des Zentrums Liberale Moderne, Berlin

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Aleksandr Golubev/iStock/Getty Images

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82334-3

ISBN (Print) 978-3-451-39037-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82335-0

Inhalt

Für einen gesellschaftlichen Klimawandel

Geleitwort

Von Josef SchusterPräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

Virus 2.0

Wie die Pandemie den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht

Von Heike Kleffner und Matthias Meisner

I. Schlaglichter: Von Stuttgart bis Washington, D.C.

Wir können alles außer impfen

Warum »Querdenken« eine Stuttgarter Vorwahl hat

Von Dietrich Krauss

Der Urknall der Coronaproteste

Die »Hygienedemonstrationen« vor der Berliner Volksbühne

Von Julius Betschka

Hygiene-Inspektion

Wenn Demonstrationen nach geschlossenem Volkskörper klingen

Von Annett Gröschner

Die Wutbürger von der B 96

Bautzen als Hotspot

Von Sebastian Leber

»Die Geschichte wiederholt sich«

Bayerische »Coronarebellen« im Sophie-Scholl-Widerstand

Von Robert Andreasch

Infodemie in Frankreich

Medien, Ärzte, Gelbwesten und das Virus der Verschwörung

Von Nicolas HéninÜbersetzung aus dem Französischen: Sigrid Irimia

»Sterben gehört nun mal zum Leben dazu«

Wie Corona Rechtsextremisten und Impfgegnerinnen in Österreich vereint

Von Markus Sulzbacher

Mit Bier und Sauna gegen Corona

Ein Telefongespräch nach Tschechien

Von Jaroslav Rudiš

Abstrus, aber brandgefährlich

QAnon und die amerikanische Demokratie

Von Heidi BeirichÜbersetzung aus dem Englischen: Lilian-Astrid Geese und Dora Meisner

II. Ideologien: Von Rassismus bis Verschwörungs­glaube

Die Suche nach den »Schuldigen«

Antisemitismus als zentrales Ideologieelement bei den Coronaprotesten

Von Felix Balandat, Nikolai Schreiter und Annette Seidel-Arpacı

Der QAnon-Boom

Der Erfolg der Verschwörungsideologie in Deutschland

Von Felix Huesmann

Ein Brandbeschleuniger für Radikalisierung?

Verschwörungserzählungen während der Covid-19-Pandemie

Von Pia Lamberty und Katharina Nocun

»Corona und Bargeldabschaffung sind zwei Seiten einer Medaille«

Die libertäre Verschwörungsmythologie des Geldes

Von Michael Blume

Leugnerkabinett

Viele Klimaskeptiker bezweifeln auch die Coronagefahren

Von Susanne Götze und Annika Joeres

Fehlgeleitete Widerstandsromantik

Wie Christen bei Coronaprotesten mitmischen

Von Arnd Henze

Friedliche Revolution 2.0?

Mit DDR-Vergleichen wird Stimmung gegen die Pandemiepolitik gemacht

Von Katharina Warda

III. Netzwerke: Akteurinnen und Akteure der neuen Allianz 

Vom elitären Zirkel zur Massenbewegung?

Die Neue Rechte in Pandemiezeiten

Von Volker Weiß

Ein Angstszenario nach dem anderen

Die Mahnwachenbewegung als Wiege der Coronaleugner-Szene

Von Sebastian Leber

Hauptsache Straße

Die AfD als parlamentarischer Arm der Coronaproteste

Von Tilman Steffen

»Nie war ein Systemwechsel so greifbar«

Neonazis bei den Coronaprotesten

Von Konrad Litschko

Reichs- und Regenbogenfahnen

Allianzen in Zeiten der Pandemie

Von Andreas Speit

Organisatoren, Influencerinnen, Aushängeschilder

Coronakritikerinnen und -leugner im Netz

Von Karolin Schwarz

Wie eine eigene Realität entsteht

Verschwörungsideologische Medien sind das Sprachrohr der »Coronarebellen«

Von Julius Geiler

Zwischen Aktivismus und Geschäftemacherei

Bei den »Querdenker«-Protesten geht es um viel Geld

Von Daniel Laufer und Markus Reuter

Polizisten auf Coronademonstrationen

Von selbsternannten Widerstandskämpfern und vermeintlichen »Merkel-Schergen«

Von Aiko Kempen

Hetze, die zum »Abschuss« freigibt

Der Terror von heute und morgen

Von Heike Kleffner

IV. Die Angegriffenen: Beleidigungen, Hetzkampagnen, Morddrohungen

Sündenböcke der Pandemie

Wie die Coronakrise Rassismus nährt

Von Matthias Meisner und Carolin Wiedemann

»Die Schimpfwörter werden bleiben«

Interview mit Liya Yu, Thủy-Tiên Nguyễn und Victoria Kure-Wu über den antiasiatischen Rassismus während der Coronapandemie

Von Nhi Le

»Es geht nicht um Glaubensbekenntnisse«

Interview mit dem Medizinhistoriker und Medizinethiker Heiner Fangerau über den Streit um die Covid-19-Pandemie

Von Heike Kleffner und Matthias Meisner

»Der Ton ist in den letzten Jahren schon rauer geworden«

Interview mit Landrat Sven-Georg Adenauer über die Radikalisierung der Coronaproteste

Von Andrea Dernbach

»Wer mit Rechtsradikalen mitläuft, hat keine Ausrede mehr«

Interview mit Dunja Hayali

Von Heike Kleffner und Matthias Meisner

Von »Medienkritik« zu Hass und Einschüchterung

Pressefreiheit in aufgeheizten Zeiten

Von Patrick Gensing

V. Der große Graben? Recht, Staat und Gesellschaft in der Pandemie

Generalmisstrauen in die demokratischen Institutionen

Corona-Protestbewegung: Die neue Querfront?

Von Ralf Fücks

Gegen den »Mainstream«

Ost und West im Protest vereint

Von Matthias Quent und Christoph Richter

Sollten Journalistinnen »Querdenkern« zuhören?

Fünf Lehren aus der Infodemie

Von Julius Betschka

Verharmlosung, Hilflosigkeit, Verständnis

Wenn Staatsfeinde keine Feinde haben

Von Stephan Anpalagan

Radikale Rechte

Wenn Rechtsradikale das Grundgesetz für sich entdecken

Von Jost Müller-Neuhof

(Versammlungs-)Freiheit im Corona-Stresstest

Zur Sorge um den Bestand des liberalen Rechtsstaats besteht kein Anlass

Von Ulf Buermeyer

Vom linken Unbehagen in der Coronakrise

Die nötige Distanz zum staatlichen und »querdenkenden« Autoritarismus

Von Andreas Wulf

Anhang

Literatur zum Thema

Die Beiträgerinnen und Beiträger

Über die Autoren

Für einen gesellschaftlichen Klimawandel

Geleitwort

Von Josef SchusterPräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

Wäre ich ein zynischer Mensch, dann hätte ich Ende 2020 allen Teilnehmern der Coronaleugner- und »Hygienedemonstrationen« in Deutschland den sofortigen Umzug nach North Dakota (USA) empfohlen. Der dortige Gouverneur lehnte »im Namen der Freiheit« jegliche Auflagen wie Abstandsregeln oder das Tragen von Mund-Nasen-Schutz für die Bevölkerung ab. North Dakota hatte Ende 2020 die höchste Corona-Infektionsrate in den USA.

Doch ich bin kein Zyniker. Im Gegenteil: Als Mediziner wünsche ich niemandem, sich mit dem Covid-19-Virus zu infizieren. Ebenso sehr wünsche ich mir allerdings auch, die Infizierung mit dem gesellschaftlichen Coronaleugner-Virus würde zurückgehen. Denn was wir 2020 auf den Straßen und im Netz erlebt haben – und, so ist zu fürchten, auch 2021 noch erleben werden –, ist zutiefst besorgniserregend.

Bei den Demonstrationen gegen die Corona-Auflagen kommt eine Mischung zusammen, wie man sie in dieser Form noch nicht kannte: Rechtsextremisten neben linken Impfgegnern, Esoteriker neben christlichen Gruppen, Ökolatschen neben Springerstiefeln. Sie alle eint die angebliche Überzeugung, dass die Grundrechte zu Unrecht eingeschränkt würden. Unter dieser Oberfläche wurde allerdings – auch dank kritischer Beobachter und Journalisten – schnell sichtbar, dass Rechtsradikale diese Bühne nutzen, um den aus ihrer Sicht notwendigen Sturz »des Systems«, also des demokratischen und liberalen Rechtsstaats, herbeizuführen.

Geeint wurden die Demonstranten noch durch eine weitere gemeinsame Überzeugung: den Glauben, dass eine geheime Elite das Virus in die Welt gesetzt habe, dass die Bürger zu Marionetten würden etc. Das alte antisemitische Narrativ der jüdischen Weltverschwörung wurde der aktuellen Situation angepasst.

Zugleich entstand die paradoxe Situation, dass die Coronaleugner einerseits Juden als Täter identifizierten und andererseits sich selbst mit Holocaustopfern verglichen. Von Anfang an waren bei den Demonstrationen gelbe »Judensterne« in Anlehnung an die NS-Zeit zu sehen. Der Appell der Regierenden, möglichst zu Hause zu bleiben, wurde mit der Situation in den 1940er Jahren gleichgesetzt, in der Juden sich verstecken mussten, um ihr Leben zu retten. Einen traurigen Höhepunkt erfuhr diese Entwicklung, als sich bei einer »Querdenken«-Demo in Stuttgart eine Elfjährige mit Anne Frank verglich. Nicht das Mädchen ist zu verurteilen, sondern die Erwachsenen, die sie dazu gebracht haben.

