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Beschreibung

Feministische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien gehen aus äußerst lebhaften, interdisziplinären Diskussionen in der Philosophie und den Sozialwissenschaften hervor. Sie analysieren, wie Geschlechternormen auf Wissende einwirken, kritisieren die Benachteiligung weiblicher und queerer Menschen durch herrschendes Wissen und schlagen Alternativen zu gängigen epistemischen Begriffen und Praktiken vor. Der Band versammelt klassische Texte sowie aktuelle Weiterentwicklungen u. a. von Patricia Hill Collins, Sandra Harding und Donna Haraway, Miranda Fricker und Gurminder K. Bhambra, größtenteils erstmals in deutscher Übersetzung. Alle verbindet eine Kernthese: Wissen ist eingebettet in historisch spezifische soziale Praktiken und Strukturen, die keineswegs geschlechtsneutral sind.

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Cover

Titel

3Feministische Epistemologien

Ein Reader

Herausgegeben von Katharina Hoppe und Frieder Vogelmann

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2440

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77918-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Katharina Hoppe & Frieder Vogelmann

:

Feministische Epistemologien: Genese, Grundlagen, Gegenwart

I

. Genese

Nancy Hartsock

:

Der feministische Standpunkt . Grundlagen eines spezifisch feministischen historischen Materialismus

Patricia Hill Collins

:

Von den eingebundenen Außenseiter*innen lernen . Zur soziologischen Bedeutung des Schwarz-feministischen Denkens

Maria Mies

:

Methodische Postulate zur Frauenforschung – dargestellt am Beispiel der Gewalt gegen Frauen

Christina Thürmer-Rohr

:

Der Chor der Opfer ist verstummt . Eine Kritik an Ansprüchen der Frauenforschung

Bat-Ami Bar On

:

Marginalität und epistemisches Privileg

Uma Narayan

:

Das Projekt einer feministischen Epistemologie: Perspektiven einer nicht-westlichen Feministin

Alison Wylie

:

Feministische Wissenschaftsphilosophie . Eine Frage des Standpunkts

II

. Grundlagen

Donna Haraway

:

Situiertes Wissen . Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive

Sandra Harding

:

Standpunkttheorie neu denken: Was ist »starke Objektivität«?

Elizabeth Anderson

:

Wissen, menschliche Interessen und Objektivität in der feministischen Epistemologie

Samantha Frost

:

Die Implikationen der neuen Materialismen für die feministische Epistemologie

III

. Gegenwart

Kristie Dotson

:

Epistemische Gewalt aufspüren, Praktiken des Zum-Schweigen-Bringens aufspüren

Miranda Fricker

:

Epistemische Ungerechtigkeit und die Bewahrung von Nichtwissen

Nancy Tuana

:

Zur Erkenntnis kommen . Der Orgasmus und die Epistemologie des Nichtwissens

Gurminder K. Bhambra

:

Kritische Theorie dekolonisieren? Epistemologische Gerechtigkeit, Fortschritt, Reparationen

Linda Martín Alcoff

:

Philosophie und philosophische Praktiken . Eurozentrismus als eine Epistemologie des Nichtwissens

Textnachweise

Danksagung

Über die Autorinnen

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Katharina Hoppe & Frieder Vogelmann

Feministische Epistemologien: Genese, Grundlagen, Gegenwart

Spielt es eine Rolle, welches Geschlecht Wissende haben? Strukturiert Geschlecht unsere Wissenspraktiken, ja sogar die Ergebnisse der Wissenschaften? Schon diese Fragen nicht nur rhetorisch zu stellen und routiniert mit »natürlich nicht« zu beantworten, erhitzt die Gemüter. Warum sollten Geschlechterverhältnisse etwas mit Wissenschaft zu tun haben, einer Unternehmung, die doch für Neutralität und Objektivität steht? In den feministischen Interventionen in die Wissenschaften sowie in die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, die diesen Streit seit den 1970er Jahren befeuerten, wurde und wird nicht weniger als ein »Angriff auf die Vernunft«[1]  vermutet. Die Abwehrreaktion zeigt, wie tief die herrschenden Auffassungen von Erkenntnis und Wissenschaft mit einer Aversion dagegen verbunden sind, ihre Herstellungspraxis konkret in den historischen Verhältnissen mitsamt ihren sozialen, politischen oder ökonomischen Details zu verorten. Mit dieser Abwehrhaltung verbindet sich eine Vorstellung von Objektivität, die von der sozialen und politischen Einbettung der Wissensproduktion absieht, absehen will oder gar absehen muss. So gilt die Auffassung entkörperter und von der (sozialen) Welt einschließlich der Geschlechterverhältnisse losgelöster Wissenspraktiken als ein grundlegender Wert ›guter‹ wissenschaftlicher Praxis, den weiblich markierte Personen historisch nicht in der gleichen Weise verkörpern konnten wie männliche – weiße bourgeoise männliche Personen, versteht sich.

Ihrem traditionellen Selbstverständnis zufolge zielt die moderne wissenschaftliche Praxis auf eine aperspektivische, körperlose Objektivität, die als Ideal jedoch überraschend jung ist und erst im 819.Jahrhundert auftauchte.[2]  Vor diesem Hintergrund nimmt die Kritik feministischer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorien an solch herkömmlichen Auffassungen von wissenschaftlicher Wissensproduktion und Objektivität ihren Ausgang von einer »Vexierfrage«, die die Physikerin und feministische Wissenschaftstheoretikerin Evelyn Fox Keller treffend wie folgt formuliert: »[W]ie kann der wissenschaftliche Geist zugleich als männlich und als körperlos angesehen werden? Wie kann Denken als ›objektiv‹, d.h. als ein unpersönliches und vom Selbst losgelöstes Denken, und gleichzeitig als ein ›Denken des Mannes‹ verstanden werden?«[3]  Keller spricht damit die männliche Konnotation der Vernunft und des Geistes als losgelöst von Körperlichkeit an: und diese bildet in der Tat das Ziel des ›Angriffs‹ feministischer Epistemologien.

Der feministische ›Angriff auf die Vernunft‹ richtet sich also gegen eine spezifische Konzeption der Vernunft, nicht gegen Vernunft per se. Vielmehr demonstriert feministische Erkenntnis- und Wissenschaftskritik, dass die vermeintlich allgemeingültige Vorstellung von Vernunft selbst weder universal noch ahistorisch ist, sondern sozial verortet und historisch spezifisch geformt. Zwei Gesichtspunkte sind für die feministische Kritik der Wissenschaften und feministische Erkenntnistheorien von besonderer Bedeutung: Einerseits geht es ihnen seit den 1970er Jahren darum, die Frage des Geschlechts überhaupt in die Wissenschaften zu tragen und zu zeigen, dass (auch naturwissenschaftliches) Wissen geschlechtsspezifische Markierungen und Implikationen mit sich führt, die zugleich in den Praktiken der Wissensproduktion selbst wirkmächtig sind. Andererseits verfolgt feministische Erkenntnis- und Wissenskritik den Anspruch, andere Formen der Wissensgenerierung zu etablieren. Mit alternativen epistemologischen Begriffen, wissenschaftlichen Methodologien und handfesten Praktiken stoßen sie Prozesse der selbstkritischen Reflexion sowie der Veränderung der epistemischen Voraussetzungen an, die ihrerseits für Revisionen offengehalten werden. Bei allen Differenzen zwischen den einzelnen Ansätzen ist die feministische Erkenntnis- und Wissenschaftstheo9rie als fächerübergreifendes Forschungsgebiet mit Schwerpunkten in der Philosophie und den Sozialwissenschaften stets von einer Kritik mit dem genannten doppelten Impuls geprägt: Auf der einen Seite weist sie androzentrische Annahmen und sexistische Diskriminierungen in der Wissensproduktion nach und zeigt, dass herrschende Wissenspraktiken und epistemische Begriffe Frauen und andere weiblich oder queer markierte Positionen benachteiligen. Auf der anderen Seite erarbeitet sie konstruktiv Alternativen sowohl für die theoretischen Begriffe als auch für Praktiken der Wissensproduktion.

Im vorliegenden Reader möchten wir die vielstimmige Debatte um feministische Epistemologien von ihren Anfängen bis heute nachzeichnen. Dabei geht es uns weniger um Vollständigkeit, die ein einzelner Band ohnehin nicht erreichen kann. Vielmehr wollen wir die gegenwärtige Relevanz feministischer Erkenntnistheorien angesichts hitziger Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, erregter Diskussionen über historische und kontextualisierende Relativierungen von Wahrheit sowie enthemmter politischer Diskurse um »Gender« als Kampfbegriff darlegen und selbstkritisch überprüfen. Denn wie niemand sonst in der Philosophie und den Sozialwissenschaften arbeiten sich feministische Erkenntnistheoretiker*innen an den politischen, ethischen und epistemologischen Implikationen der Einsicht in die soziale Situiertheit wissenschaftlicher Wissensproduktion ab. Gerade wegen der lebendigen Diskussion innerhalb des Feldes helfen die vorliegenden – sehr unterschiedlichen, einander teils scharf widersprechenden – Positionen dabei, verbreitete positivistische Schnellschüsse und relativistische (Selbst-)Missverständnisse aufzudecken. In dieser Einleitung stellen wir das breite Spektrum feministischer Epistemologien und ihrer Entwicklungspfade entlang von drei Akzentuierungen vor, die auch den Reader gliedern: Erstens beschreiben wir die Genese feministischer Epistemologien seit den 1970er Jahren und zeichnen dabei ihre Bewegung von der politischen Intervention hin zur Ausarbeitung eigenständiger Wissenschafts- und Erkenntnistheorien nach. Zweitens erläutern wir die Grundlagen feministischer Epistemologien, die innerhalb der Debatte und auch in den allgemeinen Diskussionen der Philosophie und der Sozialwissenschaften zunehmend unhintergehbar erscheinen. Drittens beleuchten wir die Gegenwart feministischer 10Epistemologien, indem wir neuere Entwicklungen innerhalb des Feldes skizzieren und deren Potenziale und Grenzen ausloten. Wir schließen mit dem Appell, die feministische Epistemologie und ihre wichtigen politischen Einsichten (erneut) zu entdecken, um in Diskussionen um »Postfaktizität« und »Identitätspolitik« nicht hinter ihr Reflexionsniveau zurückzufallen.

