Firebird - Flammende Erinnerung - Cynthia Eden - E-Book

Firebird - Flammende Erinnerung E-Book

Cynthia Eden

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Beschreibung

Cassie Armstrong kämpft mit Schuldgefühlen. Ihr Vater war der Wissenschaftler, der einst in einem geheimen Forschungslabor grausame Experimente an Menschen mit besonderen Gaben durchführte. Inzwischen ist Cassie selbst eine brillante Genforscherin und will ihre Fähigkeiten dazu nutzen, das von ihrem Vater begangene Unrecht wiedergutzumachen. Sie fühlt sich vor allem zu dem Phönix Dante hingezogen, der seit ihrer Kindheit in ihren Träumen erscheint und dessen Schmerz sie immer wieder zu lindern versucht - auch wenn er sich nicht daran erinnern kann. Denn mit jedem Tod und jeder Auferstehung verliert Dante aufs Neue sein Gedächtnis ... (ca. 400 S.)

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Prolog

1

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4

5

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Epilog

Danksagung

Die Autorin

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Impressum

CYNTHIA EDEN

Firebird

Flammende Erinnerung

Ins Deutsche übertragen

von Antje Engelmann

Zu diesem Buch

Cassie Armstrong kämpft mit Schuldgefühlen. Ihr Vater war der Wissenschaftler, der einst in einem geheimen Forschungslabor grausame Experimente an Menschen mit besonderen Gaben durchführte. Inzwischen ist Cassie selbst eine brillante Genforscherin und will ihre Fähigkeiten dazu nutzen, das von ihrem Vater begangene Unrecht wiedergutzumachen. Sie fühlt sich vor allem zu dem Phönix Dante hingezogen, der seit ihrer Kindheit in ihren Träumen erscheint und dessen Schmerz sie immer wieder zu lindern versucht – auch wenn er sich nicht daran erinnern kann. Denn mit jedem Tod und jeder Auferstehung verliert Dante aufs Neue sein Gedächtnis …

Prolog

»Lass das, Daddy. Bitte!« Das kleine Mädchen wand sich und kämpfte verzweifelt mit den starken Fesseln, die es auf dem kalten Metalltisch hielten.

»Cassie, nun sei ein braves Mädchen und hör auf, dich zu sträuben.« Ihr Vater beugte sich im weißen Laborkittel über sie. Er trug eine Maske, und sie sah nur seine glitzernden Augen. »Das macht dich stärker. Möchtest du nicht stärker werden?«

Er würde ihr wieder die Arznei verabreichen. Schon blitzte die Nadel lang und spitz im grellen Licht auf.

»Ich will nicht stärker werden«, flüsterte sie. Und wollte raus aus dem Zimmer. Weg von ihm.

Weit, weit weg.

»In der Welt gibt es Ungeheuer, Cassie. Die müssen wir aufhalten.« Seine Stimme war härter geworden. Obwohl sie ohnehin hart und kalt war.

Er sah aus wie ein Ungeheuer. Im grellen Licht. Mit weißer Maske vor dem Gesicht. Mit weißen Handschuhen.

Tränen liefen ihr über die Wangen, als er die Nadel in ihren Arm stach.

Sie schrie. Feuer schien sich in ihre Adern zu ergießen, und sie bäumte sich auf und zuckte mit den Gliedern.

Er seufzte. »Darum musste ich dich fesseln. Ich durfte nicht zulassen, dass du dich verletzt.«

Ihre Schreie wurden lauter.

»Keine Sorge. In ein paar Wochen sind wir mit den Spritzen durch.«

Sie schrie weiter, konnte nicht aufhören. Sie brannte. Ihr Kopf schlug auf den Tisch. Immer wieder. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen.

»Sobald die Verwandlung abgeschlossen ist, bist du unsere Waffe. Perfekt gehüllt in die Unschuld eines Kindes.«

Sie schrie nicht länger, sondern würgte und versuchte zu atmen, bekam aber keine Luft. Ihr Blick glitt durch das kleine Labor. Das Labor ihres Vaters. Normalerweise durfte sie nicht hier sein. Heute aber hatte er sie hergebracht – obwohl sie gefleht hatte, wieder nach draußen zu dürfen.

Nun starrte er auf sie herunter. Seine Augen … wirkten besorgt. So hatte er sie noch nie angesehen.

»Atme, Cassie!«, fuhr er sie an.

Sie konnte nicht.

Ringsum begannen Apparate zu piepen.

»Die Dosis war zu hoch!«, rief ihr Vater.

Das Licht schien schwächer zu werden.

»Cassie?«

Er hatte ihr etwas anderes gespritzt. Sie hatte die Nadel nur kurz aufblitzen sehen, bevor sie ihr in den Arm gefahren war.

»Ihr Herz schlägt nicht mehr.« Eine Frauenstimme. Die Stimme der Schwester, Mrs May. Manchmal hatte sie Cassie Lutscher gegeben, wenn ihr Vater nicht hingesehen hatte. Mrs May war ihr immer so nett erschienen.

Und doch hatte sie Cassie Minuten zuvor gefesselt. Das hatte sonst einer der Männer erledigt, nicht die nette Mrs May. Nicht …

»Cassie!«

Sie konnte ihren Vater nicht mehr sehen, doch immerhin brannte das Feuer nicht länger. Sie spürte es nicht mehr. Nichts spürte sie mehr.

»Herzstillstand!«

Das war alles, was sie noch hörte.

Cassie holte verzweifelt Luft. Dann schrie sie, denn es tat so weh.

»Wir haben sie wieder! Mein Gott!«

Das war doch … Daddys Stimme. Sie versuchte, ihn zu erkennen, doch das Licht war zu grell. Also schaute Cassie an sich herab … und sah das Blut überall an ihrem Körper. »Daddy?«

Dann war er da. Und beugte sich über sie. »Alles wird gut, Süße. Ich hab mich um dich gekümmert.«

So hatte sie ihn nie lächeln sehen.

»Von nun an bist du enorm stark. Unfassbar stark …«

So fühlte sie sich ganz und gar nicht.

»Du wirst die Welt verändern – dieWelt!«

Cassie konnte nur daliegen und die nasse Wärme ihres Bluts spüren. Die Fesseln schnitten ihr ins Fleisch, taten aber nicht annähernd so weh wie die Stiche, mit denen ihr Vater sie zusammennähte.

Doch Cassie schrie nicht wieder. Es hatte keinen Sinn. Daddy würde sie nicht gehen lassen.

Sie wandte den Kopf: Krankenschwestern ringsum. Und Mrs May tätschelte ihr mit der behandschuhten Rechten die Wange.

Cassie hielt sich möglichst reglos und wünschte inständig, ihr Vater hätte sie nicht zurückgeholt.

Denn sie hatte die Momente ihres Todes genossen.

Cassie schlich über den Flur. Ein Neuer war ins Labor gebracht worden. Sie hatte erhobene Stimmen gehört. Und laute Schritte.

Daddy hatte gesagt, sein Programm werde ausgeweitet.

Ihr Vater machte ihr Angst.

Als sie ihn das Zimmer am Ende des Flurs verlassen sah, duckte sie sich ins Dunkel zurück. Flankiert von zwei großen Männern mit Schusswaffen ging er an ihr vorbei, ohne auch nur in ihre Richtung zu schauen.

Der zitternden Hände wegen ballte sie die Fäuste und schlich nackten Fußes weiter den Flur entlang.

Sie öffnete die Tür zum letzten Zimmer. Niemand da. In der Ecke war eine Treppe. Stufen, die nach unten führten.

Cassie biss sich auf die Lippe. Sie durfte nicht hier sein. Daddy hatte gesagt …

Daddy ist böse. Er hat mir wehgetan.

Sie ging die Treppe hinunter. Dann sah sie ihn.

Groß und dunkel. In einem … Käfig?

Sein Kopf schnellte nach oben, und er fuhr zu ihr herum. »Wer bist du?« Seine Stimme jagte ihr Angst ein, denn sie klang wie das tiefe Knurren eines Raubtiers.

Und doch näherte sie sich ihm vorsichtig.

Er musterte sie aus dunklen Augen. »Warum bist du ganz blutig?«

»Er hat mich getötet.« Sie begriff genau, was passiert war. Und passieren würde. »Dich bringt er auch um.«

Der Mann kam an die dicken Stäbe, die sie voneinander trennten. »Willst du mir helfen, Mädchen?«

Sie nickte.

