Flame 5: Sonnentod und Sternensturz - Henriette Dzeik - E-Book

Flame 5: Sonnentod und Sternensturz E-Book

Henriette Dzeik

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Beschreibung

Denn deine Wünsche sind meine Wünsche.

Dein Begehren ist mein Begehren. 

Und dein Verlangen ist mein Befehl. 


Flame ist gelungen, was niemand je zuvor vollbracht hat: Die Insel der Seligen lebend zu verlassen. Während Ziva weitere Gefangene in ihre Gewalt bringt, wächst ihre Armee und Dark steht noch immer unter ihrem dunklen Bann. Um ihn und die anderen zu befreien, müssen Flame und ihre Freunde die Gunst einer Titanin gewinnen und einen der mächtigen sechs Urgegenstände Viridis finden. Nur so haben sie eine Chance, Ziva zu besiegen, doch den Artefakten wohnt eine uralte Macht inne und diese Finsternis verschlingt selbst die reinsten Seelen …

***Sexy Götter, episches Worldbuilding und spicy Romance*** 


//Dies ist Band 5 der »Flame«-Serie. Alle Romane der göttlichen Liebesgeschichte im Loomlight-Verlag:

-- Band 1: Feuermond und Aschenacht

-- Band 2: Dunkelherz und Schattenlicht

-- Band 3: Flammengold und Silberblut

-- Band 4: Nebelsturm und Racheglut

-- Band 5: Sonnentod und Sternensturz// 

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Das Buch

Denn deine Wünsche sind meine Wünsche. Dein Begehren ist mein Begehren. Und dein Verlangen ist mein Befehl.

Flame ist gelungen, was niemand je zuvor vollbracht hat: Die Insel der Seligen lebend zu verlassen. Während Ziva weitere Gefangene in ihre Gewalt bringt, wächst ihre Armee und Dark steht noch immer unter ihrem dunklen Bann. Um ihn und die anderen zu befreien, müssen Flame und ihre Freunde die Gunst einer totgeglaubten Titanin gewinnen und einen der mächtigen sechs Urgegenstände Viridis finden. Nur so haben sie eine Chance, Ziva zu besiegen, doch den Artefakten wohnt eine uralte Macht inne und diese Finsternis verschlingt selbst die reinsten Seelen …

Die Autorin

© Privat

Man erzählt sich, dass Henriette Dzeik auf einem Floß treibend von Nixen gefunden, von Hexen entführt und in einem Schloss, das an goldenen Ketten hing, von Feen aufgezogen wurde. Sie kämpfte gegen den Drachen, der diesen schönen Käfig bewachte, und erlangte schließlich durch einen Deal mit einem verrückten Flaschengeist die Freiheit. Heute lebt sie mit ihrem dunklen Prinzen und einem furchterregenden Wächterhund in ihrem minimalistischen Palast, wo sie auf Papier all ihre Träumereien wahr werden lässt.

Henriette Dzeik auf Instagram und TikTok: @henriettedzeik

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Loomlight auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor*innen und Übersetzer*innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator*innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autor*innen und Illustrator*innen:www.loomlight-books.de

Loomlight auf Instagram:https://www.instagram.com/thienemannesslinger_booklove

Viel Spaß beim Lesen!

Liebe Leser:in,

bevor du erneut in Flames Welt eintauchst, ist es mir ganz wichtig, dich darauf hinzuweisen, dass »Flame – Sonnentod und Sternensturz« neben expliziten Szenen auch Elemente und Situationen enthält, die triggern können. Diese sind sexuelle, psychische und körperliche Gewalt, Mord und Tod, Suizid, Suizidgedanken sowie selbstverletzendes Verhalten. Bitte lies dieses Buch nicht, wenn du denkst, dass dich diese Themen emotional zu sehr aufwühlen könnten.

Für Flame, Dark, Hunter, Cato, Ava, Prom, Phoenix,Apate, Apollo, Phoibe, Hale, Phia, Chaos, Lost, Flora,Candela, Dream, Lavea, Yasar, True, Jules, Amanda,Miriam, Eros, Ladon, Fayna, Adeon, Porcia, Lemos,Persephone und all die anderen,die während dieser Reise auf ewig einen Teilmeiner Seele gestohlen haben:Mein Herz wird für immer für euch schlagen.Ganz egal in welchem Takt.

»We are the broken ones, who chose to spark a flame Watch as our fire rages, our hearts are never tame«

The Score, Born For This

Prolog

In der Unterwelt oder bei den Sternen

FLAME

Früher dachte ich, dass Zeit etwas ist, das man tatsächlich stehlen kann. Dass ich sie packen und festhalten und meinem Willen beugen kann. Ich glaubte, all das Leid, welches ich gesehen und gespürt hatte, die Hitze, den Hunger und das Elend, einfach vergessen zu können, sollte es mir gelingen, einen Augenblick, in dem einfach alles stimmte, einzufrieren. Dass ich in der Lage wäre, auf ewig in diesem einen Moment zu leben.

Wenn ich das Ende eines Tages nicht akzeptieren wollte, blieb ich stur auf dem zerklüfteten Gestein vor unserer Höhle sitzen und blickte zu dem dunkler werdenden Himmel auf, als könnte ich die Nacht selbst zwingen, vor mir zurückzuweichen und ihre Vorhänge beiseitezuziehen, damit das Licht wieder seinen rechtmäßigen Platz einnehmen kann. Doch egal wie eisern die Macht meiner Gedanken mir erschien – es sollte mir nie gelingen, dass die Dunkelheit vor mir auf die Knie fiel. Stattdessen war es jedes Mal Cato, der zu mir trat, während Amanda, Jules und Miriam friedlich schliefen. Anders als ich hatten sie nie das Gefühl, etwas zu verpassen.

»Ich kann nicht loslassen«, flüsterte ich Cato durch die sich windenden Schatten zu, während sich meine weiche Handinnenfläche an seine raue schmiegte, an ihr Halt suchte, obwohl ich wusste, dass ich irgendwann in die Tiefe stürzen würde.

»Die Welt wird sich immerfort bewegen. Es gibt keinen Stillstand – selbst wenn wir nur noch Geister sind«, hatte er stets erwidert.

»Warum kannst du mir nie etwas Schönes sagen?«

»Weil Sanftheit«, antwortete er, legte einen Arm um meine Schultern und zog mich gleichzeitig zu sich heran, ehe er seine kühlen Lippen gegen meine erhitzte Schläfe presste, »nicht ist, woraus du und ich geformt sind.«

An dieser Stelle seufzte ich und er lachte leise. »Die Zeiger aller Uhren dieser Erde rücken unaufhörlich voran und trotzdem … tragen wir beide – du und ich – jede gemeinsame Erinnerung in unserer Seele.«

»Und was bedeutet das?«

»Eines Tages werden wir in der Unterwelt – oder vielleicht auch bei den Sternen sein. Wir verlieren unsere Körper, doch unsere Seelen werden sich auf diese Reise begeben. Und was in ihnen ist, all die Augenblicke, die wirklich zählen, werden wir niemals vergessen.«

Es waren Mal für Mal exakt dieselben Worte. Dieselbe Tonlage. Dieselben Berührungen. Seine Art, mir zu helfen, den Moment immer wieder einzufangen. Er hielt mich nicht für verrückt. Und er war bereit, mit mir in jede Schlacht zu ziehen. Schon damals war mir klar, dass er für mich nicht einmal davor zurückschrecken würde, die Zeit herauszufordern.

Oder den Styx, in dessen endlose Schwärze wir in dieser Sekunde blicken. Der Unterschied ist, dass nun unser beider Handinnenflächen rau – und vom Leben gezeichnet sind. Ich übe einen leichten Druck aus, den Cato erwidert.

»Seid ihr sicher, dass ihr das tun wollt?«, fragt Hunter, der hinter uns steht.

Ich nicke, während mein Auge, das dem Nektar der Götter gleicht, mir wild aus den tintenartigen Wellen entgegenfunkelt.

»Drei«, erklingt Catos entschlossene Stimme.

»Zwei«, erwidere ich und spüre, wie Hunters Brust meinen Rücken streift, als er sich auf meine andere Seite stellt und seine Finger wie in einem ewigen Schwur mein Handgelenk umschlingen.

»Eins«, grollt seine tiefe Drakonstimme. Ich wende ihm mein Gesicht zu, treffe auf reptilienartige Iriden, die geschliffenem Turmalin gleichen. Gemeinsam atmen wir ganz tief ein, ehe wir uns gleichzeitig abstoßen und den sicheren Kontakt zur Kaimauer verlieren. Wir müssen alles riskieren – auf alles vorbereitet sein, weil irgendwo dort draußen … Chaos auf uns wartet.

