Ferdinand kommt später - Elfi Uragg - E-Book

Ferdinand kommt später E-Book

Elfi Uragg

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Beschreibung

Ein junges Ehepaar aus dem Kronland Steiermark des Habsburgerreiches führt mit seinen Kindern und seinem Gasthaus ein zufriedenes und aufstrebendes Leben. Man schreibt das Jahr 1914. Eine kaum merkliche Ahnung von Gefahr schwelt unter der Unbeschwertheit dieses letzten Frühlings, nach dem nichts mehr so sein wird, wie es war. Ferdinand muss schweren Herzens seine schwangere Frau und seine Kinder zurücklassen und in den Krieg ziehen. Er kommt in russischer Gefangenschaft nach Sibirien, wo er sechs Jahre seines Lebens verbringt. Kälte, Fronarbeit, Hunger und Einsamkeit bestimmen sein Dasein. Die einzige Abwechslung sind die Besuche des Bürgermeisters von T., der ihn für Arbeiten in seinem Haus zu seiner Familie mitnimmt, deren Tochter sich in ihn verliebt. Martha, seine Frau, führt inzwischen das Gasthaus allein, nur Viktor, ein junger Kriegsversehrter, steht ihr dann und wann zur Seite. Als Ferdinand nach Hause zurückkehrt, erfährt er schmerzlich, dass sich alles verändert hat. "Es ist die bewegende Geschichte meines Großvaters." (Elfi Uragg)

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Der Krieg hat einen langen Arm. Noch lange, nachdem er vorbei ist, holt er sich seine Opfer.Martin Kessel

Für Berta

Inhaltsverzeichnis

1914 – 1916

Weiz, Steiermark

Weiz, Steiermark

Galizien

Weiz, Steiermark

Galizien

Galizien, Mai 1915

Sibirien

1917 – 1919

Weiz, Steiermark

Sibirien

Weiz, Steiermark

Sibirien

Weiz, Steiermark

Sibirien

Weiz, Steiermark

1920 – 1921

Sibirien

Weiz, Steiermark

Sibirien

Epilog

Nachwort

Quellen

1914 – 1916

Weiz, Steiermark

Die Kinder flitzten durch die Gasträume, vorbei an der offenen Küche, aus der Dampfschwaden herauswaberten, einen feinen Geruch von ausgelassenem Schweineschmalz mit sich führend. Dahinter die Stimme der Mutter, die zwischen den klappernden Blechtöpfen und dem brodelnden Wasser der Küchenmagd Anweisungen zurief. Wenn Hanna mit roten Augen in der Küchentür erschien, wussten sie, dass sie nicht geweint, sondern bloß Zwiebel geschnitten hatte. Und der heiße Dampf tat sein Übriges.

„Nicht so wild!“, ermahnte sie der Vater, der im nebeligen Dunst auftauchte, seine roten Hände an der seinen Bauch umspannenden kobaltblauen Schürze aus festem Leinen abstreifend, auf der sich schon mehrfach seine Fingerabdrücke abzeichneten. Ferdinands dunkler Oberlippenbart glänzte, auf seiner Stirn sammelten sich Tröpfchen.

Sein Blick glitt auf die linke Wand der Gaststube, wo sich neben dem Garderobenständer die grün gemusterte Tapete wellte, als wollte sie sich ablösen. Der heiße Dampf aus der Küche, überlegte er.

Seine Augen wanderten über die halbhohe dunkel lasierte Holzvertäfelung hinauf, verweilten auf der gerahmten Fotografie hinter Glas. Der Mann mit einem mächtigen gezwirbelten Schnurrbart, sein dichtes dunkles Haar zurückgekämmt. Die Frau daneben in einem hellen Kleid, wie es schien, obwohl das Porträt nur die obere Hälfte der zwei Menschen preisgab. Beide blickten ernst in die Kameralinse des Fotografen. Seine Großeltern.

Er hauchte auf das Glas, zog ein sauberes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte beinahe liebevoll darüber. Als die Großeltern den Betrieb seinen Eltern übergeben hatten, widmeten sie ihm und seiner Schwester Bertha als Kleinkinder viel Zeit, die ihre Eltern nun nicht mehr aufbringen konnten.