»Dann geh wieder hoch. Schau nach, ob du den Schlüssel für diesen Käfig findest und …«

Ihre Faust öffnete sich. Den Schlüssel hatte sie schon dabei.

Manchmal war ihrem Vater nicht klar, wie klug sie war.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss. Hörte das Klicken. »Er soll nicht noch jemanden töten«, sagte sie leise und traurig.

Der Mann kam aus dem Käfig, kauerte sich vor sie, sah ihr in die Augen und fragte erneut: »Wer bist du?«

Wie dunkel seine Augen waren! So wie die Finsternis, die sich ihrer bemächtigt hatte, als sie gestorben war.

»Cassie … Cassandra.«

»Komm, Cassandra. Wir verschwinden von hier.« Er griff nach ihrer Hand.

Seine Hand war zu warm.

»Ich will raus«, flüsterte sie. »Bitte hilf mir.«

Er nahm ihre Hand fester. »Mach ich.«

Auf der Treppe waren Schritte zu hören.

»Cassie!«, rief ihr Vater. »Cassie … was hast du getan?« Jetzt war er da. Und nicht allein. In Begleitung bewaffneter Männer. Immer diese Pistolen …

»Erschießt ihn«, befahl er und funkelte den Mann neben ihr zornig an.

»Nein!«, schrie sie.

Doch sie hörten nicht auf sie. Das taten sie nie. Kugeln trafen den Mann, den sie aus dem Käfig befreit hatte.

Hände packten sie grob und rissen sie von ihm weg, noch bevor er zu Boden gestürzt war.

»Nein!« Cassie trat, wand sich und krallte nach den Bewaffneten, konnte aber nicht zu dem Mann zurückgelangen. »Aufhören!«

»Verschwindet. Das Feuer kommt …«, sagte ihr Vater. Er klang sehr erregt. Bei seinem Lächeln wurde ihr fast schlecht.

Wieder schaute sie den Mann an. Er war tot. Genau wie sie es auf Daddys Tisch gewesen war.

»Mach dir keine Sorgen.« Endlich sah ihr Vater sie an. »Auch der erwacht wieder zum Leben.«

Minuten später verbrannte der Mann vor ihren Augen. Feuer flackerte über ihm.

»Ich hab’s dir ja gesagt, Cassie.« Ihr Vater strich ihr durchs Haar. »Es gibt Ungeheuer.«

Der Mann brannte noch immer.

»Ja, Daddy.«

Er hatte recht. In diesem Zimmer war ein Ungeheuer. Doch es handelte sich nicht um den Mann, der sich nun vom Boden erhob, obwohl er noch brannte. Nein, Cassie wusste: Das eigentliche Ungeheuer war der, der sie anlächelte und umarmte.

Ihr Vater.

Und eines Tages würde sie ihm das Handwerk legen.

Eines Tages.

1

Es war hart für Cassandra Armstrong, einen Mann zu lieben, der sich nicht an sie erinnerte.

Härter noch war es, in Chicagos Nebenstraßen in die schäbigste Bar der Paranormalen zu gehen und diesen Mann in den Armen einer billigen Vampirin zu entdecken.

Cassies Augen wurden schmal, als sie Dante musterte. Er stand in einer weit entfernten Ecke und wollte sich offenbar im Dunkeln verstecken, war aber nicht der Typ, der mit seiner Umgebung verschmolz.

Dafür war er zu groß. Zu gefährlich. Zu sexy.

Und die Vampirin hatte die Fänge viel zu nah an seiner Kehle, als dass Cassie hätte ruhig bleiben können.

Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge und murmelte Entschuldigungen, während sie verschiedene Paranormale und auch Menschen anrempelte, die das »Tabu« bevölkerten. Seit einigen Jahren taten die Paranormalen nicht länger, als gäbe es sie nicht, und ihr Coming-out hatte sich zu einer wilden, noch immer andauernden Party entwickelt. Seither waren in allen großen Städten der USA und der übrigen Welt Klubs wie das »Tabu« entstanden.

Dante lehnte an der Rückwand. Die Vampirin mit ihrem langen, roten Haar und ihrem viel zu kurzen Rock fasste ihm überall hin. Ihre Nägel waren blutrot lackiert. Typisch. Nun stellte sie sich auf die Zehenspitzen, und ihr Mund näherte sich bedrohlich Dantes Hals.

»Okay – und jetzt entfernst du dich von ihm«, fuhr Cassie die Frau an und trat auf die beiden zu.

Die Vampirin erstarrte.

Dante neigte den Kopf zur Seite und betrachtete Cassie neugierig. Lag in seinem dunklen Blick Erkennen?

Natürlich nicht. Für ihn war sie eine x-beliebige Fremde von der Straße.

Lass das nicht an dich ran! Dante konnte nichts für das, was er war.

Aber er sollte sich von der billigen Vampirin entfernen.

Die fuhr nun fauchend zu Cassie herum.

Moment. Hatte sie tatsächlich gefaucht? Cassie hätte fast die Augen verdreht.

»Zieh Leine.« Die Vampirin bleckte die Fänge. »Er gehört mir.«

Von wegen. Cassie ballte die Fäuste und musste sich sehr beherrschen, der Schlampe keins überzubraten. »Tut er nicht«, sagte sie entschieden und sah an ihr vorbei. »Dante, wir müssen gehen.«

Er straffte sich.

Genau. Ich kenne deinen Namen. Warum, warum nur kannst du nichts über mich wissen? Nicht das Geringste?

Aber so war es immer für sie beide.

Cassie hielt Dantes Blick stand. »Glaub mir: Du willst nicht, dass sie dir die Fänge in den Hals schlägt.«

Sein Blut war speziell und machte Vampire schnell süchtig. Sollte die Rothaarige davon kosten, würde sie ihn nicht so bald in Ruhe lassen.

Dann müsste ich sie pfählen. Zu schade.

»Dante, wir können …«, begann Cassie.

Doch schon hatte die Vampirin sich auf sie gestürzt und ihr die Hand um die Kehle gelegt. Mit dieser Hand hob sie sie vom Boden. »Vielleicht schlage ich meine Fänge ja in dich, du Miststück.« Und an Cassies Ohr gebeugt flüsterte sie: »Denn niemand kommt zwischen mich und mein Essen.«

»Du … willst … nicht …«, stieß Cassie nur mühsam hervor, denn die Vampirin würgte sie tatsächlich. Sie hätte der Rothaarigen gern gesagt: Du willst nicht deine Fänge in mich schlagen. Das wäre ein riesiger Fehler.

Aber die Vampirin ließ ihr keine Zeit zum Reden.

»Lass sie los!« Dantes Stimme. Kalt. Ungerührt. Und so herrlich tief, wie sie sie in Erinnerung hatte.

Aus schmalen Augen und mit einer Mischung aus Ekel und Wut musterte die Vampirin Cassie. »Du hast recht. Wir brauchen sie nicht. Wir …«

»Ich sagte: Lass sie los!« Dante klang so drohend, dass Cassie Gänsehaut auf den Armen bekam. »Sofort!«

Die Vampirin ließ sie fallen.

Cassie landete unsanft auf dem Hintern.

Typisch. Sie war nie der anmutige Typ gewesen.

Die Rothaarige wandte sich zu Dante um. »Gehen wir?«, schnurrte sie.

Schnurren. Fauchen. Diese Frau war wirklich lästig.

»Du gehst.« Dante warf ihr einen Blick zu, der die Wüste in ein Eismeer hätte verwandeln können. »Ich bin hier noch nicht fertig.«

»Aber …«

»Und ich bin nicht dein Essen«, setzte er hinzu, und etwas Hitziges lag in seinen Worten.

Ah – das hatte er also mitbekommen. Cassie hatte schon vermutet, dass sein exzellentes Gehör diese Worte vernommen hatte.

Die Rothaarige funkelte erst Dante, dann Cassie an. Ihr Blick versprach Vergeltung.

Eines Tages würde Cassie ihr als Feindin ein zweites Mal begegnen. Sie schluckte und rappelte sich auf.

»Wir sehen uns wieder«, murmelte die Vampirin. Diese Worte waren an Cassie gerichtet und klangen allerdings wie eine Drohung.