Zuvor seien jedoch noch drei kurze Erläuterungen vorweggeschickt. Erstens sind feministische Erkenntnistheorien keine »femininen« Epistemologien, auch wenn sich dieses Missverständnis immer wieder in der Literatur findet, insbesondere bei ihren Kritiker*innen.[4]  Zwar haben auch Feminist*innen immer wieder mit der Vorstellung einer »weiblichen Weise zu wissen« geflirtet, doch haben feministische Epistemolog*innen wie beispielsweise Nancy Hartsock von Anfang an solche Versuche (teils sehr vehement) zurückgewiesen.[5]  Zweitens sind feministische Erkenntnistheorien eng mit anderen Formen »alternativer Epistemologien« verbunden, wie Charles Mills herausgestellt hat.[6]  Ungerechtigkeiten aufgrund von race- oder Klassenzuschreibungen wurden nahezu von Anfang an in den feministischen Epistemologien thematisiert, wenngleich häufig unzureichend.[7]  Linda Martín Alcoff und Elisabeth Potter stellen 11jedoch schon 1993 fest, dass feministische Erkenntnistheorien nur intersektional betrieben werden können:

Weil Geschlecht als abstrakte Universalie analytisch unbrauchbar ist und weil die Forschung Unmengen von Unterdrückungsweisen in der Wissensproduktion aufgedeckt hat, wird feministische Epistemologie zu einem Forschungsprogramm mit multiplen Dimensionen. Und sie sollte nicht so verstanden werden, dass sie ein Bekenntnis zu Geschlecht als primärer Achse der Unterdrückung beinhaltet […].[8] 

Der Titel ihrer damaligen Aufsatzsammlung, Feminist Epistemologies, unterstreicht mit dem Plural drittens die Tatsache, dass es keine einheitliche feministische Erkenntnistheorie gibt. Mag sein, dass man in dem Feld einen begrifflichen Kern in der These des »situierten Wissens« ausmachen kann,[9]  doch schon darüber, wie dieser von Donna Haraway in die Diskussion eingebrachte Begriff zu explizieren ist, wird heftig gestritten.[10]  Wir haben uns daher der Verwendung des Plurals angeschlossen. Damit verstehen wir unter feministischen Epistemologien all jene Positionen, die über die Produktion, Verarbeitung und Weitergabe von Wissen – kurz: über epistemische Praktiken – nachdenken und sich darum bemühen, Begriffe auszuarbeiten, mit denen diese epistemischen Praktiken angemessen erfasst und weiterentwickelt werden können. Dabei fällt im Vergleich zur klassischen Epistemologie auf, dass im Feld feministischer Erkenntnistheorien wissenschaftstheoretische Über12legungen nach wie vor Teil dieser Bemühungen sind. Diese größere Nähe statt der eingespielten Trennung zwischen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie im Mainstream der Philosophie halten wir für eine Stärke, die sich zu einem nicht geringen Anteil der Herkunft feministischer Epistemologien aus der Kritik der Wissenschaften verdankt.

Genese: Der feministische Standpunkt und seine Kritik

Der wichtigste Impuls zur Ausbildung feministischer Epistemologie verdankt sich dem überraschenden Erfolg feministischer Kritik an Sexismus und Androzentrismus in den Natur- und Sozialwissenschaften. Beispielsweise beschäftigten sich feministische Wissenschaftler*innen mit der Abwesenheit weiblicher Forschender in vielen Disziplinen und wandten sich Biografien und Beiträgen vergessener Persönlichkeiten zu.[11]  Darüber hinaus hoben sie die Ausschlussdynamiken von epistemischen Institutionen wie Universitäten und Forschungsinstituten hervor.[12]  Die feministischen Epistemologien im engeren Sinne treten allerdings erst mit jenen Interventionen auf den Plan, die Verzerrungen im wissenschaftlichen Wissen explizit nachwiesen, alternative Zugänge entwickelten sowie darauf aufbauend bessere – d.h. umfassendere und weniger 13fehlerbehaftete – Forschungsergebnisse vorlegten. Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang die kritische Auseinandersetzung mit der Biologie und insbesondere der Evolutionsbiologie, aber auch Physik, Soziologie, Ökonomie und Archäologie profitierten von feministischer Kritik.[13]  Feministische Wissenschaftler*innen konnten zeigen, wie stark androzentrische Annahmen alle Ebenen des Forschungsprozesses prägen – von den Fragestellungen und den Ausgangshypothesen über die Datenerhebung bis hin zu deren Aufbereitung und Interpretation. Sie wiesen etwa nach, dass viele Argumente und Theorien in der Endokrinologie,[14]  der Hirnforschung,[15]  der Genetik[16]  und der Primatologie[17]  auf unreflektierten Geschlechterstereotypen beruhen. Die Ergebnisse dieser und anderer Arbeiten warfen für die traditionelle Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie unbequeme Fragen auf: Wenn wissenschaftliche Praktiken die Objektivität des in ihnen erzeugten Wissens nur dank ihrer Abschottung gegen politische, ökonomische oder moralische Interessen bewahren können, wieso konnten dann feministische Interventionen zu nachweislich besseren Forschungsprogrammen und ‑ergebnissen führen? Wenn philosophische Begriffe von Wahr14heit, Wissen oder Objektivität von allen Merkmalen menschlicher Subjektivität absehen und für alle gleichermaßen gelten, aus welchem Grund fanden sich darin alle Merkmale einer spezifisch weißen männlichen Subjektivität wieder?

Frühe Positionen

Die theoretische und begriffliche Reflexion dieser Befunde begann mit marxistischen Positionen, psychoanalytisch informierten Ansätzen und einer Soziologie von den Rändern her, das heißt ausgehend von marginalisierten Perspektiven. Nancy Hartsock legte 1983 mit ihrem bahnbrechenden Aufsatz »Der feministische Standpunkt. Grundlagen eines spezifisch feministischen historischen Materialismus«[18]  den Grundstein für die Position einer feministischen Standpunkttheorie, die zu einem der Zentren im Feld feministischer Epistemologien werden sollte. Hartsocks spezifische Variante verdankt sich ihrer dezidiert materialistischen Perspektive, die sowohl marxistische als auch psychoanalytische Anleihen macht.[19]  Sie erörtert in diesem Text die Möglichkeit eines feministischen Standpunkts als privilegierter epistemischer Perspektive. Damit ist die Annahme formuliert, dass Wissen nie unabhängig von den sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen sowie deren komplexen Auswirkungen auf die innere Verfasstheit von Subjektivitäten ist. Und mehr noch: Die Positionalität von Wissen – sowohl im Sinne des passiven Positioniert-Seins der Wissenden 15als auch im Sinne ihres aktiven Ringens um Positionierungen – bringt epistemische Vor- und Nachtteile mit sich. Marginalisierte Subjekte können durch politische Anstrengungen einen epistemischen Standpunkt erringen, der dem Standpunkt der Herrschenden prinzipiell überlegen ist, weil er nicht gleichermaßen mit dem Herrschaftsinteresse verstrickt ist, die Wirklichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse zu verschleiern. Für die feministische Standpunkttheorie resultiere das Potenzial für einen solchen Standpunkt zum einen aus der spezifisch weiblichen Erfahrung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Hartsock marxistisch interpretiert, und zum anderen aus geschlechtsspezifischen Sozialisationsprozessen, die sie psychoanalytisch herleitet. Ein Standpunkt – dies ist eine entscheidende Einsicht, die in an Hartsock anschließenden Diskussionen manchmal vernachlässigt wurde – ist dabei aber nicht aufgrund von geteilter Erfahrung oder Geschlechtsidentität einfach da, sondern muss immer wieder neu errungen werden, denn ein »feministischer Standpunkt mag auf der Grundlage der Gemeinsamkeiten der weiblichen Erfahrung vorhanden sein, aber er ist weder selbstverständlich noch offensichtlich«.[20]  Wenngleich manche Argumentationsschritte Hartsocks aus heutiger Perspektive antiquiert differenzfeministisch oder psychoanalytisch fragwürdig anmuten mögen, so zeigt sie doch eindrucksvoll, wie ein Standpunkt als herrschaftskritisches Instrument erarbeitet werden kann und dass die Epistemologie in diesem Zusammenhang auch deswegen politisch relevant ist, weil sie Herrschaftsverhältnisse aufzudecken vermag. Gleichzeitig wird die Verstrickung mit Herrschaftswissen ernst genommen und mögliche Komplizenschaft bedacht.

