FeuerAlarm - Sonja Manderbach - E-Book

FeuerAlarm E-Book

Sonja Manderbach

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Beschreibung

FeuerAlarm ist der erste Band der Erzählreihe "Ja!" "Ja!" lautete im Herbst/Winter 2021 die Antwort von Sonja Manderbach und einigen anderen auf die Frage: "Bist du bereit, für KlimaGerechtigkeit ins Gefängnis zu gehen?" Im Polizeigewahrsam beginnt die Erzählung dann tatsächlich auch. Es ist der 11. Juli 2022. Die Autorin befindet sich in der GefangenenSammelstelle Tempelhof in Berlin - für 36 Stunden in einer Einzelzelle mit einer Holzpritsche ohne Matratze, nach einer Straßenblockade am Abzweiger Steglitz am Morgen des 11. Juli 2022 mit den Bannern der Letzten Generation vor den KlimaKippPunkten. Während dieser 36 Stunden in Einzelhaft versucht sie sich an die circa 36 Proteste - überwiegend Straßenblockaden, aber auch andere Symbolproteste - seit dem 24. Januar 2022 zu erinnern und beschließt ihre Erinnerungen an die Erlebnisse im zivilen Widerstand gegen die Zerstörung von Lebensgrundlagen sowie die Erinnerungen an insgesamt weit über 100 Stunden Polizeigewahrsam aufzuschreiben, um diese "Geschichten des Widerstands" mit Menschen zu teilen, deren Alltag sich vom Leben im zivilen Widerstand doch sehr unterscheidet.

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Sonja Manderbach

wurde 1977 in Heilbronn geboren. Nach dem Abitur 1996 am Evangelischen Seminar in Blaubeuren leistete sie ein Freiwilliges Ökologisches Jahr.

Von 1997 bis 2005 studierte sie Philosophie und Kulturwissenschaften mit den interdisziplinären Schwerpunkten: Jüdische Studien und Frauen- & Geschlechterstudien. Ihr Studium schloss sie mit dem Studienabschluss Magistra Artium (M.A.) ab.

Seit 2000 arbeitet sie freiberuflich als Bildungsreferentin für politische Bildung. Von 2011 bis 2023 war sie außerdem als C-Kirchenmusikerin bei der Kirchengemeinde Osternburg beschäftigt. Seit 2007 ist sie Mutter einer Tochter.

Schon in ihrer Jugend engagierte sie sich für Frieden, soziale Gerechtigkeit und öko-faire Lebensweise. Dabei hat sie kirchliches, parteipolitisches, berufliches, caritatives und aktivistisches Engagement in verschiedenen Kontexten und an verschiedenen Orten kennengelernt. Seit 2018 in der For-Future-Bewegung mit Christians for Future, Parents for Future, Scientists for Future und bei Extinction Rebellion (Aufstand gegen das Aussterben).

Seit dem 24. Januar 2022 leistet sie zivilen Widerstand gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen. In den Jahren 2022 und 2023 unter dem Logo der Letzten Generation vor den KlimaKippPunkten. Seit 2024 mit Scientist Rebellion.

Seit Februar 2024 arbeitet sie wieder vollerwerbsselbständig als Bildungsreferentin für sozialökologische Transformation mit einem Angebot aus Beratung und Seminaren, Workshops und Online-Kursen. Außerdem geht sie als Autorin auf Lesereise und arbeitet an einer Dissertation über: Moralische Delegitimierung der Klimabewegung und ihre Folgen.

Bildnachweise: s. Impressum

Quellenangaben: Zu jedem Kapitel gibt es ein Document (QR-Code / Link), in dem weiterführende Links und Informationen zu den angesprochenen Themen gesammelt sind. Die komplette Sammlung zu allen 18 Kapiteln befindet sich außerdem im hier verlinkten Newsletter vom 20.06.2024. (QR-Code). Sonja Manderbach

FeuerAlarm

Gedanken im Polizeigewahrsam über zivilen Widerstand gegen die Zerstörung von Lebensgrundlagen

Band 1 der Erzählreihe „Ja!“: 11. Juli bis 11. September 2022Erinnerungen an Januar bis Juli 2022

Für meine Tochter & alle Kinder der Erde in Liebe, Mut & Dankbarkeit!

Mein besonderer Dank gilt:

Christian Bläul

für unermüdliche Unterstützung, Korrekturlesen, Lektorat, Webdesign, Freundschaft & mentale Unterstützung!

Dankbar bin ich auch meinen Eltern, meiner Schwester, meinem Mann & all meinen Freund*innen und Weggefährt*innen für sehr viel Unterstützung, für Kontroversen, die mich zum Nachdenken gebracht haben, für Lachen, Lebensfreude und Regeneration & für all ihr Engagement für das gute Leben #füralle!

Inhalt

Vorwort vor Gericht (18.06.2024)

Band I der Erzählreihe „Ja!“: FeuerAlarm

„Ja!“ war im Herbst 2021 meine Antwort auf die Frage: „Bist du bereit, für KlimaGerechtigkeit ins Gefängnis zu gehen?“

Kapitel 1: In der GeSa Tempelhof

Tagebuch: Reifliche Überlegungen (11.07.2022)

Erinnerungen: 11.07.2022

Weiterführende Links: Rebellion Singing / Protestchor-Vernetzung / Liedtexte …

Kapitel 2: Tag 2 im Polizeigewahrsam

Tagebuch: Die Gedanken sind frei (12.07.2022)

Erinnerungen: 04./06./11.07.2022

Weiterführende Links: Historische & gegenwärtige Widerstandsbewegungen …

Kapitel 3: Zwischen den Welten

Tagebuch: Federleicht (13.07.2022)

Erinnerungen: 29. & 30.06.2022

Weiterführende Links: Pressespiegel von Sonja Manderbach …

Kapitel 4: Das Leben feiern

Tagebuch: 14.-17.07.2022

Weltuntergang” trifft „Kindergeburtstag“ (14.07.2022)

Feueralarm trifft Obstsalat (15.07.2022)

Flurfunk-Neuigkeiten in der Kirchengemeinde (16.07.2022)

Erinnerungen: 27.06.2022

Weiterführende Links: Schulden-Erlass für KlimaGerechtigkeit …

Kapitel 5: Neben der Spur

Tagebuch: 18.-22.07.2022

Shaming & Blaming (18.07.2022)

Eine Seele von Mensch (19.07.2022)

Love & Rage (20.07.2022)

Tochter wird flügge (21.07.2022)

Auf meinen Spuren (22.07.2022)

Erinnerungen: 20. & 23.06.2022

Weiterführende Links: Buchtipps, Filmtipps, Gedenken & Widerstand

Kapitel 6: Unter Gleichgesinnten

Tagebuch: 23.07.2022

Wer weiß es am besten?