Angesichts dieser Entgleisungen kam mir der Gedanke, ob sich diese Menschen ein einziges Mal gefragt haben, wie ihre Aktionen auf Überlebende der Schoa wirken. Ich kenne einige alte Menschen, die diesen Stern damals tragen mussten. Ich kenne auch Menschen, die Jahre im Versteck ausharren mussten. Menschen, die als Einzige ihrer Familie überlebt haben. Es sind übrigens Menschen, die die Corona­auflagen tapfer hinnehmen und keinen Grund sehen, sich darüber zu beschweren. Ich wäre froh, wenn sie diese widerliche Instrumentalisierung ihrer Schicksale auf den Demonstrationen gar nicht mitbekommen würden!

Festzuhalten bleibt: Die unterschiedlichen Gruppen, die sich in ihrer Gegnerschaft zur Coronapolitik zusammengefunden haben, haben auf alte antisemitische Stereotype zurückgegriffen. Die Frankfurter Sozialwissenschaftlerin Julia Bernstein spricht im Zusammenhang mit ihrer Forschung über Antisemitismus in Schulen von Antisemitismus, der sich als »kollektiver Wissensbestand« tradiert.1 Das lässt sich auf die Coronaleugner übertragen.

Besonders gefährlich wird diese gesellschaftliche Entwicklung, weil sie nicht nur die Menschen erreicht, die vor Ort bei den Demos mitmarschieren und weil sie nicht an den Grenzen Deutschlands endet. Über die sozialen Netzwerke finden die Verschwörungsmythen und falschen Behauptungen eine immense Verbreitung. Selbst in den Sicherheitsbehörden sind Beamte zu finden, die ihnen anhängen. Eine sehr bedenkliche Entwicklung. Das Internet erleichtert zudem die internationale Vernetzung von Extremisten, wie jüngst Studien von jugendschutz.net und vom Auswärtigen Amt gezeigt haben.

Rechtsextremisten suchen sich immer wieder neue Einfallstore, um ihr Gedankengut möglichst weit zu verbreiten. Die Coronapandemie hat ihnen ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Sehr schnell und leider gekonnt aufgesprungen auf diesen Zug ist die AfD. Sie geriert sich als parlamentarischer Arm der Coronaleugner. Nach der Flüchtlingskrise 2015/2016 hat die AfD hier wieder ein neues Thema gefunden. Spätestens nachdem AfD-Abgeordnete im November 2020 einschlägige Besucher in den Bundestag eingeladen haben, kann die AfD ihre Strategie, die Anti-Corona-Bewegung für ihre Zwecke zu nutzen, nicht mehr leugnen.

Im Jahr der Bundestagswahl ist diese politische Gemengelage höchst beunruhigend. Alle Ebenen – seien es die Politik, die Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz, Polizei, Schulen, der Sport und die Religionsgemeinschaften – sind jetzt gefordert, diesen antidemokratischen Tendenzen entgegenzuwirken.

Wir alle haben seit dem Frühjahr 2020 zum Schutz des Lebens, der übrigens im Judentum über allem steht, herbe Einschränkungen unserer Grundrechte akzeptiert und mitgetragen. Sie waren und sind zeitlich befristet. Es war wichtig, dass dies in der Novelle des Infektionsschutzgesetzes präzisiert wurde. Und es war und ist auch wichtig, dass Gerichte die Maßnahmen rechtlich überprüft haben. Auch wenn sie sie in Einzelfällen gekippt haben, so zeichnet dies unseren Rechtsstaat aus.

Ein Ende der Auflagen dürfte 2021 Realität werden. Nach den Einschnitten in unsere Freiheit sollten wir dann – um mit Willy Brandt zu sprechen – wieder mehr Demokratie wagen. Denn so erschütternd die Bilder der Demonstranten auch waren, die auf den Stufen des Bundestags Reichsflaggen schwenkten – darüber dürfen wir nicht vergessen: Die Coronaleugner und Rechtsextremisten sind eine Minderheit. All jene Menschen hingegen, die verantwortungsvoll die Maßnahmen gegen die Pandemie mittragen, die für einen respektvollen Umgang miteinander eintreten, die unsere politische Kultur pflegen, all diese Menschen bilden die Mehrheit, und zwar die überwältigende Mehrheit.

Dennoch gilt es, wachsam zu bleiben. Die Feinde der Demokratie finden immer neue und perfide Wege, um ihre Ideologie zu verbreiten. Mal sind es Konzerte, mal Computerspiele, mal Demonstrationen. Um das zu durchschauen, braucht es viel Aufklärung. Die Netzwerke der Rechten müssen sichtbar, ihre Methoden aufgedeckt werden. Gerade jungen Menschen müssen dafür sensibilisiert werden. Denn sonst laufen sie ahnungslos in die Fallen der rechten Rattenfänger.

Mein Dank gilt daher den Herausgebern und Autoren dieses Buches, die einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung leisten. Ebenso danke ich all jenen Bürgern, die Zivilcourage zeigen und sich an die Seite der Angegriffenen stellen.

Ich bin zuversichtlich, dass wir mit dem Ende der Hygienemaßnahmen wieder viele echte Demokraten auf der Straße sehen werden. Die Demos von Fridays for Future werden ebenso wieder losgehen wie Demos gegen Rassismus und Antisemitismus und für die Demokratie. Das ist auch notwendig. Denn neben dem ökologischen Klimawandel brauchen wir auch einen gesellschaftlichen Klimawandel. Dafür sollten wir uns engagieren – mit maximalem Abstand nach rechts.

Anmerkung

1 Julia Bernstein, Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen. Weinheim 2020, S. 487

Virus 2.0

Wie die Pandemie den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht

Von Heike Kleffner und Matthias Meisner

Vor unseren Augen verändert das Coronavirus die Welt, unseren Alltag, unser Leben.

Die Begleiterscheinungen der Pandemie, Ohnmacht, Tage und Nächte voller Sorgen, Hilfslosigkeit – und auch Wut – sind zu universellen Erfahrungen geworden. Dennoch trifft das Virus keineswegs alle gleich: Vielmehr hat gerade die Pandemie die sozialen und ökonomischen Spaltungslinien vertieft, Privilegien und Ungleichheit in der Gesellschaft hier und international verstärkt und noch sichtbarer gemacht.

Auch die Reaktionen auf die Pandemie offenbaren gesellschaftliche und politische Spaltungen: Während die überwiegende Mehrheit mit Solidarität und Rücksichtnahme auf besonders Gefährdete im Alltag, in der Nachbarschaft, in der Kommune oder in sozialen Netzwerken achtet, hat sich seit Beginn der Pandemie eine lautstarke Minderheit zu einer Protestbewegung entwickelt, die tägliche Regelbrüche, unsolidarisches Verhalten gegenüber Risikogruppen und überbordenden Hass auf den Staat zum Prinzip erklärt hat.

Um die Gefahren, die von dieser Bewegung der Coronaleugnerinnen und Pandemieverharmloser für das Zusammenleben im demokratischen Rechtsstaat ausgehen, um ihre Netzwerke, ihre Ideologien und ihre Motive geht es in diesem Sammelband. Denn so sehr, wie die Pandemie auf absehbare Zeit unseren Alltag verändern wird, so groß ist die Gefahr, dass die zunehmende Radikalität der Leugnerbewegung und die Normalisierung von Verschwörungsnarrativen, Wissenschaftsfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus die Koordinaten politischen Handelns und gesellschaftlichen Zusammenlebens verschieben werden.

Im Fokus des Buches stehen aber auch die Angegriffenen, die Zielscheibe von Morddrohungen, Beleidigungen und Hetzkampagnen sind. Menschen, die wegen ihrer realen oder vermeintlichen Herkunft aus einem asiatischen Land von Nachbarn mit Desinfektionsmitteln besprüht, beim Einkaufen von Unbekannten beleidigt und bedroht werden. Journalistinnen, die vor den Fenstern ihrer Redaktionen mit einem Galgen konfrontiert sind, den Unbekannte errichtet haben, und die täglich Drohmails erhalten. Wissenschaftler, deren Forschung und Studien zur Pandemie diffamiert, diskreditiert und die auf Demonstrationen der Leugnerbewegung zur Fahndung ausgeschrieben werden. Politikerinnen, die die Fenster ihrer Wahlkreisbüros mit bruchsicherem Glas ausstatten und ständig mit Bedrohungen und gewalttätigen Angriffen rechnen müssen.

»Wer mit Rechtsradikalen, Neonazis, Faschisten, Antisemiten mitläuft, der hat keine Ausrede mehr«, sagt die Fernsehmoderatorin Dunja Hayali im Interview für dieses Buch.

Wir, Herausgeberin und Herausgeber dieses Buches, der Verlag und die rund 40 Autorinnen und Autoren, sind kein Bill-Gates-Fanclub, und kritische Berichterstattung über jedwedes Regierungshandeln gehört zu unserem Arbeitsalltag. Wir sind auch keineswegs einer Meinung über die richtigen Schritte zur Bekämpfung des Virus. Was uns eint, sind die Sorge um die Bedrohung der Demokratie auf der Straße und im Netz, die Verzweiflung über um sich greifenden Hass, die Sorge um die Auswirkungen der Hetze gegen Medienschaffende und Politikerinnen und Politiker, das Entsetzen über Brandanschläge etwa auf das Robert-Koch-Institut oder die Drohungen gegen Wissenschaftler wie Christian Drosten. Wir fürchten, die permanenten Grenzüberschreitungen beschädigen einen demokratischen Diskurs, normalisieren Menschenverachtung und Hass und werden durchlässig in Richtung eines neuen Terrorismus.

Dieses Buch soll nicht die vielen wichtigen und auch kritischen Stimmen ergänzen, die sich mit den politischen Maßnahmen und deren teilweise gravierenden sozialen, psychologischen, ökonomischen und kulturellen Folgen auseinandersetzen, die zur Bekämpfung der Pandemie getroffen wurden. Vielmehr wollen wir mit diesem Sammelband dafür sorgen, dass diese notwendige Auseinandersetzung den kritischen Mindestabstand wahrt – zu offenen Lügen, Desinformationen und Antisemitismus. Verschwörungserzählungen dürfen nicht länger als lediglich »umstritten« oder »kontrovers« normalisiert werden. Politischer Streit sollte auf zumutbaren »Fakten und Respekt« aufbauen, wie es auch die Publizistin und Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels Carolin Emcke im Februar 2021 angemahnt hat.