Kapitel 1

Streich der Sinne

CHAOS

Das Aroma von Verrat ist bitter. Als würde eine Frucht aus einem vergangenen Jahrhundert unendlich langsam auf meiner Zunge zergehen und dabei gewaltsam in all meine Geschmacksnerven dringen. Ich existiere schon so lange, dass ich diese Empfindung nicht zum ersten – und auch nicht zum letzten Mal erlebe. Kontinuierlich zieht sie sich durch mein Dasein, weshalb ich der Einsamkeit stets den Vorzug gebe. Doch nie hätte ich gedacht, dass ich dieses beißende Gefühl mit ihr verbinden würde. Der Frau, deren Wimmern so scharf wie die Klinge des Dolches, den sie tief in meine Brust gegraben hat, an meine Ohren dringt. Schwarze Flecken verweigern mir die Sicht, aber ich weiß, dass sie weichen werden, damit ich ihr zerzaustes, zinnoberrotes Haar und ihre verquollenen Lider begutachten kann. Allein bei der Vorstellung ihres sündhaft schönen Anblicks rauscht Zorn unaufhaltsam und fordernd durch meine Adern, während ich paradoxerweise versuche, mit der Erinnerung an ihre süße Haut den bitteren Geschmack des Betrugs zu vertreiben. Du hattest unrecht – an jenem Tag im Wald. Denn ich würde mich immer für meine Freunde entscheiden.

Sie hat alles riskiert für Freunde, die sie mir überlassen haben. Fest presse ich die Zähne aufeinander, warte darauf, dass sich das Kribbeln, welches an meinen Fingerspitzen pulsiert, in meinem gesamten Körper ausbreitet. Sie war gründlich … aber nicht gründlich genug. Ich bin kein gewöhnlicher Gott. Sie kann mein Herz so oft durchbohren, so viele Stücke herausschneiden, wie sie nur will. Es wird immer nachwachsen. Der einzige Weg, mich aus diesem Universum zu verbannen, ist, dieses Herz gänzlich aus meinem Körper zu reißen und zu verbrennen. Das ist auch der Grund, weshalb das Mädchen, dem das Feuer folgt, mir so gefährlich werden kann. Doch all das spielt längst keine Rolle mehr. Denn ich will die Erde gar nicht vernichten. Ich will die Menschheit nicht auslöschen. Ich will mich nicht an den neuen Göttern rächen oder mich mit ihnen messen. Nein … Ich will nur sie zerstören.

SAPHIRA

In einer abgewirtschafteten Schenke, noch lange bevor ich die Welt der Götter betrat, habe ich einst ein Gespräch zwischen zwei Männern belauscht, die davon sprachen, dass es einem Rausch gleicht, seinem Feind den Todesstoß zu versetzen. Ich erinnere mich an ihre leuchtenden Gesichter, an die Schwaden, die von ihren Zigarren aufstiegen, den Geruch von Schweiß und süßem Wein, den ich in ihre Gläser füllte, ehe ich mich einem anderen Tisch zuwandte, um die nächste Bestellung aufzunehmen. Zu jenem Zeitpunkt ging ich davon aus, dass mein Leben auf ewig diese eintönigen Bahnen ziehen würde. Dass ich auf der Erde sei, um zu dienen und einzig mein makelloses Gesicht dazu beitrug, die Innentaschen meines Kleides gerade genug mit Talern zu füllen, dass ich nicht verhungern und verdursten musste. Diese beiden Männer … in meinen Augen waren sie keine Mörder, sondern Abenteurer. Auch ich wollte mir Hosen überstreifen, zu einem Messer greifen und diese Euphorie verspüren, von der sie schwärmten.

Aber nun sitze ich hier – weinend. Kauere seit einem ganzen Tag in einer Ecke, schluchze erbärmlich, weil ich mich nicht dazu überwinden kann, den Leichnam meines Feindes allein zu lassen. Der rationale Teil in mir weiß, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Er ist eine Bedrohung für meine Freunde, meine Familie – für die gesamte Menschheit. Chaos bringt Verderben. Und dennoch … in seiner Gegenwart kam es mir nicht vor, als wäre es der goldene Apfel aus dem Garten der Hesperiden gewesen, der mich zurückgeholt hat – sondern er. Das Übel allen Seins. Er ist das Böse … Das Schlechte dieser Welt.

Wie, bei allen Göttern, konnte ich in seiner Gegenwart dann die Finsternis vergessen, die sich für so lange Zeit an meine Seele geklammert hat? Was stimmt nur nicht mit mir? Es ist, als hätte mein innerer Kompass gänzlich die Orientierung verloren – als wäre er Chaos verfallen. Ich stoße einen klagenden Laut aus und fahre mit den Händen durch mein Haar. Ich konnte nie nachvollziehen, was Flame oder Lavea meinten, wenn sie über ihre Beziehungen zu Dark und Dream sprachen … dass manche Begegnungen einfach alles verändern.

Bis jetzt.

Gequält reibe ich mit meinen Fingerknöcheln über meine brennenden Lider und lasse anschließend kraftlos meine Arme sinken. Ob er schon fort ist? Bei Candela in der Unterwelt? Ist das ein Ort, an den Chaos gehen würde? Aber was ist, wenn es dort für jemanden wie ihn keinen Platz gibt? Wenn er niemals Ruhe findet? Eine Gänsehaut lässt mich erschauern, während ich nach dem Türknauf rechts von mir greife und mich mühsam daran hochziehe. Meine Beine drohen jeden Moment wieder unter mir nachzugeben. Tief atme ich durch. Die einzige Möglichkeit zu gehen, besteht darin, nicht zurückzublicken.

»Du kannst das«, flüstere ich und alles in mir schreit mich an, zu bleiben. Als würde ich nicht verstehen, dass er tot ist. Dabei habe ich ganz genau gesehen, wie seine Mitternachtssonnenaugen dunkel wurden. Meine Hand zittert unkontrolliert, als es mir endlich gelingt, den Türknauf zu drehen, nachdem ich mehrmals abgerutscht bin. Das Schloss klickt und dennoch zögere ich. Will mich noch einmal umdrehen. Seinen unerträglich reglosen Körper sehen.

Mit all meiner verbleibenden Kraft mache ich den ersten Schritt über die Schwelle in den Thronsaal. Leer und verlassen. Nur das Plätschern des mit Ambrosia gefüllten Brunnens durchbricht die Totenstille. Ich zögere, weil da plötzlich noch etwas anderes ist. Ein Rasseln. Sofort spannen sich meine müden Muskeln an und ich schaue mich um, während ich hinter einer der Statuen in Deckung gehe. Erst in diesem Moment wird mir klar, dass meine einzige Waffe noch immer Chaos’ Herz durchbohrt. Sobald das Rasseln erneut ertönt, versuche ich, den Ursprung des Geräusches auszumachen. Hektisch drehe ich mich wieder zu dem Gemach, aus welchem ich eben erst gekommen bin. Wie von selbst bewegen meine Füße sich in diese Richtung, als wären da plötzlich unsichtbare Fäden, die sich unaufhaltsam um mich schlingen und zurückziehen. Im Türrahmen bleibe ich stehen, halte mich selbst davon ab, weiterzugehen. Stattdessen blinzele ich mit meinen noch immer brennenden Lidern.

Meine Sinne spielen mir einen Streich.

Es muss so sein.

Ich bilde mir ein, dass sein Oberkörper sich hebt und senkt.

Ein zweites und drittes Mal blinzele ich. Das muss der Schlafmangel und … Seine Hände bewegen sich, packen das stoffumwickelte Heft des Dolches, von dem ich noch ganz genau weiß, wie schmerzhaft es meine Haut geschürft hat. Als würde es mich strafen, weil ich einen Verrat begehe – dabei habe ich doch die richtige Seite gewählt. Ich stolpere nach vorn und muss mich an einer Säule abstützen. In dieser Sekunde reißt Chaos das Metall aus seiner Brust und wir stoßen gleichzeitig keuchend unseren angehaltenen Atem aus, als er sich aufrichtet und seine glühenden Iriden mich gefangen nehmen. Genau wie all die Male zuvor. Gebrandmarkt von einem Blick. Seinem Blick. Und nun stehe ich hier wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Sofort muss ich an das Tier denken, das er am Lagerfeuer verspeist hat. Und vielleicht werde auch ich so enden. Nicht auf exakt dieselbe Weise. Aber dennoch … tot. Weil ich mir sicher bin, dass Wut – und nicht Leidenschaft – für das Glühen in seinen Augen verantwortlich ist. Langsam schlägt er die Decke zurück und ich frage mich, ob es ein Zauber ist, der mich an Ort und Stelle hält, wo ich doch eigentlich um mein Leben rennen sollte, welches wie der Sand der Zeit zwischen meinen Fingern zerrinnt.

Ein Schimmer, der nicht von dieser Welt ist, umgibt seine linke Brust, verschließt die Wunde, bis kaum noch eine Narbe zu erkennen ist. Dann kommt er auf mich zu. Er ist schön. So unerträglich schön. Und nicht für mich bestimmt. Nicht heute. Nicht morgen. Niemals. Denn wir werden auf ewig auf unterschiedlichen Seiten kämpfen.

Meine Chance zu fliehen ist bereits verstrichen. Womöglich wäre es mir gelungen, weil er geschwächt ist. Andererseits … sitze ich so oder so auf dem Olymp fest. Darin besteht seit meinem missglückten Fluchtversuch, bei dem ich beinahe von halb verhungerten Wölfen zerfleischt worden wäre, keinerlei Zweifel. Vermutlich wären es Ziva und ihr Gefolge gewesen, die mich letztendlich geholt hätten. Weshalb ich nicht daran glaube, dass meine Freunde zu meiner Rettung kommen, kann ich mir selbst nicht erklären.