Ob das Porträt seiner Eltern endlich gerahmt war? Er würde Luis fragen, wenn er abends zum Pokern kam.

An der Wand vor ihm reihten sich drei massive rechteckige Eichentische aneinander, wandseitig eine Bank und rundherum Stühle. Die hinteren zwei Tische waren unbesetzt, aber rund um den ersten drängte sich eine Gruppe Männer. Alle dunkel gekleidet, einige mit Schirmmützen. Über ihnen Rauchschwaden.

Als Ferdinand mit den schweren Steinkrügen die rauchgeschwängerte Luft durchschnitt und das Bier auf dem Holztisch absetzte, nahm er Wortfetzen auf wie „angespannte Lage am Balkan“ und immer wieder Ausdrücke wie „explodieren, Pulverfass“ und Ähnliches.

Es war ihm bewusst, dass Russland und Österreich-Ungarn sich um die Vormachtstellung am Balkan stritten, dennoch hoffte er …

„Vater“, rief Johann, sein zweiter Sohn.

Der älteste, der bereits die zweite Klasse besuchte, war nach ihm benannt, so wie es üblich war, Ferdinand, aber alle nannten ihn Ferdi. Auch Sebastian sollte Ferdinand heißen, aber …

Russland musste seine Handelswege über das Schwarze Meer schützen, überlegte er. Das Erdöl aus Baku sowie das Getreide aus der Ukraine gingen über diese Route in den Westen.

„Schon unterwegs“, antwortete er, aus seinen Gedanken gerissen, lief in den Schankraum, der sich ebenfalls füllte, und brachte abermals vier schwere Steinkrüge an den Tisch, zog den hinter das rechte Ohr geklemmten Stift hervor und zeichnete Striche auf die jeweiligen Bierdeckel. Er hörte Doktor Schönebach, den Dorfarzt, gerade sagen:

„Dieses Mal werden wir die Verwundeten nicht so schnell wieder zusammenflicken können. Ihr könnt‘ euch nicht vorstellen, welche Verletzungen die modernen Waffen anrichten.“

Der Arzt, der die meisten am Tisch bereits behandelt hatte – auch Ferdinands Familie versorgte er als ihr Hausarzt -, seufzte laut und blickte ernst in die Runde. Er konnte das Gefühl nicht abschütteln, unweigerlich auf eine Katastrophe zuzuschlittern, wenn er an die Zeitungsartikel der letzten Tage dachte, verkniff sich aber seine bösen Vorahnungen.

„Ja, die neuen Technologien haben Wunderwaffen hervorgebracht“, rief der junge Thomas Brauninger beinahe triumphierend.

Er strich sich über seinen Schnurrbart, nahm einen Schluck aus seinem Krug und versuchte mit der Zunge, den Bierschaum aus seinem Bart in den Mund zu ziehen. Als das nicht gelang, wischte er sich mit dem Rücken des rechten Zeigefingers über den Mund. Sein Gebaren ließ vermuten, dass seine jugendliche Unverfrorenheit den Krieg herbeisehnte. Seine teakholzbraunen Augen glänzten und sprühten vor Patriotismus.

„Es wird nicht mehr so sein, dass die Soldaten mit Bajonetten und Vorderladern aufeinander losgehen so wie in den Kinderspielen unserer Buben. Nein, Granaten werden Menschen zerfetzen oder in vielen kleinen Splittern in ihre Körper eindringen, und es wird nur schwer möglich sein, alle Teile herauszuoperieren, ohne zusätzlichen Schaden anzurichten. Und Maschinengewehre verursachen ähnliche Verletzungen.“

Dabei fuhr er sich mit dem Zeigefinger seiner linken Hand über die unregelmäßig wachsende Augenbraue links. Jeder konnte die kleine Narbe oberhalb der Braue sehen. Ein Streifschuss von einer Fuchsjagd vor ein paar Jahren.