Christina Zacharias, eine Krankenpflegerin und Gewerkschafterin aus Karlsruhe, hat uns geschrieben: »Corona ist eine beängstigende Realität. Aber der Erkrankung kann man mit Logik beikommen.« Sie fragt: »Wie aber erreichen wir Menschen, die die Realität leugnen und sich querstellen, die mit ihrem Verhalten sich und andere gefährden? Diese Frage lässt mich hilflos zurück.«

Mit »Fehlender Mindestabstand« unternehmen wir den Versuch, diese Frage zu beantworten. Wir sehen in vielen der Protestierenden tatsächlich Coronaleugnerinnen und -leugner, weil es Menschen sind, die die Gefahren der Pandemie auf gefährliche Weise herunterspielen. »Querdenken« & Co. mag diese Zuschreibung nicht passen. Wir aber halten den Anspruch für vermessen, dort würden Menschen für Freiheitsrechte demonstrieren, bloß weil sie das Grundgesetz unterm Arm tragen. Wir sehen die Netzwerke der organisierten Maskenverweigerer und Impfgegnerinnen als bedrohlich und als eine potenzielle Gefahr für die gesamte Gesellschaft. Spätestens nach dem Neonazimord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) im Juni 2019, dem eine jahrelange extrem rechte Hetzkampagne in den sozialen Medien vorausgegangen war, müssen die Hass- und Drohkampag­nen aus der Coronaleugner- und -verharmloserbewegung bitterernst genommen werden. Wenn in Telegram-Gruppen mit 20 000 Beteiligten dazu aufgerufen wird, »für die spätere Aburteilung schwarze Listen« all derer anzulegen, die für »den ganzen Coronablödsinn verantwortlich« seien, oder mit Bezug auf den SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach unter dem Bild einer Maschinenpistole davon fantasiert wird, »Kann man diesen Menschen nicht entsorgen?«, werden potenzielle Ziele für Attentate und Angriffe markiert. Denn die Themen der Bewegung und ihrer öffentlichen und nichtöffentlichen Kanäle haben sich innerhalb weniger Monate verändert: Längst dominieren Tag-X-Szenarien vom gewaltsamen Umsturz und der »Bestrafung« der Verantwortlichen für eine vermeintliche »Coronadiktatur« oder den herbeifantasierten »Impfzwang« aus Politik, Wissenschaft und Medien. In einem diffusen »Wir« gegen »Die da oben« und der Vorstellung, dass die Pandemie von »oben« gesteuert würde, finden sich auch diejenigen ein, die von sich selbst behaupten, nicht rechts zu sein: Der Schulterschluss von Esoterikerinnen aus dem grün-bürgerlichen Milieu mit Reichsbürgern und militanten Neonazis gelingt über das Feindbild »Regierung« oder »Staat« und im Kern antisemitische Verschwörungsnarrative.

Die Manuskripte für dieses Buch sind rund um den Jahreswechsel 2020/2021 verfasst und zusammengetragen worden. Aus der Zeit dieses zweiten Lockdowns stammen folgende Momentaufnahmen:

Am 23. Dezember 2020 demonstrieren in Stuttgart Hunderte »Querdenker« gegen eine angeblich drohende »Zwangsimpfung« und eine »Coronadiktatur«. In Anlehnung an einen Slogan der Klimaaktivistinnen von Fridays for Future skandierten die Demonstrierenden: »Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns das Fest versaut.«

Am 5. Januar 2021 meldete das Robert-Koch-Institut, dass die Zahl der Menschen, die an Covid-19 gestorben waren, innerhalb eines Tages um 944 auf insgesamt 35 518 Tote seit Januar 2020 angestiegen waren. Die Zahl der offiziell bestätigten Infektionen kletterte um 11 897 auf 1 787 410, und in manchen Landkreisen in Sachsen, Thüringen und Bayern lag der Inzidenzwert zwischen 300 und knapp 500. Auf den am Rande ihrer Kapazitäten arbeitenden Intensivstationen der Krankenhäuser kämpften an diesem Tag über 5800 Menschen um ihr Leben. Kurzum: In Deutschland starben in den Wintermonaten 2020/2021 so viele Menschen an und mit Covid-19 wie nie zuvor.

Am 5. Januar 2021 berichtet der Journalist Robert Andreasch, der zum Autorenkreis dieses Buches gehört, dass im Mobilisierungskanal zu einer Coronaleugner-Demonstration in Nürnberg zu Aktionen am Wohnort von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) aufgerufen werde. Gleich zweimal sei daraufhin dessen private Anschrift veröffentlicht worden. Unter anderem hieß es: »Dieses A**** – heute zum Geburtstag hätten wir ihm die Hölle heiß machen sollen.« Und: »Isser denn morng daham? Dann auf!!!«

Am 6. Januar 2021 wird auf dem offiziellen Kanal der »Querdenken«-Bewegung Leipzig zu einem »Trumpmarsch« zum Leipziger US-Konsulat für denselben Nachmittag aufgerufen. Verantwortlich zeichnet ein »Donald-Trump-Fan-Club Leipzig«. Die »Querdenker« fordern: »Lasst alles stehen und liegen. (...) Wir sind auf dem Weg.« Am Abend desselben Tages findet der gewaltsame Angriff von Trump-Anhängern auf das Kapitol in Washington D.C. statt, um die formale Bestätigung des Ergebnisses der US-Präsidentschaftswahl zu verhindern – vier Monate, nachdem Teilnehmer der Leugnerproteste in Berlin die Treppe des Reichstagsgebäudes gestürmt hatten. Am Sturm auf das Kapitol waren auch zahlreiche Anhänger des Verschwörungskults von QAnon beteiligt. Die Anhängerinnen und Anhänger von QAnon haben sich längst auch in Deutschland breitgemacht, bei den Protesten gegen die Coronamaßnahmen sind ihre Plakate weithin sichtbar.

Am 10. Januar 2021 »besucht« eine Gruppe von etwa 30 Personen Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) an seinem Privatgrundstück im Zittauer Gebirge. Die Gruppe hat sich über einen der zahlreichen Telegram-Kanäle der Leugnerbewegung verabredet und gezielt um Informationen zur Anwesenheit des Ministerpräsidenten an seinem Zweitwohnsitz nachgefragt. Sie fangen ihn beim Schneeschippen ab und erzwingen einen »Dialog«. Einer der Demonstranten trägt ein Schild, auf dem er die Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronapandemie als »Völkermord« bezeichnet. An die Adresse von Kretschmer gerichtet heißt es: »Wer Völkermord betreibt, hat das eigene Lebensrecht verwirkt! Rücktritt und Verhaftung sofort!« Nach etwa 20 Minuten bricht der CDU-Politiker die Unterhaltung ab, als eine Frau demonstrativ ein Halstuch in den Farben der Reichskriegsflagge über das Gesicht gezogen hat und sagt: »Mit einer Reichsbürger-­Maske rennen Sie hier durch die Gegend und finden das gut?«

Am 11. Januar 2021 kritisiert die frühere DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, die von 1990 bis 2005 zunächst für Bündnis 90/Die Grünen und später für die CDU als Abgeordnete im Bundestag war, die von den Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Bodo Ramelow (Linke) geplanten Verschärfungen der Coronamaßnahmen in Bayern und Thüringen in ihrem Blog. Sie schreibt: »Wer sich je gefragt hat, wie Totalitarismus entstehen kann, der muss nur genau hinsehen, was sich vor unseren Augen abspielt.« Das ganze Land habe mittlerweile Hausarrest, dessen Ende nicht abzusehen sei. »Diese Maßnahme ist, mit Ausnahme von Nordkorea, beispiellos.« Die Gleichsetzung von parlamentarischen Demokratien mit kommunistischen Staaten, allen voran die DDR, um jede egoistische Maskenverweigerung zum »Widerstand« gegen ein totalitäres Regime zu adeln, ist eine beliebte Figur von rechtsaußen und wird für den Sammelband von der Soziologin ­Katharina Warda kritisch eingeordnet.

Am 14. und 15. Januar 2021 versammeln sich in der Bar Scotch und Sofa in Berlin-Prenzlauer Berg an zwei Abenden in Folge mehrere Dutzend Coronaverharmloserinnen und -verharmloser zu einer Partei­gründung unter dem Motto »Team Freiheit«. Der Tagesspiegel-Journalist Sebastian Leber berichtet über den ersten Abend: »Anwesend waren auch ein szenebekannter Ufo-Forscher sowie eine Aktivistin, die unter Coronaleugner:innen als Rechtsanwältin Viviane Fischer, in der Berliner Öffentlichkeit jedoch als Hutmacherin Rike Feurstein bekannt ist.« Die Initiatoren und Initiatorinnen wie Viviane Fischer hatten im Juli 2020 einen sogenannten »Corona-Ausschuss« mit dem selbsterklärten Ziel einer »Beweisaufnahme zur Coronakrise« gegründet und behaupten unter anderem, eine Überlastung des Gesundheitssystems sei »nicht auch nur annähernd eingetreten«. Die Polizei löste beide Versammlungen auf. Sie ermittelte gegen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter anderem wegen Verstoßes gegen die Infektionsschutzverordnung und gegen das Versammlungsgesetz.