Erinnerungen: 13.06.2022

Weiterführende Links: Pressespiegel / KlimaThemen, KlimaFakten, KlimaWorte

Kapitel 7: Das gute Leben

Tagebuch: 24.-26.07.2022

Gottesdienst im Garten und am See (24.07.2022)

Death in Paradise (25.07.2022)

Einfach nur müde (26.07.2022)

Erinnerungen: 30.05. & 06.06.2022

Weiterführende Links: #KlimaRassismus Zusammenhang von Rechtsextremismus & Verharmlosung von KlimaKatastrophe

Kapitel 8: „Verrückte” Normalität

Tagebuch: 27. & 28.07.2022

Verwirrungen - wer hat Angst vor XR? (27.07.2022)

Resilient & glücklich (28.07.2022)

Erinnerungen: 16. & 23.05.2022

Weiterführende Links: Rechts(d)ruck, Antisemitismus, Weimarer Republik

Kapitel 9: Zu langer Bremsweg

Tagebuch: 29.-31.07.2022

Ich war im Gefängnis für KlimaGerechtigkeit” (29.07.2022)

Und wie lang bremst DIE LINKE? (30.07.2022)

Im Kreise der Familie (31.07.2022)

Erinnerungen: 23.04. & 09.05.2022

Weiterführende Links: A-22-Netzwerk, “Linksgrünbuntversifft”, Linksextremismus versus Rechtsextremismus, Lützerath & Wald statt Asphalt

Kapitel 10: Auf den Spuren der Letzten Generation

Tagebuch: 01.-05.08.2022

Gute Reise! (01.08.2022)

Stadtführung mit Grünschnäbeln (02.08.2022)

Wannsee (03.08.2022)

Hitze, Radio, Schlachtensee (04.08.2022)

Suppenwetter” (05.08.2022)

Erinnerungen: 12.-14.04.2022

Weiterführende Links: Berlin & Frankfurt

Kapitel 11: Hüpfen verboten, Salsa erlaubt

Tagebuch: 06.08.2022

Umsorgt & Willkommen (06.08.2022)

Erinnerungen: 11.04.2022

Weiterführende Links: A-22-Netzwerk

Kapitel 12: Hitzige Debatten

Tagebuch: 07.-12.08.2022

Selbstwirksamkeit (07.08.2022)

Gewöhnt an Rekorde (08.08.2022)

Sonja allein zu Haus (09.08.2022)

Check Up, Check In, Check Out (10.08.2022)

Regeneration, Reflexion, Rolle finden (11.08.2022)

Sanftmut, Fürsorge, Liebe & Verantwortung (12.08.2022)

Erinnerungen: 25. & 26.03.2022

Weiterführende Links: Kontroverse Sichtweisen

Kapitel 13: Parallelwelten

Tagebuch: 13.08.2022

KlimaSchutz-SpaßProgramm (13.08.2022)

Erinnerungen: 18.03.2022

Weiterführende Links: Dear future children & Gruppen der KlimaGerechtigkeitsBewegung

Kapitel 14: Wenn der Berg nicht zur Prophet*in kommt

Tagebuch: 14.-20.08.2022

Freier Sonntag voller Termine (14.08.2022)

Im Zuge dessen (15.08.2022)

Realer KlimaNotfall virtuell (16.08.2022)

Ohnsorg-Theater (17.08.2022)

Entwurzelt, aber Boden unter den Füßen (18.08.2022)

Ewig Zeit und dann doch plötzlich (19.08.2022)

OKNB trifft LG in BS (20.08.2022)

Erinnerungen: 21. & 23.02.2022

Weiterführende Links: „Tomorrow. Die Welt ist voller Lösungen“, „Soziales Zentrum Käthe“, „Olegeno“, Desinformationskampagnen & Verschwörungstheorien …

Kapitel 15: Kartoffelgerichte

Tagebuch: 21.-27.08.2022

Nicer Gottesdienst (21.08.2022)

Wie gerädert (22.08.2022)

Online: Struktur; Offline: Chaos (23.08.2022)

Letzter Ferientag (24.08.2022)

Erster Schultag (25.08.2022)

Leben in der Küche (26.08.2022)

Kampagnenphilosophie (27.08.2022)

Erinnerungen: 12./14./16.02.2022

Weiterführende Links: zum Lachtivismus-Protest: Kartoffeln pflanzen am Kanzleramt

Kapitel 16: So ein Mist!

Tagebuch: 28.08.-03.09.2022

Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt (28.08.2022)

Ratlosigkeit (29.08.2022)

Guter Rat ist teuer (30.08.2022)

Privilegiencheck (31.08.2022)

Politisch korrekt? (01.09.2022)

Ein besonderes Interview (02.09.2022)

Tops & Flops im Klimahaus Bremerhaven (03.09.2022)

Erinnerungen: 04./07./08./15.02.2022

Weiterführende Links zu den Themen des Kapitels

So ein Mist!”

Kapitel 17: Landfriedensbruch?

Tagebuch: 04.-08.09.2022

Immer wieder sonntags (04.09.2022)

Tribute von Panem (05.09.2022)

Regen im Dürresommer (06.09.2022)

Auf dem Lande (07.09.2022)

Die neue

Normalität” gegen die alte (08.09.2022)

Erinnerungen: 26./28./31.01.2022

Weiterführende Links zu

Anhalten, sofort alles anhalten!”