Damit sind bereits entscheidende Stichworte für eine zweite frühe Position im Feld feministischer Epistemologien aufgerufen, die aus der Selbstreflexion von Frauen und feministischen Wissenschaftler*innen in den Sozialwissenschaften hervorging. Einerseits gehörten diese als Wissenschaftler*innen einer Fachdisziplin mitsamt ihren Institutionen an und damit dem Kreis einer relativ kleinen Elite der Wissensproduktion. Andererseits wurden (und werden) sie als Frauen und Feminist*innen belästigt, ausgegrenzt und als »politisch engagiert« (heute: »aktivistisch«) statt seriös forschend attackiert. Patricia Hill Collins analysiert diese für Schwarze 16Frauen noch verschärfte doppelte Positionierung der Marginalisierung trotz Zugehörigkeit in ihrem einschlägigen Aufsatz »Von den eingebundenen Außenseiter*innen lernen: Zur soziologischen Bedeutung des Schwarz-feministischen Denkens«.[21]  Statt das Außenseiter*innentum zu beklagen, stellt sie heraus, inwiefern gerade Positionen an den Rändern die Chance bieten, mehr zu sehen und bessere wissenschaftliche Arbeit zu leisten – eben weil sie sich gleichzeitig innen und außen befinden. Collins erarbeitet in ihrem Text Grundzüge einer Methodologie der Sozialwissenschaften, in deren Zentrum der heute noch wichtige, wenn auch häufig missverständlich verkürzte Gedanke steht, die eigene abweichende Biografie als legitime Wissensquelle in die Forschung einzubringen:

Im besten Fall ermöglicht der Status als eingebundene*r Außenseiter*in seinen Vertreter*innen ein stabiles Gleichgewicht zwischen der Stärke ihrer soziologischen Ausbildung und dem Angebot ihrer persönlichen und kulturellen Erfahrungen. Keines der beiden Elemente wird dem anderen untergeordnet. Viel eher wird die erlebte Realität als gültige Wissensquelle für die Kritik an soziologischen Fakten und Theorien genutzt, während das soziologische Denken neue Sichtweisen auf die erlebte Realität bietet.[22] 

Collins spielt die Schwierigkeiten Schwarzer Frauen in der Soziologie keineswegs herunter, beschreibt jedoch eindrücklich, wie sich ihre doppelte Erfahrung gewinnbringend nutzen lässt. Sandra Harding, eine der einflussreichen Standpunkttheoretikerinnen in der feministischen Epistemologie, hat darauf und auf den verwandten Arbeiten von Dorothy E. Smith aufbauend den Imperativ geprägt, »vom Leben marginalisierter Personen her zu denken«.[23]  Collins führt diese Methode in ihrem Aufsatz selbst vor, indem sie die gelebte Erfahrung Schwarzer Frauen in den USA gemäß deren Selbstrepräsentation darstellt und systematische Verzerrungen 17dieser Wirklichkeit durch die hegemonialen weiß und männlichen geprägten soziologischen Begriffe und Theorien aufzeigt. Damit teilt sie zwei Annahmen mit Hartsock, nämlich die These eines möglichen epistemischen Privilegs der Marginalisierten und deren Qualifizierung, dass sich dieses nicht automatisch realisiert. Bei Collins nimmt dies die auch heute noch relevante, weil von vereinfachten Verständnissen von Standpunkttheorien häufig vergessene These an, dass Schwarze Frauen zwar Zugang zu einer einzigartigen Wissensquelle für die Sozialwissenschaften haben, diese aber nicht von selbst sprudelt und daher nur den Ausgangspunkt, nicht aber das Resultat des Forschungsprozesses bilden kann. Vom Leben der Marginalisierten her zu denken, bedeutet nicht, das Denken dort gleich wieder zu beenden.

Dieser zweite, an methodologischen Fragen der Sozialwissenschaften orientierte Strang feministischer Epistemologien war selbstverständlich nicht auf die USA beschränkt. In Deutschland kam Maria Mies in ihrem berühmten Aufsatz »Methodische Postulate zur Frauenforschung – dargestellt am Beispiel der Gewalt gegen Frauen« zu ähnlichen Ergebnissen.[24]  Gleichwohl nahmen Mies’ Thesen eine andere Form an, sowohl aufgrund der unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen in den USA und Deutschland, in denen sich z.B. die für Collins zentralen Rassifizierungspraktiken deutlich unterscheiden,[25]  als auch aufgrund von Mies’ viel drastischerer Betonung der Verbindung von Theorie und Praxis, die auch aus ihrer Skepsis gegenüber der zunehmenden Akademisierung des 18Feminismus resultiert.[26]  Mies fordert, das Ideal der Wertfreiheit durch das Ideal der Parteilichkeit zur Beurteilung von Objektivität zu ersetzen. Forschung solle »von unten« statt »von oben« betrieben werden, die Zuschauerperspektive der Forschenden zugunsten einer engagiert-mitkämpfenden Haltung aufgegeben werden. Der Forschungsprozess unterstehe dabei dem Motto: »Um ein Ding kennenzulernen, muß man es verändern.«[27]  Damit solle sich die Wahl der Fragestellungen entsprechend an den Zielen der emanzipatorischen Kämpfe ausrichten und der Forschungsprozess auch zu einem Prozess der Bewusstseinsbildung werden. Insgesamt, so Mies, werde die feministische Gesellschaftstheorie wohl kaum in Forschungsinstituten entstehen, sondern auf der Straße, mindestens aber ausgehend von dort.[28]  Mies schildert im zweiten Teil des Aufsatzes den Versuch, diese im Rahmen der Frauenhaus-Initiative »Frauen helfen Frauen e.V.« in Köln umzusetzen. Dabei berichtet sie nicht nur von Erfolgen, auch die Schwierigkeiten dieses radikal partizipativen Zugangs werden offen benannt, stellen für Mies aber keine Gründe dar, von ihrem Programm abzurücken.[29] 

(Selbst-)Kritik

Die Kritik an diesen Thesen ließ nicht lange auf sich warten, auch innerhalb der feministischen Epistemologien. In »Der Chor der Opfer ist verstummt. Eine Kritik an Ansprüchen der Frauenforschung«[30]  wandte beispielsweise Christina Thürmer-Rohr gegen Mies ein, diese müsse – wie andere feministische Standpunkttheoretiker*innen auch – zwangsläufig an ihren eigenen Ansprüchen scheitern. Denn die Gemeinsamkeit von Frauen aufgrund ihrer Unterdrückungserfahrung reiche aufgrund der Heterogenität von 19Frauenleben nicht weiter als genau bis zu dieser Formulierung. Sie sei lediglich eine Behauptung, keine gelebte Wirklichkeit. Daher erlaube sie es auch nicht, politische oder moralische Ziele daraus abzuleiten, was der Verknüpfung von feministischer Politik und Wissenschaft die Basis entziehe:

Die tatsächliche Divergenz zwischen politischen Zielen, feministischer Forschungsmoral und wissenschaftlich-praktischem Vorgehen ist in kaum einem Forschungsprozeß zu überwinden, und nicht nur mit dem Hinweis auf die bekannten institutionellen Zwänge. Auch ohne diese Zwänge besteht sie, nämlich in den Frauen und zwischen den Frauen, die sich innerhalb oder außerhalb einer Forschungsbeziehung begegnen.[31] 

Eine zweite zentrale Kritik von Thürmer-Rohr betrifft die Handlungsfähigkeit von Frauen. Nicht nur gebe es jenseits der Unterdrückung keine Gemeinsamkeit von Frauen als Frauen, die Konzentration auf diese Erfahrung sei zudem eine gefährliche Form der Selbstviktimisierung, die irreführend sei, weil sie ausblende, dass zu dieser Gemeinsamkeit auch die Mittäterschaft von Frauen bei der Unterdrückung von Frauen gehöre.[32] 

Beide Kritikpunkte finden sich auch in der US-amerikanischen Debatte. In »Marginalität und epistemisches Privileg«[33]  attackiert Bat-Ami Bar On die These des epistemischen Privilegs grundsätzlich. Ausgehend von einer eingehenden Analyse der verschiedenen Formen dieser These und ihrer jeweiligen Abweichungen von der bei Marx mit Blick auf den Standpunkt des Proletariats formulierten Standpunkttheorie arbeitet Bar On heraus, dass diese das epistemische Privileg einer marginalisierten Gruppe wie der Frauen entweder dadurch begründen, dass diese Gruppe trotz ihrer Unterdrückung einen zentralen Platz in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung einnimmt, oder es in der Identität dieser Gruppe verankern. 20Allerdings besäßen die Machtstrukturen unserer Gesellschaften weder ein singuläres Zentrum noch könne die geteilte Identität einer Gruppe »der Frauen« ein epistemisches Privileg tragen. Wo es gleichwohl versucht werde, würden die Erfahrungen mancher Frauen idealisiert und unzulässig verallgemeinert. Darüber hinaus sei bereits die Annahme zurückzuweisen, Feminist*innen müssten ein solches epistemisches Privileg nachweisen, um ihren Aussagen Autorität zu verleihen, weil sie damit stillschweigend zugeben würden, sich ebendiese Autorität erst verschaffen zu müssen – dies versteht Bar-On als eindeutiges Anzeichen einer verinnerlichten Unterdrückung, die es zu überwinden gelte.