Am 16. Januar 2021 beginnt in Wien eine Serie neuer Massendemonstrationen von Coronaleugnerinnen und -leugnern. Dort heizt unter anderem der bayerische AfD-Bundestagsabgeordnete Hansjörg Müller die Szene an: mit einer Mischung aus extrem rechten Weltuntergangsfantasien, Hetze gegen eine vermeintliche »Krake aus 10 000 Entscheidern weltweit, die dunkle Seite der Macht« und einer Aufforderung zur »Vernetzung von Parlament und Straße«. An dem Protest gegen die Schutzmaßnahmen der österreichischen Regierung beteiligen sich insgesamt mehr als 10 000 Menschen. Unter den Demonstranten befinden sich auch der zurückgetretene Ex-Vizekanzler und frühere FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache sowie bekannte Aktivisten aus der österreichischen und deutschen Neonaziszene. Am Rande werden Journalisten gezielt angegriffen und bedroht.

Am 17. Januar 2021 wird bekannt, dass das Nobel-Rondell im Göttinger Stadtfriedhof erneut geschändet wurde. Die Gedenktafeln für die acht auf dem Friedhof bestatteten Nobelpreisträger wie etwa dem Physiker Max Planck werden beschmiert und die Aufschrift »Alles Lüge – Q« angebracht – ein expliziter Hinweis auf die rechte Verschwörungsbewegung QAnon. Der Historiker Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, schreibt dazu auf Twitter: »Eine militante Wissenschaftsfeindlichkeit, die fast immer auch antisemitisch aufgeladen ist, ist der rote Faden, der sich von der ­Holocaustleugnung über die Leugnung des Klimawandels bis zu den Coronaleugner*innen zieht. Und #QAnon ist #Antisemitismus pur.«

Am 18. Januar 2021 berichtet die Sächsische Zeitung, dass der Vorsitzende des Kreiselternrates Bautzen, Marcus Fuchs, sein Amt lediglich ruhen lassen muss und von den anderen Elternvertretern nicht zum Rücktritt gezwungen wird. Fuchs, Organisator und Redner bei »Querdenken-351«-Protesten in Dresden, hatte auf seiner Facebook-Seite »Corona-Faschismus« und eine »Panik-Pandemie« behauptet und falsche Informationen über die Todesursache einer 13-Jährigen verbreitet, die im September 2020 in einem Schulbus zusammengebrochen und in einem Karlsruher Krankenhaus gestorben war. Unter anderem die Berliner AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit ­Malsack-Winkemann hatte ein Foto eines Kindes mit der Behauptung »Erstes Todes­opfer durch Maske?« auf Facebook gepostet. Die Staatsanwaltschaft Landau gab angesichts der rasanten Verbreitung der Behauptung, der Tod der Schülerin stehe in Verbindung mit dem Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes, schließlich eine rechtsmedizinische Untersuchung in Auftrag, die den Vorwurf als haltlos entkräftete. Dennoch hatte der Bautzener Elternvertreter in einem offenen Brief an die sächsische Staatsregierung im Herbst 2020 ein Maskenverbot für Schülerinnen und Schüler gefordert.

Diese Aufzählung ist bei weitem nicht vollständig. Die Wut der »besorgten Bürger« ist auch ein Jahr nach Beginn der Coronakrise nicht abgeebbt, im Gegenteil. Verschwörungsideologien grassieren, Zweifel an den Corona-Todeszahlen werden in rechten Blogs und anderswo gesät. Ein Virus 2.0 frisst sich in unsere Gesellschaft und breitet sich immer weiter aus – obwohl die Inzidenzwerte täglich transparent und für alle nachvollziehbar veröffentlicht werden, obwohl Angehörige von Verstorbenen und Menschen, die unter den Nebenwirkungen einer Coronaerkrankung, die längst als Long-Covid-Symptome Medizinerinnen und Patienten gleichermaßen beunruhigen, ihre leidvollen Erfahrungen in den sozialen Netzwerken teilen, und obwohl ein Blick über den Tellerand klug machen müsste. Der frühere CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz sagt angesichts der Faktenresistenz der Leugnerbewegung: »Wer nach dem Motto ›Die Erde ist eine Scheibe‹ über Corona spricht, will berechtigte Fragen zur Pandemie in grundsätzliches Misstrauen gegen unsere Demokratie ummünzen. Kein Wunder, dass die ›Querdenker*innen‹ inzwischen wie Marionetten an den Drähten der Rechtsextremisten hängen.«

Besonders beunruhigend ist es, wenn der Eindruck entsteht, Polizei und Justiz würden Demonstrationen und Aufmärschen selbsternannter »Coronarebellen« hilflos oder sogar mit Sympathie begegnen. Wie weit einzelne Hüterinnen des demokratischen Rechtsstaats offenbar gehen, wenn sie der »Querdenken«-Bewegung nahestehen, zeigt das Beispiel einer Berliner Staatsanwältin, die nach Recherchen des Tagesspiegels im Justizbetrieb für die Verfolgung jugendlicher Straftäter zuständig ist und an Demonstrationen der Leugnerbewegung teilnahm. Fotoaufnahmen zeigen die Strafverfolgerin beim Aufmarsch am 29. August 2020 in Berlin, als mehrere Personen aus dem rechten Spektrum versuchen, eine Polizeikette zu durchbrechen. Mit dabei ist auch jene Staatsanwältin, die in sozialen Netzwerken Posts geteilt hatte, in denen die schwarz-weiß-rote Reichsflagge als »Symbol für einen Friedensvertrag« bezeichnet wurde. Für diesen Sammelband beschreiben Aiko Kempen und Robert Andreasch, wie einzelne Polizeibeamte in der Leugnerbewegung prominent geworden sind – ohne Mindestabstand zur extremen Rechten.

Alle die oben skizzierten Entwicklungen zeichneten sich längst ab, als wir im Sommer 2020 mit den Recherchen für den Sammelband begannen. Eigentlich sogar schon bald nachdem die Nachrichtenagentur dpa am 31. Dezember 2019 meldete: »Mysteriöse Lungenkrankheit in Zentralchina ausgebrochen«. Innerhalb weniger Wochen erfuhr antiasiatischer Rassismus, der sich in tödlichen rechtsterroristischen Anschlägen gegen vietnamesische Boat People in den 1980er Jahren und in den Wende- und Baseballschlägerjahren in Pogromen gegen ehemalige Vertragsarbeiter der DDR gezeigt hat, eine schreckliche Aktualisierung: Viele Menschen mit asiatischen Wurzeln wurden zu Sündenböcken für die Ausbreitung des Virus in Europa erklärt und erlebten damit, wie die Leipziger Journalistin Nhi Le in einem Interview für dieses Buch dokumentiert, mehr Rassismus und Gewalt als je zuvor. Kurze Zeit darauf nahm der Coronarassismus auch Geflüchtete ins Visier, die als potenzielle Verbreiter der Seuche verdächtigt wurden: seien es jene in den Flüchtlingsheimen in der thüringischen Provinz oder jene, die in den Elendslagern auf den griechischen Inseln auf eine Evakuierung hoffen. Mit rassistischen Zuschreibungen gegen Muslime von Berlin-Neukölln bis Offenbach und antiziganistischen Ressentiments gegen Sinti und Roma in vielen mittel- und osteuropäischen Ländern ebenso wie in Deutschland und Österreich wurden Minderheiten gezielt stigmatisiert und zur Gefahr für eine Mehrheitsgesellschaft erklärt. Markus N. Beeko, Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International, sagt: »In der Coronakrise haben die über Jahrhunderte bei Seuchen gepflegten Rassismusrituale nun wieder Konjunktur.«

Dass die vermeintlich Schuldigen für Infektionskrankheiten und Pandemien in bestimmten Bevölkerungsgruppen gesucht werden, hat eine lange, mörderische Kontinuität. Eine besonders bedrohliche Facette ist der mit der Pandemie einhergehende offene Antisemitismus. Der Medizinhistoriker Heiner Fangerau, der sich in einem Interview für dieses Buch mit der Rolle der Wissenschaft auseinandersetzt, sagt: »Schon immer ist nach dem Ursprung einer Seuche gesucht und dabei der Blick auf ›die Anderen‹ gerichtet worden – auf jene, die von außen kommen. Prominentestes Beispiel sind Judenpogrome während der Großen Pest im 14. Jahrhundert, die mit der Begründung verübt wurden, Juden hätten Brunnen verseucht.« Der mittelalterliche Aberglaube unterscheidet sich von der neuzeitlichen Suche nach Brunnenvergiftern lediglich durch die Instrumente und Verbreitungswege. Im November 2020 sagte Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, er sehe Judenhass als zentrales Bindeglied der Coronaproteste. Klein empörte sich darüber, dass sich vermeintliche Opfer von Coronamaßnahmen der Regierung mit Anne Frank oder Sophie Scholl vergleichen. Mit solchen Verharmlosungen des Nationalsozialismus würden die tatsächlichen Opfer verhöhnt, erklärte Klein. Wir sind dankbar, dass Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, das Geleitwort für dieses Buch geschrieben und diese Warnungen unterstrichen hat. Schuster beobachtet, dass das alte antisemitische Narrativ der jüdischen Weltverschwörung heute von »Coronarebellen« der aktuellen Situation angepasst wird.

Wie sehr die Zuspitzung von Antisemitismus und Rassismus unter der Pandemie den Alltag vieler Menschen beeinflusst, zeigt sich längst auch in der Polizeilichen Kriminalstatistik. Neun Menschen mit migrantischen Wurzeln ermordete ein Anhänger von Verschwörungsnarrativen in Hanau am 19. Februar 2020 zu Beginn der ersten Welle der Pandemie aus mörderischem Rassismus; mehr als 23 000 rechte Straftaten registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) in einer vorläufigen Bilanz auf Anfrage der Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) für das Jahr 2020, darunter waren auch täglich sechs antisemitische Straftaten – so viele wie zuletzt zur Jahrtausendwende. Dass diese vorläufigen Zahlen lediglich einen Ausschnitt der Realität von Hasskriminalität widerspiegeln, belegen unter anderem die Forschungen des Kriminalistischen Instituts des BKA und die unabhängigen Statistiken der Opferberatungsstellen. Und die Gefahr wächst für diejenigen, die tagaus, tagein in den Kanälen der Leugnerbewegung als vermeintlich »Schuldige« markiert werden. Längst warnen unabhängige Expertinnen ebenso wie das BKA davor, dass die Zunahme von Verschwörungsnarrativen und damit einhergehenden emotionalisierten Feindbildern die Bereitschaft erhöhen kann, dass Gewalt gegen Vertreterinnen des verhassten »Systems« oder Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten verübt wird.