Das wichtigste Glied unserer Einheit bin nicht ich. Mein Name ist nicht Flame, für die sie Erde, Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und brennt beim Schlucken wie Feuer. Jegliche Luft entweicht meiner Lunge, als Chaos gegen mich prallt, meinen Körper mit seinem gegen die Säule presst und mich mit seinen Armen wie in einem Käfig gefangen hält. Ein Röcheln dringt aus meinem Mund, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass er über so viel Kraft verfügt. Unerträglich langsam löst sich eine Träne aus meinem Augenwinkel und rollt meine Wange hinab, bis sie auf seine Brust tropft. Genau auf die frisch verschlossene Wunde.

»Hör auf … damit.« Seine Stimme klingt rau, als hätte er sie seit Jahrtausenden nicht mehr benutzt. »Hör auf, in Selbstmitleid zu ertrinken.«

Zischend atme ich aus und balle die Hände zu Fäusten. Noch immer vergesse ich, dass meine Gedanken ein offenes Buch für ihn sind. Mit Daumen und Zeigefinger fängt er mein Kinn ein, zwingt mich, ihn anzusehen. Ihm und seinem Zorn so nahe zu sein, ist beklemmend. Weil ich nicht weiß, was als Nächstes passieren wird. Ob er mit mir spielen wird, wie ein Jäger mit seiner Beute – so, wie er es am liebsten mag.

»Lüge«, raunt er.

»Du wirst also nicht mit mir spielen?«

»Ich sagte Lüge, weil du keine Angst vor mir hast. Nicht wirklich. Nicht wie die anderen.« Mit dem Daumen streicht er über meine Unterlippe und ich schließe flatternd meine Lider, weil ich verloren bin. »Sie würden sterben vor Furcht«, fährt er fort, »wenn ihre Gesichter nur wenige Zentimeter von meinem entfernt wären. Ihre Hände würden so sehr beben, dass sie nicht fähig wären, den Dolch zu führen.« Meine Augen rollen zurück, als sein Daumen weiterwandert, meinen Wangenknochen nachfährt und ich darauf warte, dass sein Mund endlich den meinen berührt. Das zwischen uns ist kaputt und falsch … und trotzdem verzehre ich mich danach.

»Nie wieder.« Harsch durchschneiden seine Worte den Raum. »Nie wieder – werde ich dich berühren. Nie wieder – darfst du von mir kosten. Nie wieder – wird mein Chaos deine Leere füllen.« Er beugt sich vor, fährt mit seinen Zähnen über den Rand meiner Ohrmuschel, genau wie in der ersten Nacht. »Egal wie sehr du flehst. Egal wie sehr du bettelst.« Er lacht leise. »Nie wieder.«

Sein kühler Atem streift wie zum Abschied meinen Hals, ehe er zurücktritt. Als er das Gemach verlässt, stößt er mit seiner Schulter gegen mich und ich bin noch immer derart wackelig auf den Beinen, dass ich falle. In letzter Sekunde schaffe ich es, mich mit den Unterarmen abzufangen. Trotzdem zuckt Schmerz durch meine Knochen und meine Zähne schlagen unsanft aufeinander.

»Jeder künftige Schritt, den du machst, wird sich anfühlen, als würdest du durch den Pyriphlegethon waten. Ich werde dein Leben zur Hölle machen.« Seine Drohung ist nicht mehr als ein Zischen. Dann ist er verschwunden.

Ich brauche einige Zeit, bis ich es schaffe, mich aufzurichten und zu sammeln. Wie in Zeitlupe spielt sich die Szene noch einmal vor meinem inneren Auge ab. Am liebsten würde ich meinen Kopf gegen den Marmor schlagen. Ich habe versucht, ihn umzubringen, nur wenige Stunden, nachdem er mich vor dem sicheren Tod bewahrt hat, und glaubte tatsächlich, dass er mich küssen würde?

Ich liege im Bett und starre an die Decke. Es kommt mir vor, als würde ich auf meine Strafe warten. Draußen herrscht tiefschwarze Nacht, doch Chaos hat sich dieses Mal nicht zu mir gelegt. Nie wieder. Diese beiden Worte hallen unaufhörlich durch meinen Kopf. Ich weiß nicht, wie es weitergehen wird, und habe auch keine Kraft, mir Gedanken darüber zu machen. Es ist, als hätte mich jeglicher Kampfgeist, der noch in mir war, in der Sekunde verlassen, in der ich den Dolch in seine Brust gejagt habe. In diesem Augenblick ist auch in mir etwas unwiderruflich zerbrochen. Als wäre ich nur noch eine Hülle. Ich habe akzeptiert, dass ich ihm ausgeliefert bin. Dass ich keine Möglichkeit habe, den Olymp zu verlassen oder mit meiner Familie in Kontakt zu treten.

Ein hohles Schnauben entfährt mir.

Familie.

Freundschaft.

Was bedeutet das schon? Keiner von ihnen hat meine stummen Hilfeschreie gehört. Ich bin nicht wie Lavea, die alle umsorgen. Bei mir ist jeder davon ausgegangen, dass ich mich schon wieder fangen würde. Sie haben nicht gesehen, nicht erkannt, dass ich eine ganz andere geworden bin – und nie wieder die Phia sein kann, die ich vor dem Turnier und Candelas Tod gewesen bin. Seit meinem Erwachen befinde ich mich in einer Schlucht, deren Gestein so glatt ist, dass ich nicht herausklettern kann. Und keiner meiner Freunde hat mir ein Seil zugeworfen. Einzig Hale … Er hat es versucht – wirklich versucht. Aber er versteht nicht. Er versteht nicht das Ausmaß meines Schmerzes. Die Zweifel. Den Selbsthass. Ich habe in seinen Augen gesehen, dass er denkt, mit mir würde etwas nicht stimmen. Er war besessen davon, mich zu reparieren, anstatt mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Er will eine Version von mir, die überhaupt nicht existiert. Und nicht selten ist die Dunkelheit überall in mir, sodass jede Faser meines Herzens nichts als Zerstörung will. Dann wünsche ich mir, dass die Schwärze, die an meiner Seele kratzt, mich endlich verschlingt. Ich lechze nach Stille und nach Linderung.

Langsam richte ich meinen Oberkörper auf und schwinge die Beine über die Matratze. Kurz zucke ich zusammen, als meine Fußsohlen den kalten Boden berühren. Ich mache einige unbeholfene Schritte, ehe ich die volle Kontrolle über meinen Körper habe. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wann ich das letzte Mal gegessen und getrunken habe – doch es gelingt mir nicht. Mit der Zunge befeuchte ich meine trockenen Lippen und stütze mich am Fenster ab, ehe ich mich nach vorn beuge und die frostige Nachtluft einatme. Aber irgendwie ist es nicht genug. Ich will nichts sehnlicher, als dass die unerträgliche Enge aus meiner Brust verschwindet. Vorsichtig setze ich einen Fuß auf die Erhöhung und taste mich mit den Händen in eine stehende Position. Für ein paar Sekunden erlaube ich mir, die Augen zu schließen, während der leichte Wind meinen Körper umschmeichelt. Mir ist bewusst, dass unter mir unendliche Tiefe liegt, doch ich sehe nur die weißen Wolken, die sich von der Dunkelheit der Nacht abheben. Sie wirken einladend – als würden sie mich auffangen, wenn ich falle. Ich beuge mich ein wenig weiter nach vorn, spüre, wie mein Brustkorb sich endlich weitet. Vorsichtig löse ich meine Hände, die als Absicherung dienten, und strecke sie aus, fast so, als wären es Flügel, die mich tragen können. Ist das mein Weg, diesem Gefängnis zu entkommen?

»Hast du den Verstand verloren?«

Ich schrecke zusammen, als ich seine Stimme vernehme, und verliere das Gleichgewicht. Mein Herz sackt mir in die Magengrube und ich glaube, tatsächlich fallen zu müssen, als sich starke Arme blitzschnell um meine Taille schlingen und meinen Körper zurückreißen. Kurz bin ich von dunklem Rauch umgeben, bis ich mich auf dem Laken des Bettes wiederfinde. Chaos beugt sich über mich wie ein Racheengel, während ich zu zittern beginne, weil ich begreife, was beinahe geschehen wäre. Meine Zähne klappern unkontrolliert aufeinander und ich muss mir eingestehen, dass ich eigentlich überhaupt nicht sterben will. Es ist das erste Mal, dass ich mir diese Tatsache seit meinem Erwachen und Candelas Tod eingestehe. Ich will nicht aufgeben. Ich will nicht in meiner eigenen Qual ertrinken. Ich will weitermachen. Aber ich weiß nicht … wie.