Kapitel 18: Kein Weg zurück

Tagebuch: 09.-11.09.2022

Neunmalklug (09.09.2022)

Unter uns (10.09.2022)

Voll müde (11.09.2022)

Erinnerungen: 24.01.2022

Weiterführende Links zum Kapitel

Kein Weg zurück” …

Epilog und Ausblick (11.07.2023)

… und schließlich … (11.07.2024)

Zu guter Letzt - ein Überblick

Montag, 11.07.2022

Reifliche Überlegungen

Polizeigewahrsam beginnt nicht in der Gewahrsamszelle, sondern als Sicherungsgewahrsam mit dem Eintreffen der Polizei am Ort des Geschehens. Jedenfalls ist das bei zivilem Widerstand so. Aber ich vermute, dass das auch dann so gilt, wenn es um andere Dinge geht, bei denen die Polizei irgendwann eintrifft und letztendlich Menschen in Gewahrsam nimmt und für kurze oder lange Zeit in Einzelzellen sperrt.

Und da sitze ich nun. Mal wieder. In Polizeigewahrsam. Zum wievielten Mal eigentlich? Ich habe den Überblick verloren. Wie oft war ich schon im Gefängnis beziehungsweise in der GefangenenSammelstelle, abgekürzt GeSa? Wie oft habe ich schon zivilen Ungehorsam auf der Straße geleistet? Ich kann es auf Anhieb nicht sagen. Dreißig Mal vielleicht? Oder noch öfter? Ich könnte versuchen, mich an jedes einzelne Mal zu erinnern, während ich auf der Holzpritsche in meiner Zelle in der GeSa Tempelhof in Berlin sitze und warte, dass die Zeit rum geht. 36 Stunden. Eine Nacht auf der Holzpritsche steht mir bevor. Viel Zeit zum Nachdenken. ...

Ich hab kein Buch mit. Wochenlang habe ich zu jedem Feueralarm ein Buch eingepackt, falls ich im Polizeikessel oder in der GeSa die Gelegenheit hätte, etwas zu lesen, anstatt mich zu langweilen. Und es wurde mir nie erlaubt. Inzwischen habe ich keins mehr dabei. Aber jetzt dürfen wir eigentlich Bücher mit in die Zelle nehmen. (Das hat eine Anwältin für uns erkämpft.) Manchmal zumindest. Manchmal auch nicht. Kommt wohl trotz der Rechtslage, dass das an sich erlaubt ist, darauf an, wer solche Dinge gerade final entscheidet. Und ob dieser Polizist oder diese Polizistin will, dass sich der Präventivgewahrsam doch schon nach Bestrafung anfühlt oder eben einfach seinen Zweck erfüllt. Sein Zweck ist es, mich davon abzuhalten, direkt wieder auf die Straße zu gehen, um direkt wieder das fossile Weiter-so zu stoppen. Den Alltag zu stören. Den Feueralarm auszulösen. Besser gesagt: Der Feueralarm zu sein. In einer Straßenblockade der Letzten Generation.

Ich hab heute vergessen, meine Wasserflaschen einzupacken. Sonst habe ich immer zwei dabei. Dann weiß ich, dass ich eineinhalb Liter Wasser getrunken habe, wenn sie leer sind. Auch Verpflegung habe ich heute vergessen. Ich bin ohne Frühstück aus dem Haus und ohne mir was einzupacken. Ziemlich entspannt, irgendwie. Obwohl mir klar war, dass mich die Unignorierbarkeit des Feueralarms sehr wahrscheinlich in Gewahrsam bringt; weil Verdrängung oder sogar Bekämpfung des Alarms – oder eben das Wegsperren der Alarmierenden – die Illusion aufrecht erhalten kann, es sei eigentlich alles in Ordnung. Lieber die Überbringer*innen der schlechten Nachricht in Polizeigewahrsam sperren, als sich einzugestehen, dass sie recht haben. … Und so ist es nun auch. Nun sitze ich auf der Holzpritsche und spüre nun doch meine Erschöpfung. Habe Durst und Hunger. Fühle mich einsam, müde, habe Angst, bin traurig und gestresst. Angekommen in der KlimaKatastrophe! Die Welt brennt! Niemand löscht. Wir sind der Feueralarm!

Die Zelle ist so lieblos und trostlos, wie sie nur sein kann. Naja, die Wände sind gelb gestrichen. Immerhin. Und ich kann den blauen Himmel und die Sonne durch das enorm hohe Fenster sehen. Ich kann nur nach oben schauen. Das Fenster ist etwa auf drei Metern Höhe. Schätze ich. Vielleicht auch zweieinhalb Meter. Jedenfalls über der Höhe der Tür. Weit höher als ich mich auch nur strecken kann. Die Zellentür hat keine Klinke, aber ein kleines Fenster, vor dem eine Klappe an der Außenseite befestigt ist. Dort wird immer mal wieder ein Polizist oder eine Polizistin reinschauen. Das kenne ich schon. Ich kenne alle Geräusche und Gerüche und auch alle Farben und Formen und alle Abläufe, alle alltäglichen Routinen und alle Flure und Treppenhäuser der GeSa Tempelhof schon.

Wann und wie ist das eigentlich passiert, dass es für mich Alltag wurde, an Gewahrsamszellen gewöhnt zu sein? Daran gewöhnt zu sein, zu klingeln beziehungsweise auf diesen gläsernen Knopf neben der Tür zu drücken, wenn ich zur Toilette muss, wenn ich Durst oder Hunger habe oder um sonst etwas bitten möchte. Zum Beispiel telefonieren zu dürfen. Ich bin so daran gewöhnt, in der Erfüllung meiner Grundbedürfnissen darauf angewiesen zu sein, dass mir Menschen in Uniformen diese Bedürfnisbefriedigung ermöglichen. Und auch daran, dass sie mir dabei spöttischabfällig oder wohlwollend-freundlich begegnen. Oder dass sie mich infantilisieren, also mich wie ein kleines Mädchen ansprechen. Auch kommt es vor, dass sie moralisch Einfluss nehmen wollen, also an mich appellieren, dass ich damit aufhöre, zivilen Widerstand gegen das fossile Weiter-so zu leisten. Die verschiedenen Menschen in Uniformen, die mir im letzten halben Jahr - seit dem 24. Januar 2022 - begegnet sind, machen das eben so, wie sie es individuell wollen und es ihnen vielleicht auch entspricht.

Bevor ich ganz an den Anfang zurück gehe, kreisen meine Gedanken um den Ursprung, also den Grund des Polizeigewahrsams, in dem ich mich gerade befinde.