Sichtbar geworden ist der zuweilen wahnsinnige Fanatismus unter Protestierenden, die doch angeblich nur »Coronaskeptiker« sein möchten, auch für alle diejenigen, die einen weiten Bogen um die Kanäle der Leugner und Verharmloserinnen auf YouTube, Telegram, Facebook und in anderen sozialen Netzwerken machen, bei den zahlreichen Aufmärschen von »Querdenken« & Co. ab dem Frühsommer 2020. Die Risiken und Nebenwirkungen dieser Demonstrationen und Kundgebungen, bei denen bis zu mehrere zehntausend Menschen ohne Abstand und Masken auf engen Raum in Klein- und Großstädten unterwegs waren, betreffen keineswegs nur den politischen Raum, sondern offenbar auch unmittelbar das Infektionsgeschehen. Forscherinnen des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Mannheim und der Humboldt-Universität zu Berlin haben in einer Studie errechnet, dass durch eine konsequente Absage der Großdemonstrationen am 7. November in Leipzig und am 18. November 2020 in Berlin bis Weihnachten 2020 zwischen 16 000 und 21 000 Infektionen mit dem Coronavirus hätten verhindert werden können. Für ihre Studie hatten die Wissenschaftler drei Faktoren berücksichtigt: Der Anteil der AfD-Wählerschaft in einer Region, wo die Partei die Gefahr der Pandemie bagatellisiert, wurde verglichen mit der Masern-Impfquote auf Kreisebene und mit den Bushaltestellen des Honk for Hope-Netzwerks aus der Leugnerbewegung. Mit den Bussen des Netzwerks des selbsternannten Coronakritikers Thomas Kaden fuhren viele Teilnehmer der »Querdenken«-Veranstaltungen, um zu Kundgebungen und Demonstrationen in ganz Deutschland zu kommen. Das Netzwerk hat Haltestellen u. a. in vielen kleineren Städten mit einem regionalen Schwerpunkt im Süden von Sachsen, im Norden Bayerns und im Osten Thüringens. Das Ergebnis: Die Sieben-Tages-Inzidenz ist zehn bis zwölf Tage nach den beiden Demonstrationen in Leipzig und Berlin im November 2020 deutlich stärker in Landkreisen gestiegen, in denen sich die Städte mit Haltestellen des Honk for Hope-Netzwerks befinden. Im Vergleich zu Landkreisen ohne Haltestellen lag sie dort bis Weihnachten 2020 im Schnitt etwa um 40 höher. Bei den Demonstrationen habe es sich um »Superspreader-Events« gehandelt, lautet die Schlussfolgerung der im Februar 2021 veröffentlichten Studie mit dem Titel »Spreading the Disease: Protest in Times of Pandemics«.

Die Bedeutung der Demonstrationen und Aufmärsche für den Einfluss und die Präsenz der extremen Rechten in der Leugnerbewegung beschreiben die Politikwissenschaftler Fabian Virchow und Alexander Häusler von der Hochschule Düsseldorf, nachdem sie die Kundgebungen in mindestens 77 Städten in Nordrhein-Westfalen seit Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 sowie eine Reihe von Telegram-Kanälen aus dem Spektrum der Protestbewegung untersucht hatten. Sie kommen zu dem Schluss, dass aus einer Vielzahl zunächst dezentral auftretender Proteste »eine soziale Bewegung entstanden« sei, die wie alle sozialen Bewegungen auch »eine gewisse Heterogenität« aufweise. An den Protesten beteiligten sich ab dem Frühjahr 2020 eine Vielzahl an Gruppen und Menschen, die hinsichtlich der Organisation des Alltags, der Einschränkung von Grundrechten und negativer ökonomischer Auswirkungen besorgt waren. Daraus sei eine »Bewegung hervorgegangen, die Angehörige verschiedener sozialer Milieus zusammengeführt« habe. Unter den Tausenden von Protestaktionen und Versammlungen, die es seit März 2020 gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gab, wurde lediglich eine geringe Zahl von der AfD sowie von klassischen Akteuren der extremen Rechten wie der NPD, den Neonazi-Kleinstparteien Der III. Weg und Die Rechte organisiert. Diese nutzten »aber die ihnen gebotenen Möglichkeiten, in schriftlicher oder mündlicher Form Werbung in eigener Sache zu machen, und prägten so die Proteste aktiv mit«. Die Forscher warnen, dass sich im Jahr 2020 Veränderungen im Straßenprotest und in sozialen Netzwerken bei rechts­affinen Protestmilieus abzeichneten, »die als neue Formen von milieuübergreifender Radikalisierung interpretiert werden müssen«. Diese Proteste zeichneten sich durch eine heterogene Zusammensetzung aus, bei der unterschiedliche und in ihrem sonstigen Lebensalltag eher getrennt voneinander agierende soziale und kulturelle Milieus weit über den organisierten rechtsextremen Rand hinaus aktionsorientiert zusammengefunden haben. Ein ­erheblicher Teil von ihnen beanspruche, sich der Zuordnung in einem politischen Koordinatensystem von rechts und links entziehen zu wollen. Vereint seien sie jedoch unter anderem in einem vergleichsweise geringen Vertrauen in gesellschaftliche und staatliche Institutionen. Und sie eint ein merkwürdiges Verständnis von »Liberalität«, das ein ­hohes Maß an Toleranz für extreme Rechte, ihre Slogans, ihre Symbolik und ihre Ideologie einschließt. Die Sozialwissenschaftler der Hochschule Düsseldorf verweisen dafür unter anderem auf eine bewegungsinterne Umfrage zum Mitführen von schwarz-weiß-roten Reichsfahnen bei Demonstrationen und Kundgebungen. In einer Abstimmung der Telegram-Gruppe »Corona-Rebellen Düsseldorf« antworteten auf die Frage »Wie stehe ich zu der schwarz-weiß-roten Fahne auf unseren Demos?« 26 Prozent mit der Aussage »Es stört mich«, 14 Prozent mit »Die stört mich nicht/Ist mir egal/Hab da keine Ahnung« sowie 60 Prozent mit der Aussage: »Ich möchte, dass jeder die Freiheit hat, selber zu entscheiden«.

Ungleich drastischer brachte auf einer Kundgebung im November 2020 in Kempten ein Redner diese Haltung zum Ausdruck: »Ich habe keine Ahnung, ob ihr jetzt gleich nach Hause fahrt und eure Frauen oder Männer verprügelt, ob ihr gewalttätig seid, ob ihr euch kinderpornografisches Material anschaut oder ob ihr Hitlerkreuze an die Wände malt. Das ist mir auch völlig schnuppe. Ihr seid hier, weil wir gemeinsam für eine Sache stehen. Und das ist für unsere Freiheit und für unsere Zukunft.«

Bei den ersten »Hygienedemos« im Frühjahr 2020 ­vermischten »Querfront«-Aktivisten, ähnlich wie bei der ­Mahnwachenbewegung Jahre zuvor, rechte und linke Positionen, bis schließlich vielerorts die extreme Rechte doch die Regie übernahm. Der thüringische FDP-­Vorsitzende Thomas Kemmerich, kurzzeitig Ministerpräsident von AfD-Gnaden, trat im Mai 2020 bei einem Coronaprotest in Gera auf, bei dem im Hintergrund Reichsbürger mitmischten. Im November 2020 deklarierten »Querdenker« ihren Protest auf der Münchener Theresienwiese zum Gottesdienst und versuchten so die Auflagen der Behörden auszuhebeln. Bei der »Querdenken«-Großdemonstration im selben Monat in Leipzig überwanden Protestierende, unter ihnen viele Neonazis, die Polizeisperren und marschierten über den Ring. Sie skandierten, wie bei den Montagsdemonstrationen 1989: »Wir sind das Volk«.

Und vielleicht ist auch das fehlender Mindestabstand: Im Juni 2020 traf Sachsens Ministerpräsident Kretschmer Pandemierelativierer wie den von der Süddeutschen Zeitung als »Prof. Dr. Verschwörung« bezeichneten niedersächsischen Finanzwissenschaftler Stefan Homburg und den emeritierten Mikrobiologen und Infektionsepidemiologe Sucharit Bhakdi zum Gespräch – die nutzten die Begegnung mit dem Regierungschef anschließend für ihre Propaganda.

Eine besondere Nähe zu selbsternannten »Coronarebellen« sucht die AfD. Sie betrachtet sich quasi als parlamentarischer Arm der Bewegung. Der Bautzener Bundestagsabgeordnete Karsten Hilse trat im November 2020 gar mit »Querdenken«-Shirt im Parlament auf, kurz danach luden Abgeordnete der Partei rechte YouTube-Aktivistinnen ins Parlament ein, die dort demokratische Parlamentarier bedrängten. Schon im April 2020 stellte sich im sächsischen Pirna ein Polizist, zugleich AfD-Kommunalpolitiker, als Versammlungsleiter bei einem Coronaprotest zur Verfügung. Er wurde vom Dienst suspendiert, bei den Wahlen 2021 will er für die AfD in den Bundestag einziehen.

