Grave 1: Höllenschwur und Knochenflut - Henriette Dzeik - E-Book

Grave 1: Höllenschwur und Knochenflut E-Book

Henriette Dzeik

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Beschreibung

Selbst die Hölle hat ein Herz, das es zu retten lohnt!

Die Säulen der alten Welt sind gefallen. Seit Zeus, Poseidon und Hades getötet wurden, sind die Throne der drei Reiche verwaist. Nun liegt die Hölle im Sterben. Und nur einer kann sie retten: Grave – der Bastard der Unterwelt. Von den Göttinnen des Schicksals auserwählt, ist es an ihm, die Erde vor der dunklen Bedrohung zu beschützen. Denn Nyx, die Göttin der Nacht, lauert auf ihre Gelegenheit. Doch für einen allein ist diese Aufgabe zu groß. In Nero, dem schweigsamen Anführer der Halbgötter, findet Grave einen unerwarteten Verbündeten. Zwischen ihnen brodelt ein Feuer, das selbst die Hitze des Hades in den Schatten stellt.

Spicy Boys Love Fantasy zwischen Göttern und Helden. Das Spin-off zur »Flame«-Serie (auch eigenständig lesbar).


//Dies ist der erste Band der »Grave«-Saga. Alle Romane der spicy New Adult Fantasy-Serie im Loomlight-Verlag: 

  • Grave 1: Höllenschwur und Knochenflut 
  • Grave 2: Meereskampf und Kronenfluch (erscheint vrsl. im Dezember 2024)
  • Grave 3: to be announced//

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Das Buch

Selbst die Hölle hat ein Herz, das es zu retten lohnt!

Die Säulen der alten Welt sind gefallen. Seit Zeus, Poseidon und Hades getötet wurden, sind die Throne der drei Reiche verwaist. Nun liegt die Hölle im Sterben. Und nur einer kann sie retten: Grave – der Bastard der Unterwelt. Von den Göttinnen des Schicksals auserwählt, ist es an ihm, die Erde vor der dunklen Bedrohung zu beschützen. Denn Nyx, die Göttin der Nacht, lauert auf ihre Gelegenheit, die Herrschaft an sich zu reißen. Doch für einen allein ist diese Aufgabe zu groß. In Nero, dem schweigsamen Anführer der Halbgötter, findet Grave einen unerwarteten Verbündeten. Zwischen ihnen brodelt ein Feuer, das selbst die Hitze des Hades in den Schatten stellt ...

Band 1 der prickelnden Götterfantasy

Die Autorin

© Privat

Man erzählt sich, dass Henriette Dzeik auf einem Floß treibend von Nixen gefunden, von Hexen entführt und in einem Schloss, das an goldenen Ketten hing, von Feen aufgezogen wurde. Sie kämpfte gegen den Drachen, der diesen schönen Käfig bewachte, und erlangte schließlich durch einen Deal mit einem verrückten Flaschengeist die Freiheit. Heute lebt sie mitt ihrer dämonischen Familie in einem minimalistischen Palast, wo sie auf Papier all ihre Träumereien wahr werden lässt.

Henriette Dzeik auf Instagram:https://www.instagram.com/henriettedzeik/

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Loomlight auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor:innen und Übersetzer:innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator:innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Henriette Dzeik

Grave

Höllenschwur und Knochenflut

Loomlight

Liebe Leserin, lieber Leser,

Graves Geschichte enthält neben expliziten Szenen auch Elemente und Situationen, die triggern können. Diese sind Mord, Tod, Angststörung sowie körperliche und psychische Gewalt. Bitte lies dieses Buch nicht, wenn du denkst, dass diese Themen dich emotional zu sehr aufwühlen könnten.

Für meine Tochter,die in diesem Schreibprozessmein Geheimnis war.