Na prima. Als gäbe es in ihrem Leben nicht schon genug Bedrohungen.

Dann war die Vampirin verschwunden. Wahrscheinlich auf der Suche nach einer anderen Mahlzeit.

»Wer bist du?« Seine Stimme, ein leises Knurren, jagte ihr weitere Schauer über die Haut. Vielleicht hätten einige Leute – na gut, die meisten – dieses dunkle Knurren unheimlich gefunden.

Sie empfand es als sexy. Wegen Dante hatte sie immer etwas für Männer mit tiefer Stimme übriggehabt.

Cassie straffte die Schultern und sah zu ihm hoch. »Bist du wieder verbrannt?« Erst vor einigen Monaten war sie ihm in New Orleans begegnet.

Damals hatte er ihr das Leben gerettet. Und schien sich sogar an sie erinnern zu können …

Jetzt aber war keinerlei Erkennen in seinen Zügen.

Sie betrachtete ihn. Die hohen Wangenknochen, das kantige Kinn. Die schmalen Lippen, die sie nie hatte lächeln sehen – trotz all ihrer Versuche, ihn fröhlich zu stimmen. Seine Augen waren fast so dunkel wie sein schwarzes, volles Haar, das etwas zu lang war und ihm bis auf den Rücken fiel.

Mit diesen Augen musterte Dante sie nun wachsam und vorsichtig. »Verbrannt?«, wiederholte er bedächtig.

Im nächsten Moment sprang er viel schneller auf sie zu als die Vampirin, griff ihren Arm mit großer, starker, heißer Hand und zog sie an sich. »Woher weißt du davon?«

Cassie war nicht so groß wie die Rothaarige. Nicht annähernd. Sie maß kaum eins fünfundsechzig und musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm weiter in die Augen schauen zu können. Dante war knapp eins neunzig und enorm muskulös.

Er packte fester zu. »Antworte mir!«

Seine Finger schienen noch heißer zu werden, und ihr war klar, dass seine Macht ihm nun in den Adern kreiste. Falls sie nicht vorsichtig wäre, würde er sie womöglich verbrennen. Wie viel Selbstkontrolle besaß er wohl noch?

»Bitte.« Cassie gab sich alle Mühe, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Ich bin nicht hier, um dir wehzutun.« Sondern um ihn um Hilfe anzuflehen. Hätte er sich wenigstens schwach an sie erinnert, wäre ihr dieses Flehen viel leichter gefallen.

Da er sich aber offenbar gar nicht erinnerte …

Sein Blick glitt über ihr Gesicht und … blieb an ihrem Mund haften. Er hob die Linke und strich ihr mit dem Zeigefinger sanft über die Unterlippe.

Cassie hörte auf zu atmen. Ihr Körper war einfach zu gut auf ihn eingestellt. Dieser Mann hatte sie praktisch für jeden anderen verdorben.

Nicht, dass Dante nur ein Mann gewesen wäre. Nein, er war viel, viel mehr.

Der Unsterbliche.

Diesen Namen hatte er während seiner Haft bekommen. Einer Haft, zu der auch sie gehört hatte und die auch sie erdulden musste.

Sein Finger strich sanft über ihre Unterlippe. Schon diese leise Berührung ließ ihre Nippel hart werden und ihren Körper sich nach ihm sehnen. Doch jetzt war nicht die Zeit dafür. Und sicher nicht der richtige Ort. Sie hatte eine Mission zu erfüllen.

Dante neigte ihr den Kopf zu, und Cassie fragte sich, ob er sie küssen wollte. Sie reckte sich sogar, um ihm entgegenzukommen.

Doch er schüttelte den Kopf und ließ die Hand sinken.

Das musste vorläufig genügen.

Sie räusperte sich. »Die Verbrennung dürfte erst kurze Zeit zurückliegen. Deine Erinnerung stellt sich meist binnen einer Woche nach der Auferstehung wieder ein.«

Sein Gesicht schien sich in Stein zu verwandeln.

»Meist« war das Schlüsselwort. In den letzten Jahren hatte Dante so viel durchgemacht, dass sein Gedächtnis so schwankend war wie seine geistige Gesundheit. Das ließ ihn für viele zu einem sprechenden Albtraum auf zwei Beinen werden.

»Sicher wurdest du angegriffen«, begann sie flüsternd. Angegriffen … und getötet. Denn nur durch den Tod …

Er hob sie hoch und warf sie sich über die Schulter.

Cassie schrie auf, denn damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Sie legte die Hände an seinen Hintern – einen sehr schönen Hintern! –, stemmte den Oberkörper hoch und sah sich um.

Einige Gäste des Klubs betrachteten sie amüsiert und gehörten sichtlich nicht zu denen, die einer Dame aus der Verlegenheit helfen würden. Auch die rothaarige Vampirin musterte sie, nein, sie funkelte sie böse an.

Und Dante schritt mit ihr davon und behielt ihre Beine fest im Griff.

Gut. So also konnte sie seine Aufmerksamkeit erregen.

Sie hörte Holz splittern. Ob er eine Tür eingetreten hatte? Es hörte sich so an. Cassie drehte den Kopf und sah sich um, wohin sie gingen. Anscheinend waren sie in einem Vorratslager unterwegs. Links und rechts Regale voller Kartons und Flaschen.

»Verzieht euch, aber flott!«, knurrte Dante.

Drei Leute hetzten eilends an ihr vorbei.

Die Welt drehte sich kurz, dann fand Cassie sich auf dem Rücken liegend auf einem Holztisch wieder. Dante stand zwischen ihren Beinen und hielt ihre Handgelenke mit jeweils einer Hand fest.

Wow!

»Wer bist du?«

»Mein Name wird dir nichts sagen«, flüsterte sie fast lautlos. »Wenn du jüngst auferstanden bist …«

»Wie du heißt?«

»Cassie Armstrong. Cassandra …«

Seine Lider flatterten. »Cassandra.« Er ließ sich den Namen geradezu auf der Zunge zergehen.

Bitte erinnere dich an mich. Im Laufe der Jahre war sie oft sicher gewesen, er würde sich ihrer entsinnen, doch dann hatte die Qual erneut begonnen. Qual und Tod.

Er hatte jede Erinnerung an sie verloren, und sie würde sich einmal mehr mächtig ins Zeug legen müssen, um ihm wieder nahezukommen. Ihn dazu zu bringen, sich zu erinnern.

Ein endloser Kreislauf, der sie verletzt zurückließ.

»Ich hab von dir geträumt«, wisperte er und hielt ihre Handgelenke dabei so fest, dass sie sich unmöglich befreien konnte.

Sein Bekenntnis ließ ihr Herz schneller schlagen, und Hoffnung keimte in ihr auf. Endlich, endlich hatte er …

»In meinen Träumen …« – an seinem Kinn zuckte ein Muskel – »… hast du mich umgebracht, Cassie Armstrong.«

Verdammt. »Ich sagte doch schon: Ich bin nicht hier, um dir etwas zuleide zu tun.«

»Aber du hast mich getötet, oder?«

Cassie war klar, dass sie vorsichtig sein musste. Sie war nicht wie er. Dante konnte wieder und wieder sterben, erstand aber von den Toten immer wieder auf.

Er würde sich aus der Asche erheben und wäre neu geboren.

Während sie einfach … sterben würde. Für sie gäbe es keine Wiederkehr.

Mit einem bloßen Gedanken vermochte er sie in Brand zu setzen. Die Hitze seiner Finger, die sie wärmte, konnte sich binnen Sekunden in ein flammendes Inferno verwandeln.

»Letzte Nacht hab ich von dir geträumt.« Seine Worte waren ein leises Knurren, und er beugte sich weiter zu ihr herunter.

Barlärm drang heran. Plärrende Rhythmen. Geruch von Sex, Blut und Schnaps.

»Du hast mich angeschaut und dann erstochen.«

Seine schlechten Erinnerungen würden es sicher nicht leichter machen.

»Also sag mir besser, warum ich mich nicht hier und jetzt rächen …« – sein Atem strich über die erogenen Zonen ihres Halses – »… und dir den Garaus machen soll.«

Sie schüttelte den Kopf, und ihr langes Haar glitt über ihre Schultern. »Bitte …«

»Ich mag es, wenn du flehst.«

Allerdings. Aber das war eine andere Geschichte.