Umfragen zufolge ist die Impfbereitschaft unter AfD-Anhängerinnen und -Anhängern deutlich geringer als im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Ob die Rolle als Anwalt der Coronaleugner der AfD letztlich jedoch an den Wahlurnen nutzt, ist noch offen. Ein Test werden die Landtagswahlen 2021, unter anderem in den AfD-Hochburgen Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie die Bundestagswahl sein. Der Politikberater Johannes Hillje sagte im Januar 2021 in einem MDR-Interview: »Corona eignet sich für die AfD nur bedingt als starkes Mobilisierungsthema. Die AfD wird es sicher nutzen, um gegen die Regierung zu schießen. Aber ihre Anhängerschaft ist bei Fragen wie ›Wie gefährlich ist dieser Virus?‹, ›Sollen Maßnahmen ergriffen werden oder nicht?‹ viel gespaltener, als sich die Partei das wünscht.«

Was aber nach einem Jahr, in dem trotz einer kurzen Unterbrechung durch die Black-Lives-Matter-Bewegung im Sommer 2020 nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA überwiegend rechtsoffene Proteste das Straßenbild geprägt haben, eindeutig ist: Teile der rechtsradikalen Szene von der NPD bis zu neonazistischen Kleinparteien haben durch die Coronaproteste eine Aufwertung erfahren, weil die bürgerliche Mitte den notwendigen Mindestabstand nicht einhielt – ob nun auf dem Augustusplatz in Leipzig, am Brandenburger Tor in Berlin, auf der Theresienwiese in München oder dem Cannstatter Wasen in Stuttgart. Diese Netzwerke werden unter anderem beschrieben von Julius Geiler, Konrad Litschko, ­Karolin Schwarz, Andreas Speit, Tilman Steffen und Volker Weiß. Die Expertinnen Pia Lamberty und Katharina Nocun erläutern, wie das Pandemiejahr 2020 Verschwörungsgläubigen weiteren Auftrieb gegeben hat.

Verschwörungsnarrative seien »eine Art Einstiegsdroge für ein antimodernes Weltbild«, sagen die Autoren der Leipziger Autoritarismusstudie, Oliver Decker und Elmar Brähler, die seit vielen Jahren mit ihren Befragungen den Wasserstand antidemokratischen Denkens und manifester rechtsextremer Einstellungen in Deutschland messen. »Wie weit verbreitet die antidemokratische Orientierung in der Gesellschaft ist, auch wenn die Menschen keiner rechtsextremen Partei oder Organisation angehören«, zeige sich unter anderem bei den sogenannten Hygienedemos gegen die staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland ist dabei offensichtlich: Die Forscher sehen bei der Hälfte der Ostdeutschen (51 Prozent) eine »Verschwörungsmentalität«, im Westen sind es allerdings auch mit 35 Prozent mehr als ein Drittel der Befragten. Knapp die Hälfte der über 2500 Studienteilnehmerinnen in Ost- und Westdeutschland glaubt, dass eine namenlose, aber auf jeden Fall profitorientierte Elite die Gefahren der Pandemie aufgebauscht hat – zum eigenen Vorteil. Fast zwei Drittel gehen davon aus, dass die »Wahrheit über Corona« nie aufgeklärt wird.

Im Detail stimmten der Aussage »Die Coronakrise wurde so großgeredet, damit einige wenige davon profitieren können«, 33 Prozent (»stark ausgeprägt«) sowie 15 Prozent (»ausgeprägt«) der Befragten zu. Noch mehr Zustimmung, von 48 Prozent der Befragten, erhielt die Aussage »Die Hintergründe der Coronapandemie werden nie ans Licht der Öffentlichkeit kommen« (»stark ausgeprägt« sowie knapp 15 Prozent »ausgeprägt«).

Dabei geht es keineswegs darum, Fragen und Kritik zur Verhältnismäßigkeit von staatlichen Maßnahmen oder den Gefahren einer Instrumentalisierung der Pandemie abzuwerten oder zu delegitimieren. Die Gefahr entsteht, so die Forscher aus Leipzig, wenn immer mehr Menschen glauben, es seien »verschiedenste geheime Organisationen am Werk, die aus dem Hintergrund das Geschehen lenken würden« (...) »Während die einen eine ›Weltregierung‹ imaginieren, die einen ›Bevölkerungsaustausch‹ vorbereitet, sind für andere die ›Pharmalobby‹ oder gleich ganz offen die ›jüdischen Milliardäre‹ verantwortlich für die Pandemie.«

Dass fehlender Mindestabstand auch international Protestbewegungen prägt, beschreiben für diesen Sammelband eine Reihe von Expertinnen und Journalisten, die schon lange auch die globalen Netzwerke der extremen Rechten und »White Supremacy«-Bewegung untersuchen, wie beispielsweise Heidi Beirich, die 20 Jahre lang das Rechercheteam des renommierten Southern Poverty Law Center (SPLC) in den USA leitete. Sie nimmt die Verschwörungsideologen von QAnon und deren Allianz mit dem Trump-Regime auseinander, der französische Journalist Nicolas Hénin erklärt die Allianz von Gelbwesten und Coronaleugnern, der Schriftsteller Jaroslav Rudiš beschreibt den Alltag der Tschechinnen und Tschechen unter der Pandemie. Und Markus Sulzbacher von der österreichischen Tageszeitung Der Standard berichtet über die stark von Rechtsradikalen dominierte Szene in Österreich.

Dass nur eine internationale Perspektive und Solidarität mit den Staaten des globalen Südens eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung möglich machen, daran erinnert schließlich Andreas Wulf von medico international, deren Partner in aller Welt vor Ort mit den gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie, den sozialen Folgen der Gegenmaßnahmen und dem ungleichen Zugang zu Impfstoffen konfrontiert sind. Vor dem Hintergrund der fatalen Wirkung von Impfnationalismus und der Verweigerung der Patentfreigabe für die Impfstoffe fordert er eine kritische Auseinandersetzung mit der staatlichen Gesundheitspolitik und den Gesundheitsmaßnahmen. Sein Beitrag – und die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung ebenso wie die Fridays-for-Future-Bewegung – erinnern uns daran, dass auch in im Wortsinn verrückten Zeiten Kritik und Protest mit Mindestabstand zu Ideologien der extremen Rechten selbstverständlich und für jede Demokratie notwendig sind – ebenso wie Solidarität und Menschenrechte für alle.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren, unserem Verlag, unserem Lektor Patrick Oelze und seiner Kollegin Miriam Eisleb sowie Isabelle Püttmann, die bei Herder die Bereiche Presse und Veranstaltungen verantwortet. Wir bedanken uns bei den Rechtsanwälten Björn ­Elberling und Alexander Hoffmann für die sorgfältige juristische Prüfung der Beiträge, bei Lilian-Astrid Geese, Sigrid Irimia und Dora Meisner für die Übersetzung von Texten aus dem Französischen und Englischen und beim Zentrum Liberale Moderne für die Unterstützung des Projekts. Danke auch an unsere Familien, Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen für die wichtigen Hinweise ebenso wie für kontroverse Diskussionen, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre. Ganz besonders danken wollen wir all denjenigen aus der Zivilgesellschaft, die, trotz oftmals massiver Anfeindungen mit ihrem wachsamen Blick und wichtigen Beobachtungen täglich aufs Neue die demokratischen Grundwerte verteidigen. Wir wünschen eine anregende Lektüre und freuen uns über – auch kritische – Reaktionen. Liebe Lesende, bleiben Sie gesund!

Berlin, im Februar 2021

I. Schlaglichter: Von Stuttgart bis Washington, D.C.

Wir können alles außer impfen

Warum »Querdenken« eine Stuttgarter Vorwahl hat

Von Dietrich Krauss

Als im Frühjahr ausgerechnet im Coronahotspot Baden-Württemberg der Pandemieprotest erblühte und sich in Stuttgart Zigtausende zu »Querdenken«-Demos versammelten, war die Ratlosigkeit zunächst groß. Dass man sich gerade in der Heimat des Sauberkeitsfimmels an Hygienemaßnahmen stört, ist aber kein Zufall: Schließlich schreckt die Protestierer weniger das Virus als die Aussicht, eines Tages davor geschützt zu werden, und diese Impfskepsis fällt im Südwesten auch deshalb auf so fruchtbaren Boden, weil sie hier seit langem biologisch-dynamisch gedüngt wird – von einer überaus einflussreichen anthroposophischen Bewegung.

Die Panik vor dem Pieks ist dabei so alt wie die Geschichte des Impfens selbst. Die Parallelen zu den Protesten gegen den Pockenschutz vor 150 Jahren sind frappierend: Die schrillen Impftiraden Ken Jebsens beispielsweise, der bei einem der »Querdenken«-Aufmärsche in Stuttgart als Stargast sprach, gleichen bis in die Wortwahl dem Ahnherrn der deutschen Impfkritik, Hugo Wegener. Der Herausgeber der Zeitschrift Die Impffrage warnte vor mehr als 100 Jahren davor, Kindern gegen den Willen der Eltern »Gift in die Blutbahn« zu jagen. In seinen populären Büchern sammelte er Berichte über angebliche Pocken-Impf­opfer mit dem erklärten Ziel, Mütter in Angst und Schrecken zu versetzen. Der Frankfurter Ingenieur war Teil einer breiten, vor allem von Laien getragenen Bewegung, die in Verbänden mit Hunderttausenden Mitgliederinnen organisiert war.1

1798 war es dem britischen Arzt Bruce Jenner erstmals gelungen, Kinder durch die Injektion von Kuhpocken vor der gefährlichen Infektionskrankheit zu schützen. Die medizinische Revolution stieß trotz ihres Erfolges auf große Skepsis. Obwohl im 19. Jahrhundert noch bis zu einem Fünftel der Kinder an Pocken starben und die Epidemie in Deutschland zu Beginn des Kaiserreiches über 180 000 Menschenleben forderte, gab es anhaltenden Widerstand gegen die Impfpflicht, mit der Reichskanzler Bismarck dem Virus 1874 zu Leibe rückte. Ähnlich wie in England, wo Hunderttausende gegen Impfschutz demonstrierten, versuchte man mit Petitionen Druck auf das Parlament auszuüben und mit internationalen Kongressen die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

An diese Tradition wird in Stuttgart bereits seit längerer Zeit wieder angeknüpft. Bereits zwölfmal traf sich hier die Crème de la Crème der Impfkritik zum Stuttgarter Impfsymposium. Die medizinische Subkultur tagt weitgehend ohne kritische Begleitung der Medien, scheint aber unter dem Radar ihre Wirkung zu entfalten. Nirgendwo in Deutschland ist die Impfquote niedriger als in Baden-Württemberg. Besonders bei der Masernimpfung liegt das Land mit 89,7 Prozent deutlich unter der von der WHO empfohlenen Rate von 95 Prozent.