Ein Schluchzen dringt aus meiner Kehle, als Chaos auf dem Absatz kehrtmacht und verschwindet. Hysterische Laute kommen aus meinem Mund – nie zuvor war ich so sehr mit Verzweiflung gefüllt. Er hat recht, flüstert eine gehässige Stimme in meinem Kopf. Du hast den Verstand verloren. Ich rolle mich zusammen, bekomme nur am Rande mit, wie Chaos mit viel Lärm eine der tonnenschweren Statuen durch die Tür wuchtet, bis zum Fenster schleift und somit die Öffnung versperrt. Eine Weile verharrt er davor, nur seine Finger strecken und ballen sich abwechselnd zu Fäusten, während seine Schultern sich heben und senken, als würde er heftig atmen. Dann wendet er sich abrupt ab, kommt auf mich zugeschritten, nimmt auf dem Boden neben meinem Bett Platz. Sein Rücken ist mir zugewandt und ich strecke zaghaft die Hand nach ihm aus, wage es jedoch nicht, seine Haut zu streifen. Ich rechne mit Wut und Hohn. Beinahe kann ich sogar die rügenden Worte meiner Freunde hören. Aber schließlich ist es Chaos, der zu mir spricht, so leise, dass ich glaube, seine Worte würden lediglich meiner Einbildung entspringen. »Es ist in Ordnung. Nichts an dir ist kaputt. Auch ich trage einen Abgrund in mir. Wir alle tun das. Einige nähern sich ihm weiter als andere. Einzelne klettern gänzlich hinab, während manche niemals mit den Schatten in Berührung kommen. Aber ich … verstehe. Denn ich bin die Schwärze des Universums und das Chaos. Deshalb versichere ich dir: Auch die Dunkelheit hat ihren Zweck, wenngleich ihre Berührungen schmerzhafter als die der Sonne sind. Finsternis ist die Essenz dieser Welt – mehr noch als das Licht.«

Als ich erwache, ist meine Wange an eine muskulöse Brust gepresst. Unter mir erklingen feste Schritte. Sein Geruch nach Moschus und Patschuli dringt an meine Nase, in jeden Teil von mir. Dann werde ich von Rauch und Dunkelheit eingefangen, ehe wir uns in rasender Geschwindigkeit fortbewegen. Wo unser Ziel liegt, weiß ich nicht. Ich versuche, eine Hand über meine tränenden Augen zu legen, doch der Gegenwind zerrt an mir, pfeift unangenehm schrill in meinen Ohren. Ich verliere jegliches Zeitgefühl, aber immerhin hält die Übelkeit sich dieses Mal in Grenzen. Irgendwann fühlt es sich nur noch an, als würden wir schweben, bis Chaos sich wieder in seiner menschlichen Form materialisiert. Er geht leicht in die Knie, um unsere Landung abzufedern. Währenddessen wische ich mir über mein eiskaltes Gesicht und mustere unsere Umgebung. Wir befinden uns in einer Senke und direkt vor uns ragt bedrohlich eine graue, trostlos wirkende Burg auf. Dahinter erstreckt sich ein Wald, aus dem Hunderte Lichter zu uns herüberscheinen, auch wenn ich ihre Quelle nicht erkennen kann. Ich habe keine Ahnung, ob bald die Sonne aufgehen – oder die Nacht hereinbrechen wird. Es ist gut möglich, dass ich einen ganzen Tag verschlafen habe. Und dennoch fühle ich mich alles andere als ausgeruht.

»Hast du nicht.« Fragend sehe ich zu Chaos auf. »Den ganzen Tag verschlafen«, fügt er hinzu. Seit seiner Drohung hat er mir nicht mehr in die Augen gesehen. Als würde er mich trotz unserer Nähe so auf Abstand halten. Er gibt ein undefinierbares Geräusch von sich, bevor er mich absetzt und ich mich für einen Moment an seine Schultern klammere, bis ich meinen eigenen Beinen trauen kann. Kurz darauf legt sich seine Hand in meinen Nacken und er schiebt mich unsanft vorwärts. Erst jetzt erkenne ich das Tor, welches wir ansteuern. Als ich es erblicke, setzt es sich rasselnd in Bewegung. Bei dem Laut, den es dabei verursacht, kriecht quälend langsam eine Gänsehaut über meinen Körper.

»Was hast du vor?«, raune ich Chaos zu, der meinen Nacken nur noch fester packt. Verzweifelt winde ich mich, doch sein Griff ist eisern – unnachgiebig. Ich erhasche einen Blick auf seine Miene und wünschte, es wäre mir nicht gelungen. Der Ausdruck darin ist noch kälter als der kristallartige Schnee, der meine nackten Füße taub werden lässt. Nun kann ich auch die Gestalt ausmachen, die hinter dem Gitter steht, das bereits bis zur Hälfte nach oben gezogen wurde.

»Tu das nicht«, flehe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Tu. Das. Nicht.« Er gibt mir keine Antwort, ist vollkommen regungslos. Als hätte er mich überhaupt nicht gehört. Mit einem endgültigen Knall rastet das Tor ein und gibt die Sicht auf Ziva frei. Doch sie ist nicht der Grund, weshalb ich keuche. »Du«, entfährt es mir. Mein Tonfall ist anklagend. Darks Haar ist so schwarz wie die Nacht und seine Haut so bleich wie der Schnee. Er sieht aus wie ein Winterprinz. Und genau wie Chaos ignoriert er mich. Ich verstehe nicht, weshalb Letzterer sich nicht auf ihn stürzt, wie er es schon bei Theia getan hat. Immerhin ist auch er dafür verantwortlich, dass er zweihundert Jahre in einem Verlies verbracht hat.

»Ich sehe, du bist meiner Einladung gefolgt«, gurrt Ziva zufrieden. »Und hast deinen Teil der Vereinbarung erfüllt.« Sie neigt leicht den Kopf und als sie mich ins Visier nimmt, beginnt die Narbe, die sich über meinen Hals bis hinunter zum Schlüsselbein und meiner Brust zieht, unangenehm zu kribbeln. Automatisch will ich mich gegen Chaos lehnen, doch er tritt mit der Schuhspitze in meine Kniekehle, sodass ich zu Boden falle – und vor Ziva krieche.

»Ich bin fertig mit ihr«, sagt Chaos gelangweilt. »Ich kann mir nicht erklären, was du mit beschädigter Ware willst, aber sie gehört dir.«

Das ist eine Lüge. Er ist keineswegs fertig mit mir. Seine Drohungen laufen in Endlosschleife durch meinen Kopf und ich realisiere, dass dieser Ort meine Hölle sein wird. Auf Zivas Gesicht breitet sich ein verzerrtes Lächeln aus, während sie sich vor mich hockt, eine Strähne meines roten Haares um zwei ihrer Finger wickelt und heftig daran reißt. »Saphira und ihr hübsches Porzellangesicht«, zischt sie, ehe sie mein Haar loslässt und mit dem Nagel ihres Daumens über meine Wange fährt, dabei vermutlich einen ärgerlichen Striemen hinterlässt. Wütend starre ich sie an, aber sie scheint in einer anderen Dimension zu sein. Einer, in der alles längst ihr gehört. »Wie lauten deine Bedingungen?«, fragt sie schließlich und richtet sich auf.

»Ein wenig Spaß … ein wenig Chaos … Ich will zusehen, wie sie leidet.«

Mich. Er will mich leiden sehen. Nicht die anderen. Vermutlich sollte ich darüber erleichtert sein.

»Das lässt sich einrichten«, säuselt Ziva honigsüß. Ich frage mich, wie Chaos es erträgt, ihre Gedanken zu hören. Sie müssen sich anfühlen wie dunkle Tentakel, die versuchen, sich in seinen Geist zu graben. »Pars«, fordert sie nun. »Bring Saphira in den Kerker.«

Ein Mann packt meinen Arm und zerrt mich unsanft hoch, doch kurz darauf ist Chaos schon an meiner Seite, drängt den Fremden von mir fort. »Ich übernehme das«, widerspricht er kühl. »Ich will sichergehen, dass sie es nicht zu gemütlich hat.« Dann nickt er Dark zu. »Zeig du mir den Weg.« Zu meiner Überraschung wandert dessen Blick zu Ziva, fast so, als würde er um Erlaubnis bitten. Mit einer kaum erkennbaren Bewegung ihres Kinns gibt sie ihm ihr Einverständnis. Mein Mund klappt auf und ich stolpere über meine eigenen Füße, als Chaos mich mit sich zieht, um Dark zu folgen. Es kommt mir vor, als wäre ich in einer Art Paralleluniversum gelandet, in der eine andere Version vom Gott der Angst und der Finsternis existiert. Denn der Dark, den ich kenne, nimmt niemals – unter gar keinen Umständen – Befehle entgegen.

Obwohl alles viel zu schnell an mir vorbeizieht, registriere ich, dass auch das Innere grau und nicht gerade einladend ist. Außerdem ist es kalt. Eiskalt, was wohl erklärt, warum die Anwesenden fast ausschließlich Pelzmäntel tragen. Und das ist es, was mich am meisten beunruhigt. Wie zahlreich die Anhängerschaft ist, die Ziva um sich geschart hat. Wie ist ihr das in so kurzer Zeit gelungen? Weiß Yasar hiervon?

Zwar habe ich nicht laut gesprochen, dennoch erinnere ich mich in diesem Moment daran, dass Chaos jeden einzelnen Gedanken hören kann. Fest beiße ich mir auf die Unterlippe und der Schmerz leert meinen Kopf. Immer mehr Schaulustige versammeln sich, um die Neuankömmlinge anzustarren. Einige von ihren Gesichtern wirken … exotisch. Eine Frau mit rosafarbenem Haar und türkisgrünen Augen fällt mir am meisten auf. Derart intensive Iriden habe ich zuvor nur bei den neuen Göttern gesehen. Ist es möglich, dass sie ebenfalls vom Planeten Viridi stammt? Ein Fluch entfährt mir, als Chaos mich in einen Gang schubst, der uns von den anderen abschottet.