»Du hattest also Träume«, begann Cassie eilig, denn sie hatte schon gesehen, wie er einen Mann in Flammen aufgehen ließ. Dieses Schicksal wollte sie auf gar keinen Fall erleiden. »Tja, ich bin dein Schlüssel. Denn ich kenne dich, kenne jeden dunklen Fleck deines Bewusstseins. Und kann mein Licht darauf richten und dir zeigen …«

Sein Mund war nur eine Daumenlänge von ihren Lippen entfernt. Oder war es bloß noch ein Zentimeter? »Was willst du mir zeigen?«

»Alles«, versprach sie ihm flüsternd. »Ich kann dir die Geheimnisse deines Lebens erzählen. Ich kann dir sagen, wer du bist, sofern du mir vertraust.«

Er musterte ihre Augen. Manche dachten, seine seien einfach bloß dunkel – ein Spiegel seiner schwarzen Seele –, doch da täuschten sie sich. In seinen Augen standen goldene Sprenkel. Man musste nur konzentriert und tief genug schauen, dann entdeckte man sie.

»Warum soll ich einer Frau vertrauen, die mich mal getötet hat?«

»Weil ich dich auch schon gerettet habe.« Und dafür hatte sie gewaltige Risiken auf sich genommen. »Ob du es glaubst oder nicht: Du schuldest mir sogar etwas.«

»Das glaube ich nicht.«

Ihre Lippen zitterten.

Sein Blick fiel einmal mehr auf ihren Mund.

»Dante …«

Er küsste sie.

Das hatte sie nicht erwartet, und als er seinen Mund auf ihren presste, erstarrte sie kurz. Und begriff: Dante.

Ihre Lippen öffneten sich bereitwillig, und die Mauer, die ihr Begehren zügeln sollte, begann zu brechen. Seine Zunge drang in ihren Mund, nicht tastend, sondern fordernd, und es war genau wie in ihrer Erinnerung. Er küsste sie, und sie begehrte. Lust durchfuhr ihren Körper, und sie wand die Handgelenke in seinem Griff, denn sie wollte ihn berühren.

Sie wollte …

Er hob den Kopf. Sein Blick flammte auf sie nieder, und das Gold in seinen Augen begann zu schmelzen. »Ich erinnere mich … an deinen Mund. Deinen Geschmack.«

Nie hatte sie seinen Kuss vergessen. Er war der Erste, den sie je geküsst hatte. Der Erste, der ihr das Gefühl gegeben hatte, zu jemandem zu gehören.

Zu jemandem, der sie mitunter gehasst zu haben schien.

»Du kannst mir vertrauen«, flüsterte sie aus dem verzweifelten Wunsch heraus, er möge ihr glauben.

Ruckartig schüttelte er den Kopf. »Das ist das Letzte, was ich kann.« Er richtete sich auf und sprang fast panisch zurück.

Für einen Moment blieb sie reglos. Er musterte sie vom Schopf bis zu den Sandaletten und wirkte verwirrt. Genau wie sie.

Küss mich nicht erst und zuck dann zurück! Sie hatte schließlich nicht die Pest.

»Vor einer Woche bin ich aufgewacht«, sagte er leise, und seine Stimme bereitete ihr noch immer süße Qualen. »In einer abgefackelten Seitenstraße. Ich war nackt, und alles ringsum lag in Asche.«

Sie richtete sich auf, und ihr Herz schlug schneller.

»Was ist mir widerfahren?«, fragte er.

»Dante, ich …«

»Heiße ich so?«

Der Gedächtnisverlust schien gravierender zu sein als früher. »Ja. Du hast mir gesagt, so soll ich dich nennen.« Aber ob das sein wahrer Name war? Sie war sich nicht sicher. Er hatte ihr nie sonderlich viel aus seinem Leben anvertraut – jedenfalls nicht über die Zeit vor seiner Gefangenschaft.

»Wie bin ich in diese Seitenstraße geraten?«

Sie stemmte sich vom Tisch hoch, drückte die zitternden Knie zusammen und wandte sich ihm zu. »Ich weiß es nicht. Als ich dich zuletzt sah, warst du unten in New Orleans.«

Zwischen seinen Brauen tauchte eine schwache Falte auf. Er schien in der Blüte seiner Manneskraft zu stehen und vielleicht Mitte dreißig zu sein, doch in Wirklichkeit war Dante sehr viel älter.

Es gab einen Grund, warum er im Labor Der Unsterbliche geheißen hatte.

»In New Orleans?« Er fuhr sich ratlos durchs Haar. »Was hab ich da unten gemacht?«

Die Antwort war leicht: »Mir das Leben gerettet.«

Er ließ die Hand sinken und fragte misstrauisch: »Bist du sicher, dass ich dich nicht umbringen wollte?«

Sicher war sie sich zwar nicht, doch sie atmete ja noch, und hätte er ihren Tod wirklich gewollt, wäre sie damals zu Asche verbrannt.

Seine Feinde pflegten als Asche im Wind zu enden.

»Was ist mir in dieser Seitenstraße widerfahren?«

Gut, wenn sie sein Vertrauen erringen wollte, musste sie wohl manches Wissen mit ihm teilen. »Ich denke, du bist dort gestorben.«

Er lachte. Das klang bitter und hart, so, wie sie es schon ein Dutzend Mal von ihm gehört hatte. Jahrelang hatte sie ihm ein echtes Lachen entlocken wollen, doch es hatte nicht geklappt.

»Wenn ich gestorben bin«, fragte er, »warum atme ich jetzt?«

Genau das war schwer zu erklären. »Hör mal, Dante …«

Plötzlich drangen Schreie aus dem Nebenzimmer, schrill und verzweifelt. Dann das Rattern einer Maschinenpistole.

Sie haben mich entdeckt. Cassie stockte der Atem, doch dann ergriff sie Dantes Hand. »Wir müssen verschwinden. Sofort.«

Sie zerrte an ihm und hoffte, er würde ihr folgen.

Doch er rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle. »Ich laufe vor niemandem davon.«

Tja, das stimmte wohl.

Sie aber floh. Wer kein paranormales Kraftpaket war, lernte das ziemlich schnell.

Wieder Schreie. Und MP-Salven. »Wenn die mich fangen«, sagte Cassie leise, »lassen sie mich nie mehr frei.«

Er sah ihr in die Augen.

»Und wenn sie dich schnappen, werfen sie dich wieder in einen Käfig, und du siehst so bald kein Tageslicht mehr.« Ihr Herz schien so laut zu hämmern wie die Schüsse. Er musste ihr glauben. »Die lassen dich in dem Käfig und foltern dich wieder und wieder.«

»Woher weißt du das?«

Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Das haben sie dir früher schon angetan.«

Er biss die Zähne zusammen. »Dann ist es Zeit, mich diesen Kerlen entgegenzustellen.«

Wie bitte? Hatte sie sich nicht bemüht, ihn zur Flucht zu bewegen?

Er löste sich von ihr und stürmte zu der eingetretenen Tür und dorthin, woher die Schüsse und Schreie kamen.

Als er wegrannte, gefror ihr das Herz. Sie war Dante nach Chicago gefolgt, weil sie ihn brauchte, hatte Jagd auf ihn gemacht, ihn verzweifelt gesucht … und seine Feinde direkt zu ihm geführt.

Dante, es tut mir leid.

Aber diese Entschuldigung würde er nicht anerkennen. Das tat er nie.

Männer mit schwarzen Skimasken hatten das »Tabu« gestürmt. Die hämmernden Rhythmen waren verstummt, und man hörte nur noch die Schreie derer, die im Klub in der Falle saßen.

Die meisten Gäste waren geflüchtet, und die Verletzten auf dem Boden schienen vor allem Vampire zu sein. Offenbar machte es ihnen inzwischen nichts mehr aus, sich unter Menschen aufzuhalten. Und Gestaltwandler gab es auch.

Dante hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt, als sich am Vorabend ein Mann vor seinen Augen in einen Fuchs verwandelt hatte. Vielleicht lag das ja am Verlust seiner Erinnerungen. Vampire und Gestaltwandler schienen für ihn normale Erscheinungen geworden zu sein.

»Du da!«, rief eine männliche Stimme. »Bleib stehen!«

Eine große, schwarze Pistole wies auf seine Brust.