„Es wird nicht mehr bloß um eine Kugel gehen, die herausoperiert werden muss …“

Der feinsinnige Arzt, der gerne die Operette besuchte, schüttelte bedächtig den Kopf, während er sprach, und sah auf die Gruppe Männer. Er lächelte verkniffen, um sich den angestauten Ärger nicht anmerken zu lassen. Sein dichtes graues Haar trug er gescheitelt, es fiel ihm ungebändigt – so ganz anders, als es üblich war – seitlich an den Ohren über die goldenen Bügel seiner Brille. Wie konnte man nur so begeistert von einer militärischen Auseinandersetzung reden, in deren Verlauf es jede Menge Verwundete und Tote geben würde.

„Wann gibt es Mittagessen?“, forderten die Buben im Duett, beide in tannengrünen Kniebundhosen, die jener des Vaters ähnelten.

„Das wird noch etwas dauern, zuerst müssen unsere Gäste versorgt werden. Mutter muss erst die Knödel einkochen. Aber dann seid ihr dran“, rief er den dreien nach, wobei sein Blick auf dem kleinen Mädchen hängenblieb; Adelheid bemühte sich stetig, mit ihren Brüdern mitzuhalten, deren Holzpantinen im Stakkato über den Bretterboden klopften. Die mit einem schmalen saphirblauen Stoffband zusammengehaltenen karamellfarbenen Zöpfe hüpften auf ihrem Rücken, der linke Träger des geblümten Schürzenkleides war über ihre Schulter gerutscht und zog den Saum des Kittels vorne weit über die Knie. Der Vater lächelte zufrieden, wobei sich in seine von der Hitze geröteten Backen Grübchen einkerbten. Sein blondes Haar war mit Pomade zurückgekämmt.

Das Gasthaus in Weiz hatte er von seinen Eltern übernommen, nachdem seine vier Schwestern großzügig abgefunden worden waren, die entweder den Sohn eines Großbauern der Nachbarschaft oder einen befreundeten Wirtssohn geheiratet hatten; nur Mathilde, die Jüngste, wollte partout nicht heiraten, sondern lieber einen Beruf erlernen.

Die zunehmend wachsende Bevölkerung in dem Dorf in der Oststeiermark, geschuldet dem medizinischen Fortschritt und dem allmählich besseren Wissen um Hygiene, so dass weniger Menschen an Krankheiten starben, ermöglichte es ihnen, den Betrieb gewinnbringend weiterzuführen.

Jetzt erst kam er in die Küche, wo seine Kinder bereits hungrig auf ihr Mittagessen warteten.

Kaum fertig, liefen sie wieder los, doch ein Blick des Vaters mit zusammengezogenen Augenbrauen auf Ferdis Schulranzen, der achtlos in der Ecke lag, veranlasste den Buben, seine Schiefertafel herauszuziehen und sich mit ihr und dem Griffel an einem leeren Tisch in der Gaststube niederzulassen.

Die Männer am Nebentisch blickten kurz auf, widmeten sich aber sogleich wieder ihrer lebhaften Diskussion um einen möglichen Krieg. Sie saßen nun bereits in doppelter Reihe dichtgedrängt um den einen Tisch, und Ferdis Vater erschien abermals mit schweren Bierkrügen.

Sein Schulfreund Franz P., mit dem Ferdinand als Kind den Mixnitzbach und den Weizbach bei seinem Dorf staute oder umleitete, verwirklichte schon im Spiel als kleiner Junge in den komplizierten Konstruktionen seine genialen Ideen. So war es nicht verwunderlich, dass er, kaum erwachsen, hier am Ort ein Elektromaschinenunternehmen aufbaute.

In Weiz fehlten zwar größere Gewässer für den Antrieb von Wassermühlen, so dass der Fabrikstandort hier seine Berechtigung hätte, aber der technisch talentierte Franz P., nicht nur versierter Unternehmer, sondern auch erfolgreicher Erfinder, konstruierte die ersten Wechselstromkraftwerke der Österreichisch-Ungarischen Monarchie.

Und so hatte man es auch den Pichler-Werken zu verdanken, dass der kleine Ort einen eigenen Bahnhof bekam – für den Transport von Rüstungsmaterialien der k. u. k. Armee, zumal diese das Unternehmen während des Krieges vorrangig produzierte.