»Vorsicht«, sagt er träge und mit reichlich Verspätung, denn ich bin längst auf einer der Stufen, die scheinbar auf eine untere Etage führen, umgeknickt. Wütend knurre ich, doch Chaos hat erneut meinen Arm gepackt – zieht mich unerbittlich vorwärts. Je tiefer wir uns bewegen, desto kleiner werden die Fensteröffnungen und in der Luft liegt ein modriger Geruch.

Dark wartet vor einer schweren Tür auf uns, deren eiserne Scharniere einen kreischenden Ton ausstoßen, sobald er sie öffnet und uns den Vortritt lässt. Ich brauche einige Sekunden, bis ich mich an die Lichtverhältnisse gewöhnt habe. Und dann erkenne ich die Gestalt, die hinter den Streben steht. Sein sandfarbenes Haar sticht aus der schummrigen Umgebung hervor und unterscheidet sich von dem der dunklen Prinzen, die mich einrahmen. »Lost«, flüstere ich.

LOST

»Phia?«

Umständlich versuche ich, meinen Kopf durch die zu eng beieinanderliegenden Stangen zu schieben, um einen besseren Blick auf die Frau zu erhaschen, die zwischen Dark und … Chaos steht? Chaos, der sich eigentlich in seinem Gefängnis am Grund des Meeres befinden sollte.

»Verdammter Zyklopenkot«, stoße ich aus und taumele zurück.

»Man könnte meinen, dass wir die Hölle auf Erden haben, nicht wahr?« Die Lippen der Frau verziehen sich in dem schummrigen Licht zu einem angewiderten Lächeln. »Und der Gestank, den sie mitgebracht haben … Kaum zu ertragen.« Eindeutig Phia. Tatsächlich sorgen ihre Worte dafür, dass ich mich ein wenig entspanne – wenngleich ich noch immer in höchster Alarmbereitschaft bin. Alles an dieser Situation ist einfach nur seltsam … und ein wenig bedrohlich.

Dark tritt vor und schließt meine Zelle auf. Verwundert hebe ich eine Augenbraue. Auch Chaos scheint das nicht zu schmecken. »Weshalb bekommt sie kein eigenes Verlies?«, fragt er in einem Tonfall, der dafür sorgt, dass ich am liebsten den Kopf einziehen würde. Doch Dark steckt in aller Seelenruhe einen anderen Schlüssel ins zweite Schloss und lässt ein paar Funken seiner Finsternis auf mich los, die mich vollständig erblinden lassen. Fluchend wanke ich zur Pritsche. Ich hasse es, wenn er das tut. Trotzdem schmeichelt es mir, weil es bedeutet, dass er mich noch immer als stark genug einschätzt, um einen Fluchtversuch zu starten.

»Die beiden kennen einander. Sie müssen also mit einer gemeinsamen Zelle vorliebnehmen, da wir noch weitere Gäste erwarten«, sagt Dark an Chaos gewandt. Zwar kann ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber in meinen Ohren klingen seine Worte wie eine Anspielung. Verwechselt er Phia möglicherweise mit … Candela? Es könnte sein, schließlich gehört sein Verstand vermutlich schon eine Weile nicht mehr ihm. Eine Sekunde später fällt mir ein, was Apollo uns kurz nach unserer Ankunft über Chaos gelehrt hat. Er ist dazu in der Lage, sich jeden einzelnen deiner Gedanken anzueignen. Angestrengt schlucke ich und denke an das Erstbeste, was mir in den Sinn kommt. Ziva als Kentaur. Ein riesiger Pferdehintern, der den Schweif hebt und … aaah, das geht in die falsche Richtung. Goldene Äpfel. Goldene Äpfel, die an majestätischen Bäumen wachsen und Ladon … Ein riesiger Drache. In einem Kleid. Ein mit Edelsteinen besetztes Ballkleid.

»Grundgütiger«, glaube ich Chaos murmeln zu hören, doch ich bin viel zu sehr in meinen eigenen Bildern gefangen. Ladon mit einer rüschenbesetzten Duschhaube, die Platz für seine Hörner lässt. Regen prasselt auf ihn nieder, während er zu einer schiefen Melodie mit seinen riesigen Klauen auf den Boden tappt und dabei ungelenk hin und her wackelt. In dieser Sekunde wird mir erst so richtig bewusst, wie ungeeignet der Körperbau eines Drachen zum Tanzen ist. So wird der arme Ladon auf jeden Fall niemals eine Frau beeindrucken.

»Ihr neuen Götter habt wohl zu viel Ambrosia getankt.« Dann schließt sich die Tür mit einem lauten Quietschen.

Den Drachen gibt es wirklich, will ich Chaos am liebsten hinterherbrüllen, doch kurz darauf wird die Schwärze von meinen Augen genommen und ich erkenne Phia, die vor mir kniet und mich besorgt mustert. Vorsichtig streckt sie ihre Hände nach mir aus und umfasst mein Gesicht, fast so, als wollte sie sich vergewissern, dass ich wirklich da bin. Als ihre kühlen Finger über meine Wangen fahren, breitet sich ein echtes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Ohne Vorwarnung stürzt sie sich in meine Arme, sodass wir beide auf der Pritsche zurückrollen.

»Ein halbes Jahr«, dringt ihre Stimme undeutlich an mein Ohr, ehe sie sich halb aufrichtet und mir einen harten Schlag gegen die Brust verpasst. »Ich – wir alle – haben uns solche Sorgen gemacht!«

»Nun ja«, erwidere ich trocken und wuschele ihr durchs Haar. »Offensichtlich nicht genug, sonst hättet ihr mich längst gefunden.«

Mit gerunzelter Stirn lässt Phia von mir ab, greift jedoch gleichzeitig nach meiner Hand und setzt sich neben mich. »Zuerst dachten wir, dass Dark und du Abstand braucht … wegen eures Verlustes. Aber seit einer Weile durchkämmen wir systematisch die gesamte Erde nach euch, Ziva, Ares und Athene. Dream kümmert sich um den Westen, Apollo den Süden und Yasar hat den Osten und Norden übernommen. Er war auch im Land der Vergangenheit und des Vergessens – als er zurückkam, sagte er uns, dass die Suche nicht erfolgreich war. Gibt es womöglich einen Schutzzauber, der euch verbirgt?«

Bei ihren Worten breitet sich ein komisches Gefühl in meiner Brust aus und ich reibe mit den Fingerknöcheln darüber, als würde es so verschwinden. »Bestimmt wurden Verteidigungsmaßnahmen ergriffen, aber es gibt nichts, was die hier Anwesenden unsichtbar machen könnte. Außerdem ist Yasar verdammt gründlich bei allem, was er anpackt. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass er übersehen hat, was hier vor sich geht.«

Phias Augen werden so groß wie der Mond, während ihre Pupillen unruhig hin und her huschen. »Was ist …«, flüstert sie, »wenn Yasar euch überhaupt nicht finden will?«

»Oder schon weiß, dass wir hier sind«, murmele ich kaum hörbar vor mich hin.

»Aber er hat einen Plan. Da ist diese riesige Modellkarte in seinem Arbeitszimmer. Als Nächstes –«

»Stopp!«

Irritiert bricht Phia mitten im Satz ab, ehe sie sich noch näher zu mir beugt. »Glaubst du, wir werden belauscht?«

»Warum sollte Ziva uns belauschen, wo doch Chaos nun auf ihrer Seite steht und ihr über jeden unserer Gedanken Bericht erstatten kann, wenn er in unserer Nähe ist …«

Grüblerisch kaut sie auf ihrer Unterlippe. »Da hast du wohl recht.«

»Je weniger ich weiß, desto besser«, sage ich und stütze mich mit den Ellenbogen auf meinen Knien ab, während ich mir in einem unruhigen Rhythmus Phias Handrücken gegen die Stirn klopfe, als könnte ich meinem Gehirn so einen brillanten Einfall abverlangen. Es ist mir unerklärlich, weshalb die anderen nicht mehr unternehmen. Ich meine, was zum Teufel machen sie dort drüben im Sandpalast? Entspannt die Füße ins Wasser halten, während Ziva immer stärker wird?

»Wie kommt es, dass Chaos dich hergebracht hat?« In dieser Sekunde erinnere ich mich, dass Theia hier war, und einige Puzzleteile fügen sich zusammen. Übelkeit breitet sich in meiner Magengrube aus, noch bevor Phia zu sprechen beginnt.