Dante. Sie hat gesagt, ich heiße Dante. Der Name war ihm richtig vorgekommen. So wie die sexy Braunhaarige sich in seinen Händen richtig angefühlt hatte.

»Bist du ein Mensch?«, fuhr die Stimme ihn durch eine Maske an. »Oder ein Para?«

Dass Para die umgangssprachliche Bezeichnung für ein »paranormales Wesen« war, hatte er tags zuvor gelernt. Doch weil er nicht recht wusste, was er war, starrte er den Mann nur wortlos an und verspürte auch kein Verlangen, ihm zu antworten.

»Was bist du?«, fragte der Mann beim Näherkommen.

»Jemand, den du nicht verärgern willst«, erwiderte Dante. Damit hatte er ihn gewarnt.

»Das ist er!«, rief ein anderer Maskierter mit vor Aufregung sich überschlagender Stimme. »Der von den Videos. Der hat die Vampirhöhle in New Orleans abgefackelt!«

Dante straffte sich.

»Heiliges Kanonenrohr«, staunte der Kerl, der noch immer seine Waffe auf ihn gerichtet hielt. »Da haben wir ja heute einen kapitalen Fang gemacht.«

»Nein«, sagte Dante entschieden. »Habt ihr nicht.« Er ließ seinen Blick durch den Klub schweifen. Männer und Frauen kauerten ängstlich unter umgestürzten Tischen … dabei hätten Paras eigentlich stärker sein sollen.

Niemand bringt mich dazu, mich zu ducken. Dieses Wissen war da und arbeitete in ihm. Ihn ängstigte nichts und niemand.

Ich mache anderen Angst.

»Verschwindet«, sagte er, »solange ihr noch die Chance habt, am Leben zu bleiben.« Er zählte zwölf Männer in Schwarz mit schweren, dicken Schutzwesten. Alle waren bis an die Zähne bewaffnet. Ihre Ausrüstung war ihm egal. Er hatte gelernt, dass er eine Waffe ganz eigener Art besaß, eine, die stets einsatzfähig zu sein schien.

Er hob die Hände …

… und ließ das Feuer in sich auflodern. Die Hitze begann als warmer Quell in ihm, wurde rasch heißer und strömte durch seine Adern. Bald brachen die Flammen aus seinen Fingerspitzen, schlugen aus seinen Handrücken und bildeten einen großen Feuerball. Rot, golden und orange war dieses Feuer, wurde immer greller, schlug immer höher.

Fluchend sprangen die Männer zurück, flüchteten aber nicht. Dummköpfe. Stattdessen hoben sie ihre Waffen. Zielten auf ihn.

Er würde sie in Brand setzen.

Er würde …

»Nicht!«

Sie war es, die da geschrien hatte. Dantes Kopf fuhr nach rechts, und er sah die Frau mit dem vollen braunen Haar angerannt kommen. Ihr Gesicht war blasser als zuvor. Ihre grünen Augen wirkten riesig, die roten Lippen bebten und …

»Dante, verschwinde! Die betäuben dich sonst!«

Die Männer feuerten. Allerdings nicht auf ihn.

Eine Kugel traf Cassie in die Schulter. Mit großen Augen taumelte sie rückwärts, ging aber nicht zu Boden. »Hau ab!«, schrie sie ihn an. »Verschwinde!«

Er lief nirgendwohin.

Sie hatten sie angeschossen.

Das Feuer loderte heißer, und die Wut ließ ihn knurren – und seine Flammen loslassen.

Sie haben sie angeschossen.

Das Feuer loderte aus ihm hervor, geradewegs auf die Bewaffneten zu. Die schrien – ja, jetzt seid ihr damit dran – und ließen ihre Waffen fallen.

Die Männer warfen sich zu Boden und rollten nach links und rechts, um die Flammen zu löschen, die gierig über ihre Kleidung leckten.

»Dante …« Dieses Flüstern kam von ihr.

Der Frau, die ihn verfolgt und heimgesucht hatte.

Und erzürnt.

Auf Knien kämpfte sie sich an ihn heran, und er … eilte unwillkürlich zu ihr.

»Das ist ein Betäubungsmittel«, flüsterte sie. »Sie wollten uns … lebend fangen …«

Diese Männer fingen niemanden. Sie rannten davon und schleiften ihre Verwundeten mit. Auch die Paranormalen ringsum brachten sich eilends in Sicherheit.

»Geh«, sagte Cassie, »bevor sie … mit Verstärkung zurückkommen.« Ihre Lider wurden immer schwerer. Das Medikament, von dem sie geredet hatte, ließ sie bewusstlos werden. »Geh«, flüsterte sie noch einmal.

Was sollte er tun? Sie im Stich lassen? Gerade hatte sie gesagt, die Männer würden mit Verstärkung zurückkommen. Und dann würden sie Cassie mitnehmen.

Nein. Niemand nimmt sie mir weg.

Das war – warum nur? – sein erster Gedanke gewesen, als er aufgeschaut hatte und sie im »Tabu« auf ihn zugekommen war.

Niemand nimmt sie mir weg.

Er hob sie mit beiden Armen vom Boden auf und drückte sie an seine Brust. Zu spät bedachte er, dass seine glühenden Hände sie verletzen könnten.

Doch auf ihrer zarten Haut zeigten sich keine Verbrennungen.

Ihr Kopf sank an seine Schulter, doch ihre Lider flatterten noch immer, und Dante war klar, dass sie darum kämpfte, wach zu bleiben.

»Was tun die, falls die dich schnappen?«, fragte er.

»Käfig …«

Ein Bild schoss ihm durch den Kopf. Dicke Eisenstäbe. Eine flackernde Neonröhre. Schmutziger Steinboden.

Er spürte Asche auf der Zunge. Die wollte er nicht schmecken. Sondern viel lieber sie. Diese süße, helle …

… Versuchung.

»Du landest in keinem Käfig«, versprach er ihr.

Er umschlang sie fester. Diese Frau … er hatte sie für eine Ausgeburt seiner Fantasie gehalten, für wieder eine von denen, die ihn quälen sollten. Und die nicht wirklich waren. Dann hatte er aufgeschaut und sie gesehen. Sie war zu ihm gekommen.

Aus Fleisch und Blut.

Real.

Er entfernte sich aus dem zerstörten »Tabu« und eilte in die Nacht. Sirenen heulten. Stimmen schrien.

Er rannte schneller. Drückte sie noch fester an sich.

Cassie Armstrong war der Schlüssel zu seinem Leben. Der Schlüssel, um herauszufinden, wer und was er war.

Und er hatte nicht vor, sie gehen zu lassen.

Niemand nimmt sie mir weg.

Oberstleutnant Jon Abrams schritt durch die Trümmer des Klubs der Paranormalen. Tische waren umgeworfen, Stühle zerschmettert. Die Tür glühte noch von den Flammen, die auf seine Männer eingestürmt waren.

»Ihr hattet ihn also?« Jon wandte sich den Männern zu, die hinter ihm standen. Geschlagen, wie sie waren, und mit Verbrennungen waren sie für ihn nutzlos. »Ihr hattet den Kerl und habt ihn entkommen lassen?« Was hatten sie verpasst, als an der Militärschule Strategien und Techniken zur Eindämmung des Gegners unterrichtet worden waren?

»Er hat Flammen nach uns geworfen!«, erwiderte Kevin Lysand und straffte die Schultern. »Niemand hat uns gesagt, dass Paras …«

»Er ist ein Phönix. Was hattet ihr denn erwartet? Dass er einfach dasteht und sich von euch betäuben lässt?« Jon wandte sich angewidert von den Männern ab, und die Wut erstickte ihn fast. Nach all den Monaten! Ganz nah dran war er gewesen … und dann ließen diese Idioten seine Beute entkommen.

»Ich … es war die Frau«, sagte Kevin leiser.

Jon sah ihn überrascht an. »Welche Frau?«

Kevins Adamsapfel hüpfte. »Die von Genesis. Cassandra …«

Jon packte ihn an den Schultern und zwang Kevin, ihm in die Augen zu sehen. »Soll das etwa heißen, Cassandra Armstrong war in diesem Klub?« Er hatte das ganze Land auf den Kopf gestellt, um sie zu finden.