Als die Bauarbeiten der Eisenbahn nach Birkfeld begannen, gesellten sich Zuwanderer, Arbeitskräfte aus dem Osten, zu den Einheimischen, wenn sie auch jenen zu Beginn nicht ganz geheuer waren. Denn alles Fremde machte Angst. Der k. u. k. Bürgermeister der Gemeinde ließ Wachtposten aufstellen, am Marktplatz und vor den Wirtshäusern, um die Bevölkerung zu schützen.

Jetzt wurde es aber wirklich Zeit, dass er seinen Kindern den Bach im Wald zeigte, überlegte Ferdinand, dessen Anziehungskraft weder für ihn noch für seinen Freund Franz ihre ganze Kindheit hindurch nie nachgelassen hatte. Immer wieder hatte er diesen Ausflug verschieben müssen, da stets etwas anderes für den Gastbetrieb wichtiger gewesen war.

Morgen, wenn das Schmitt-Batschi Ruhetag hatte und das sommerliche Wetter anhielt, wollte er sich Zeit nehmen, mit seinen Kindern dorthin zu gehen, wo er mit seinem Schulfreund Franz als Kind gespielt hatte. Er wollte durch den Wald an den Bach, den er zusammen mit Franz umgeleitet hatte.

Die Buben begeisterten sich sofort dafür und holten den kleinen Leiterwagen aus dem Keller, in den Adelheid sich hineinsetzen konnte, wenn sie müde wurde.

Am Montag, gleich nachdem Ferdi von der Schule nach Hause gekommen war, und einem schnellen Mittagessen – die Hausaufgaben wurden ausnahmsweise auf den späteren Nachmittag verschoben – marschierten sie los. Die gepflasterte Straße durch das Dorf schlängelte sich am Rathaus vorbei, hinunter zur Kirche und dann weiter über den Platz einen schmalen Pfad entlang, der zum Wald führte.

Adelheid verweigerte den gemütlichen Sitzplatz im Leiterwagen, sogar ausgestattet mit einem Kissen, der ihr den langen Weg abkürzen sollte. Sie lief lieber an der Hand des Vaters. Ferdi und Johann sprangen abwechselnd in den Leiterwagen und zogen sich gegenseitig, wobei derjenige, der drinnen hockte, mit angezogenen Knien kräftig mittauchte, sodass der Wagen hurtig über die abfallende Straße rollte, manchmal so schnell, dass der Bruder, der die Deichsel zog, zur Seite springen musste, um nicht überfahren zu werden. Das war ein Heidenspaß!

Ein zitronengelber Sonnenschein beleuchtete die Landschaft. Schließlich überquerten sie eine Wiese, die über und über von verblühtem Löwenzahn betupft war, in die der Wind hineinblies, so dass wie ein Nebel ihre Flugschirmchen in alle Richtungen stoben. Der Leiterwagen holperte über den unebenen Boden, aber der Wind schubste sie über die Wiese, als wollte er, dass sie schneller zum Bach gelangten. Die Gräser hinter ihnen rauschten im Wind, als sie in den Wald eindrangen. Zuerst eine Stille, die sie innehalten ließ. Über ihren Köpfen ein Baldachin aus ineinander verschlungenen Baumwipfeln aus grünen Blättern, der den wolkenlosen ozeanblauen Himmel nur bruchstückhaft durchscheinen ließ. Adelheid ergriff wieder die Hand ihres Vaters, als es vor ihnen raschelte. Ferdinand legte den Zeigefinger auf die Lippen. Sie mussten jetzt leise sein. Sie gingen weiter, zogen den Leiterwagen über trockenes Holz zwischen dicken Baumstämmen hindurch, was sehr mühsam war. Aber ihn am Waldrand zurückzulassen, wagten sie doch nicht. Sollte er danach nicht mehr da sein, müssten sie die Kleine den ganzen Weg nach Hause tragen.

Plötzlich blieb Ferdinand stehen, legte wieder einen Finger auf die Lippen:

„Hört ihr das?“

Zuerst war da nur das Tapsen eines Tieres durchs dichte Unterholz, in dem morsches Geäst knackte, das sie nur hörten, aber nicht sahen. Dann das Aufflattern eines großen Vogels vor ihnen, das selbst Ferdinand erschreckte. Aber als sich die Geräusche des Waldes wieder gelegt hatten, war eindeutig ein leises Gurgeln wahrzunehmen. Sie schlichen weiter, drangen tiefer in die grüne Wildnis vor.