»Theia und Yasar mussten im Unterwassergefängnis nach dem Rechten sehen. Theia sollte zusätzliche Zellen für Ziva, Ares und Athene erschaffen. Yasar fragte mich, ob ich sie begleiten will. Er wusste, dass ich mich nach einer Beschäftigung sehnte. Also sagte ich zu. Während die beiden beschäftigt waren, wagte ich mich etwas tiefer vor. Zu tief. Ich gelangte in Chaos’ Bereich …« Sie seufzt schwer. »Die Kurzfassung lautet: Ich war unglaublich dumm. Ich fiel Chaos in die Hände und er drohte, mich zu töten, sollte Yasar ihn nicht durchlassen. Dann nahm er mich mit auf den Olymp. Ich versuchte zu fliehen, aber es gelang mir nicht.« Sie schluckt schwer und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie bei ihrer Erzählung einiges auslässt. Trotzdem unterbreche ich sie nicht. »Eines Morgens tauchten Ziva, Artemis und Theia auf. Ziva – sie … sie trank von dem Ambrosia. Außerdem teilte sie Chaos etwas mit– in Gedanken, sodass wir anderen es nicht hörten. Außerdem versprach sie ihm Rache und ließ zu, dass er Theia tötete. Sie muss sehr überzeugend gewesen sein, sonst wäre er wohl nicht hierhergekommen.«

»Das bedeutet, Theia hat tatsächlich die Seiten gewechselt und heimlich für Ziva gearbeitet«, überlege ich. »Immerhin hat dieses Verlies seit Jahrhunderten zwei der mächtigsten Gottheiten der Erdgeschichte gefangen gehalten. Chaos konnte nicht zufällig ausbrechen. Das war Absicht. Vielleicht wollte die Titanin Ziva mit diesem Schachzug ihre Loyalität beweisen.« Leise fluchend setze ich mich wieder aufrecht hin. »Das alles stinkt doch bis zum Styx.« Frustriert knacke ich mit meinen Fingerknöcheln. »Nur, damit ich es richtig verstanden habe: Chaos bricht aus – du wirst von ihm geraubt. Und Yasar und die anderen unternehmen … nichts? Hale muss doch längst durchgedreht sein vor Sorge!« Bei der Nennung von Hales Namen windet Phia sich und ich hebe eine Braue. Mir ist nicht entgangen, dass es nach ihrem Erwachen eher holprig zwischen den beiden lief, dennoch verwundert mich ihre Reaktion.

»Das zwischen ihm und mir … war schon vorbei, bevor es überhaupt begonnen hat«, flüstert sie schließlich.

»Und weiß er das auch?«

Sie seufzt abgrundtief. »Er wird es wollen … wenn er alles erfährt.«

Genervt rolle ich mit den Augen. »Du sprichst in Rätseln.«

Halbherzig lächelnd zuckt sie mit den Achseln. »Eine Frau muss auch ihre Geheimnisse haben. So bleibt sie interessant.«

»Na schön«, gebe ich nach. »Du gewinnst.« Ich lehne mich gegen die raue Wand unserer Zelle und strecke die Beine aus. Es ist wohl an der Zeit, die Frage zu stellen, die mir schon die ganze Zeit auf der Zunge brennt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich die Antwort wirklich hören will. »Was ist mit Flame?«

»Sie hat die Prophezeiung erfüllt.«

»Das ist mir nicht entgangen … die Kälte und der Schnee«, murmele ich. Und Darks Reaktion im Verlies am Tag seiner Ankunft in meiner Burg, die nichts Gutes verhieß. »Aber … ist sie am Leben?«

»Es ist eine Menge passiert und ich weiß nicht, ob ich dir alles erzählen sollte«, murmelt Phia. »Doch sie war für sehr lange Zeit verschwunden, bis Cato, Ava und Hale auf einen wichtigen Hinweis stießen …«

»Ava?«

»Die Seherin von Delphi. Cato und sie … Es ist kompliziert. Jedenfalls sind Cato und Ladon vor Wochen aufgebrochen, um dieser Spur zu folgen. Und dann kam Chaos an dem Abend, bevor Ziva aufgetaucht ist, von einem seiner Ausflüge zurück auf den Olymp und er … er erzählte mir von einem Mädchen, das die unzähmbare Macht des Feuers besitzt.«

Meine Mundwinkel heben sich leicht und auch Phias Gesicht leuchtet auf. »Flames Anwesenheit war irgendwie schon immer ein Symbol für Hoffnung, nicht wahr?«

Ich nicke und lege einen Arm um Phias Schultern. »Ein wenig Hoffnung können wir durchaus gebrauchen.« Ich glaube daran, dass ihre schier unerschöpfliche Macht des Feuers es selbst mit Chaos aufnehmen kann. Aber wird es ihr gelingen, Dark wieder auf den richtigen Pfad zu lenken? Nach wie vor treibt es mich um, ob er aus freien Stücken mit Ziva zusammenarbeitet, oder es die schwarze Magie des Rings ist, welche ihn an sie bindet.

»Über Yasars Absichten soll ich dir nichts verraten, aber du kannst mir doch berichten, was an diesem Ort vor sich geht. Ich meine, wer sind all diese Leute, die sich in der Burg aufhalten?«, will Phia nach einigen Sekunden des Schweigens wissen.

Ich wünschte, ich könnte ihr jetzt – in diesem Moment – schon alles verraten. Von meiner Vermutung, die mit großer Wahrscheinlichkeit der Wahrheit entspricht. Dass ich einen Weg kenne, um das Unheil abzuwenden, wenn ich hier nicht festsäße und Dark noch vertrauen könnte. Ungeachtet der Tatsache, dass ich mich auf diese Weise selbst opfern würde. Allerdings bin ich bereit, mein Leben für diese Welt zu geben. Doch so wie die Dinge aktuell stehen, kann ich Phia lediglich einen Teil meines Wissens anvertrauen. »Diejenigen, die Ares angeheuert hat, sind eingetroffen. Übrigens ist der Gott des Krieges tot – gestorben durch meine Hand. Leider war ich danach derart abgelenkt, dass es Ziva gelungen ist, mich zu überwältigen.« Letzteres ist mir noch immer unangenehm, doch Phia drückt meine Hand und gibt einen grimmigen Laut von sich.

»Ich wünsche Ares, dass er im heißesten und unerträglichsten Höllenfeuer schmort. Ich wünsche ihm, dass er auf ewig entsetzliche Qualen leidet.« Sie schnaubt wütend und es würde mich nicht wundern, Rauch aus ihren Nasenlöchern aufsteigen zu sehen. Aber ich verstehe ihre Reaktion. Auch ich bin noch in Trauer, bloß nicht mehr so unendlich wütend, denn die Gelegenheit, Candelas Tod zu rächen, hat mir ein wenig Frieden verschafft. Phia hingegen konnte nicht so einen Schlussstrich ziehen. Vermutlich fällt es ihr deshalb noch schwerer, loszulassen. »Und wen genau konnte er von seiner Sache überzeugen?«, reißt Phia mich aus meinen Überlegungen.

»Pan und Artemis mitsamt ihrer Gefolgschaft, die Titanenbrüder Koios, Krios und Hyperion, die Gorgonenschwestern sowie …« Für einen Moment schließe ich die Lider, weil sich das Bild der Nacht vor meinem inneren Auge entfaltet, in der ich angezogen von dem überirdischen Leuchten aus dem kleinen Fensterschlitz spähte und die Pegaluxe sah. Ich räuspere mich. »Ziva ist nicht allein zur Erde gekommen. Ich habe keine Ahnung, wie viele es insgesamt sind, doch sie hat einen Teil des Volkes von Viridi mitgebracht. Unter anderem Flora … ich … sie war mir einst versprochen.«

Ruckartig wendet Phia sich mir zu. »Du warst verlobt?« Es schwingt ein vorwurfsvoller Unterton in ihrer Stimme mit.

»Vor sehr, sehr langer Zeit.«

»Und als du Viridi den Rücken gekehrt hast, da … hast du sie nicht mitgenommen?«

Beschämt reibe ich mir über den Nacken. »Ich habe Flora nicht geliebt, aber sie hat mir trotzdem viel bedeutet. Deshalb habe ich unsere Verbindung schließlich gelöst. Damit sie frei ist und jemanden finden kann, der ihr das gibt, was sie verdient. Noch dazu hat sie sich bei dem Konflikt auf Zivas Seite gestellt.« Bei diesen Worten wird mir übel, weil ich mir mittlerweile auch erklären kann, wieso. »Ich musste die Seite meiner Freunde wählen«, fahre ich so sachlich wie möglich fort. »Allerdings war ich mir bis zu ihrem Auftauchen in meiner Zelle nicht einmal sicher, ob sie überlebt hat.«

Phia schnappt hörbar nach Luft. »Sie hat dich hier besucht?«

»Eher attackiert …« Mit Daumen und Zeigefinger massiere ich meine Schläfen. »Es war, wie einen Geist zu treffen. Einfach nur seltsam … und auch traurig.«

»Weißt du, wer noch seltsam ist?«, fragt Phia, wartet meine Antwort jedoch gar nicht ab. »Dark.«

Ich kann nur zustimmend nicken. Da ich ihr nichts über die Urgegenstände Viridis verraten kann, unterbreite ich ihr meine zweite Theorie. »Zuerst nahm ich an, dass er Ziva etwas vorspielt, er mal wieder versucht, uns alle auf eigene Faust zu retten. Aber mittlerweile … Er hat es mir gegenüber zwar nicht direkt ausgesprochen, doch er glaubt, dass Flame tot ist. Und ich schätze, dass er … Sie war alles für ihn. Sie trägt die andere Hälfte seines Herzens in sich. Er hat es nicht verkraftet.«

»Und wenn ich ihm sage, dass Flame noch lebt?«

Ich stoße ein müdes Seufzen aus. »Ich bin mir nicht sicher, ob es clever ist, diese Information zu teilen. Es könnte ein Trumpf gegen Ziva sein. Ein Überraschungsmoment zu unseren Gunsten.«

»Dann sollten wir wohl hoffen, dass Chaos vor ihr nicht von dem Feuermädchen sprechen wird.« Sie lehnt ihren Kopf an meine Schulter und gähnt herzhaft. »Und was ist unser Plan?«

Einer, den ich dir erst in letzter Sekunde unterbreiten kann. »Ein guter Anfang wäre, nicht in dieser Burg zu sterben«, sage ich stattdessen.