Der Beginn war heute morgen irgendwann kurz nach acht. Autobahnabfahrt Abzweiger Steglitz, nahe dem Friedhof Wilmersdorf. Der Feueralarm war heute besonders massiv. Ich wurde mehrfach von der Straße gerissen. Beschimpft. Beinahe angefahren. Saß vor einem Auto, das gefühlt minutenlang Dauerhupe von sich gab. Geschubst, gezerrt, gestoßen, gezogen.

Ich habe blaue Flecken an den Armen. Meine Gelenke tun weh. Mein Rücken auch.

Wenn ich mir überlege, das draußen zu erzählen, dann höre ich innerlich schon die Kommentare und sehe die Gesichtsausdrücke. „Warum tust du dir sowas freiwillig an? Es muss doch bessere Wege geben, auf die KlimaKatastrophe aufmerksam zu machen! Das bringt doch so auch nichts! Das stört doch nur alle!“

Und ich erwidere: „Der Feueralarm nervt und stört und ist unignorierbar. Nur wer ihn für einen Fehlalarm hält, ärgert sich darüber und will einfach nur, dass er aufhört. Wir sind aber kein Fehlalarm!“

Und mal ehrlich: Blaue Flecken und ein paar schmerzende Stellen könnte ich auch von irgendeiner Sportart oder sonst einer Freizeitbeschäftigung haben. Rückenschmerzen und Gelenkschmerzen auch von fast allen beruflichen Tätigkeiten, die nur im Sitzen stattfinden oder mit anstrengender körperlicher Arbeit verbunden sind.

Also: Kein Grund, das, was weh tut, um jeden Preis vermeiden zu wollen, wenn das, was weh tut, der Preis ist, der gezahlt werden muss, um zu gewinnen: KlimaGerechtigkeit zu gewinnen!

Angefangen hat es „wie immer“. …

11. Juli 2022, ca. 7:30 Uhr:

Ich treffe am ersten Treffpunkt ein. Zwei sind schon da. Andere kommen noch. Das ist immer das schönste Gefühl vor der Protestaktion. Diese Menschen zu treffen. Heute habe ich an einer S-Bahn-Station auf dem Weg von meiner Unterkunft, die ich gestern Abend erst bezogen habe, einen anderen von uns aus einer anderen Bezugsgruppe zufällig auf der Treppe getroffen und wir sind ein Stück gemeinsam gefahren. Ich musste früher aussteigen. Er fuhr noch weiter. Das ist schön. Irgendwie. Wie lässt sich das beschreiben?

Es ist ein Gefühl, zu Hause zu sein. Nicht verloren zu sein zwischen Schreckensnachrichten aus aller Welt und Alltagsanforderungen: zwischen Funktionieren-Müssen, Erwartungen-Erfüllen-Müssen und es aushalten zu müssen, dass wir wissend in die KlimaKatastrophe rasen. Nicht verloren zu sein zwischen Menschen, die ihren Alltag wuppen wollen, während die Welt brennt. Sondern verbunden zu sein. Miteinander. Mit denen, die ihre Alltage verlassen haben. Weil die Welt brennt. Mit denen, die bereit sind, selbst der Feueralarm zu sein, der hoffentlich irgendwann dazu führt, dass nicht nur entweder ignoriert oder alarmiert wird, sondern dass das planetare Feuer der menschengemachten KlimaKatastrophe auch mal gelöscht wird. Dass gehandelt wird. Zielführend. Effektiv. Schnell. Sofort. Im richtigen Tempo. In die richtige Richtung. Handeln statt Reden. Realität statt Greenwashing. Feueralarm statt Weiter-so. Katastrophenmodus statt Valium.

Ich liebe diese Begegnungen. Diese Momente. Ich liebe diese Menschen. Ich bin dann so ganz im Hier und Jetzt. Nichts ist mir zu viel und überlastet mich, weil meine To-Do-Liste so überquillt, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll und abends nie fertig bin, egal wie früh ich morgens anfange und wie wenig Pausen ich den Tag über mache. So ist es sonst. Im Alltag. Für uns alle. Seit Jahrzehnten. Aber in den Momenten, in denen ich die anderen vor dem Feueralarm treffe, ist es nicht so. Wir sind voll im Fokus. Es gibt nur das, was es jetzt zu tun gilt. Konzentriert sein. Nicht ablenken lassen. Sind alle da? Blickkontakte. Dieses bestimmte verschwörerische Lächeln austauschen. Kurzer Check In. Wer braucht noch was? Wer hat noch was abzugeben? Wer will heute kleben? Wer nicht? In welcher Reihenfolge gehen wir heute auf die Straße? Welche von uns kleben heute nicht und bilden die Rettungsgasse?

Und dann geht es los. Möglichst unauffällig, um Polizist*innen, Zivilbeamt*innen und anderen Bürger*innen nicht aufzufallen, die den Feueralarm vielleicht verhindern wollen würden, um ausblenden zu können, dass es brennt. Zu zweit. Zu dritt. Alleine. Hintereinander. In Sichtkontakt. Aber nicht als große Gruppe. Weiter zum nächsten Treffpunkt, wo eventuell die Presse wartet oder noch eine andere Bezugsgruppe. Also eine andere kleine Gruppe von Menschen im zivilen Widerstand gegen die Zerstörung von Lebensgrundlagen. Oder noch Menschen, die heute Foto-Support oder Live-Ticker für uns sind. Und wieder weiter. Zum letzten Treffpunkt vor dem Ort des Feueralarms.

An diesem Ort – Abzweiger Steglitz, einer Autobahnabfahrt der A 100 mitten in Berlin – war ich schon oft seit dem 20. Juni 2022. Und auch in der ersten Aktionsphase (im Januar/ Februar 2022) einmal. Damals mit der Kampagne „Essen retten – Leben retten“ vom „Aufstand der Letzten Generation“. Jetzt mit der Kampagne „Nordseeöl? Nö! - Öl sparen, statt bohren!“ mit Letzte Generation. Aber die Treffpunkte davor lagen immer woanders. Darin sind wir sehr geschickt. Treffpunkte zu vereinbaren, an denen wir unerkannt und unentdeckt bleiben.