Was ihr wissen solltet,bevor ihr mitdiesem Buch beginnt

Um die Unterwelt ranken sich viele Legenden, doch nicht alle Geschichten wurden niedergeschrieben. Denn manche Wahrheiten sind so gefährlich, dass kein Wesen – tot oder lebendig – es je wagte, sie festzuhalten. Deshalb flüstern die Daimonen und Verdammten bis heute, der Teufel selbst hätte seine Seele niemals verkauft. Dabei ist er einen Handel mit Styx eingegangen, der Göttin des Totenflusses, welcher die Unterwelt neunmal umfließt und die Essenz des Grauens in sich trägt. Wenngleich der König die schöne Persephone, das Mädchen des Frühlings, stahl, sich nach der Sonne sehnte, die sie in ihrem Herzen trug, war die Dunkelheit trotzdem seine Sprache. Und so zwang er sie zu einem Leben in der Finsternis, in der sie nicht mehr blühte, sondern verkümmerte.

Hades konnte nichts anfangen mit etwas – jemandem, der so zerbrochen war. Verstanden fühlte er sich in den Armen von Styx, mit der er seit jeher eine Verbindung hatte. Sie war eine mächtige Göttin und aus diesem Grund verhasst. Man schwieg über ihre Existenz, hoffte, sie würde auf diese Weise in Vergessenheit geraten. Die anderen Herrscher der Unterwelt fürchteten, wozu sie imstande war, würde sie eines Tages die Schwärze ihres Flusses verlassen.

In Hadesʼ unglücklicher Ehe sah Styx ihre Chance, umgarnte ihn mit Worten, versprach ihm einen Erben, den seine Gattin ihm noch immer nicht geschenkt hatte. Obwohl Hades seine Frau Persephone begehrte, sie das Licht war, das er besitzen, aber nicht berühren durfte, vereinigte er sich mit Styx. Bald darauf trug sie sein Kind in sich und verlangte von Hades, Herrscherin über das Reich der Schatten zu werden. Hades willigte ein, doch während Styxʼ Schwangerschaft fortschritt, überkamen Hades Zweifel, denn er hörte die Verlorenen lauter als üblich wispern. Sie erzählten ihm, dass dieser Erbe mehr Macht erlangen – und eines Tages den Thron aus Knochen besteigen würde.

Einige Monate zogen ins Land, und während Styx weitere Forderungen stellte, bereute Hades seine Untreue, suchte Zuflucht bei seiner sanftmütigen Gemahlin, von der er bald erfuhr, dass sie ebenfalls in anderen Umständen war. Erleichterung durchströmte den König der Unterwelt. Er wollte einen Erben. Doch nicht um jeden Preis. Schließlich hatte er sich nie nach jemandem gesehnt, der ihm ebenbürtig war.

Noch vor ihrer Niederkunft suchte Hades Styx im Reich der Schatten auf und tötete sie. Im Anschluss befahl er den Rachegöttinnen, ihren Leichnam zu beseitigen. Die drei Schwestern taten wie ihnen geheißen, brachten Styx zum Friedhof im Reich des Nebels und der Nacht. Sie legten die Göttin des Totenflusses in eines der ausgehobenen Gräber, aber ehe sie Styx mit der ersten Schaufel Erde bedeckten, registrierten sie eine Regung. Das Kind in ihrem Bauch hatte überlebt.

Ungeachtet der Tatsache, dass auch auf sie eine Strafe wartete, sollte Hades jemals von dieser Tat erfahren, schnitten die Erinnyen Styxʼ Sohn aus ihrem Leib. Und während der Kokytos in wenigen Schritten Entfernung klagte, tauften sie den Jungen auf den Namen Grave.

Prolog Lebendiger Tod

GRAVE

Nicht wenige behaupten, der Tod sei still.

Einsam.

Bedeutungslos.

Etwas, das ich nicht bestätigen kann. Denn wer genau hinhört, vernimmt seinen unverwechselbaren Klang, den Rhythmus, den man lediglich zwischen Rauch, Feuer und Dunkelheit finden kann. Als wäre er der Herzschlag, den man beim Betreten der Hölle verloren hat. Mit dem einzigen Unterschied, dass sich nun ein vereintes Pulsieren in unser aller Brust bewegt.