»Und ich hatte schon befürchtet, du hättest deinen Pessimismus abgestreift.« Sie lacht leise, aber es klingt schläfrig. »Ich bin froh, dass du bei mir bist, Lost.«

»Ich bin auch froh, dass du bei mir bist, Phia.«

Eine Weile betrachte ich ihre geschlossenen Lider und es dauert nicht lange, bis ihre Brust sich ruhig und gleichmäßig hebt und senkt. Sachte, um sie nicht wieder aufzuwecken, winde ich meine Hand aus ihrer und lege ihren Oberkörper auf der Pritsche ab, die ich anschließend mit äußerster Behutsamkeit ein wenig nach vorn ziehe, sodass die Wand dahinter freigegeben wird. Ein Klappern ertönt und ich stoße einen stummen Fluch aus. Das Geräusch stammt von den sechs Steinen, die lose in der Mauer stecken, die aus drei Schichten besteht. Für mich ist der Spalt noch lange viel zu klein, Phia allerdings … Kurz halte ich inne und lausche nach Schritten oder dem Trappeln von Arachnes Spinnenbeinen, doch alles, was ich hören kann, ist eine ferne Melodie. Ziva besteht seit Neuestem auf Feierlichkeiten, welche die gesamte Nacht andauern. Laut Phia muss die Einnahme des göttlichen Nektars ihr verändertes Verhalten ausgelöst haben.

Seit ich den Ring an ihrem Finger, das Armband an ihrem Handgelenk und den siegessicheren Ausdruck in ihrem Gesicht gesehen habe, fühle ich mich, als hätte man mich unter Strom gesetzt. Ich wusste von ihrer Verbindung zu Vater, wenngleich ich nie vermutete, dass er sie in jedes einzelne seiner Geheimnisse einweihte. Trotzdem war ich wachsam. Ich habe nicht all seine Tagebücher und Aufzeichnungen gelesen, dafür aber alle Schriftstücke verbrannt. Ich habe die Bibliotheken Viridis durchkämmt und versucht, jedes Buch, welches über diese eine Legende berichtet, zu vernichten. Mit Sicherheit habe ich nicht jedes erwischt, aber die meisten. Niemand sollte dieses Wissen in die Hände bekommen. Zwar verschwanden einen Tag nach Vaters Tod das Grau und die Armut aus Patriam Praeter, das daraufhin in neuer Pracht erstrahlte, doch ich war schon damals der Meinung, dass das Werkzeug, welches dieses Wunder vollbracht hatte, in den falschen Händen zu viel Schaden anrichten kann.

Nur eine Woche nach dem Ereignis, welches auf ewig mein Leben verändern sollte, weil ich mein Erbe viel früher als geplant antreten musste, suchte ich Ziva auf und löschte in präziser Arbeit die Erinnerungen, die mit Vater und seinen Entdeckungen verwoben waren, gänzlich aus. Als sie sich zwanzig Jahre später an die Spitze Viridis kämpfte, sah ich keinen Zusammenhang. Ich hatte Vertrauen in meine Fähigkeiten. Mein Misstrauen wurde erst geweckt, als Dark kurz vor unserem geplanten Angriff verriet, dass sie sich in manchen Nächten in den Nigrum Silvam schlich. Daraufhin drang ich in ihre Gemächer ein und hielt auch bei ihr Ausschau nach den Gegenständen, über die ich zuvor nur gelesen hatte. Ich fand keine Hinweise und behielt meine Befürchtungen für mich. Yasar vermutete, dass sie im Totenwald mit einem dunklen Wesen einen Handel eingegangen sei. Inmitten der Hektik unserer Vorbereitungen für die Schlacht gab ich mich damit zufrieden. Und auch jetzt, obwohl ich das Armband und den Ring bei ihrem letzten Besuch gesehen habe, erscheint es mir nahezu unmöglich, dass sie im Besitz zweier Urgegenstände ist, wo Vater schon für die Beschaffung von Votum mit dem Leben bezahlen musste. Für mich gibt es keine Erklärung, wie sie das erreichen konnte.

Und dennoch ist sie hier … mit einer Armee. Ich wünschte, ich hätte die Geschehnisse von Viridi nicht für so lange Zeit im hintersten Winkel meiner Gedanken vor mir selbst verborgen. Vielleicht wäre es mir dann schon früher gelungen, die losen Enden zusammenzufügen.

Hätte.

Wäre.

Wenn.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als davon auszugehen, dass der Erbin von Patriam Oculus gelungen ist, woran mein Vater scheiterte. Und als sie zur Erde reiste, war nicht nur ein Teil unseres ehemaligen Volkes bei ihr. So wie ich heimlich Votum bei mir trug, als ich mich vom Rücken meines Pegalux schwang und meine Füße zum ersten Mal diese Welt berührten.

Ich muss versuchen, Yasar, Dream und Hale meine Vermutungen mitzuteilen. Sie müssen die Uhr zurückholen. Die Zeit ist zu knapp, um ein Loch in die Mauer zu graben, durch welches mein Körper passt. Die schlafende Frau mit dem zinnoberroten Haar hingegen ist deutlich schmaler als ich. Sie soll die Botin sein. Flame ist Hoffnung – und Phia meine Chance.

Kapitel 2

Damals am Fluss

LOST

Vergangenheit

Viridi steht für Vollkommenheit. Jeder einzelne Grashalm sieht aus wie mit einem zarten Pinselstrich gemalt. Die Geräusche sind klangvoll und rein. Der Wind ist sanft und schmeichelnd. Selbst die Luft schmeckt wie Seide auf unseren Zungenspitzen. Man sagt, dass jeder gesegnet sei, der hier leben darf. Und hinter vorgehaltener Hand flüstert man, dass nur die Pechvögel in Patriam Praeter geboren sind, dem kleinsten aller Reiche. In dem Land, das mein Zuhause ist. Das Gebiet, über das meine Eltern regieren. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass ich eines Tages der Herrscher über die Pechvögel sein darf. Das vergessene Volk. Und obwohl der Name ursprünglich nur auf unsere Gaben bezogen war, beschreibt er unseren Zustand doch recht treffend. Es würde mich nicht wundern, sollte man uns eines Tages einfach von den kunstvoll gefertigten Karten streichen, welche die blumenberankten Wände der Hallen von Patriam Oculus schmücken.

Das Unglück begann uns zu Zeiten meines Urgroßvaters heimzusuchen. Vor knapp eintausend Jahren verlor Rubrum, einer der Planeten, die uns umkreisen, ein riesiges Bruchstück, welches auf uns niederfiel. Auf dem Weg nach unten fing es Feuer und schlug mitten in Patriam Praeter ein. Eine Hälfte des Reiches wurde zerstört und sackte ab, ehe sie sich wenig später gänzlich löste. Zudem breiteten sich Rubrums Flammen beim Zusammenstoß rasend schnell aus, sodass der Boden für viele Jahrhunderte unfruchtbar wurde. Seitdem erholen wir uns von dieser Tragödie. Auch nach all der Zeit sind wir noch angewiesen auf die Hilfe der Herrscher der fünf anderen Gebiete und nicht jeder von ihnen macht einen fairen Preis, was dafür sorgt, dass uns noch mehr Energie entzogen wird. Äußerlich wagt es niemand, Schwäche zu zeigen, aus Angst, dass man sich auf uns stürzt. Doch spät abends, wenn ich durch die angelehnte Tür des Arbeitszimmers meines Vaters linse, erblicke ich die Wahrheit: Seinen gebeugten Rücken, weil die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastet, unerträglich geworden ist. Seine von Tinte gefärbten Fingerspitzen, die unermüdlich über Buchseiten fahren, stetig auf der Suche nach einem Ausweg, während seine Miene verhärmt aussieht. Und wenn ich die Räumlichkeiten meiner Mutter passiere, höre ich ihr Schluchzen, weil Vater ihren sehnlichsten Wunsch – ein weiteres Kind – verweigert, denn anders als die Geschichten verbreiten, ist Viridi seiner Ansicht nach kein Platz, der auf ewig selig bleibt. Unter diesen Umständen fällt es schwer, die Herrscherfamilie dem Volk als geeinte Front zu präsentieren.