Das impfkritische Bündnis der Kaiserzeit ist der von Stuttgart aus geführten »sozialliberal-nationalen« Allianz der Coronaproteste zum Verwechseln ähnlich: Wie der als »Coronarebell« gefeierte Wolfgang Wodarg lehnten auch damals einzelne sozialdemokratische Gesundheitspolitiker Impfungen als Symptombekämpfung ab. Stattdessen müsse man die eigentlichen Ursachen der Krankheit wie die Armut und die ungesunden Lebensverhältnisse der Stadtbevölkerung in den Blick nehmen. Diese Sozialpolitiker waren schon damals im Bund mit liberalen Impfkritikern, die in der Impfpflicht einen Angriff auf die Freiheit der Bürger sahen. Heute ist der liberale Wirtschaftsprofessor Stefan Homburg einer der lautesten Kritiker des Lockdowns. Schon im 19. Jahrhundert bekamen die Impfkritiker Unterstützung von ganz rechts. Der berüchtigte Antisemit und Vordenker der nationalsozialistischen Rassenlehre Eugen Dühring behauptete, das Impfen sei ein Aberglaube, der von jüdischen Ärzten geschürt werde, um sich zu bereichern. Heute unterstellt man dies Bill Gates.

Die weitaus stärkste Fraktion der Impfgegner bildete die Lebensreformbewegung, die unter dem Motto »Zurück zur Natur« einen radikalen Bruch mit der Lebensweise der autoritären wilhelminischen Industriegesellschaft propagierte. Die an Verstädterung, Armutsmigration und Massenkultur »erkrankte« Gesellschaft sollte an und mit der Natur geheilt werden. Mit Freikörperkult und Vegetarismus, Gartenstädten und alternativer Medizin. Die modernen Arzneien heißen Luft, Sonne, Wasser und giftfreie Diät, schrieb Heinrich Molenaar, der Generalsekretär des Impfgegnerbundes, unter Rückgriff auf die Rezepte der Lebensreformer. Im Impfen verdichteten sich für die Lebensreformer alle Probleme moderner ungesunder Lebensweise. Ein gesunder Körper werde mit Erregern vergiftet, was eine natürliche Immunisierung verhindere und Hygiene beziehungsweise gesunde Lebensweise überflüssig mache.

Doch die Natur taugt nur dann als Richtschnur für ein gesundes und richtiges Leben, wenn sie radikal romantisiert wird. Dass sie in Wahrheit ihre menschlichen Mitbewohnerinnen seit jeher mitleidlos mit tödlichen Krankheiten überzieht, mussten die zivilisationsmüden Lebensreformer konsequent ausblenden. Nüchtern betrachtet, würde die Orientierung an natürlichen Lebensweisen zu einem brutalen Überlebenskampf führen. Statt Streichelzoo Survival of the fittest.

Nicht umsonst inspirierten die medizinischen Ideen der Lebensreformerinnen nicht nur alternativ-grüne Strömungen, sondern erfreuten sich auch bei den Nationalsozialisten großer Beliebtheit. Ihre Naturverherrlichung bot hervorragende Anknüpfungspunkte für die NS-Rassentheorie und ihrer These von natürlicher Auslese. Kneippianer, Homöopathen und Anthroposophen wurden so zeitweilig in der Arbeitsgemeinschaft Neue deutsche Heilkunde zusammengeführt mit dem Ziel einer neuen Synthese zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde.

Heute sind die Grünen die natürliche Heimat aller Anhänger alternativer Heilmethoden, was politischen Gegnern immer wieder Anlass für Sticheleien gibt, vor allem angesichts der niedrigen Impfquote im grün regierten Südwesten. Doch selten gerät dabei der »Elephant in the room« in den Fokus: die einflussreiche Anthroposophie. Die okkulte Lehre Rudolf ­Steiners ist direkt aus der Bewegung der Lebensreformer hervorgegangen und verspricht bis heute ihrer Kundschaft eine andere, irgendwie natür­lichere Lebensweise.

Seit vor 100 Jahren dort die erste anthroposophische Waldorfschule gegründet wurde, gilt Stuttgart als so etwas wie die Hauptstadt der eurythmischen Bewegung. Hier ging das Bürgertum eine anhaltende Liaison mit Steiners Esoterik ein. Die »Waldis« sind hier vor allem in den akademischen grünen Milieus bestens verankert und prägen ein spezifisches Stuttgarter Klima alternativer Spießbürgerlichkeit. Dieses harmlose Image verstellt allerdings den Blick auf die Abgründe von Steiners Okkultismus, der neben Schule und Landwirtschaft in der Medizin ein zentrales Anwendungsgebiet hat und seinen Gutteil dazu beiträgt, dass in Baden-Württemberg die Impfskepsis so hoch ist.

Dabei grenzen sich die anthroposophischen Oberärzte in den offiziellen Stellungnahmen klar von ordinären Impfgegnern ab. Die Segnungen des modernen Infektionsschutzes werden gewürdigt, selbst die lange bekämpfte gesetzliche Pflicht, Kinder vor Besuch von Kita und Schule gegen Masern zu impfen, wird akzeptiert. Doch das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit: Gleichzeitig unterstützt der stark anthroposophisch geprägte Verein Ärzte für individuelle Impfentscheidung aktuell die Verfassungsklage gegen die Masernimpfpflicht.

»Wir sind freie Bürger, die frei entscheiden, ob sie sich impfen lassen oder nicht«, sagte auch der anthroposophische Vordenker ­Christoph Hueck auf der Stuttgarter »Querdenken«-Demo im Mai. Einer von vielen aus der Waldorfszene, die dort das Wort ergreifen.2 »Wir haben die Gehirnwäsche und das diktatorische Regierungshandeln satt«, polterte der Mitbegründer der Akanthos-Akademie, die anthroposophische Meditation »erforscht«. Er erklärte, einem guten Immunsystem könne das Coronavirus nichts anhaben. Man werde jedenfalls kein Versuchskaninchen für neue Impfstoffe abgeben.

Hueck bildet Lehrer für die Waldorfschule aus. Die hat auch Co-»Querdenker« Ken Jebsen besucht. Immer wieder war er dort in den letzten Jahren auch als Vortragsredner zu Gast. Und immer wieder tauchen auch die Masern an Waldorfschulen auf, zuletzt in Berlin, Freiburg oder Köln. Laut dem Landesgesundheitsamt Baden-Württembergs waren zuletzt an Waldorfschulen 30 Prozent der Kinder nicht geimpft. An staatlichen Schulen sind es gerade mal 5 Prozent. Dass dahinter auch die angeblich ergebnisoffene, neutrale und individuelle Beratung durch anthroposophische Ärzte steckt, liegt auf der Hand. Anthroposophische Medizin verursache Masernausbrüche, konstatierte kurz und bündig schon vor zehn Jahren in der Medizinischen Wochenschrift Professor Edzard Ernst, der erste Lehrstuhlinhaber für Alternativmedizin.

Warum die Steiner-Gemeinde so verbissen um die Ansteckungsfreiheit und gegen Impfzwang kämpft, kann nur verstehen, wer sich genauer mit dem Steiner’schen Okkultismus befasst. Den hält man der Öffentlichkeit nicht allzu offensiv unter die Nase, schließlich hängen auch die Waldorfschulen am staatlichen Tropf. Allzu obskure Inhalte könnten die Steuerzahler verunsichern. Deshalb hat man sich eine Art anthroposophischen Doppelsprech angewöhnt. In den offiziellen Stellungnahmen für die Öffentlichkeit gibt man sich gern einen seriösen Anstrich und verwässert die Steiner-Esoterik zu harmlosen Allerweltsweisheiten. Im Fall der Masern heißt es offiziell, wer Kinderkrankheiten durchstehe, statt sie zu unterdrücken, stärke sein Immunsystem und fördere die kindliche Entwicklung. Dahinter verbirgt sich jedoch eine viel abgründigere These: Nach Steiner inkarniert sich das Ich des Menschen im Lauf der Zeit immer wieder in neue Leiber. Deshalb müsse man es dem Kind in den ersten Lebensjahren ermöglichen, sich durch fieberhafte Masern­erkrankung quasi in seinem Leib einzurichten und diesen zu individualisieren. Dass das auch genau so gemeint ist, erklärt im Februar 2020 in der waldorfpädagogischen Zeitschrift Erziehungskunst die anthroposophische Ärztin Daphné von Boch: Ein Neugeborenes bestehe nämlich noch ganz aus mütterlichem Eiweiß. Dieses müsse durch das Masernfieber zerstört werden, um Platz zu machen für das eigene Eiweiß, das dem individuellen geistigen Wesen entspreche. Von fremdem Eiweiß drohe es »überwältigt« und »fremdgesteuert« zu werden.

Zur Erinnerung: Diese anthroposophische Medizin ist eine gesetzlich anerkannte Therapierichtung, zu der sich normale Mediziner weiterbilden lassen können, wenn sie ein von anthroposophischen Institutionen zertifiziertes Kursprogramm belegen. Aktuell kann man dort die »sieben Chakren und die Ätherprozesse« studieren und Organeinreibekurse auf Elba belegen.