Hier unten ist jeder von uns ein Sklave der Dämmerung. Ein Diener der Uhr aus Flammen, deren Zeiger ihren eigenen Willen besitzen. Deshalb ist die Unterwelt ein Ort der Verbundenheit – nicht der Einsamkeit. Und das sage ich, obwohl ich selbst mein Leben lang unsichtbar war.

Schließlich bin ich der vergessene Schwur, den mein Vater einst der Hölle gab.

Ich bin der Erbe des Knochenpalastes, über dem die Harpyien hungrig und nach Blut lechzend ihre Kreise ziehen.

Doch noch viel mehr bin ich das schwarze Wasser, die Essenz des Styx, welcher die Verstorbenen zu ihrer letzten Ruhestätte trägt.

Mein Name ist Grave – und ich bin der Bastard der Unterwelt.

1 Pläne der Nacht

GRAVE

Durchscheinende Finger streifen meine Arme, doch in dieser Nacht bin ich nicht hier, um die Toten zu tragen. Eine geflügelte Silhouette bewegt sich über mir, was die Frage aufwirft, ob es eine Harpyie auf dem Weg zum Palast aus Knochen oder eine der Erinnyen ist. Ich hoffe auf Ersteres, weil ich Meg, der Rachegöttin, die mich vor zwanzig Jahren aus dem Leib meiner Mutter hob, versicherte, das Reich der Schatten heute nicht zu verlassen. Dabei sollte sie es besser wissen, schließlich zählen in der Unterwelt lediglich Taten und keine Versprechen. Auf die Worte von Daimonen und Verdammten sollte niemand vertrauen. Und obwohl jeder andere vor Megaira, der Zornigen, und ihren beiden Schwestern erzittert, haben die Erinnyen in mir nie Furcht ausgelöst.

Meine Macht als Antrieb nutzend, gleite ich zügiger durch den schwarzen Fluss, dem Ruf folgend, der uns alle ins Zentrum lockt. Gleichzeitig erfasst ein erneutes Vibrieren meine Brust. Es ist, als wäre die Hölle – womöglich auch der Erdkern selbst – in Bewegung. Die Unterwelt hat sich verändert, als Hades starb. Ungeachtet der Tatsache, dass Nyxʼ Söhne Hypnos und Thanatos versucht haben, es zu vertuschen, konnte ich sein Ableben spüren. Den Teil seiner Kraft, der daraufhin ohne mein Einverständnis durch meine Adern floss.

Seit diesem Tag vor wenigen Monaten sind die dunklen Rhythmen und Klänge kaum noch zu vernehmen. Als wäre das Herz, das wir uns alle teilten, verstummt. In manchen Momenten hätte ich dem Mythos des stillen Todes deshalb beinahe zugestimmt, würde nicht zu jeder Stunde das gedämpfte Wispern der Verlorenen an meine Ohren dringen. Sie fordern mich dazu auf, seinen Platz einzunehmen. Ignorieren meine Antwort, dass ich den König hasste. Ich fühle mich mit der Unterwelt verbunden, bin die Essenz des Styx, und trotzdem will ich dieses Erbe nicht. Ich will nichts, was einst mit Hades in Berührung war. Zu sehr lebt in mir die Erinnerung des gebrochenen Schwurs, der nur so lange hielt, bis er meiner Mutter eine Klinge ins Herz gerammt hat.

Als ich mein Ziel erreiche, ist die Silhouette über mir verschwunden. Ich umfasse den mit schwarzem Moos überzogenen Holzpfahl, welcher den Steg stabilisiert. Achtsam taste ich mich voran, und als ich die Oberfläche der Finsternis durchbreche, schlägt eine Welle über mir zusammen, während meine Brust – mein gesamter Körper – erneut vibriert. Ich spucke die dunkle Flüssigkeit des Acheron aus, die bereits dabei war, meinen Hals hinabzukriechen, und blinzele einige schwere Tropfen fort.