Deswegen bin ich jetzt auch so müde. Weil wir vor dem Feueralarm immer nur etwa vier Stunden schlafen. Zum einen wegen der Aufregung. Zum anderen, weil wir so früh raus müssen, um irgendwo pünktlich am Treffpunkt zu sein, und weil wir bis spät in die Nacht noch planen und Absprachen treffen und alles vorbereiten und organisieren. Wir Menschen im zivilen Widerstand gegen die Zerstörung von Lebensgrundlagen.

Müde sitze ich auf der Holzpritsche in der Gesa-Zelle und bin zugleich noch zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Um das Gedankenkreisen mal zu unterbrechen, fange ich an zu singen. In diesen Zellen klingt Gesang wie in einem Konzertsaal. Die Akustik ist atemberaubend.

Have you been to jail for justice?

Was it Cesar Chavez? Or maybe it was Dorothy Day? Some say Dr. King or Gandhi set them on their way. No matter who your mentors are it's pretty plain to see That, if you've been to jail for justice, you're in good company.

Have you been to jail for justice? I want to shake your hand!Cause sitting in and lyin' down are ways to take a stand!

Have you sung a song for freedom?

Or marched that picket line?

Have you been to jail for justice? Then you're a friend of mine!

You law abiding citizens, come listen to this song!

Laws were made by people, and people can be wrong.

Once unions were against the law, but slavery was fine.

Women were denied the vote and children worked the mine.

The more you study history the less you can deny it:

A rotten law stays on the books til folks like us defy it.

Have you been to jail for justice? I want to shake your hand!

Cause sitting in and lyin' down are ways to take a stand!

Have you sung a song for freedom?

Or marched that picket line?

Have you been to jail for justice? Then you're a friend of mine!

The law's supposed to serve us, and so are the police.

And when the system fails, it's up to us to speak our peace.

It takes eternal vigilance for justice to prevail.

So get courage from your convictions!

Let them haul you off to jail!

Have you been to jail for justice? I want to shake your hand!

Cause sitting in and lyin' down are ways to take a stand!

Have you sung a song for freedom?

Or marched that picket line?

Have you been to jail for justice? Then you're a friend of mine!

Have you been to jail for justice?

Will you go to jail for justice?

Have you been to jail for justice?

Then you`re a friend of mine!

(Anne Feeney)

Warst du schon im Gefängnis für Gerechtigkeit?

War es Cesar Chavez? Oder war es vielleicht Dorothy Day Manche sagen, Dr. King oder Gandhi sandten sie auf den Weg. Egal, wer deine Mentor*innen waren, es ist ziemlich klar, dass du in guter Gesellschaft bist, wenn du im Gefängnis für Gerechtigkeit warst.

Warst du im Gefängnis für Gerechtigkeit? Ich schüttle deine Hand! Einzusitzen & sich niederzulegen, sind Formen des Widerstands! Hast du ein Lied über Freiheit gesungen? Bist du auf der Streiklinie marschiert? Warst du im Gefängnis für Gerechtigkeit? Dann bist du ein*e Freund*in von mir!

Ihr gehorsamen Bürger*innen, die das Gesetz befolgen, hört euch dieses Lied an! Gesetze werden von Menschen gemacht, und Menschen können sich irren. Einst waren Gewerkschaften verboten, aber Sklaverei war erlaubt. Frauen hatten kein Wahlrecht und Kinder arbeiteten in Kohleminen. Je mehr du Geschichte studierst, desto weniger kannst du abstreiten:

Ein schlechtes Gesetz bleibt rechtskräftig, bis Menschen wie wir ihm trotzen. Warst du im Gefängnis für Gerechtigkeit? ... Das Gesetz ist dafür vorgesehen, uns zu dienen. So auch die Polizei. Aber wenn das System versagt, ist es an uns, unseren Part zu sprechen. Es verlangt nach unaufhörlicher Aufmerksamkeit,damit Gerechtigkeit siegt. Also entwickelt Mut aus euren Überzeugungen!

Lasst sie euch ins Gefängnis zerren!

Warst du im Gefängnis für Gerechtigkeit? ... Warst du im Gefängnis für Gerechtigkeit? Wirst du ins Gefängnis gehen für Gerechtigkeit? Warst du schon im Gefängnis für Gerechtigkeit? Dann bist du ein*e Freund*in von mir!

Mich kennen die meisten, die zur Gemeinschaft namens Letzte Generation gehören, als “Sonja aus Oldenburg”, die immer in der GeSa singt, auch „Sing-Sonja“ genannt. Und tatsächlich tut das gut. Ich konzentriere mich auf die Texte und Melodien, spüre den Klang in meinem Brustkorb vibrieren, höre meinen eigenen Gesang von den Wänden widerhallen, stelle mir vor, dass mich die anderen hören und wir uns auch auf diese Weise unsere Verbundenheit zeigen. Stelle mir auch vor, dass die Polizist*innen auf dem Gang vor meiner Zellentür mich hören. Ob sie die Texte nun verstehen oder nicht: ich zeige, dass ich noch lebendig und ungebrochen bin. Ich leiste Widerstand. Auch gegen den Versuch, mich zu brechen, mich zum Aufhören zu bewegen, mir einzureden, ich sei im Unrecht und die Welt sei in Ordnung.

Ich singe einige Lieder. Deutsche und englische. Lieder, die ich selbst geschrieben habe, und Lieder, die ich von anderen gelernt habe. Meistens singe ich so eine gefühlte Stunde lang. Alles, was mir einfällt. Alles, was mir gerade gut tut. Alles, was mich mal für einige Zeit mit positiver Energie erfüllt und mich alles Negative vergessen lässt. Obwohl es wichtig ist, dass ich mir die Geschehnisse des Feueralarms und des Polizeigewahrsams genau abspeichere und mein Gedächtnisprotokoll nachher anfertige. Später. Weil ich jetzt nichts zu schreiben habe. Nichts. Einfach gar nichts. Alles, was ich mir merken will, muss ich auswendig lernen. Liedtexte. (Manchmal dichte ich hier neue Liedtexte.) Gedanken, Gedächtnisprotokoll. Alles. Auswendig lernen oder es geht mir verloren. Notieren kann ich es nicht.