Plötzlich lag vor ihnen ein kleiner Teich, der aus den letzten Regengüssen entstanden sein musste. Ferdinand nahm Adelheid wieder an der Hand, da er nicht erkannte, wie tief er war. Er war von einem dichten Teppich aus Blüten und vom Sturm heruntergerissenen Blättern bedeckt, dazwischen zwinkerte das Wasser wie die Fragmente einer nur halb erzählten Geschichte.

Johann und Ferdi nahmen einen Stock und tauchten ihn ins Wasser ein; sie steckten ihn tief hinein, und erst als das Wasser bis zu ihren Händen quoll, stießen sie auf Grund. Das war also keine kleine Regenpfütze, sondern tatsächlich ein richtiger Teich.

Auch Ferdinand kannte die Wasserstelle nicht. Er seufzte. Es war so lange her, dass er das letzte Mal hier gewesen war. Er hatte die Zeit aus den Augen verloren, sie war so schnell vergangen. Der Betrieb, der Tod seiner Eltern, die Kinder, die Arbeit … Es war höchste Zeit, dass er seinen Kindern die bezaubernden Plätze seiner Kindheit zeigte.

Er atmete tief ein. Die Waldluft schmeckte ganz frisch. Es war erhebend, wieder einmal in der Natur zu sein. Dieses Gefühl wollte er auch seinen Kindern vermitteln.

In Gedanken war er weitergewandert, das Knacken der Äste und Rascheln der trockenen Blätter auf dem Boden ringsum verriet ihm, dass die Kinder in der Nähe waren. Er blickte auf, das Grün war auf einmal links von ihm von kleinen Felsen durchzogen, und da schlängelte sich auch schon der Bach durchs Gras. Sein Bach, den er als Kind so geliebt hatte. Noch bevor er seine Kinder darauf hinweisen konnte, sah er seine Söhne schon am Ufer hocken und mit runden Steinen, die überall herumlagen, einen Damm bauen. Adelheid warf immer wieder kleine Stöckchen ins Wasser, die hurtig davontrieben. Sie jauchzte entzückt. Die Buben hörte er diskutieren, während sie immer wieder einen Stein auswechselten, um ihn durch einen anderen zu ersetzen.

Ferdinand beobachtete die sich wiegenden Äste einer Esche. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er musste seinen Kindern gar nichts erklären, sie waren ganz von selbst in ihr Abenteuer eingetaucht. Er setzte sich einige Meter von ihnen entfernt auf einen Felsen und sah seinen Kindern zu, deren Tun ihn in eine Kindheitserinnerung katapultierte. Franz wollte immer Recht haben, löste Ferdinands eifrig und mit Umsicht platzierte Steine heraus, um seine eigenen Steine an dieselbe Stelle zu setzen. Nun ja, er hatte ja auch Recht gehabt. Ferdinand schmunzelte und dachte an seinen Schulfreund und seinen Erfolg.

Er nahm das sanfte Rascheln und Rauschen wahr, durchsetzt vom Brummen der Insekten. Er musste mit seinen Kindern öfter in den Wald gehen, nahm er sich vor. Wenn er nicht immer so beschäftigt wäre.

Ein Sonnenstrahl fiel auf seine Beine, und er wurde ganz ruhig. Er lauschte auf die Sinfonie seltsamer Geräusche im Gras. Wieder holte die Erinnerung ihn ein und entführte ihn in die Vergangenheit. Einmal hatte seine Schwester Bertha ihn an den Bach begleitet. Aus den Bildern in seinem Kopf atmete zugleich Leben, Bewegung, Freude, sogar eine gewisse Zärtlichkeit.

Er stand auf und entfernte sich ein Stück, nachdem er rasch einen Blick auf seine Kinder geworfen hatte. Adelheid hockte jetzt neben ihren Brüdern und reichte ihnen Steinbrocken.