Es existieren fünf Flüsse in der Unterwelt – neben dem Styx, der ein Teil von mir ist, als giftig und unverwundbar machend zugleich gilt, gibt es den Acheron, in welchem ich mich in diesem Moment befinde. Er durchfließt das Zentrum des Hades und ist ebenso wie der Styx ein Totenfluss. Der Pyriphlegethon hingegen führt Feuer und Blut statt Wasser. Der Fluss des Wehklagens ist der Kokytos, aus welchem die Toten im Reich des Nebels und der Nacht trinken, das den Urgöttern Nyx und Erebos untersteht und im Nordosten der Unterwelt liegt. Erlösung und Fluch ist die Lethe, deren lockende Substanz Vergessen bringt.

Von meinem Versteck unter dem Steg beobachte ich, wie sich eine goldene Gondel, die – anders als die schwarzen Gefährte – für die Lebenden bestimmt ist, lautlos nähert. »Willkommen daheim.« Die Stimme, die vor Ironie trieft, ordne ich Thanatos zu. »Wollen wir darum wetten, was Mutter Miststück dieses Mal geplant hat?«

»Ich setze zehn Drachmen auf die Herrschaft über die Unterwelt«, knurrt Hypnos, der über das Reich des ewigen Schlafes regiert.

»Zehn Drachmen?«, spottet sein Bruder. »Damit können wir nicht einmal zwei Zyklopen zu einer Runde ›Pyriphlegethon oder stirb‹ herausfordern.«

»Man stirbt in beiden Fällen«, mischt sich eine weitere Person ein. »Es besteht nicht wirklich eine Wahl.« Ich höre, wie die drei aussteigen, und lege den Kopf in den Nacken. Durch den Spalt zwischen den Holzbrettern erkenne ich Lachesis, eine der Schicksalsgöttinnen.

»Klar, aber Zyklopen denken nicht weiter als vom Blut bis zur Ader, von daher …«, erwidert Thanatos unbeirrt und schlendert über den Steg. Lachesis hält abrupt inne. Als ihre kornblumenblauen Iriden mich fixieren, halte ich die Luft an.

Ja … Die Schicksalsgöttin, auch ,Moire‹ genannt, und ihre beiden Schwestern Klotho und Atropos wissen, wer ich bin. Schließlich ist Letztere dafür verantwortlich, den Lebensfaden der Sterbenden zu durchtrennen. Deshalb ist ihnen nicht entgangen, dass der Leib meiner Mutter auf dem Friedhof zurückblieb, ihre Seele sich auf eine neue Reise begab, während ich meinen ersten Atemzug Höllenluft nahm. Die Einzigen, für die meine Existenz neben den Moiren kein Geheimnis ist, sind die Rachegöttinnen Megaira, Alecto und Tisiphone sowie der ehemalige Fährmann Charon, dem Hades einige Jahre nach Styxʼ Tod die Herrschaft über das Reich der Schatten im Südosten der Unterwelt zusprach.

»Vermutlich hat Nyx herausgefunden, dass Hades tot ist«, äußert sich Hypnos. »Kommst du, Lissy? Oder willst du über dem schwarzen Fluss Wurzeln schlagen?« Die kornblumenblauen Augen reißen sich von mir los, ehe die Moire sich leichtfüßig zum Ende des Stegs bewegt. Ihre langen dunklen Haare wehen hinter ihr her.

»Es war nur eine Frage der Zeit«, brummt Thanatos. »Die Illusion, die Apate um seine Gemächer gesponnen hatte, war schon seit Wochen dabei zu verblassen.«

»Außerdem hat er wirklich schlimm gerochen«, murmelt Lachesis. »Nichts, was man auf lange Sicht verbergen kann.«

»Nicht vor einer Schnüfflerin wie Mutter Miststück.« Hypnos schnaubt belustigt, ehe er wieder ernst wird. »Es war ein Fehler, nicht die Stellung im Palast zu halten.«

»Die Ursache für den Zerfall der Hölle zu finden, hat Priorität. Wir können nicht überall sein«, rechtfertigt sich Thanatos. »Jeden Tag spüre ich, wie meine Macht schwindet. Als würde ich versuchen, durch einen Schleier nach meiner Kraft zu greifen.«

»Die Welt ist in Bewegung. Alles verändert sich«, bestätigt Lachesis eindringlich.