Draußen auf dem Gang wird es lauter, während ich singe. Hört sich an wie ein Wagen, der geschoben wird. Zellentüren werden aufgesperrt und wieder zugeknallt. Es knallt immer sehr laut. Ob das daran liegt, dass die Zellentüren alle klemmen und sehr heftig geschlossen werden müssen, damit sie wirklich schließen, oder ob das daran liegt, dass sie mit Wucht zugeschlagen werden, weil auf diese Weise Aggression gegen uns ausgedrückt wird – oder Macht demonstriert wird? Vielleicht auch von allem etwas. Aber da alles hier sehr alt und ziemlich schäbig ist, liegt es schon sehr nahe, dass diese alten, schweren Metalltüren klemmen.

Mit lautem Kawumm geht meine Zellentür auf. Vom ersten Geräusch des Schlüsselbundes auf der Metalltür bis zur komplett geöffneten Tür habe ich Zeit, mich vorne auf die Holzpritsche zu setzen. Ich möchte einen gefassten aufrechten Eindruck machen, wenn Polizist*innen in meiner Tür erscheinen.

Beim Singen lehne ich meistens mit dem Rücken an der Wand. Die Beine abwechselnd ausgestreckt oder angewinkelt. Ab und an stelle ich mich auch mit dem Rücken an die Wand, an der das Fenster weit über mir ist. In Blickrichtung zur Tür. Ganz selten singe ich sogar im Liegen und stelle mir vor, es sei eine Operninszenierung, in der ich eben liegend singen soll, weil die Rolle, die ich spiele, vielleicht verwundet ist oder im Sterben liegt.

Dieses Mal habe ich gerade mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf der Holzpritsche gesessen, die Beine angewinkelt und die Bauchatmung bei jedem Atemholen gespürt. Mit dem ersten Geräusch an meiner Tür ziehe ich mich ans vordere Ende der Pritsche und komme dort zum Sitzen, als zwei recht freundliche Polizisten mit einem metallenen Servierwagen in der offenen Zellentür zum Stehen kommen.

Sie haben eine Mittagsverpflegung für mich. Es ist also inzwischen Mittag. Ich bin seit ca. 8 Uhr / 8:30 Uhr in Sicherheitsgewahrsam, zunächst auf der Straße. Vermutlich seit etwa 10 Uhr / 10:30 Uhr oder 11 Uhr in dieser Einzelzelle. Das Zeitgefühl geht mir im Polizeigewahrsam stets verloren. Aber Hunger habe ich tatsächlich. Ausgerechnet heute habe ich ja meine beiden Trinkflaschen vergessen, die ich hier in der Zelle sowieso nicht haben dürfte. Aber vorher im Polizeikessel hätte ich sie schon noch verwenden dürfen. Und zu essen hatte ich mir ja auch nichts eingepackt. …

Ich bin mal wieder vorher – also bis gestern Abend – „zwischen den Welten“ (zwischen dem „normalen Leben“ (Familienalltag) und diesem „Alltag des zivilen Widerstands“, den ich „Rebellenleben“ nenne) gependelt und bin etwas untervorbereitet in den Feueralarm gegangen. Ganz ohne Proviant. Ohne Buch. Nur mit Personalausweis und dem, was so normalerweise in meiner Handtasche ist. Mund-Nasen-Schutz für die öffentlichen Verkehrsmittel. Was zu schreiben. Geldbeutel. Taschentücher … Und mit dem, was ich am Leibe trage. (Meine Tasche ist natürlich inzwischen in diesem GeSa-Büroraum, in dem unsere persönlichen Sachen verwahrt werden.) Zum Glück hatten die anderen aber genug mit. Und ich bekam einen Apfel und etwas Studentenfutter, sowie ein paar kleine Sesamstangen und eine kleine Flasche Wasser von den „Brennnesseln“. Das war der Name der anderen Bezugsgruppe, mit denen wir „Nachtschatten“ heute gemeinsam im Feueralarm waren.

Der Polizist der mir im Polizeikessel mitteilte, dass ich mitgenommen und einem Haftrichter vorgeführt werde, weil ich mit der linken Hand festgeklebt war und deswegen ein Anschlussgewahrsam geprüft wird, hatte mich noch gefragt, ob ich gut gefrühstückt hätte. Es könne eine Weile dauern und es gebe kein Drei-Gänge-Menü in der GeSa. Das wusste ich schon. Ich war ja schon oft hier. Aber das wiederum kann er ja nicht wissen. Ich habe immer wieder den Eindruck, dass sie denken, das schüchtere uns ein, wenn sie uns Polizeigewahrsam androhen und hinzufügen, dass es da nicht viel zu essen gibt.

Aber nun gibt es was. Fünf-Minuten-Terrine. Und ich darf sogar wählen zwischen Nudeln mit Brokkoli und Nudeln mit Tomatensoße. Ich entscheide mich für Brokkoli. Weizen vertrage ich nicht gut. Aber ich habe Hunger. Und mein Anschlussgewahrsam ist bis zum Folgetag 20 Uhr beantragt.

Tatsächlich habe ich noch nie im Leben eine Fünf-Minuten-Terrine gegessen. (Meine Mutter mochte Fertiggerichte nicht und hat mich gelehrt, aus frischen Zutaten zu kochen.) Ich kenne die Fünf-Minuten-Terrine nur aus der Werbung. Mein Gehirn hat sogar den Werbesong gespeichert und spielt ihn direkt in meinem Inneren ab: „Die fünf Minuten-Terrine. Von Maggi. Ne tolle Idee.“

Ich frage, ob ich dann auch bitte einen Becher Wasser bekommen kann. Ein Polizist füllt mir Wasser ab. Der andere weist ihn darauf hin, dass dieses das heiße Wasser sei. Noch ehe ich ihm sagen kann, dass er das doch dann einfach in den bereits geöffneten Plastikbecher mit Aludeckel, in dem die gefriergetrockneten Nudeln, Cremepulver und winzige gefriergetrocknete Brokkoliteilchen zu sehen sind, umfüllen kann, kippt er es weg und schenkt mir aus einem Tetrapack Trinkwasser ein. Der andere Polizist gießt aus diesem sehr großen Kanister sehr heißes Wasser auf die gefriergetrocknete Speise. Diese Mischung blubbert sofort. Ich nehme beides mit und stelle es auf meine Holzpritsche. Terrine und Wasserbecher. Zwei Scheiben Knäckebrot, in einer Hülle verpackt, habe ich noch dazu bekommen. Die transportiere ich mit dem Becher mit Trinkwasser in einer Hand. Im blubbernden Suppenbehälter steckt ein Plastiklöffel.