Ein grimmiges Nicken. »Kaum hatten wir auf sie geschossen, hat der große Kerl uns angegriffen.«

Sie hatten auf sie geschossen, doch sie war nicht mehr da. Niemand war mehr da. Wer nicht vor der Auseinandersetzung geflüchtet war, hatte sich davongestohlen, nachdem Jons Männer sich zurückgezogen hatten.

»Unsere Schüsse haben ihn wild gemacht«, setzte Kevin hinzu.

Jon zwang sich, ihn loszulassen. »Und er hat sie dann weggeschafft?«

Kevin schwieg.

Weil er es nicht wusste?

Verdammte Unfähigkeit. Jon seufzte genervt. »Du hast sie nicht verschwinden sehen, nein?«

Kevin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe zu diesem Zeitpunkt gebrannt, Sir.«

Als hätte er sich von einem Feuerchen stoppen lassen dürfen.

Jon wandte sich erneut ab. »In dem Betäubungsmittel, das du Cassandra verpasst hast, war ein Peilsender, hoffe ich.« Auf diese neue kleine Erfindung – eine Kugel, die zugleich ein Betäubungsmittel und einen Peilsender enthielt – war die US-Regierung ziemlich stolz. Einige Paranormale waren stark genug, selbst dann noch eine Zeit lang zu fliehen, wenn sie das Mittel abbekommen hatten.

Früher oder später aber begann es zu wirken.

Und dann kam der Peilsender ins Spiel, meldete sich und führte Jon und seine Männer direkt zu ihrer Beute.

Einfache Sache.

»Oder etwa nicht?«, fragte Jon, ohne sich umzusehen. Falls dieser Vollidiot seine Arbeit nicht erledigt und Cassandra keinen Peilsender verpasst hatte, würde er ihn womöglich persönlich erschießen.

»Ein Peilsender war drin.« Kevins Ton wurde selbstbewusster. »Wir … sie wird uns nicht entkommen.«

Gott sei Dank! Aber Jon lächelte nicht, noch nicht. Der Hinweis zu dem Phönix – und zu Cassandra – hatte offenbar gestimmt. Er musste sich nur noch endgültig davon überzeugen und seinen Informanten entlohnen. Zunächst jedoch … »Fackelt den Laden hier endgültig ab.«

Das »Tabu« war zwar so weit vom Stadtzentrum entfernt, dass kaum jemand den Angriff gehört oder gesehen haben konnte, aber er war es einfach gewohnt, seine Spuren zu verwischen.

Sollten die Paranormalen ruhig versuchen, unauffällig zwischen den Menschen zu leben: Sie wurden dennoch weiter gejagt. Noch immer waren sie Zielobjekte, besonders die sprechenden Albträume, die auf Erden wandelten.

Albträume wie der Phönix.

Manche Wesen waren einfach zu gefährlich, um am Leben bleiben zu dürfen.

Manche mussten aufgehalten werden, und zwar mit allen Mitteln.

In diesem Fall war das Mittel eine gewisse Cassandra Armstrong. Nie hatte eine Waffe so unschuldig gewirkt.

»Fackelt ihn ab!« Das Feuer konnten sie immer dem Phönix in die Schuhe schieben. »Und sagt mir dann, was der Peilsender zu Cassandra meldet.«

Seit Monaten war sie immer etwas schneller gewesen als ihr Jäger, doch bald würde er sie schnappen. Sie würde nicht aus dem Programm entwischen. Dazu war sie zu wichtig.

Zu nützlich als Waffe.

Als er den Klub verließ, begann er zu pfeifen.

Kevin und seine Leute verteilten hochprozentigen Alkohol, schlugen die Flaschen entzwei und bereiteten das Lokal so für einen kräftigen Brand vor. Ihr Feuer würde nicht so heiß brennen wie das eines Phönix, ihm aber doch recht nahekommen.

Jon sang immer wieder Dich greif ich mir, Cassandra. Sie war ihm entwischt, doch ihr kleines Katz-und-Maus-Spiel war so gut wie beendet.

Cassandra hätte wissen sollen, dass es kein Entrinnen gab. Ihr Vater hatte sie vor Jahren ins Programm gebracht.

Und war man erst drin, gab es nur einen Weg hinaus: den Tod.

2

Sie war … nicht schön.

Dante sagte sich das sogar, als er sich zu ihr beugte und mit dem Finger über ihre Nase strich, auf deren Wurzel ein paar Sommersprossen prangten. Sein Finger glitt zur Seite und folgte dem Verlauf ihres Wangenknochens. Ihr Gesicht war oval und blass, und die dunklen Schatten unter ihren Augen gefielen ihm gar nicht.

Sie war nicht schön.

Er sagte sich das erneut … und begriff, dass er sich nur belog. Diese Frau, die ihn in seinen Träumen getötet hatte, brachte ihn nun dazu, sie wie ein liebeskranker Narr anzustarren.

Er löste sich von ihr und ballte die Fäuste, um sie nicht zu berühren. Sie befanden sich im Doppelzimmer eines Motels mit stundengenauer Abrechnung. Cassie lag auf dem Bett, und er saß neben ihr.

Noch immer fühlte sie sich kalt an, und ihr Körper lenkte ihn viel zu sehr ab.

Viel zu sehr …

Kaum flatterten ihre Lider, schlug sein dummes Herz schneller.

Was bedeutet sie mir?

Zwischen ihnen war etwas. Der Tod, ja. Hass? Verrat? Vielleicht.

Etwas.

Sie stöhnte leise, und ihr Schmerzlaut missfiel ihm. Unwillkürlich beugte er sich vor und schob ihr ein Kissen unter den Kopf.

Als er sich zu ihr beugte, schrie sie auf. Das klang schrill, verzweifelt und tief erschrocken. Sie wollte aus dem Bett fliehen.

Das durfte er nicht zulassen. Also nahm er ihre Arme und drückte sie, so sanft er konnte, auf die Matratze zurück. »Ist ja schon gut.«

Kaum vernahm sie seine Stimme, erstarb ihr Schreien. Mit großen Augen sah sie zu ihm hoch. Ihr Blick war nicht klar wie früher, da ja ein Wahnsinniger auf sie geschossen und sie getroffen hatte. Stattdessen waren ihre grünen Augen benebelt und wirkten etwas desorientiert.

»Dante?«, flüsterte Cassie lächelnd. »Ich hab dich vermisst.«

Sein Herzschlag erschien ihm zu laut. Ihr Lächeln … ja, sie war wirklich schön. Und gefährlich.

Und nun wollte sie sich aufsetzen und ihn küssen.

Was war in diesem Betäubungsmittel gewesen?

»Du hast mich verlassen«, sagte sie heiser. »Dabei solltest du doch …« Sie verstummte blinzelnd, schüttelte den Kopf und stöhnte. »Wo bin ich?« Sie sprach nicht mehr ganz so heiser, doch ihre Stimme gefiel ihm noch immer.

»Weder im Himmel noch in der Hölle.« Er richtete sich ein wenig auf. »Nur in einem billigen Motel.«

Kaum lehnte er sich zurück, setzte Cassie sich mit einem Ruck auf und fuhr zusammen. »Meine Schulter …« Mit der rechten Hand betastete sie die Wunde. »Die haben mich getroffen.«

Allerdings. Und dafür hätten sie beinahe mit ihrem Leben bezahlt. Er wusste nicht, warum ihn eine solche Wut gepackt hatte.

»Die haben mich getroffen«, flüsterte sie erneut und stieß ihn dann gegen die Brust. »Geh weg!«

Er erhob sich langsam. »Nichts zu danken. Vielleicht lass ich dich das nächste Mal einfach liegen.« Das hatte er absichtlich kalt, ja brutal gesagt, doch sie schien ihn nicht mal gehört zu haben.

Sie stieg aus dem Bett und wäre fast gestürzt, doch er verschränkte die Arme, um nicht in Versuchung zu geraten, ihr zu Hilfe zu eilen. Wenn sie unbedingt von ihm wegkommen wollte …

Moment. Warum wollte sie gehen? Sie hatte doch nach ihm gesucht. Er runzelte die Stirn.

»Sie kommen …«

Flüsternd rannte sie ins Bad. Schubladen gingen auf und knallten wieder zu.

Er blickte zur Zimmertür. Sie hatte gesagt, er solle sie in Ruhe lassen. Es gab keine Notwendigkeit für ihn, länger zu bleiben.