»Ich find’s gruselig, wenn du das mit deiner Schicksalsgöttinnen-Stimme sagst«, erwidert Thanatos. Hypnos’ Lachen, das folgt, klingt bereits weit entfernt.

Ich tauche ein Stück unter, sodass die nun seichten Wellen des Acheron meine Nasenspitze berühren. Aufmerksam mustere ich meine Umgebung, bevor ich mich am Rand des Stegs emporziehe. Die Sohlen meiner zerschlissenen Stiefel geben ein Knarzen von sich, sobald sie das Holz berühren und ich mich aufrichte. Zusätzlich erklingt ein leises Zischen, als die Hitze, die seit Hadesʼ Ableben an mir haftet, mein mit Löchern übersätes Shirt und meine Hose trocknet. Dann setze ich mich in Bewegung, als wäre es selbstverständlich, mich derart offen zu zeigen. Als hätte ich nicht den Großteil meines Lebens im Reich der Schatten zwischen den Todesfeen oder in der Schwärze des Styx verbracht.

Obwohl ich denke, dass ich den Sprung nicht schaffe, nehme ich Anlauf und hechte von der fahrenden Gondel in Richtung Kaimauer. Mein Mund öffnet sich zu einem Laut der Überraschung, als meine Knie hart auf dem heißen Stein aufschlagen und ich mit der Stirn gegen eine Hauswand stoße. Für einen Moment tanzen schwarze Punkte vor meinen Augen und ich kneife mehrmals die Lider fest zusammen. Unkoordiniert suche ich mit meinen Händen Halt, als ich das Gleichgewicht verliere und beinahe in den Acheron stürze. Erleichterung durchflutet mich, als ich einen Knauf fassen kann, welcher zur Befestigung der Gondeln dient. Angespannt atme ich aus, ehe ich auf die Füße komme, was nicht verhindert, dass meine Beine zittern, obwohl ich von Meg gelernt habe, dass die Hölle kein Ort ist, an dem man mit Schwäche überleben kann. Und manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt am Leben – oder lediglich eine der verlorenen Seelen bin, die dazu verflucht sind, in den dunklen Gewässern ihre Ewigkeit zu fristen.

Sobald ich meine Balance zurückgewonnen habe, setze ich einen Fuß vor den anderen, bewege mich eilig über die Kaimauer, während ich spüre, wie die Platzwunde an meiner Stirn heilt. Es ist nicht das erste Mal, dass ich das Reich der Schatten verlasse, wenngleich Megaira darauf besteht, dass ich noch zu jung bin, um mich in der Hölle zu bewegen oder Styxʼ Erbe anzutreten. Für gewöhnlich ist es Tisiphone, die Mitleid mit mir hat und mich nach draußen schmuggelt, um mir die Unterwelt zu zeigen. Und manchmal lässt sie sich erweichen, berichtet mir ein wenig mehr von meiner eigenen Geschichte, die mir fremd und so weit entfernt wie der Tartaros erscheint.

In ihren Erzählungen erwähnt sie, dass ich eigentlich der Sohn des Königs bin und im Palast aus Knochen aufwachsen sollte. Von Tisiphone weiß ich allerdings auch, dass das Schicksal seine Meinung ändern kann. Und dass ich aus diesem Grund nur ein vergessener Bastard bin. Ein neugieriger noch dazu, wie sie mich häufig neckt. Alecto, die Unerbittliche im Trio der Rachegöttinnen, wirft daraufhin stets ein, dass Neugierde und Beharrlichkeit gute Eigenschaften sind, weshalb ich nicht mit meinen Fragen aufhöre. Nicht selten glaube ich sogar, dass niemand die Legenden der Unterwelt besser kennt als ich, obwohl ich mich meist nur wie ein Zuschauer fühle. Doch heute möchte ich mehr, als nur aus einem der Fenster der Schattenburg zu schauen. Ich will den Knochenpalast erkunden und womöglich sogar einen Blick auf Hades werfen.