Das Klirren von Besteck ertönt und ich werde von Mutter aus meinen Überlegungen gerissen. Für einen kurzen Moment bin ich erleichtert, ehe mir einfällt, dass die Realität kein bisschen rosiger als meine Gedankenwelt ist. »Evaris, hörst du mir überhaupt zu?« Ihre Tonlage ist prinzipiell vorwurfsvoll. Noch nie habe ich sie anders gehört. Ich richte meinen Blick auf meinen Vater, der mit einer Hand die wässrige Suppe löffelt, mit der anderen in einem Buch blättert. Wütend springt Mutter auf und verlässt den Raum. Erst als sie auf dem Weg mit voller Wucht die Tür knallt, welche von der Wand zurückgeschleudert wird und anschließend schief in den Angeln hängt, hebt Vater seinen Kopf. Fragend mustert er mich. Mein Magen antwortet mit einem Knurren. Ich bin immer hungrig. Und zu Besuch in einem der anderen Reiche zu sein, fühlt sich jedes Mal wie eine Reise ins Paradies an, mit den großzügig gefüllten Tafeln und wohlduftenden Speisen, die vor allem in Patriam Somnium besonders auserlesen und exotisch sind.

Seufzend schlägt Vater das Buch zu und Staub wirbelt zwischen den alten vergilbten Seiten auf. Dann schiebt er seinen Teller von sich und faltet die Hände ordentlich auf dem Tisch. »Was ist mir entgangen?«

Augenrollend lehne ich mich zurück und lege leise meinen Löffel ab. Der Hunger ist so groß und nagend, dass er alles einnimmt und ich nicht einmal die Kraft aufbringe, Mutters Zorn über Vater zu teilen. Es füllt unsere Bäuche nicht, wenn wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen. »Wir sind in diesem Jahr an der Reihe, die Feierlichkeiten zum Blutmond auszurichten. Ich denke, dass sie die Organisation mit dir besprechen wollte.« Das anstehende Fest ist auch der Grund für die Einsparungen, die wir machen müssen. Ist es Vater tatsächlich entgangen, dass wir uns schon seit zwei Monaten von kaum etwas ernähren, wofür man Zähne bräuchte? Seinem Blick nach zu urteilen schon. Auf der Suche nach einer Lösung zur Rettung Patriam Praeters hat er sich so sehr in der Recherche und der Vergangenheit verloren, dass er womöglich niemals den Weg zurück in die Gegenwart finden wird. Aber vielleicht ist es einfach unser Schicksal, das Erbe, welches auch ich eines Tages antreten muss.

Der große Tanzsaal, der noch vor wenigen Tagen mit Spinnweben geschmückt war, erstrahlt nun in einem warmen Licht, welches von goldglimmenden Laternen ausgeht, die an der gewölbten Decke schweben. Die Wandmalereien, welche die Geschichte Viridis zeigen, sind nicht länger blass und von Rissen durchzogen, sondern sehen aus, als wären sie erst gestern gezeichnet worden. Alles wirkt … lebendig. Und die Paare, die sich auf der Tanzfläche drehen, ahnen nicht, dass sie sich zu den Klängen einer Lüge bewegen. Der Grund, weshalb wir niemals unangekündigten Besuch empfangen und es nur eine Räumlichkeit gibt, die das ganze Jahr über präsentabel ist.

Ich bahne mir meinen Weg durch die Menge, spiele den galanten Gastgeber, was mir nur mäßig gelingt, doch es reicht, um Mutter zu besänftigen, die mit geröteten Wangen dasselbe auf der anderen Seite der Halle tut, während Vater wieder durch Abwesenheit glänzt und nur die Sterne rund um den Planeten Flavo wissen, wohin er dieses Mal verschwunden ist.

»Nimm dir ein Zimmer, aber nicht in meinem Reich«, knurre ich Hale im Vorbeigehen zu, dessen flinke Finger sich gerade durch die zahlreichen Stofflagen seiner Begleiterin bahnen. Ihr kunstvoll geflochtenes Haar ist pechschwarz und die blasse Haut schreit förmlich Patriam Anxiet. Vermutlich handelt es sich hierbei um eine von Darks Cousinen, denn Hale verfügt über keinerlei Selbsterhaltungstrieb. Ich drehe mich noch einmal um, als ein Schmerzenslaut ertönt, was mir ein zufriedenes Lächeln entlockt. Fergus ist hinter einer der Säulen aufgetaucht und hat Hale mit einem Schwertgriff auf die Hände gehauen. »Wollt Ihr dieses Bürschchen heiraten? Wir können jetzt gleich bei den Herrschern von Patriam Lux vorsprechen«, sagt er an das Mädchen gewandt, dessen Augen sich weiten, ehe es stolpernd die Flucht ergreift.

Schmollend schiebt Hale die Unterlippe vor. »Ist das zu fassen?«, fragt er empört. »Ganz offensichtlich wollte sie nur das eine von mir!« Dramatisch legt er die Hand ans Herz. »Fergus – du hast mir meinen ersten Liebeskummer beschert.« Der Angesprochene verpasst ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, was Hale nur noch verschmitzter grinsen lässt. »Nun bist du mir aber einen Gefallen schuldig!«

Ich wende mich ab, als die beiden diskutierend verschwinden, was bedeutet, dass Hale plappert und Fergus hin und wieder etwas Unverständliches zurückgrummelt. Der Erbe von Patriam Lux hat es faustdick hinter den Ohren und einst sagte er zu mir, dass jede Stunde seines Lebens so lange ein rauschendes Fest sein wird, bis seine Eltern ihn zwingen, sein Erbe anzutreten. Auf ewig kann keiner von uns dieser Pflicht entkommen.

Als Nächstes passiere ich unsere Gäste aus Patriam Somnium und nicke Dream zu, an dessen Lippen gleich fünf kichernde Mädchen mit glasigen Augen hängen. Außerdem sehe ich Yasar und True, die sich angeregt unterhalten, und Dark, der sich in eine der hintersten Ecken zurückgezogen hat und jeden, der sich ihm nähert, mit düsteren Blicken straft. Da ich Konfrontationen immer meide, mache ich einen großen Bogen um ihn. Der Einzige, der den Erben vom dunklen Volk zu verärgern wagt, ist selbstverständlich Hale.

Als liebliches Vogelzwitschern ertönt, will ich wie die meisten anderen den Bereich ansteuern, der unter freiem Himmel liegt, um den Blutmond zu betrachten, doch eine Frau stellt sich mir in den Weg. Freundlich, aber zurückhaltend lächele ich sie an. »Was für ein zauberhafter Abend!«, legt sie sofort los. »Und wie umwerfend alles hergerichtet ist. Meine Tochter und ich fühlten uns sehr geehrt, als die Einladung eingetroffen ist.« Erst jetzt fällt mir auf, dass sie mit einer Hand den Arm einer jungen Frau umklammert. Als ich sie ansehe, kann ich mir nicht erklären, weshalb sie mir zuvor nicht aufgefallen ist. Mutter beschwert sich oft, dass ich genau wie mein Vater nie gänzlich in der Gegenwart lebe, weil die Macht der Vergangenheit zu sehr an meiner Seele zerrt. Je stärker unsere Begabung ausgeprägt ist, desto größer ist ihrer Meinung nach die Bürde, die auf unseren Schultern lastet.

Die Tochter lächelt schüchtern, während ihre Mutter unaufhörlich weiterredet. Die Augen des Mädchens erinnern mich an die einzigartigen Libellenfischteiche in Patriam Somnium und ihr Duft sowie ihr rosafarbenes Haar an die prachtvollen Gärten in Patriam Oculus. Alle Männer, die an ihr vorbeigehen, drehen sich mindestens zweimal um, stolpern ungelenk über ihre eigenen Beine und einer kehrt sogar zurück, wartet in einigem Abstand, um sie bei erster Gelegenheit abzupassen. Doch ihre Aufmerksamkeit gilt mir und die Geräusche um uns herum sind nach kurzer Zeit nur noch kaum wahrnehmbare Laute. Kein einziges Mal blinzelt sie mit ihren langen, dichten Wimpern. Ihre türkisgrünen Iriden funkeln mich an, blenden mich beinahe. Und während Viridi um uns herum verblasst, frage ich mich, ob es ein Fluch ist, so schmerzhaft schön zu sein. Ich kann dich nicht retten, spreche ich in Gedanken zu ihr, weil ich selbst ein Verlorener bin.

Seit den Feierlichkeiten zum Blutmond sind fünf Nächte vergangen und ich verbringe den Abend allein in meinen Gemächern, die lediglich aus zwei Räumen bestehen und mit keinerlei Annehmlichkeiten ausgestattet sind. Ein Gähnen unterdrückend, gleiche ich die karge Ernte mit der vom vergangenen Jahr ab. Beim Umblättern des vergilbten Pergaments schneide ich mich an einem Holzsplitter, der aus dem alten Sekretär herausragt. Fahrig greife ich nach einem nicht sonderlich vertrauenerweckenden Tuch mit schwarzen Flecken und presse es auf die Wunde. Im Palast arbeiten kaum noch Angestellte und die Abwesenheit von Dienstmägden macht sich inzwischen deutlich bemerkbar.

Stöhnend erhebe ich mich und strecke meinen schmerzenden Rücken. Die Müdigkeit sorgt dafür, dass meine Lider sich bleischwer anfühlen, und ich beschließe, mir ein Getränk zu holen, um meine Sinne wach zu rütteln, da unsere Berater den Bericht schon morgen erwarten.

Es kommt nicht oft vor, dass ich mein Leben mit dem der anderen fünf Erben Viridis vergleiche, doch als ich den verlassenen Korridor entlangschlendere, stelle ich mir unwillkürlich vor, wie sie sorglos in ihren Betten liegen, während mich die Unsicherheiten der Zukunft verfolgen.