Auf die Vielfalt, die eine Kategorie wie »Frauen« eher verberge, macht auch Uma Narayan aufmerksam. In »Das Projekt einer feministischen Epistemologie: Perspektiven einer nicht-westlichen Feministin«[34]  kommentiert sie kritisch die Vernachlässigung von Stimmen aus der nicht-westlichen Welt. Diese ergeben sich Narayan zufolge vor allem aus einer zu theoretischen Ausrichtung des westlichen Feminismus sowie aus der mangelnden Berücksichtigung unterschiedlicher Kontexte. Sie verdeutlicht dies am Beispiel der Positivismuskritik, die ein wesentlicher Bestandteil von Hartsocks oder Collins Überlegungen ist. Mit »Positivismus« bezeichnet Narayan die traditionelle Vorstellung von Wissenschaft, die auf den zwei Pfeilern der aperspektivischen, entkörperten Objektivität und dem Ideal wertfreier Wissenschaft beruhe. Zwar sei nachvollziehbar, dass die westliche feministische Epistemologie darin ihren Hauptgegner sehe, doch gerade das Plädoyer gegen Wertfreiheit habe in nicht-westlichen Kontexten andere Konsequenzen als in westlichen:

Traditionen wie meine eigene, in denen der Einfluss der Religion allgegenwärtig ist, sind durch und durch von Werten durchdrungen. Wir müssen nicht nur gegen Positionen kämpfen, die eine Trennung von Fakten und Werten behaupten, sondern auch gegen diejenigen, die von Werten durchdrungen sind, denen wir uns als Feminist*innen entgegenstellen.[35] 

Die damit einhergehende Liberalismuskritik in den feministischen Epistemologien sei für »kolonisierte Menschen« zwar nachvollziehbar, führe die Feminist*innen unter ihnen jedoch in eine »Zwickmühle«, weil »wir […] einige seiner Konzepte, wie individuelle 21Rechte, oft sehr nützlich [finden] in unseren Bemühungen, Probleme zu bekämpfen, die in unseren traditionellen Kulturen verwurzelt sind«.[36]  Auch die These des epistemischen Privilegs hält Narayan für ambivalent, verdecke sie doch leicht, welche Schwierigkeiten Unterdrückte dabei hätten, überhaupt Wissen zu produzieren. Zudem führe der »doppelte Blick« häufig schlicht zu einer Spaltung der Persönlichkeit – man passt das eigene Verhalten den unterschiedlichen Erwartungen der jeweiligen Kontexte an – anstatt zu einer kritischen Haltung zu gelangen, selbst wenn diese eine Möglichkeit darstelle.

In den frühen feministischen Epistemologien und der heftigen Diskussion, die sie von Anfang an auch im Feminismus – und zwar ebenso in der politischen Bewegung wie in deren theoretischer Reflexion – begleitet hat, wird Selbstkritik als ein besonders prominentes Merkmal des gesamten Feldes erkennbar. Das lässt sich gut in Alison Wylies Aufsatz »Feministische Wissenschaftsphilosophie. Eine Frage des Standpunkts«[37]  sehen. Darin blickt Wylie im Jahr 2012 auf die Ausbildung und Entwicklung der verschiedenen Spielarten feministischer Standpunkttheorien zurück und rekonstruiert die Reaktionen der frühen feministischen Epistemolog*innen auf die an ihnen geübte Kritik. Hartsocks starker Rückgriff auf die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie, überzogene Formulierungen der These des epistemischen Privilegs, exkludierende Vereinheitlichungen der Kategorie »der Frauen« oder vermeintlich einheitlicher weiblicher Erfahrungen und Identitäten – all diese häufig von außen vorgebrachten Kritiken seien zuerst intern diskutiert worden.[38]  Gegenwärtige Varianten feministischer Standpunkttheorien trügen ihnen Rechnung, so Wylie, die selbst für eine Verbindung feministischer Standpunkttheorien mit einem feministischen Empirismus plädiert und damit vermutlich den auch derzeit noch gültigen Stand der Diskussion festhält.

22Im letzten Satz ist eine wirkmächtige Einteilung der feministischen Erkenntnistheorien in drei große Bereiche angesprochen, nämlich die Trias des feministischen Empirismus, der feministischen Standpunkttheorie und des feministischen Postmodernismus. Diese Dreiteilung wurde von Sandra Harding erstmals 1986 eingeführt.[39]  Damit unterschied sie die (damals) vorliegenden Positionen im Feld der feministischen Epistemologien anhand ihrer theoretischen Vorannahmen und Antworten auf die Probleme mit Androzentrismus und Sexismus in epistemischen Praktiken. Der feministische Empirismus geht davon aus, dass es sich bei diesen Problemen um soziale Verwerfungen mit Auswirkungen auf die gesellschaftliche Wissensproduktion handelt, die eine Korrektur der Rahmenbedingungen innerhalb der Wissenschaften erfordern. Solche Verbesserungen verlangen jedoch in vielen Fällen keine grundlegende Reformulierung epistemologischer Begriffe oder empiristischer Forschungsmethodologien, sondern nur ihre striktere Anwendung. Allerdings gehen auch feministische Empirist*innen davon aus, dass manche Annahmen überarbeitet werden müssen, beispielsweise wenn es um die Rolle von moralischen oder politischen Werten in epistemischen Praktiken geht. Feministische Standpunkttheorie setzt dagegen deutlich radikaler an, wie wir etwa an Hartsocks Ansatz gesehen haben; sie hält eine tiefgreifende Neuschöpfung epistemologischer Begriffe und wissenschaftlicher Verfahrensweisen für unumgänglich. Genauso radikal stellen auch Positionen des feministischen Postmodernismus die traditionelle Vorstellung von Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in Frage.Darüber hinaus kritisieren sie insbesondere die auch bei Standpunkttheoretiker*innen zu findenden einheitlichen Kategorien (etwa »der Frau«) und stützen sich dafür auf poststrukturalistische Theorien beispielsweise von Michel Foucault, Luce Irigaray oder Jacques Lacan.

Schon Harding vermutete, dass sich diese Unterscheidungen im Laufe der Zeit verwischen würden – und trieb selbst die Interaktion zwischen diesen drei Herangehensweisen feministischer Epistemologien energisch voran.[40]  Viele aktuelle Positionen lassen sich in der 23Tat nicht mehr eindeutig einer dieser theoretischen Orientierungen zuordnen, wie man beispielsweise an Wylies Standpunkttheorie erkennen kann, die Argumente und Kritiken sowohl des feministischen Empirismus als auch des feministischen Postmodernismus übernommen hat. Als Heuristik bleibt Hardings Trias jedoch ebenso wirkmächtig wie nützlich.

Grundlagen: Etablierte Begriffe und Argumente

Eine ganze Reihe von Konzepten aus den feministischen Epistemologien haben sich inzwischen in den Kultur- und Sozialwissenschaften etabliert und werden disziplinübergreifend verwendet, diskutiert und weiterentwickelt. Wir haben vier zentrale Einsichten ausgewählt, die für wissenschafts- und erkenntnistheoretische Diskussionen unhintergehbar geworden sind. Das bedeutet nicht, dass man sie nicht legitim bestreiten könnte, wohl aber, dass die Bürde, dafür eine gute Begründung zu liefern, auf Seiten derjenigen liegt, die sie ablehnen. Unserer Auswahl liegt jedoch noch ein weiterer Gesichtspunkt zugrunde: Alle vier Konzepte sind von großer Bedeutung für gegenwärtig heiß diskutierte Themen wie Identitätspolitik, die Politisierung von Wissenschaften, die angebliche Vernachlässigung von Wahrheit im Sozialkonstruktivismus und verwandten Diskussionen. Jeweils wird sich zeigen, dass die feministischen Epistemologien differenzierter argumentieren, als ihre Kritiker*innen glauben, und anspruchsvollere Thesen vertreten, als manche ihrer Anhänger*innen im politischen Feld denken.

Situiertes Wissen: Ein Schlüsselbegriff

Zu diesen etablierten Konzepten zählt allen voran das Theorem des »situierten Wissens«, das mit dem Namen der Biologin und feministischen Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway verknüpft ist. Ihr mit dem Schlagwort der ›Situierung‹ assoziierter Text »Situiertes Wissen. Zur Wissenschaftsfrage im Feminismus und das 24Privileg einer partialen Perspektive«[41]  dürfte einer der meistzitierten Texte im gesamten Feld feministischer Epistemologien sein. Er ist in unzähligen Anthologien abgedruckt und erfreut sich einer regen – allerdings oft verkürzten – Zitationspraxis. Tatsächlich handelt es sich bei diesem Essay um eine wichtige kritische Intervention innerhalb der feministischen Wissenschaftstheorie. Haraway setzt sich aus einer poststrukturalistischen Perspektive kritisch mit der Standpunkttheorie auseinander und arbeitet einen Objektivitätsbegriff aus, der diese als Verknüpfung partialer Perspektiven reformuliert. Dabei geht sie von einem dezidiert identitätskritischen Paradigma aus, denn sie möchte Situierung ausdrücklich nicht als identitäre Festschreibung verstehen. Das würde bedeuten, identitäre Marker der Wissen produzierenden Subjekte aufzuzählen, um beispielsweise Privilegien oder Unterdrückungen sichtbar zu machen. Zwar kann dies Teil einer situierten Wissensproduktion sein, es ist aber nicht deren Hauptanliegen und schon gar nicht ihr selbstverständlicher und einheitlicher Ausgangspunkt.

Gegen die Metapher des Standpunkts, die die Möglichkeit solcher Einheitlichkeit vorauszusetzen scheint, sucht Haraway nach Möglichkeiten, um die Uneinheitlichkeit sowohl der Ausgangssituationen als auch von Subjektivität selbst als zentrale Bedingung einer anspruchsvollen Objektivität einzuführen. Damit betont sie zugleich die Verstrickung von Subjektivität mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen und etabliert Positionierung als notwendige Praxis in der wissenschaftlichen Wissensproduktion. Haraways Auffassung nach schafft nicht Identität – verstanden als souveräne, mit sich selbst identische Subjektivität – objektives Wissen, sondern relative Offenheit gegenüber der Welt ebenso wie gegenüber anderen Positionierungen:

Ein Engagement für bewegliche Positionierung und leidenschaftliche Unvoreingenommenheit ist eine Folge davon, daß unschuldige »Identitätspolitiken« und Epistemologien unmögliche Strategien für eine klare Sicht von den Standpunkten der Unterworfenen aus sind. Man kann nicht Zelle oder Molekül »sein« – oder Frau, kolonisierte Person, Arbeiter*in und so weiter –, wenn man beabsichtigt zu sehen und von diesen Positionen aus kritisch zu sehen. »Sein« ist weitaus problematischer und kontingenter.[42] 

25Mit dem von Marilyn Strathern entlehnten Begriff der »partialen Verbindung«[43]  macht Haraway einen Vorschlag, wie der Einsicht in die Uneinheitlichkeit erkennender Subjektivität, in die Heterogenität objektiver Lebensverhältnisse von Marginalisierten sowie in die Andersartigkeit und Aktivität der (auch nicht-menschlichen) Welt Rechnung getragen werden kann. Im Ideal einer Objektivität als Verknüpfung partialer Perspektiven sieht sie einen Weg, sowohl einen identitären »positionalen Fundamentalismus«[44]  zu vermeiden als auch mit den Implikationen einer aperspektivischen Objektivität zu brechen. Objektives Wissen in diesem Sinne ist verdichtendes und für Revisionen offenes Wissen sowie Produkt einer sich involvierenden und verknüpfenden Wissenschaftspraxis. Haraways Theorem des »situierten Wissens« geht demnach gerade nicht darin auf, die Identität der Forschenden transparent zu machen.