Dort hinten wuchsen früher Heidelbeeren. Er bückte sich, untersuchte die niedrigen Stauden. Und schon steckte er die ersten schwarzen mattglänzenden Beeren in den Mund. Sie waren also noch da. Nicht mehr so zahlreich wie früher, so dass sie mit blauen Fingern, Mündern und meist auch Flecken auf dem Hemd nach Hause gekommen waren. Ferdinand wollte sie seinen Kindern zeigen, doch dann entschied er sich, ihr friedliches Spiel nicht zu unterbrechen. Er sog den Duft aus seiner Kindheit, der weitere alte Erinnerungen weckte, tief ein. Er hatte mit seinen Schwestern eigentlich nie gestritten, nun ja, er war immer der Chef gewesen bei allen ihren Spielen, auf den sie hörten und um dessen Gunst sie buhlten.

Er blickte hoch in den Baum hinauf, wo sich ein Vogel zirpend an den ersten unsicheren Tönen eines Liedes versuchte. Dann sah er auf seine Kinder, die nun alle drei barfuß durch den Bach wateten. Sie spielten seit Stunden miteinander, vertieft in ihr Abenteuer, und nahmen ihren Vater gar nicht mehr wahr.

Die Schatten der Bäume wurden länger, der Bach wurde nur noch von einem Streifen Sonnenlicht angestrahlt. Ob er sie dazu anhalten sollte, ihre Schuhe wieder anzuziehen? Wenn Martha da wäre, hätte sie das längst veranlasst. Aber er wollte seine Kinder nicht stören, die so selbstvergessen in ihr Spiel versunken waren.

Ferdinand wusste, dass er Ferdi bei den Hausaufgaben heute helfen musste, alle würden vollkommen erschöpft sein, wenn sie zurückkamen. Nur er war ausgeruht und glücklich, seine Kinder so friedlich und vereint in ihrem Spiel in Gottes wunderbarer Schöpfung zu sehen. Er seufzte tief. Er hatte als Kind öfter seine Hausaufgaben ausgelassen, wenn er den ganzen Nachmittag mit Franz unterwegs gewesen war. Manchmal hatte sie auch Bertha für ihn erledigt. Ob sie das ihrem Sohn Paul erzählt hatte?

Nach einer Weile sank die Sonne tiefer, und im Wald wurde es von einem Augenblick auf den anderen dunkel, so dass sie allmählich aufbrachen. Alle drei liefen neben dem Leiterwagen her, den jetzt der Vater zog. Sobald sie aus dem Wald heraustraten, setzten sich Johann und Adelheid hintereinander in das Gefährt, und Ferdi lief neben ihnen her. Die Abendsonne, die noch über dem Dorf stand, war riesig, golden wie ein reifer Kürbis, und ließ die Ränder der Silhouetten vor ihnen leuchten.

Am 28. Juni 1914 wurden der österreichischungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajewo von einem nationalistischen Serben erschossen.

Das Attentat auf das österreichische Thronfolgerpaar löste einen Dominoeffekt aus. Als Serbien das Ultimatum, eine österreichische Untersuchungskommission einzusetzen, unbeantwortet verstreichen ließ, erklärte Österreich-Ungarn am 28. Juli dem von Russland unterstützten Serbien durch Kaiser Franz Josef I. den Krieg.

Der Jubel in der Gaststube war unbeschreiblich, junge sowie ältere Männer rissen sich gegenseitig das Grazer Volksblatt aus der Hand, das Doktor Schönebach am Nachmittag aus der Stadt mitgebracht hatte. Ein einziges überdimensionales Wort bildete die Überschrift der Titelseite: Krieg!

Laut Bericht der Grazer Tageszeitung vom 27. Juli hatten serbische Truppen von Donaudampfern österreichisch-ungarische Truppen beschossen, die das Feuer erwiderten.