Hin- und hergerissen zwischen Gesetzestreue und Steiner-Gehorsam zeigen sich führende anthroposophische Mediziner durchaus flexibel: Es müssten ja nicht unbedingt die Masern sein, die man dem Kind zukommen lassen müsse. Eine Lungenentzündung tue es auch. Hauptsache, das Kind fiebert. Und dabei geht es nicht nur um das Immunsystem. Krankheiten haben im ewigen Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt für die anthroposophische Medizin einen erzieherischen Sinn. Sie sind karmischer Ausgleich für Fehlverhalten im letzten Leben: Zu starkes Selbstgefühl kann nach der Wiedergeburt zu Cholera führen, sinnliche Ausschweifung zur Lungenentzündung. Wer im vorherigen Leben zu selten musiziert hat, leidet jetzt unter Asthma, wer zu wenig Interesse an den Sternen gezeigt hat, wird mit Bindegewebsschwäche gestraft. Keine Comedy, sondern Anthroposophie.

Das Lachen vergeht einem allerdings, wenn man nachliest, mit welch okkult-rassistischem Irrsinn der selbsternannte Hellseher den Ursprung von Infektionskrankheiten »erklärt«. Wie alle Organismen, die sich in Wirtsorganismen ansiedeln, sind Bazillen und Viren teuflischer Natur – oder »genauer gesagt« geistige Dämonen und Verwesungsprodukte untergegangener minderwertiger Völker wie zum Beispiel der »Mongolenrasse«. Die trug die Bazillen in ihrem von Fäulnis gezeichneten Astralleib und infizierte bei den großen Völkerwanderungen u. a. die fortgeschrittenen Rassen von Germanen, so Steiners Theorie.3

Dieser Seuchen-Irrsinn wird von Anthroposophen anlässlich der Coronakrise neu aufgelegt, als Inspiration für den Umgang mit der Pandemie: Da wird das Virus als spiritueller Angriff des Teufels auf die Menschheit gedeutet, der aktuell seine Inkarnation vorbereite. Mit Geld und Macht, Furcht und Lüge mache er die Menschen erst empfänglich für das Virus, mit dem ein starkes Immunsystem fertigwerde.

Bazillen breiteten sich nur aus, wenn man materialistische Vorstellungen und eine egoistische Furcht pflege und mit in den Schlaf nehme. Dann könnten teuflische ahrimanische Kräfte in die Organe hineinstrahlen, die die Bazillen mästen: Stattdessen solle man sich mit spirituellen Vorstellungen schlafen legen, sich dem Sonnenlicht aussetzen und überhaupt viele hoffnungsvolle eurythmische Bewegungen vollziehen. Auch die Planetenkonstellation sei wie schon bei der Spanischen Grippe als geistige Ursache der Pandemie zu beachten.

Impfung dagegen könne laut Steiner taub machen für die karmischen Botschaften. Wer sich auf diese Weise vor Krankheiten schütze, der erfreut sich vielleicht seiner Gesundheit, aber ihm droht nach ­Steiner der Reinkarnationsstillstand. Deshalb suchten den durchgeimpften Menschen zwar nicht die Pocken, aber seelische Verödung heim. Diesen Impfschaden könne man nur durch den Besuch einer Waldorfschule ausgleichen

Man muss Krankheiten übrigens gar nicht unbedingt besiegen, um von ihnen zu profitieren. Sollte man beispielsweise früh dahingerafft werden, entfaltet die Krankheitserfahrung ihre segensreiche Wirkung eben im Dasein nach dem Tod und befördert uns im nächsten Leben auf die Überholspur.

Es dürfe bei Corona nicht nur darum gehen, Leiden aus der Welt zu schaffen. Denn zu wertvoll seien die geistigen Impulse, die man daraus schöpfen könnte, im Jenseits. So raunt es auf einer Coronatagung im Stuttgarter Rudolf Steiner Haus im Juni 2020, wo der anthroposophische Vordenker Christoph Hueck postuliert: Wer das Leiden verhindern wolle, der verhindere geistige Entwicklung.

Der Biologe malte sich sogar aus, wie schön es werde, wenn man gestorben sei und sich weiterentwickeln könne, nach dem Tod. Heute damit konfrontiert, rudert der Waldorfpädagoge zurück.4 Er würde das heute nicht mehr wiederholen. Zwar seien die Anthroposophen vom Weiterleben des menschlichen Geistes nach dem Tod überzeugt, trotzdem sei es auch für sie selbstverständlich Leben zu schützen. Und doch bleibt die Frage, wenn Krankheit einen höheren Sinn hat, welchen Sinn hat es dann sie zu bekämpfen? Bislang verschließt man im Südwesten vor den ethischen Abgründen der Steiner’schen Esoterik fest die Augen. Solange man offenen Antisemitismus und Rassismus vermeidet, sind die Anthroposophen wohlgelitten. Die grüne Landesspitze machte zum 100. Geburtstag der Waldorfschule brav ihre Aufwartung. Schließlich handelt es sich um einen schwäbischen Exportschlager.

Dabei führt manchmal ein ziemlich direkter Weg von den harmlosen Pastellfarben der Waldorfschule zur finsteren Impfparanoia der »Corona­skeptiker«. Christoph Hueck ist ihn gegangen: Der anthroposophische Vordenker kandidierte für die »Querdenker«-Partei »WIR 2020« bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg.

Anmerkungen

1 Malte Thiessen, Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen, 2017, S. 31 ff.

2 Eine aktuelle Übersicht über die Beteiligung von Anthroposophen an der Bewegung der Kritiker der Coronamaßnahmen findet sich auf der Seite von Oliver Rautenberg: https://anthroposophie.blog, zuletzt abgerufen am 15.11.2020

3 Insgesamt siebenmal kommt Steiner in seinem Werk auf diesen von ihm »beobachteten« Zusammenhang zurück. Die Passagen finden sich in seinen Vorträgen vor der Anthroposophischen Gesellschaft. Gesamtausgabe (GA) GA 93a, S. 232 ff.; GA 94, S. 156; GA 95, S. 69 f.; GA 97, S. 253 f.; GA 99, S. 59, GA 100, S. 88; GA 155, S. 92 ff.

4 Im Rückblick hält Hueck seine Äußerungen für viel zu »einseitig formuliert«. Er halte sie nicht mehr aufrecht, was auch der Grund dafür sei, dass das Video des Vortrags vom 24.6.2020 inzwischen gesperrt ist. Noch online dagegen ist sein zweiter Vortrag auf demselben Kongress: Auch dort wiederholt Hueck, dass das Leiden ein notwendiger Faktor sei in der Entwicklung der Welt. Die Leiden und die Krankheit seien Freunde des Menschen. Wer sie durchmache, komme den höchsten Idealen der Menschheit Freiheit und Liebe näher. (https://www.youtube.com/watch?v=lpJO5Yje-9o, zuletzt abgerufen am 1.3.2021)

Der Urknall der Coronaproteste

Die »Hygienedemonstrationen« vor der Berliner Volksbühne

Von Julius Betschka

Anselm Lenz trägt einen Zollstock und verteilt Dutzende Exemplare des Grundgesetzes. Er wolle auf Artikel 20 Grundgesetz aufmerksam machen, wird er später sagen. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, steht in Absatz 2. Am letzten Samstag im März 2020 versammelt sich die Gruppe um den Verein »Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand« erstmals vor der Volksbühne am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz. Das Theater ist verriegelt, Versammlungen mit mehr als 20 Personen sind verboten. Zum ersten Mal in der Pandemie hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten strenge Kontaktbeschränkungen beschlossen. An diesem 28. März 2020 findet die erste »Hygienedemonstration« überhaupt statt – eine Art Urknall der Coronaproteste. Das Motto: »Grundrechte verteidigen – Sag Nein zur Diktatur!« 40 Menschen stehen zusammen an jenem Platz im Zentrum Berlins, der nach der marxistischen Arbeiterführerin Rosa Luxemburg benannt ist.

Die Initiatoren des Protests sind die Publizisten Anselm Lenz, Hendrik Sodenkamp und Batseba N’Diaye. Alle drei sind im linken und kapitalismuskritischen Kunstspektrum Berlins sozialisiert. Der Begriff »Querdenker« existiert zum damaligen Zeitpunkt kaum in seiner heutigen Konnotation. Lenz und Sodenkamp sind in Berlin keine Unbekannten: Sie gehörten zu jenen Aktivisten und Aktivistinnen, die 2017 die Volksbühne besetzt hatten, um den neuen Intendanten Chris Dercon zu vertreiben und ein Kollektiv als Intendanz einzusetzen. Alle drei kennen sich aus der 2015 gegründeten Künstlergruppe »Haus Bartleby«. Sie veröffentlichten zusammen Bücher, veranstalteten ein »Tribunal gegen den Kapitalismus«. Lenz schrieb ab und an für die taz.

Die Volksbühne haben sie nicht zufällig als Protestort ausgesucht. Sie steht als Berliner Theater wie kaum ein anderer Ort in Deutschland für Unangepasstheit und Regelbruch. Der linke Anspruch manifestiert sich schon in der Gründung: Die »Freie Volksbühne« wurde 1890 als erste kulturpolitische Massenorganisation der deutschen Arbeiterbewegung gegründet – alle gesellschaftlichen Schichten sollten hier Zugang zu Kultur bekommen. Der avantgardistische, linke Theatermacher Erwin Piscator setzte hier in der Weimarer Republik die Idee des »politischen Theaters« auf einer großen Bühne um. Langzeit­intendant Frank Castorf schuf an der Volksbühne ab Anfang der 1990er Jahre für eine Zeit lang den wichtigsten Think-Tank für modernes Theater in Deutschland, und ab der Jahrtausendwende inszenierte Christoph Schlingensief natürlich an der Volksbühne Ungehöriges. Zuletzt putschten Mitarbeiter und Umfeld der Bühne den aus London geholten Intendanten Dercon weg, den sie als »Vorreiter von Neoliberalismus und Gentrifizierung« (taz) betrachteten. Das war 2017, Anselm Lenz und Hendrik Sodenkamp halfen dabei mit. Mehr linke Widerstandserzählung als an diesem Ort geht kaum.