Dieser Punkt ist politisch und epistemologisch nach wie vor brisant. Erstens erinnert er daran, dass die eingespielte Rede von »situiertem Wissen« häufig nur Haraways Begriff übernimmt, aber ihre weitreichenden Thesen beispielsweise zur fragmentierten Subjektivität und deren unvermeidbare Verstrickung in Herrschaftsverhältnisse ignoriert. Elizabeth Anderson etwa verwendet das Konzept, um eine Gemeinsamkeit in den feministischen Epistemologien herauszustellen, nämlich dass Menschen Gegenstände sehr unterschiedlich verstehen, je nachdem, in welcher Beziehung sie zu ihnen stehen. Differenzen ergeben sich aufgrund von Faktoren wie unterschiedlicher Körperlichkeit, unterschiedlichen Interessen und Emotionen oder unterschiedlichen Fähigkeiten.[45]  Diese eher dem feministischen Empirismus nahestehende Auffassung situierten Wissens greift keine der weiterreichenden Überlegungen Haraways auf.

Es zahlt sich aus, auf solche Differenzen in der Verwendung des Begriffs situierten Wissens zu achten, und zwar – zweitens – auch deshalb, weil damit unterschiedliche Verständnisse und Praktiken von politischer Positionierung verbunden sind bzw. sein können. So stellt sich Haraway mit ihrem Konzept situierten Wissens kri26tisch einer routinisierten Praxis der Selbstverortung mithilfe soziologischer Strukturmerkmale entgegen, wie sie sich in manchen Teilen der Sozial- und Geisteswissenschaften eingebürgert hat. Allzu leicht kippen solche »Situierungen« in den Versuch um, sich gegen Kritik zu immunisieren:

[…] ein solcher Akt dient keinem guten Zweck […], wenn er als Disclaimer gegenüber der eigenen Unwissenheit und Fehlern und zugleich ohne eine kritische Befragung dessen gesetzt wird, wie eine solche Autobiographie sich auf das im Folgenden Gesagte auswirkt. Solches überlässt die gesamte tatsächliche Arbeit, die getan werden müsste, den Zuhörenden.[46] 

Haraways Begriff situierten Wissens verkompliziert eine identitätspolitische Praxis, die glaubt, die eigene soziale Position oder Identität würde sich unmittelbar in bessere Erkenntnis und die richtige politische Haltung übersetzen. Diese in den feministischen Epistemologien nicht einmal bei den frühen Standpunkttheoretiker*innen anzutreffende Naivität findet sich bedauerlicherweise recht häufig in öffentlichen Diskussionen. Befürworter*innen wie Gegner*innen von Identitätspolitik arbeiten gerne mit einer brachial verkürzten Vorstellung davon, wie Situierung, Wissen und politische Positionierung zusammenhängen, und vergessen die politische wie epistemologische Arbeit, die notwendig ist, um diese Zusammenhänge herzustellen.

Objektivität: Stark, schwach oder gar nicht?

Das zweite Ergebnis betrifft die feministische Revision des Begriffs der Objektivität, die auch schon bei Haraway eine zentrale Rolle spielt. Wie geschildert, antworteten feministische Epistemologien ursprünglich auf die Erfolge feministischer Interventionen in (natur-)wissenschaftliche Praktiken. Eine der dabei aufgeworfenen Fragen lautete: Wie können wir Objektivität verstehen, wenn die kritische Revision wissenschaftlicher Instrumente durch Feminist*innen zu Forschungsergebnissen führt, die im Vergleich mit den vormals gültigen als epistemisch überlegen eingestuft werden müssen?[47]  Zwar kann man den Objektivitätsanspruch schlicht als 27androzentrisch disqualifizieren, diesen aufgeben und dafür plädieren, die Wissenschaften, ja letztlich die gesamte Wissensproduktion auf andere Ideale zu verpflichten. Damit verlöre jedoch ein Großteil der feministischen Kritik an den Wissenschaften ihre Grundlage, denn diese wollte schließlich nicht behaupten, es sei unmöglich, die Realität zu erkennen, sondern vielmehr zeigen, dass die traditionellen Theorien, Methoden und die damit gewonnenen Ergebnisse unvollständig, wenn nicht falsch waren, weil sie ein unzureichendes Bild der Wirklichkeit lieferten, auf dem das Leben, die Praktiken und die Erfahrungen von Frauen und queeren Personen ausgeblendet wurden und es dadurch zu verzerrten Einschätzungen und unzutreffenden Verallgemeinerungen kam. Diese Kritik verurteilt schlechtes im Namen von besserem Wissen – und dafür müssen Feminist*innen »auf einer besseren Darstellung der Welt beharren: Es reicht nicht aus, auf die grundlegende historische Kontingenz zu verweisen und zu zeigen, wie alles konstruiert ist.«[48]  Vielmehr muss neben einen kritischen Zugang zur Wissenschaft auch ein konstruktiver hinzutreten, der Wissen anders schafft und sich einem veränderten Objektivitätsideal verpflichtet.

Sandra Harding sieht daher nur zwei Optionen für feministische Epistemolog*innen: Entweder sie halten am traditionellen Begriff von Objektivität fest oder sie müssen ein eigenes Verständnis von Objektivität anbieten. Im ersten Fall müssten feministische Epistemolog*innen behaupten, dass die feministische Kritik deshalb erfolgreich gewesen sei, weil sie Fehler und Verzerrungen in den Forschungsprozessen aufgedeckt habe. Im Rahmen dieser von Harding als »spontaner Empirismus« bezeichneten Perspektive wäre feministische Epistemologie unnötig, weil unsere herkömmlichen epistemologischen Begriffe korrekt wären. Es käme allein darauf an, sie in den epistemischen Praktiken tatsächlich unverkürzt und unverzerrt zur Geltung zu bringen. Harding ist von dieser Art spontanem Empirismus nicht überzeugt. Die bisherige Wissenschaftsgeschichte zeige, dass der traditionelle Begriff von Objektivität »zu schwach« sei, um die von Feminist*innen aufgezeigten Mängel zu beheben. Solange Objektivität dadurch gewährleistet werde, dass 28wissenschaftliche Praktiken jede Spur von Subjektivität mitsamt allen ethischen oder politischen Interessen in sich ausmerzen, um eine reine, neutrale Aperspektivität zu erreichen, würden viele kulturell akzeptierte Hintergrundüberzeugungen ungeprüft bleiben. »Starke Objektivität« im Sinne Hardings schließt dagegen deren kritische Überprüfung und Berücksichtigung in der wissenschaftlichen Wissensproduktion ein. Dazu bedarf es auch einer »starken Reflexivität«, weil die Prüfung des Selbstverständlichen nur geleistet werden kann, wenn – Harding ist Standpunkttheoretikerin – vom Leben der Marginalisierten her gedacht wird:

Eine maximal kritische Untersuchung von Wissenschaftler*innen und ihren Gemeinschaften kann […] nur aus der Perspektive derer erfolgen, deren Leben durch diese Gemeinschaften marginalisiert wurden. Daher erfordert starke Objektivität, dass Wissenschaftler*innen und ihre Gemeinschaften aus wissenschaftlichen und epistemologischen Gründen sowie aus moralischen und politischen Gründen in demokratiefördernde Projekte integriert werden.[49] 

Nun ist die Verbindung zwischen einem Begriff von Objektivität, der den sozialen Kontext wissenschaftlicher Praktiken einbezieht, und der feministischen Standpunkttheorie vielleicht nicht so eng, wie Harding glaubt. Das Werk von Helen Longino, einer weiteren wichtigen feministischen Epistemologin, die entschieden für ein neues Verständnis von Objektivität plädiert, demonstriert jedenfalls die Potenziale eines »feministischen Empirismus«. Longino argumentiert im Rahmen ihres »kritischen kontextuellen Empirismus«, dass der Diskurs wissenschaftlicher Gemeinschaften vier Merkmale aufweisen muss, um objektives Wissen hervorbringen zu können:

die Bereitstellung von Verhandlungsorten, die der Artikulation von Kritik einen Raum geben; die Aufnahme von Kritik (anstelle des bloßen Tolerierens); öffentliche Standards, auf die sich die diskursiven Interaktionen beziehen; und die Gleichheit (oder wohlüberlegte Gleichheit) der intellektuellen Autorität aller Mitglieder der Gemeinschaft.[50] 