In dieser Zelle habe ich keinen Tisch. Ich befinde mich noch im Erdgeschoss. Oben haben die Zellen kleine Tische. Das weiß ich von den vergangenen Aufenthalten in der GeSa Tempelhof. Wann sind denn fünf Minuten um? Ich habe wirklich Hunger. Diese Mischung aus Wasser und gefriergetrockneten Nudeln mit Brokkoli-Creme hat aufgehört zu blubbern. Ich nehme mal einen Bissen. „Knurpsig“. Theoretisch könnte das lecker schmecken. Ich versuche einen Trick. Während ich das Knäckebrot esse und ab und an schon einen Löffel von den Brokkolinudeln dazu nehme, die ich noch verrühre, damit das Essen etwas weniger gummiartig („knurpsig“) schmeckt und etwas cremiger wird, erinnere ich mich an das leckere Essen auf den Bundeswerkstätten des Weltgebetstags der Frauen in Bonn und in Neuseddin, in denen ich zwischen den Aktionen des zivilen Widerstands in Berlin in den letzten drei Wochen auch war. Das funktioniert tatsächlich ganz gut. Ich esse Kohlenhydrate und erinnere mich an leckeren Geschmack. Ergebnis: Satt und zufrieden.

Nach dieser Mahlzeit werde ich müde und lege mich bauchwärts auf die Holzpritsche. Tatsächlich gelingt es mir zu schlafen. Nicht tief. Dafür ist es zu laut und zu aufregend um mich herum. Aber ich döse vor mich hin und verliere völlig das Zeitgefühl.

Die GeSa-Pritschen sind ein bisschen wie Gartenliegen konstruiert. Zwar in Sitzhöhe fast wie ein Bett, aber eben ohne Matratze. Holzbretter mit leeren Zwischenräumen. Das Kopfteil angeschrägt, so dass ich, wenn ich mich auf den Rücken drehe, zur Tür sehen kann. Wenn ich auf dem Bauch liege, wie ich einfach am besten schlafen kann, wird mein Oberkörper nach oben abgeknickt. Ich rutsche weiter nach unten. Drehe mich hin und her. Aber alles ist unbequem. Mir tut alles weh. Mein Rücken, meine Gelenke. Ich habe blaue Flecken, weil ich einige Male grob angefasst und von der Straße gezogen wurde. Und ich trage nur ein lilanes Sommerkleidchen aus Baumwolle und eine schwarze Sommerleggings. Als ich im Winter hier war, durfte ich meinen roten Wintermantel behalten, weil er keine Schnüre hat, und war viel wärmer und damit auch weicher angezogen.

(Kleidungsstücke mit Schnüren, Schnürsenkel, Gürtel, Schals und Ketten dürfen nicht mit in die Zelle genommen werden. Nichts, womit man sich selbst oder andere verletzen kann.)

Ich bin müde und erschöpft und finde dieses Mal irgendwie nicht so richtig zur Ruhe. Das war bei früheren Aufenthalten in der GeSa in Berlin, in Frankfurt und in Oldenburg anders. Dieses Mal geht es mir nicht gut in der GeSa. Ich fühle mich wie gerädert. Aber ich weiß, dass ich das schaffen werde und warum ich das mache. Nichts daran ist falsch.

Es ist richtig, dass ich hier bin. Und ich hab genug Themen, über die ich nachdenken will, genug schöne Erinnerungen und positive Ziele, an denen ich mich festhalten kann, und bin müde und erschöpft genug, um viel schlafen zu können. Mehr schlecht als recht. Aber es wird eine Beschäftigung sein, die ich hier tun kann: Schlafen. UND: Ich bin hier nicht allein. Ich weiß, dass viele von uns hier sind. Vorhin habe ich einige gesehen, als ich mit dem Polizeiauto auf den Hof gebracht wurde. Und ich habe von einigen Fotos an ihren Zellentüren gesehen, als ich daran vorbei geführt wurde.

Zuweilen höre ich auch andere von uns singen. Manchmal singen sie „meine Lieder“, die ich ihnen beigebracht habe oder die ich auch singe, die auch zu meinem Repertoire gehören. Selten singen sie sogar Lieder, die ich geschrieben habe. Einige habe ich bei früheren Aufenthalten in der GeSa „geschrieben“: formuliert und direkt auswendig gelernt. Ich muss immer lächeln, wenn ich an die anderen von Letzte Generation denke, wenn ich sie höre oder sehe, wenn mir ihre Anwesenheit bewusst wird. Egal wodurch. Egal, wo ich gerade bin. Sie zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht. Ich lächle, weil es sie gibt.

Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht, aber ich muss irgendwie mal zur Toilette und habe gleichzeitig Durst. Aber ich habe keine Lust zu klingeln. Ich fühle mich gerade nicht so stark und dann ist das immer ein gewisses Risiko. Manche Polizist*innen sind sehr freundlich, manche sehr passiv-aggressiv, abfällig und spöttisch. Und das wiederum triggert mich dann ziemlich. Aber wenn ich länger warte, wird das nicht besser. Irgendwann werde ich so dringend müssen, dass es eine Qual wird, zu warten. Und es ist nie klar, wie lange das dauert, bis ein Polizist oder eine Polizistin kommt, nachdem geklingelt wurde. Aber ich will einfach gar nicht aufstehen. Ich will einfach nicht. Ich will nur, dass mein Körper aufhört wehzutun. Nützt aber nichts. Ich stehe auf und drücke auf diesen Knopf in der Wand, der aussieht wie eine in die Wand eingelassene winzige Kamera. Wenn es funktioniert hat, leuchtet dieses weiße Glas rot auf. Irgendwo wird jetzt – vermutlich akustisch und visuell – angezeigt, dass die Gefangene in Zelle 110 geklingelt hat.