Doch, die gibt es. Sie weiß von meiner Vergangenheit.

»Ich will Antworten«, sagte er so laut, dass sie ihn trotz ihres Gemurmels hören musste …

Und trotz des zerberstenden Glases.

Was war los im Bad? Er eilte zu ihr und stellte fest, dass kein Trinkglas zerbrochen war, sondern der Spiegel über dem Waschbecken. Cassie hatte ihre Faust hineingestoßen, und nun tropfte Blut von ihrer rechten Hand.

»Was machst du da?«

Sie antwortete nicht, sondern nahm ein dreieckiges Stück Spiegel … und stieß sich die scharfe Spitze in die linke Schulter.

»Cassie!« Er griff nach ihrer Hand und zog die Spitze wieder heraus.

Sie wimmerte vor Schmerz und wollte sich widersetzen.

Doch er packte sie nur fester. »Ist es das Medikament, das sie dir verpasst haben? Tust du das deshalb?« Der Geruch ihres Blutes machte ihn verrückt. Ekelte ihn an. »Hör auf damit, verdammt!«

Cassie seufzte auf. »Sie kommen.«

Ja, das hatte sie vorhin schon gesagt.

»Ich hab einen Peilsender. Als die mich angeschossen haben …« – sie atmete tief und qualvoll ein – »… wurde er implantiert. Den muss ich loswerden, sonst kriegen die mich.«

»Und deshalb willst du eine Notoperation an dir vornehmen? Mit einer Spiegelscherbe?«

»Was bleibt mir anderes übrig?« Ihre Lippen bebten und verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. »Keine Sorge – ich bin Ärztin.«

Ihr Lächeln sollte sein Herz nicht zum Hämmern bringen. Und doch tat es das.

Er konnte nur den Kopf schütteln. »Eine Wahnsinnige bist du, die hier alles vollblutet.« Er drückte ihr einen Waschlappen an die Schulter. »Wahrscheinlich bekommst du eine Infektion und …« Er verstummte. Woher wusste er von Infektionen? Er konnte Auto fahren, französisch sprechen und jedem die Seele aus dem Leib prügeln, der ihm dumm kam.

Aber er hatte keine Erinnerungen an sein Leben. Von den Träumen abgesehen, in denen sie ihn … tötete.

»Keine Sorge. Infektionen krieg ich keine. Das geht gar nicht.«

So eine Lüge. Menschen konnten sich alles einfangen. Sie sind schwach. Dieses Wissen hatte er, es stammte von dem, der er vor dem Vorfall in der schmutzigen Seitenstraße gewesen war.

Sie widersetzte sich nicht länger. »Bitte«, flüsterte sie. »Ich hab nicht viel Zeit. Ich muss das Ding aus mir rauskriegen.«

Jetzt begriff er. »Darum sollte ich verschwinden. Weil du denkst, sie spüren dich hier auf.«

Sie lachte heiser auf. »Für die bist du ein dicker Fisch. Wenn die denken, du bist mit mir unterwegs, kommen sie auch wegen dir. Und ich hab dir versprochen: Ich lasse nicht zu, dass sie dich wieder einsperren.«

An dieses Versprechen erinnere ich mich nicht.

»Zu blöd, dass du dich daran nicht erinnerst«, sagte sie wie ein Echo seiner Gedanken. »Und an mich auch nicht.«

Er ließ seine Hände von ihr sinken, und der blutige Waschlappen glitt zu Boden.

Cassie straffte die Schultern und griff erneut nach der Scherbe. »Du brauchst … wirklich nicht zuzuschauen.«

Doch das tat er. Sie zu verlassen, kam nicht infrage.

Sie musterte sich in den Spiegelscherben an der Wand und schnitt sich langsam tiefer in die Schulter. Blut rann ihr über die Haut und tränkte ihr Shirt. Sie atmete schwer, und er verabscheute den Schmerz, der ihr schönes Antlitz entstellte.

Aber sie schrie nicht.

Ihr Finger glitt in die Wunde.

Er biss die Zähne zusammen.

Eine Träne lief ihr über die Wange. Doch noch immer gab sie keinen Laut von sich.

»Ich hab ihn …«, sagte sie dann. Ihr blutiger Finger glitt aus der Wunde. Sie warf einen winzigen Computerchip ins Waschbecken und stützte sich schwer atmend am Beckenrand ab. »Ein, zwei Tränen würden das viel leichter machen«, murmelte sie.

Stirnrunzelnd betrachtete er ihren gesenkten Kopf. Sie weinte doch. Merkte sie das gar nicht?

Sie warf ihm einen Blick zu. »Aber ich schätze, auch daran erinnerst du dich nicht, was?«

Er starrte sie bloß an.

»Eben.« Sie holte erneut tief Luft und riss das untere Ende ihres Shirts ab. Er sah ihren flachen Bauch, als sie sich drehte, um sich den Stoff um die Schulter zu wickeln.

Als er begriff, dass sie die Wunde versorgen wollte, hob er die Hände und tat es für sie.

»Danke.«

Eine Frau in zerrissenem, blutgetränktem Oberteil würde in der Stadt nicht unbemerkt bleiben. Aber immerhin tropfte ihr Blut nicht mehr überall hin.

»Ich muss zurück an meinen Zufluchtsort«, sagte sie. »Dort hab ich … Vorräte. Und kann mir die Wunde nähen. Mich umkleiden. Mich sammeln.« Sie sah ihm in die Augen. »Du hast mich noch nicht verlassen.«

Damit konstatierte sie das Offensichtliche.

»Und umgebracht hast du mich auch nicht.« Wieder schien sie sich an dem zu freuen, was auf der Hand lag.

»Warum nicht?«

Er schlug die Augen nieder. Sah ihr Blut an seinen Händen. Der Anblick erschien ihm vertraut.

Stirb nicht, Cassandra. Verlass mich nicht.

Diese Worte kamen ihm in den Sinn. Seine Worte. Zu einer anderen Zeit. An einem anderen Ort. Ein Bild stellte sich ein. Ihr Körper war blutig und zerschmettert, und ihre Augen waren glasig geworden, als sie …

… gestorben war?

»Dante?«

Er zog die Schultern hoch, öffnete den Hahn und ließ Wasser ins Waschbecken. Das Blut an seinen Händen verschwand wie das neblige Bild in seinem Bewusstsein. Bestimmt hatte er diese Frau nie in den Armen gehalten und nie gefleht, sie möge überleben.

Nun starrte er auf das vom Blut rot gefärbte Wasser und die Scherben im Becken. »Du hast gesagt, du bist mein Schlüssel.«

»Ich …«

Er drehte den Hahn zu und sah sich zu ihr um. »Du entkommst mir nicht, ehe ich nicht alle Geheimnisse erfahren habe, die mir verheißen wurden.«

Sie nickte.

Er verabscheute den Geruch ihres Blutes.

»Wir sollten uns beeilen.« Sie wich seinem Blick aus. »Die sind schnelle Spürhunde.«

»Wer sind die?« Dieses Geheimnis wollte er als Erstes lüften.

Doch ehe Cassie ihm antworten konnte, hörte er …

… Reifen quietschen. Und Motoren heulen.

Cassie begann: »Sie sind …«

»Hier.« In der Vorwoche hatte er bemerkt, dass niemand so scharfe Sinne besaß wie er, und so hatte er die Verfolger auch viel früher kommen hören als Cassie. »Sie sind hier.«

Ihre Augen weiteten sich.

Prima. Wenn sie einen Kampf wollten, würde er ihnen einen Krieg liefern, in dem sie alle ums Leben kämen.

»Nein.« Sie ergriff seine Hand. Ihre Knöchel bluteten weiter. »Hier sind zu viele Menschen. Dein Feuer … du hast es nicht immer unter Kontrolle. Wir müssen schleunigst verschwinden.« Sie schob sich an ihm vorbei und besah sich das kleine Fenster im Bad. »Meinst du, da passt du durch?«

Nein. Doch er schlug mit den Fäusten dagegen, und der ganze Rahmen löste sich aus der Wand und fiel nach draußen.

»Richtig. Enorme Kraft«, wisperte sie. »Wie nützlich.« Dann sprang sie aus der Fensteröffnung, obwohl sie im ersten Stock waren. Er wollte sie noch festhalten, doch es war zu spät. Sie rollte sich ein und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden.