29Wie auch immer man sich zu diesen beiden Neubestimmungen des Objektivitätsbegriffs verhalten mag, fest steht für die feministischen Epistemologien, dass man ihn nicht einfach aufgeben kann. Fest steht aber auch, dass man nicht zum traditionellen Verständnis von Objektivität zurückkehren kann, das die sozialen Bedingungen von epistemischen Praktiken abtrennt, anstatt sie kritisch mitzureflektieren. Brianna Tool fasst den in dieser Hinsicht erreichten Stand prägnant zusammen:

[…] Objektivität muss nicht so verstanden werden, dass sie Unparteilichkeit oder Neutralität, Standort- oder Perspektivlosigkeit erfordert bzw. beinhaltet. Stattdessen benötigt Objektivität, dass wir anerkennen und untersuchen, wie unsere Position relativ zum Forschungsgegenstand unser Verständnis davon beeinflusst. Und sie erfordert, in Rechnung zu stellen, wie andere, die anders positioniert sind, den Gegenstand verstehen werden.[51] 

Wissen und Werte: Ohne scharfe Trennung auskommen

Dass sich diese Einsicht in den Debatten der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie durchgesetzt hat, ist eng mit dem dritten Ergebnis feministischer Epistemologien verbunden, das wir herausstellen möchten: der Ablehnung des Ideals wertfreien Wissens. Feministische Erkenntnis- und Wissenschaftstheoretiker*innen haben starke Argumente gegen die seit den 1950er Jahren geläufige, ja hegemoniale Vorstellung entwickelt, wonach epistemische – allen voran wissenschaftliche – Praktiken nur dann gute epistemische Praktiken sind, wenn sie sich von allen nicht-epistemischen (also moralischen, politischen etc.) Werten befreien.[52]  Unbeeinflusst von allen menschlichen Interessen außer der natürlichen Liebe zum Wissen 30sollte damit jedwede politische, moralische oder sonst wie weltanschauliche Beeinflussung verhindert werden. Die Kritik daran von Seiten der feministischen Epistemologien verband zwei Aspekte: Einerseits konnten Feminist*innen wieder und wieder demonstrieren, dass hinter der Fassade der Wertfreiheit sexistische und androzentrische Werthaltungen verborgen wurden (und werden), deren Einfluss gleichwohl in den Forschungsergebnissen sichtbar wurde, sobald sie daraufhin kritisch überprüft wurden. Andererseits wollten feministische Epistemolog*innen daraus vielfach gerade nicht den Schluss ziehen, dass es ausreiche, nun auch noch diese Einflüsse aus den epistemischen Praktiken auszumerzen; stattdessen gingen sie davon aus, dass es einer grundlegend anderen Konzeption von Wissen, wissenschaftlichen Praktiken und Objektivität (siehe oben) bedürfe. Wissen – so die allgemeinste Formulierung – lässt sich gar nicht streng wertfrei begreifen.

Elizabeth Anderson liefert in ihrem Aufsatz »Wissen, menschliche Interessen und Objektivität in der feministischen Epistemologie«[53]  eine grundlegende Verteidigung dieser Position. Zwei Überlegungen sind von zentraler Bedeutung für ihre Argumentation: Erstens differenziert Anderson sorgfältig zwischen Wahrheit sowie der Signifikanz und Vollständigkeit von Wahrheiten. Denn wir seien nie an Wahrheit schlechthin interessiert – dann würde es reichen, viele vollkommen irrelevante Wahrheiten zu sammeln. Vielmehr wollen wir jene Wahrheiten in Erfahrung bringen, die ein fragliches Phänomen vollständig und in seiner Bedeutung erfassen – doch was es bedeutet, Vollständigkeit und Signifikanz zu erreichen, hängt von den Zielen und dem sozialen Kontext unserer Wissenspraktiken ab. Beziehen wir diese nicht ein, weil wir am Ideal der Wertfreiheit festhalten, können wir gar nicht angemessen beurteilen, ob unsere epistemischen Praktiken Erfolg haben oder nicht.[54] 

Zweitens öffnet das jedoch keineswegs willkürlichen Wertungen oder gar »alternativen Fakten« Tür und Tor. Denn gefragt seien »unparteiliche« Urteile:

31Unparteilichkeit bedeutet nicht, dass man alle Bewertungsmaßstäbe außer Acht lässt, sondern dass man sich verpflichtet, ein Urteil mithilfe einer Reihe von Wertmaßstäben zu fällen, die über die konkurrierenden Interessen derjenigen hinausgehen, die rivalisierende Antworten auf eine Frage vertreten. Zu diesen Maßstäben gehören Ehrlichkeit und Fairness im Urteil. Muss Signifikanz in Bezug auf stark umstrittene politische und moralische Fragen beurteilt werden, verlangt Fairness keine Neutralitätspose, sondern dass alle Fakten und Argumente beachtet werden, die das Werturteil der jeweiligen Seite stützen oder untergraben.[55] 

Viele feministische Standpunkttheoretiker*innen wie Harding und Hartsock sowie stärker poststrukturalistisch argumentierende Theoretiker*innen wie Haraway oder Nancy Tuana dürften unzufrieden mit Andersons eher dem feministischen Empirismus zuzuordnender Position sein. Obwohl sie auf konkrete Beispiele eingeht, erfahren wir wenig über die Machtverhältnisse, die Gesellschaften so strukturieren, dass bestimmte Werte und Interessen Dominanz erlangen und sich sogar die Maske der Wertfreiheit aufsetzen können. Auch die Subjekte des Wissens scheinen genau jene klassisch autonomen, mit sich selbst identischen Individuen zu sein, die Haraway oder Tuana suspekt sind. Vor dem Hintergrund von Lorraine Codes für die feministischen Epistemologien wichtiger Frage, wer überhaupt ein wissendes Subjekt sein könne und welchen Einfluss dessen Geschlecht darauf habe,[56]  mag diese Dimension bei Anderson in der Tat unzureichend berücksichtigt werden. Doch die feministischen Epistemologien sind in Bezug auf diese Frage ebenso uneins wie andere Bereiche der Philosophie oder der Sozialtheorie. Ob die Kritik des »abstrakten Individualismus«[57]  dazu führen sollte, stattdessen Gemeinschaften als primäre Wissenssubjekte vorauszusetzen,[58]  oder ob schon die Vorstellung falsch ist, entweder Individuen oder Gemeinschaften müssten pri32mär sein,[59]  ist heftig umstritten – und auch der methodologische Individualismus findet durchaus seine Verteidiger*innen.[60]  Vor dem Hintergrund dieser Differenzen liefert Anderson eine relativ konsensfähige Verteidigung eines Modells epistemischer Praktiken, die stets einer doppelten Bewertung unterliegen: Wissensansprüche müssen epistemisch und ethisch gerechtfertigt werden, und beide Dimensionen stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern sind miteinander verschränkt.

In der Wissenschaftstheorie ist diese Ablehnung des Ideals wertfreier Wissenschaft mittlerweile zum Gemeinplatz geworden; der Rechtfertigungsdruck lastet also nicht mehr auf Seiten seiner Kritiker*innen, sondern auf denjenigen, die an der Vorstellung wertfreier Wissenschaft festhalten wollen.[61]  Die Wissenschaftstheorie schließt damit – endlich – an längst etablierte Positionen der Wissenschaftsgeschichte und -soziologie sowie der Science and Technology Studies an. Der öffentlichen Debatte über Wissenschaften und ihre Rolle in der Demokratie scheint diese Veränderung in den Disziplinen, die sich wissenschaftlich mit Wissenschaften befassen, bisher allerdings weitgehend entgangen zu sein. Das ist bedauerlich, aber vielleicht wenig überraschend. Ärgerlicher ist hingegen, dass das Ideal wertfreier Wissenschaft nach wie vor in vielen wissenschaftstheoretischen Grundlagenkursen verschiedener Fachdisziplinen als gesetzt gilt, die sich kaum je die – in den Wissenschaften eigentlich obligatorische – Mühe machen, sich dem Stand der Forschung anzupassen. Politisch brisant wird diese »spontane Philosophie der Wissenschaften«, wenn sie die öffentlichen Debatten über 33die Rolle wissenschaftlicher Praktiken in Demokratien beherrscht, weil die damit einhergehende Idealisierung der Wissenschaften paradoxerweise die Angriffe ihrer Verächter*innen erleichtert.[62] 

Natur und Kultur: Alles konstruiert?

Die Kritik am Ideal der Wertfreiheit ist eng verknüpft mit der eingangs erwähnten vernunftkritischen Stoßrichtung feministischer Epistemologien.[63]  Eine wichtige Spielart der Vernunftkritik ist die Kritik moderner Dualismen, die in der feministischen Tradition in vielen Variationen auftritt. Allen voran wurde der Dualismus von Körper und Geist zum Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung, denn die Hierarchie in dieser Gegenüberstellung ist offenkundig vergeschlechtlicht. Der als weiblich konnotierte Körper wird vom als männlich konnotierten Geist abgetrennt und Letzterer als überlegen angesehen. In der Folge wurden – wie Haraway es treffend formuliert hat – Frauen und andere weiblich gelesene, exotisierte oder rassifizierte Personen zu den »verkörperten Anderen, denen es nicht erlaubt ist, keinen Körper zu haben«.[64]  Die hierarchische Trennung von Körper und Geist ist verstrickt mit der Gegenüberstellung von Kultur und Natur.[65]  Die Zurückweisung dieser »Großen Trennung«[66]  als Differenzierung ontologischer Sphären ist inzwischen in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine so gängige Bemühung geworden, dass die Kritik der Dualismen teilweise wie ein Selbstzweck erscheint. Doch solange sie nicht reines Lippenbekenntnis bleibt, ist sie aus Perspektive der feministischen 34Theorie unverzichtbar: Denn in der feministischen Lesart werden die machtvollen und strukturbildenden Effekte von Dualismen herausgestellt und es wird nach anders strukturierten Zugängen zur Epistemologie und Politik gesucht.