Die Klappe vor dem Fenster in der Zellentür wird gehoben. Ein Polizist schaut durch das Fenster und sieht mich an. Mit so einem Ausdruck von Genervtheit im Blick, wie ihn Menschen haben, die einfach genug haben von dir. Warum auch immer. Ob du frech oder dreist warst, oder ob sie schon genervt von etwas anderem in die Begegnung mit dir gekommen sind. Ob die Situation insgesamt anstrengend ist, wie es zum Beispiel in überfüllten Zügen, die extrem viel Verspätung haben, vorkommt, in denen manche Schaffner*innen irgendwann eine Grundgenervtheit in der Stimme und im Gesichtsausdruck haben, auch wenn du bisher selbst noch gar nichts zu ihnen gesagt hast.

Ich kenne so eine Stimmung von beiden Seiten. Ich weiß, wie sich das hinter dem Gesicht im eigenen Inneren anfühlt, wenn du einfach nur noch genervt bist und jedes „Ja?“ (Was willst du?) klingt, als wäre dein Gegenüber der nervtötendste Mensch der Welt und du selbst kurz vor dem Durchdrehen wärst. Dass es sich anfühlt, als würden alle nur noch die Augen verdrehen, selbst wenn sie sich beherrschen und das nicht tun, sondern starr geradeaus schauen oder von oben herab auf dich. Auf mich. Sonja. Zelle 110.

„Ja?“ fragt er mit diesem bestimmten Blick und Tonfall, der mir zeigt, dass die Saite kurz vor dem Reißen ist. Extrem angespannte Situation. Und ich bin in der Erfüllung meiner Grundbedürfnisse darauf angewiesen, dass der Bogen jetzt nicht überspannt wird. „Ich muss zur Toilette,“ sage ich so lieb und freundlich ich kann. Das fällt mir leicht. Ich bin eigentlich schüchtern und daran gewöhnt, lieb und angepasst zu sein. Das glaubt mir da draußen kein Mensch, weil ich so stark und rebellisch wirke und so wortgewandt bin und wirklich nicht gerade wenig rede. Das ist eine antrainierte Rolle. Ich spiele sie gut. Ich hatte lange genug Zeit, sie zu lernen. Aber hier in der Zelle bin ich zurückgeworfen auf das Ich, das ich als Kind mal war. Und ich war ein liebes, schüchternes Mädchen. Er öffnet die Tür. „Toilette?“ fragt er mit diesem besonderen Berliner Tonfall.

Irgendwie scheint seine gesamte Körpersprache und sein Tonfall zum Ausdruck zu bringen, wie unnötig er das findet, dass wir uns auf diese Weise begegnen. Er spricht es nicht aus, aber sogar die Stellung seiner Augenbrauen scheint mich zu fragen: „Warum klebt ihr euch auf Autobahnen und mutet uns allen diese extrem nervige Situation zu?“

Wären wir draußen auf der Straße und er würde mich das real fragen, was praktisch in jedem Feueralarm beziehungsweise in jedem Polizeikessel nach der Räumung der Straßenblockade eine*r seine*r Kolleg*innen tut – in einem Tonfall, der kein Interesse für meine Antwort zum Ausdruck bringt, sondern der suggeriert, was er ohne Fragezeichen sagen will, weil er es so glaubt: Dass es falsch sei, was wir machen, und wir das endlich einsehen und damit aufhören sollten – wären wir draußen auf der Straße und er ein Polizist oder Journalist, der mich fragt, warum wir das machen, was (vermeintlich) alle so unglaublich nervt und stört und wütend und aggressiv macht, würde ich ihm antworten: „Wir sind der Feueralarm! Die Welt brennt. Niemand löscht.“

Aber so sage ich einfach nur: „Ja, ich muss zur Toilette. Und ich brauche außerdem etwas Wasser, bitte.“ Es sei gerade „mein Freund“ auf der Toilette, danach dürfe ich, sagt er mir. Ich weiß nicht, wen er meint. Aber dass gerade vorhin ein anderer, dessen Zellentür in meiner Nähe sein muss, zur Toilette gelassen wurde, habe ich mitgehört. Er schließt die Tür wieder und ich warte. Relativ lange. Irgendwann öffnet sich wieder meine Tür und der Polizist sagt mit diesem genervten Unterton, der die Sprachmelodie zu einer leichten Berg-& Talfahrt werden lässt, dass „mein Freund“ nun endlich fertig geworden sei. Ich spüre von innen, dass ich einen freundlichen Gesichtsausdruck habe. Meine Augen blitzen und ich lächle. Ich bedanke mich, dass ich jetzt zur Toilette darf.

Innerlich bin ich zwischen amüsiert und irritiert darüber, dass ein Polizist, der an anderen Tagen – wenn er nicht gerade mit zivilem Widerstand für KlimaGerechtigkeit und gegen die Zerstörung von Lebensgrundlagen konfrontiert wird – Verbrechen aufklärt oder verhindert oder deren Wiederholung durch Ingewahrsamnahme unterbindet, es für so abfällig erwähnenswert hält, dass ein Freund von mir – keine Ahnung welcher, aber er liegt in der Annahme, dass ich alle, die sich bei Letzte Generation engagieren, als meine Freund*innen betrachte – relativ lange auf der Toilette gebraucht hat.

Vielleicht hat er noch Wasser aus der Leitung getrunken. Werde ich auch gleich machen. Vielleicht hat er sich die Hände sehr gründlich gewaschen, weil mal wieder kein Klopapier in der Toilettenzelle war, was ich auch schon oft erlebt habe. Vielleicht war es bei ihm eben nicht nur Wasser lassen. Was weiß ich. Bei 36 Stunden Gewahrsam haben wir ja hier irgendwie keine Eile. Und illegal ist es meines Wissens nicht, sich für den Toilettengang einfach mal etwas Zeit zu nehmen.

Ich werde in eine Gemeinschaftszelle geführt, die leer ist. Jedenfalls sind keine Menschen darin. Aber Bänke und Tische. Und sie ist etwa fünfmal so groß wie meine Einzelzelle. In einer ähnlichen Zelle war ich neulich gemeinsam mit sieben anderen Frauen nach einer Autobahnblockade. In einer anderen Gefangenen-Sammelstelle. In der Kruppstraße. Und ich kenne diese Gemeinschaftszelle hier noch von meinen Aufenthalten in der GeSa Tempelhof im Januar und Februar.