Mit zusammengebissenen Zähnen sprang er hinterher und knickte nicht mal in den Knien ein, als er den Boden erreichte.

Schritte verrieten ihm, dass die Verfolger zum Eingang des Motels eilten.

Er und Cassie dagegen rannten zum Parkplatz hinterm Haus. Sie sprang auf den Fahrersitz eines ramponierten Jeeps und rutschte schon unter das Armaturenbrett, als er noch den Beifahrersitz erklomm. Im nächsten Moment erwachte der Motor zum Leben, und Cassie trat aufs Gas.

Der Jeep schoss vom Parkplatz und in die wartende Dunkelheit.

Dante blickte sich um, sah aber nichts von ihren Verfolgern. Diese Narren stürmten offenbar das Motelzimmer. Es würde sie kostbare Minuten kosten zu erkennen, dass er und Cassie verschwunden waren.

»Ohne den Chip können sie mir nicht folgen«, sagte sie laut, um den Motor und den peitschenden Wind zu übertönen, der gegen den offenen Jeep schlug. »Wir sind in Sicherheit.« Sie zögerte kurz. »Für eine Weile jedenfalls.«

Vielleicht hatte er die letzten Worte nicht hören sollen.

Hätte sie ihn aber so gut gekannt, wie sie behauptete, wäre ihr klar gewesen, dass er noch das leiseste Flüstern aus fünfzig Schritten Entfernung vernehmen konnte.

Er hatte ihre Worte also genau gehört – und die Angst, die in ihrer Stimme mitschwang.

»Hat er sie angegriffen?« Kevin musterte das blutbefleckte Bad. »Sagten Sie nicht, er sei für die Frau keine Gefahr?«

Jon schob sich in das nur schrankgroße Zimmer und nahm das Blut in Augenschein – und die zwei roten Handabdrücke am Waschbecken. »Rufen Sie unsere Experten zur Analyse«, sagte er, vermutete aber bereits, Cassies Blut vor sich zu haben, nicht das von Dante.

Cassie würde es nicht riskieren, Dante zu verletzen. Sie brauchte ihn viel zu sehr.

»Was hat er ihr angetan?«, flüsterte Kevin.

Ach, Kevin beging einen Fehler. Wie die meisten, wenn sie Cassandra Armstrong sahen. Klein war sie, anmutig, menschlich – und schon hielten sie sie für schwach.

Jon wusste, dass dem nicht so war. Cassandra Armstrong war der gefährlichste Gegner, dem er je begegnet war.

Zugleich war sie die Frau, die er einst heiraten wollte. Kaum hatte er ihre Kraft gespürt, hatte er diese Kraft besitzen müssen.

Doch Cassie hatte einen anderen vorgezogen.

Seine Finger strichen über den Beckenrand, berührten den kleinen Peilsender. Sie hatte gewusst, dass sie danach suchen musste, und ein wenig Schmerz hatte ihr sicher nichts ausgemacht, wenn er bedeutete, die Freiheit zu behalten.

Die clevere Cassie. Immer war sie so gerissen gewesen.

»Das hat sie sich selbst zugefügt.« Er holte Luft. Cassies Blut roch … anders als das der meisten Menschen. Diesen Geruch erkannte er mühelos. »Wir finden sie auch ohne Peilung.« Jedenfalls, solange sie blutete.

Das Blut hinterließ eine eindeutige Spur.

Entweder würden seine Leute sie finden … oder jemand anderer. Cassies Blut war zu süß, ein von der Wissenschaft entwickelter Köder. Sie hätte es besser wissen und nicht mit offener Wunde fliehen sollen.

Bestien aller Art würde sie anlocken.

Bestien, die nur eines wollten: ihr Blut bis zur Neige trinken.

»Ist das dein Zufluchtsort?«, fragte Dante zweifelnd.

Stirnrunzelnd warf Cassie ihm einen verständnislosen Blick zu. »Dass ich eine Suite im Ritz bewohne, hab ich nicht gesagt.« Das heruntergekommene Lagerhaus am Stadtrand war der ideale Unterschlupf für sie. Cassie stellte den Jeep hinter dem Gebäude ab, damit er außer Sicht war, und führte Dante zu einer offenbar zugenagelten Tür. Auch die Fenster wirkten verrammelt.

Mancher Anblick ist trügerisch.

Sie drückte auf ein Brett, und schon glitt die Tür auf. Im Innern … sprang sofort Licht an, und eine Wohnung kam zum Vorschein. »Manchmal ist es hier fast so gut wie im Ritz.«

Dass Dante der Mund offen stand, bewies: Sie hatte ihn überrascht. Eins zu null für sie.

»Ich habe einen Freund«, sagte sie, obwohl Freund vielleicht etwas übertrieben war. Eher einen Patienten? Ja, dieses Wort war treffender, denn allzu viele bedeutungsvolle Unterhaltungen hatten sie noch nicht geführt. »Er ist ein Computergenie und höllisch reich und hat im ganzen Land solche … Zufluchtsstätten.« Und weil er sie nicht alle nutzen konnte, kamen sie ihr genau recht.

Sie begab sich ins Bad. »Nur einen Moment, ja?« Einen Moment, um die Wunde neu zu vernähen und sich das Blut vom Leib zu waschen.

Cassie sah sich nicht um, ob Dante wartete. Hätte er sie abservieren wollen, hätte er sie schon im »Tabu« stehen lassen. Da er nun mit ihr hier war, würde er auch nicht verschwinden. Jedenfalls nicht, bevor er bekommen hatte, was er wollte.

Falls er sie denn wollte.

Der T-Shirt-Verband war blutgetränkt. Na klasse. Mit zusammengebissenen Zähnen schälte sie den nassen, auf ihrer Haut klebenden Stoff ab und war auf einen üblen Anblick gefasst.

Stattdessen sah sie verheilte Haut.

Sie schnaufte und besah sich, was eine klaffende Wunde hätte sein sollen. Doch die blutete nicht mehr und hatte sich bereits geschlossen.

Eilends knallte sie die Badezimmertür hinter sich zu. Unglaublich. Ihre Haut heilte von allein. Die Wunde verschwand einfach.

Sie fuhr sich mit den Fingern über die Schulter. Wo die Kugel sie getroffen und sie sich den Peilsender aus dem Fleisch geschnitten hatte, war die Haut noch leicht gerötet, aber es war kein Blut mehr zu sehen. »Faszinierend.«

Hinter ihr erzitterte die Tür. Dante klopfte mit der Hand wuchtig dagegen. »Cassie?«

Sie streifte die blutige Bandage ab und warf sie auf den Boden. Auch ihr BH war blutbefleckt. Großartig. »Gib mir … äh … eine Minute.«

Stille. Dann die fast widerwillige Frage: »Brauchst du Hilfe?«

Du hast mir bereits geholfen. Er war der Grund, warum ihre Wunde sich geschlossen und ihr ganzes Leben sich geändert hatte.

Ein Mensch heilte sich nicht einfach auf wunderbare Weise von allein.

Unten in New Orleans hatte er sie mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Alles hatte sich für sie in einem blutrünstigen Moment geändert.

Als sie die Augen geöffnet hatte, um ihrem Retter zu danken, war Dante verschwunden gewesen.

Fast hätten ihre Lippen bei dieser Erinnerung gebebt, doch Cassie straffte sich und stellte die Dusche an. Wasser strömte, und eilig zog sie sich ganz aus. Sie musste das Blut vom Leib bekommen; danach konnte sie sich dem Chaos ihrer komplizierten Beziehung zu Dante widmen.

Kaum stand sie mit einem Bein in der Dusche, krachte die Tür hinter ihr auf. Schreiend suchte sie sich zu bedecken, indem sie eine Hand auf ihre Brüste, die andere über ihre Scham legte.

Seine Wangen loderten. Seine Augen … musterten sie von oben bis unten. Seine Temperatur stieg offenbar kräftig. Doch diesmal brannte in ihm nicht das Feuer seiner Bestie, sondern Verlangen. Lust.

»Ich hab dich doch gebeten, mir kurz Zeit zu geben.« Sie wich zurück und trat unter den Strahl der Dusche.

Er wandte die Augen nicht von ihr. »Deine Schulter ist aufgeschlitzt.«

Sie spürte seinen Blick wie eine heiße Berührung.