Die Dualismuskritik stellt ein grundlegendes Anliegen feministischer Erkenntnistheorien dar, wird jedoch seit einigen Jahren insbesondere von Positionen aktualisiert und weitergedacht, die unter dem Label »Neuer Materialismus« firmieren.[67]  Diese interdisziplinäre Denkbewegung problematisiert die scharfe Trennung von Materie und Diskurs und nimmt ihren Ausgang von einer Kritik des vulgären Sozialkonstruktivismus und linguistischen Monismus. Die Dominanz kulturwissenschaftlicher und diskurstheoretischer Zugänge seit den 1990er Jahren habe den Eigensinn von Materialitäten, Körpern und Natur vernachlässigt – es gelte, diesem ›Anderen der Vernunft‹ aber philosophisch und sozialtheoretisch Rechnung zu tragen.[68]  Neue Materialist*innen haben dies auf ganz unterschiedliche Weisen versucht, dafür insbesondere den Dialog mit naturwissenschaftlichem Wissen gesucht und neue erkenntnistheoretische Anregungen vorgelegt.

Samantha Frost buchstabiert die Implikationen der neuen Materialismen für die feministische Epistemologie aus und stellt dabei die besondere Spielart der Dualismuskritik in diesen Positionen in den Vordergrund. Frost zeigt, dass die neomaterialistische These einer aktiven Materie für die Erkenntnistheorie grundlegende Fragen aufwirft, vor allem nach dem Verständnis von Kausalität. Gegen praxistheoretische oder sozialkonstruktivistische Theorien wenden neue Materialismen ein, diese würden den Dualismus von Materie und Diskurs lediglich umdrehen und der menschlichen Praxis oder Sprache eine »produktionistische«[69]  Übermacht einräumen. Frost verortet diese Ausgangslage im Kontext der feministischen Epistemologie:

Die neuen Materialist*innen bekämpfen genau die Vorstellung, dass Materie nur aufgrund ihrer Rezeptivität für menschliche Handlungsfähigkeit 35agentiell ist. Sie versuchen, das besondere Wirken von Materie und Biologie zu spezifizieren und nachzuzeichnen, die wechselseitige Durchdringung von Fleisch, Kultur und Erkenntnis zu beleuchten, die Durchlässigkeit des Körpers in Bezug auf seine Umwelt zu untersuchen und die Bedingungen und Technologien zu kartografieren, die die Möglichkeiten für Wissen und Handeln formen, einschränken und erweitern.[70] 

Die materielle Durchdrungenheit des Sozialen wird von neuen Materialist*innen ins Zentrum der Überlegungen gerückt. Damit laden sie feministisch-erkenntnistheoretische Positionen dazu ein, die Wirkmächtigkeit des Nicht-Menschlichen in Prozessen der Wissensproduktion stärker zu berücksichtigen, als dies bislang geschehen ist, schließen aber gleichzeitig an wichtige Grundüberlegungen feministischer Epistemologien an, allen voran an die Einsicht, dass Wissenspraktiken verkörpert sind. Konstitutionsbedingungen von Wissensobjekten werden von neomaterialistischen Beiträgen denkbar weit gefasst und eben nicht allein mit einer kritischen Perspektive auf Naturalisierungen, sondern auch in Bezug auf materielle und körperliche Begrenztheiten:

Feminist*innen haben sich mit der Denaturalisierung der Natur wohler gefühlt als mit dem, was wir »Entkulturalisierung der Kultur« nennen könnten – oder zuzugeben, dass Materie oder Biologie eine Form von Handlungsfähigkeit oder Kraft haben könnte, die die Handlungsfähigkeit der Kultur formt, verstärkt, bedingt oder begrenzt.[71] 

Neue Materialismen machen also deutlich, dass die Überwindung des Dualismus von Natur und Kultur weder Selbstzweck noch theoretische Spielerei ist. Die konstante Problematisierung moderner Dualismen kann eine wichtige kritische Kraft entfalten. Zugleich lässt sich aus dieser Perspektive verstehen, dass und in welchen Weisen Biologisches und Soziales tatsächlich immer in konkreten Wechselwirkungen oder Verflechtungen auftreten. Wie Frost zeigt, bedarf diese Einsicht eines »Denken[s] in komplexen Kausalitäten und Interdependenzen«, das Erkenntnistheorie insofern anders praktizieren will, als es »das Streben nach kognitiver und praktischer Beherrschung der Welt attackiert«.[72]  Diese Stoßrichtung fe36ministischer Epistemologie weist auf die Notwendigkeit epistemischer Bescheidenheit hin, die von der Einsicht ausgeht, dass sich die Welt einer gänzlichen epistemischen wie politischen Beherrschung entzieht. Dieser kritische Ausgangspunkt lässt sich nicht nur gegen eine allzu großspurige Wissenschaftskommunikation in Stellung bringen, sondern vor allem gegen solutionistische Versprechungen von Seiten der Wissenschaften und der Technologieentwicklung angesichts drängender Probleme wie der Klimakatastrophe.

Gegenwart: Die vielfältigen Verschränkungen von Macht und (Nicht-)Wissen

»Gestern war ›feministische Epistemologie‹ ein Oxymoron, heute ist der Name vertraut, doch noch ist unklar, was er bezeichnet«, stellen Alcoff und Potter 1993 fest.[73]  Gut dreißig Jahre später sind die Konturen der feministischen Epistemologien deutlicher geworden. Zu Recht sehen viele Vertreter*innen in der Entwicklung ihres Feldes eine Erfolgsgeschichte, wenngleich in ihr auch Hindernisse, Rückschläge und starke Vereinheitlichungstendenzen sichtbar sind. Zwar gehören uninformierte Anfeindungen und disziplinäre Ausgrenzungen wohl nicht mehr zur Standardreaktion, aber sie unterbleiben nicht gänzlich.[74]  Nach wie vor sind feministische Epistemologien umstritten: von außen, insofern der gegenwärtige Backlash gegen Gender Studies, postkoloniale Theorie und überhaupt alle Varianten kritischer Wissenschaften auch sie trifft; von innen, weil Selbstkritik zu den Stärken des Feldes zählt, die Konflikte aber eben teilweise auch mit harten Bandagen ausgetragen werden.

Zu der nicht gradlinigen Erfolgsgeschichte feministischer Epistemologien gehören sowohl die vier skizzierten Themen und Begriffe, die längst den Sprung über die Grenzen des Feldes in Diskussionen aller möglichen Disziplinen geschafft haben, als auch eine Reihe neuerer Konzepte und Überlegungen. Im letzten Teil dieses Readers stellen wir in fünf Texten drei Themen vor, die – so unsere Vermutung – den Übergang zur Selbstverständlichkeit wenn nicht schon geschafft haben, so doch bald schaffen werden: epistemische 37Ungerechtigkeit (und Gewalt), der Fokus auf Nichtwissen und die Dekolonisierung der (feministischen) Erkenntnistheorie.

Epistemische Ungerechtigkeit und epistemische Gewalt

Der Begriff der »epistemischen Ungerechtigkeit«[75] , der zunächst von Miranda Fricker eingeführt wurde, ist zum Titel einer enorm produktiven Debatte avanciert, die zu kartieren ein eigenes Buch erfordert.[76]  Ein Grund dafür ist, dass es Fricker gelingt, ein zentrales Thema der feministischen Epistemologien – den Einfluss vergeschlechtlichter Machtbeziehungen in Wissenspraktiken – mit traditionelleren Ansätzen aus der sozialen Epistemologie zu verbinden. In ihrem Buch untersucht sie zwei Arten epistemischer Ungerechtigkeit, also moralischer und intellektueller Verfehlungen, die andere in ihrer Eigenschaft als epistemische Akteure betreffen, d.h. als wissende, erkennende oder Zeugnis ablegende Subjekte:[77] 

Zeugnisungerechtigkeit tritt auf, wenn eine Hörerin aufgrund von Vorurteilen den Äußerungen einer Sprecherin geringere Glaubwürdigkeit zubilligt. Hermeneutische Ungerechtigkeit tritt in einem früheren Stadium auf, nämlich dann, wenn eine Lücke in den kollektiven Interpretationsressourcen jemanden in seinem Bemühen, die eigenen sozialen Erfahrungen sinnvoll zu deuten, auf unfaire Weise benachteiligt.[78] 

Obwohl Frickers Buch sehr positiv aufgenommen wurde und ihre Begrifflichkeit starke Verbreitung fand, folgte die Kritik auf dem Fuße. Insbesondere ihre Analyse hermeneutischer Ungerechtigkeit 38traf auf Widerspruch, der häufig Überlegungen aus feministischen Standpunkttheorien aufgriff und sich sowohl gegen die Vorstellung einheitlicher hermeneutischer Ressourcen einer Gesellschaft richtete als auch gegen die Folgerung, dass marginalisierte Gruppen in dieser Gesellschaft epistemisch schlechter gestellt sein müssten.[79]  Schon die Existenz marginalisierter Gruppen zeige, dass Gesellschaften eben nicht homogen seien und daher auch keine homogenen hermeneutischen Ressourcen bereitstellten. Zudem verfügten viele marginalisierte Gruppen über eigene hermeneutische Ressourcen und seien insofern sogar besser ausgestattet als die dominante Gruppe – sie könnten epistemische Vorteile haben, wenn man der Argumentation feministischer Standpunkttheorien folgt.[80] 