Die einen warfen in ihrem Freudentaumel ihre Schiebermützen in die Luft, andere sprangen selber hoch und klatschten sich dabei vor Begeisterung auf ihre Oberschenkel. Nur Ferdinand zauderte, wusste nicht so recht, was er dazu sagen sollte, wo seine Gefühle ansiedeln, ambivalent, wie sie waren … Eine Vielfalt von Gedanken schossen von allen Richtungen wie Pfeile bedeutungsschwanger durch seinen Kopf, so dass er Mühe hatte, sich durch das komplexe Gedanken-Konstrukt durchzuarbeiten. Er wägte ab, schob hin und her, bis sich das wirre Geflecht aufzulösen begann. Schließlich standen nur mehr zwei Positionen einander gegenüber: der Kaiser und sein Schmitt-Batschi. Beide von so großer Bedeutung für ihn, dass er keinen der zwei „Kontrahenten“ abwählen konnte. Dem Kaiser hatte er als Rekrut Treue geschworen. Die Monarchie beschützte ihn, in ihr fand er Sicherheit und fühlte sich geborgen. Ferdinand seufzte. Seinen Eltern hatte er versprochen, das Schmitt-Batschi in ihrem Sinne weiterzuführen; auch war es für ihn selbst ein Herzensprojekt.

Zimmermann Furtinger wollte in vierzehn Tagen die neuen Holz-Paneele bringen und mit ihm gemeinsam an den Wänden befestigen. Ein paar Stellen der Holzvertäfelung an der Wand zur Küche mussten ausgetauscht werden, da sie mit der Zeit wurmstichig geworden waren. Was würde Furtinger denken, wenn er zum vereinbarten Termin gar nicht da war? Ferdinand fand keine Lösung, konnte keine Entscheidung treffen …

Nur wenige Tage danach erklärte das deutsche Kaiserreich als Bündnispartner der Donaumonarchie Russland und Frankreich den Krieg, marschierte mit seiner Armee in Belgien ein, da sie auf diese Weise nach Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen die massiven französischen Befestigungen im Westen Frankreichs umgehen konnte. Nach Alfred von Schlieffens Überlegungen sollte ein rascher Sieg im Westen Kräfte für ein Vorgehen im Osten gegen das zaristische Russland freimachen. Damit verletzte das deutsche Kaiserreich Belgiens Neutralität.

Schnell wurden Mobilisierungskundmachungen am Gemeindeamt ausgehängt, die zur allgemeinen Mobilisierung aufriefen. Plakatkleber liefen mit Kübel und Pinsel durch die Straßen, um die Neuigkeit auch an Litfaßsäulen anzuschlagen.

Als der Briefträger in die Gaststube trat und Ferdinand das beigefarbene Kuvert mit dem k. u. k. Stempel des Militärs persönlich überreichte, wusste er sofort, worum es sich handelte: Er hielt seinen Einberufungsbefehl in Händen. Also doch! Gerade jetzt, durchzuckte es ihn, da das Gasthaus so gut lief und wieder was Kleines unterwegs war. Aber die k. u. k. Armee brauchte ihn auch. Würde Martha imstande sein, den Gastbetrieb allein weiterzuführen?

Martha, seine Frau. Ruhig erledigte sie ihre Arbeiten, ohne viel Aufhebens zu machen. Wenn sie sprach, mit warmer Stimme, versteckte sich stets ein Lächeln in ihren Augenwinkeln. Seine Martha! Mit ihren haselnussbraunen Augen und dem honigblonden langen Haar, das für die Küche in geflochtenen Zöpfen unter der gestärkten Haube um den Kopf gelegt verschwand, sah sie noch immer aus wie das junge Mädchen, in das er sich damals verliebt hatte. Martha war nach wie vor schmal, wohingegen er ordentlich zugelegt hatte. Wie sagte sein Schulfreund Franz, wenn er ausnahmsweise einmal Zeit für ein Bier hatte?

„Dir geht es gut, das sieht man“, und boxte ihm dabei zur Begrüßung mit seiner rechten Faust freundschaftlich in seinen Wohlstandsbauch. Ja, ein Wirt musste was von sich hermachen.