Zugleich, und teilweise aufbauend auf diesen Kritiken, wurden Frickers Konzepte auf philosophisch äußerst fruchtbare Weise weiterentwickelt und weitere Formen epistemischer Ungerechtigkeit beschrieben. Eine wichtige Stimme in diesen Debatten ist Kristie Dotson, die sich in ihrem Aufsatz »Epistemische Gewalt aufspüren, Praktiken des Zum-Schweigen-Bringens aufspüren«[81]  aus politischer Perspektive den Praktiken des Zum-Schweigen-Bringens zuwendet. Gerade wo diese erfolgreich seien, ließen sie sich schwer erkennen, doch könne eine Analyse der epistemischen Gewalt helfen, die in diesen Praktiken verwendet wird. Dotson beschreibt daher im Detail zwei Formen des Zum-Schweigen-Bringens: das Überhören und das Ersticken von Bezeugungen, die beide auf der misslingenden Interaktion von Sprecher*in und Zuhörer*innen beruhen. Beim Überhören von Bezeugungen (testimonal quieting) verweigert das Publikum einer Sprecherin die Anerkennung als Wissende – und zwar aufgrund von Stereotypen in Bezug auf die Gruppe, zu der die Sprecherin gehört. Diese »kontrollierenden Bilder«[82]  führen 39dazu, dass die Zuhörer*innen einer Sprecherin unberechtigterweise absprechen, über Wissen zu verfügen. Anders als Fricker beschreibt Dotson diese auf den ersten Blick nicht von Zeugnisungerechtigkeit zu unterscheidende Variante des Zum-Schweigen-Bringens jedoch in politischen Begriffen von epistemischer Gewalt und Unterdrückung, nicht in moralischen Termini. Zudem greift sie expliziter als Fricker die umfangreiche Literatur der feministischen Epistemologien zu diesem Thema auf, vor allem von Schwarzen Feminist*innen wie Patricia Hill Collins, die eindrücklich die »kontrollierenden Bilder« in Bezug auf Schwarze Frauen beschreibt.[83] 

Die zweite Art des Zum-Schweigen-Bringens nennt Dotson »erstickte Bezeugung« (testimonial smothering). Sie tritt auf, wenn Sprechende aufgrund des schädlichen Nichtwissens des Publikums ihre Aussagen zu einem bestimmten Thema als derart riskant einstufen müssen, dass sie darauf verzichten, sie zu äußern. Das ist der Fall, wenn die Zuhörer*innen ihre eigene Unkenntnis nicht adäquat berücksichtigen und auch nicht offen dafür sind, etwas Neues zu lernen, sondern erkennen lassen, dass sie die Äußerungen nur in verzerrter Form aufnehmen bzw. diese direkt entwerten werden. Dotson spricht in diesem Fall davon, dass das Publikum »testimoniale Inkompetenz« demonstriert. Zur Veranschaulichung greift sie ein Beispiel von Uma Narayan auf, die ausführlich darlegt, warum das Nichtwissen US-amerikanischer Zuhörer*innen in Bezug auf Mitgiftmorde in Indien das Risiko birgt, dass ihre Aussagen dazu nur die ohnehin negativen Stereotype in Bezug auf Indien verstärken.

In einen Austausch von Zeugnissen einzutreten, der mit situiertem Nichtwissen, testimonialer Inkompetenz und unsicheren, riskanten Inhalten belastet ist, reicht oft aus, um sogar die geselligste Person zum Schweigen zu bringen. Narayan selbst erklärt, dass sie sich irgendwann entschieden hat, sich nicht mehr an »Dialogen« über Mitgiftmorde zu beteiligen.[84] 

Das Überhören und das Ersticken von Bezeugungen sind nur zwei der vielen Formen epistemischer Ungerechtigkeit, die in der Debatte identifiziert wurden. Wichtig ist hier die Verschiebung hin zu einem stärker politischen Fokus, der in Dotsons Begriffen von 40epistemischer Gewalt und epistemischer Unterdrückung deutlich wird und eine generelle Tendenz in der Debatte um epistemische Ungerechtigkeit widerspiegelt.[85]  Allerdings werden die dabei genutzten politischen Konzepte wie Unterdrückung, Widerstand, Protest etc. häufig ungeprüft aus der politischen Philosophie übernommen. Damit wird einerseits ein – selten explizit verteidigter – politischer Liberalismus weitergeführt, der in deutlichem Kontrast zu den wesentlich liberalismuskritischeren Texten der älteren feministischen Epistemologien steht. Andererseits scheint die Debatte um epistemische Ungerechtigkeit oft bereits vorhandene Überlegungen lediglich im Vokabular der analytischen Philosophie neu zu erfinden, statt auf dem bereits erreichten Diskussionsstand der feministischen Epistemologie aufzubauen.[86] 

Nichtwissen

Dotson greift in ihrer Analyse von Praktiken des Zum-Schweigen-Bringens als Formen epistemischer Gewalt auf den Begriff des (schädlichen) »Nichtwissens« zurück, der im Zentrum einer zweiten aktuellen Diskussion in den feministischen Epistemologien (und darüber hinaus) steht. Nichtwissen meint dabei nicht – oder jedenfalls nicht nur – das Fehlen von Wissen, sondern eine gesellschaftliche und/oder individuelle Praxis, die dafür sorgt, bestimmtes Wissen nicht in Erfahrung zu bringen.[87]  Beispielsweise werden, um die deutsche Gesellschaft nicht als sexistisch, rassistisch oder 41antisemitisch erkennen zu müssen, Antisemitismus, Rassismus und Sexismus nur dann breit diskutiert und öffentlich skandalisiert, wenn sie bei Migrant*innen vorkommen. Die rassistische Mordserie des NSU von 2000 bis 2006, der alltägliche Sexismus auf deutschen Volksfesten oder der antisemitische Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 werden dagegen routiniert aus der öffentlichen Diskussion verdrängt.[88]  Es geht der Analyse und Kritik von Nichtwissen, mit anderen Worten, vorwiegend um aktive und strukturelle Ignoranz in Bezug auf manche Sachverhalte.

Miranda Fricker selbst greift diese Diskussion in »Epistemische Ungerechtigkeit und das Bewahren von Nichtwissen«[89]  auf und untersucht, inwieweit Zeugnisungerechtigkeit und hermeneutische Ungerechtigkeit »vorsätzliches« Nichtwissen erzeugen oder zu bewahren helfen.[90]  Zugleich antwortet sie darin auf einige der oben genannten Kritiken an ihrer Konzeption hermeneutischer Ungerechtigkeit, indem sie ein Spektrum verschiedener Fälle hermeneutischer Ungerechtigkeit beschreibt. Es reicht vom Maximalfall, in dem eine Gruppe tatsächlich nicht die begrifflichen Ressourcen hat, um einen Teil ihrer sozialen Erfahrung zu verstehen, bis zum Minimalfall, in dem die Gruppe keine unverständlichen Erfahrungen macht, aber ihre Deutung keinen Anschluss an die von der dominanten Gruppe bestimmten gesellschaftsweit geteilten hermeneutischen Ressourcen findet. Frickers Interesse gilt den Fällen von Nichtwissen, die durch hermeneutische Ungerechtigkeit verursacht werden und zwischen diesen beiden Extremen liegen. Denn sie würden sich in zwei Aspekten von einem anderen, für die Epistemologie des Nichtwissens zentralen Fall von aktiver Ignoranz unterscheiden: dem »weißen Nichtwissen«, das Charles Mills wirkmächtig analysiert hat. Dabei handelt es sich um »die Idee einer Unwissenheit, eines Nichtwissens, das nicht zufällig ist, sondern 42bei dem race – weißer Rassismus und/oder weiße Herrschaft und ihre Konsequenzen – eine entscheidende kausale Rolle spielen«.[91]  Ohne die Bedeutung dieser Art des Nichtwissens zu bestreiten, ist für Fricker damit noch nicht jene aktive Ignoranz erfasst, die durch hermeneutische Ungerechtigkeit erzeugt wird, d.h. dadurch, dass es eine »Lücke« in den gesellschaftlich geteilten hermeneutischen Ressourcen gibt. Denn »weißes Nichtwissen« gehe erstens nicht immer mit einem solchen Mangel an hermeneutischen Ressourcen einher und sei zweitens schuldhaft, könne also Einzelnen als moralisch und epistemisch verwerflich angelastet werden. Fricker zielt dagegen mit ihrer Analyse auf Formen von Nichtwissen, die durch strukturelle, nicht persönlich verantwortbare Machtbeziehungen verursacht werden, indem diese »Lücken« in die gemeinsamen hermeneutischen Ressourcen reißen.

Nichtwissen lässt sich auch anders thematisieren als in der analytisch geprägten feministischen Erkenntnistheorie, wie Nancy Tuana in »Zur Erkenntnis kommen: Der Orgasmus und die Epistemologie des Nichtwissens« demonstriert.[92]  Sie konzentriert sich auf jenes Nichtwissen, das durch wissenschaftliche Praktiken hervorgebracht wird. Ihr Beispiel ist das (Nicht-)Wissen über weibliche Sexualität und insbesondere den weiblichen Orgasmus. Anhand eines historischen Parforceritts durch die Geschichte der Sexualwissenschaft zeigt Tuana am Beispiel der Klitorisdarstellungen in Anatomiebüchern, wie Nichtwissen erzeugt und teilweise sogar gegen bereits vorhandenes Wissen durchgesetzt wurde. Einerseits belegt sie so die oben als dürre begriffliche These eingeführte Behauptung, Nichtwissen sei mehr als das Fehlen von Wissen und erfordere eine eigene Behandlung in feministischen Epistemologien. Andererseits arbeitet sie, deutlicher als Fricker oder Mills, die Verstrickung von Wissens- und Nichtwissensproduktion mit Machtbeziehungen heraus und führt dafür den an Foucault angelehnten Begriff des »Macht/Wissen-Nichtwissens« (power/knowledge-ignorance) ein:

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