In dem Augenblick öffnete sich die Küchentür und Martha trat heraus, als ob sie es geahnt hätte. Sie kam in schnellen Schritten auf ihn zu, der hinter dem Tresen stand. Schweigend nahm sie den Brief von der hinteren Ablage. Ihr Lächeln, das stets winzige Fältchen um ihre Augen auffächerte, erstarb von einem Augenblick zum anderen. Ein schmerzvoller Blick streifte sein Gesicht. Ihre Stimme wurde ganz rau, als sie sprach, geriet ins Schlingern:

„Du musst also fort!“

Das zähe Grummeln im Magen, das sich bemerkbar machte, sobald sie Angst hatte, war wieder da. Tränen traten in ihre Augen, die sie versuchte wegzublinzeln, während sie mit ihren Armen seinen Bauch umspannte. Sie hielt sich an ihm fest. Ferdinand legte seine Arme um ihre Schultern, zog sie an sich. Wie er sie liebte! Mit Bangen dachte er an ihre erste Schwangerschaft und das zu früh geborene Kind, das kaum einen Tag lang überlebt hatte. Auf dem Dorffriedhof stand ein kleines Holzkreuz neben dem Familiengrab mit dem Granitstein, auf dem die Namen seiner Eltern eingraviert waren. Sebastian war auf dem Holzkreuz kaum mehr zu lesen: 4. September 1904, sein Geburtstag war auch zugleich sein Todestag.

Er musste sich darum kümmern, endlich den Namen seines erstgeborenen Sohnes in den Stein einmeißeln zu lassen.

Dieses Mal würde alles gutgehen, setzte er seinen Gedankengang fort, sowie auch bei den drei anderen Kindern alles gutgegangen war, das hoffte er. Vielleicht sollte er eine zweite Küchenmagd einstellen für die Zeit seines Einsatzes, damit sie sich nicht mit den schweren gusseisernen Pfannen abplagen musste? Ob er bis zur Geburt des Kindes wieder zurück sein würde?

„Ein paar Wochen, höchstens drei Monate“, meinten seine Gäste, und so stand es auch in den Zeitungen.

Das könnte sich ausgehen, wenn man den Zeitungen glauben durfte … obwohl …

Nun jedoch, da Großbritannien, in einem Bündnis mit Frankreich, als Belgiens Schutzmacht nichts anderes übrigblieb, als Deutschland den Krieg zu erklären, nachdem das deutsche Kaiserreich das Ultimatum nicht eingehalten hatte, seine Armee aus dem neutralen Belgien zurückzuziehen, zweifelte Ferdinand daran.

Eigentlich hatte er gedacht, mit seinen zweiunddreißig Jahren sei er bereits zu alt für den Einsatz an der Front. Auch konnte er die Kriegsbegeisterung der Jungen nicht so ganz nachvollziehen – obwohl er doch auch dem Kaiser dienen wollte und helfen, sein Vaterland zu verteidigen. Wenn er da an Thomas Brauninger dachte, der ganz begierig darauf brannte, Krieg zu spielen …

„Ich bin bald wieder zurück“, entfuhr es ihm, wenngleich selbst wenig überzeugt.

Martha wischte sich die Tränen aus den Augen, versuchte ein Lächeln aufzusetzen wie einen Hut, der ihr nicht passte.

„Ja“, drang es tapfer über ihre Lippen, „mein Ferdinand!“

Erst dann lockerte sie den Griff um seine Mitte. Ferdinand streichelte zaghaft über ihren Bauch, der unter ihrer weißen Schürze bereits zu erkennen war. Ein langgezogenes sehnsüchtiges Seufzen begleitete seine Hände. Er wäre so gerne dagewesen.

Insgeheim wünschte er sich wieder ein Mädchen, damit das Gleichgewicht innerhalb seiner Familie hergestellt würde. Oder besser, weil … Mädchen hatten etwas so Bezauberndes an sich, etwas so Zartes … Wenn er an Adelheid dachte, entspannten sich seine Züge und ein Strahlen stahl sich auf sein Gesicht. Wo war sie überhaupt, die Kleine? Wieder mit den Brüdern unterwegs?

Die Schlafaugen der Puppe, die ihr das Christkind letztes Jahr zu Weihnachten gebracht hatte, hatte Ferdi noch an Heiligabend eingedrückt. Sollte er für sie eine neue Puppe besorgen, bevor er einrücken musste, und sie für Weihnachten aufbewahren? Aber bis dahin bekam er sicher Heimaturlaub von der Front, wenn der Krieg nicht überhaupt schon wieder vorbei war. Vor allem Deutschland hatte ja mächtig aufgerüstet die letzten Jahre.