Ich biege auf den großen Vorplatz ein und erklimme mit wild klopfendem Herzen die Treppenstufen, welche von Skulpturen gesäumt werden, auf denen einige Harpyien sitzen. Sobald ich die beiden Wächterdaimonen am Eingang erreiche, ziehe ich den Brief hervor, den ich mit einem recht stümperhaften Wachssiegel versehen habe, und halte ihn vor mich. »Eine Nachricht von der Göttin der Nacht an den König der Unterwelt«, sage ich mit leiser, aber fester Stimme. Gleichzeitig richte ich meinen Blick demütig zu Boden, genau wie Tisiphone es mich gelehrt hat. Sie hat mir außerdem eingebläut, mich außerhalb des Schattenreichs wie ein Geist zu bewegen und niemals Aufmerksamkeit zu erregen.

»Beeil dich, Botenjunge«, spricht einer der Daimonen nach wenigen Sekunden und tritt zur Seite.

Meine Beine setzen sich in Bewegung, als wüsste ich tatsächlich, wo sich mein Ziel befindet. Gleichzeitig durchzuckt mich Überraschung, dass sie mir einfach Einlass gewähren. Vermutlich vermittelt mein Erscheinungsbild nicht unbedingt den Eindruck, als hätte ich Ärger im Gepäck. Vor allem Alecto brummt häufig, dass sie nicht weiß, wie viel Essen sie mir noch bringen soll, damit ich nicht mehr wie eine verhungerte Vogelscheuche aussehe. Doch nach einigen von Tisiphones Erzählungen fühle ich mich auf eine gute Weise anders. Vielleicht, weil sie mich in ihnen größer erscheinen lässt, als ich es in Wahrheit bin. Als ich es jemals sein werde. Dann rügt Meg ihre Schwester und behauptet, sie hätte zu viel Fantasie. Im Stillen stimme ich ihr jedes Mal zu, und trotzdem genieße ich die Momente, in denen ich es mir zu denken erlaube, dass ich mehr als bloß ein Bastard bin.

Deshalb straffe ich die Schultern, werfe keinen Blick zurück, laufe stattdessen über den dunkelroten Samt, der den gesamten Boden bedeckt und aussieht wie ein Meer aus Blut. Verschlungene Kreise überziehen die Wände des Palastes und zeigen keineswegs die Knochen, die er nach außen hin trägt. Die Muster wirken wild und unzähmbar, als wären sie lebendig und das Chaos selbst.

Laut Tisiphones Beschreibung müsste der linke Gang in den Thronsaal führen, doch mich lockt die Treppe auf der rechten Seite. Erneut scheinen meine Füße ihrem eigenen Willen zu folgen. Kurz darauf erklimme ich die Stufen. Auch sie sind von Samt überzogen, der sich weich unter meinen Sohlen anfühlt. Meine Handinnenflächen sind schweißnass, trotzdem lasse ich meine Fingerspitzen über das vergoldete Geländer gleiten. Vermutlich ist es das Kostbarste, was ich je berührt habe.

Am oberen Treppenabsatz angekommen, stoppe ich unschlüssig, mustere meine Umgebung, die nach wie vor aus dunkelroten und goldenen Farben besteht. Aus Zeichen, Kreisen, Mustern und Chaos. Aus Kronleuchtern und Kerzen, die Funken sprühen. Die dunklen Rhythmen, die schwermütigen Klänge, welche man überall in der Hölle vernehmen kann, vibrieren hier derart stark in meiner Brust, als wollten sie meinen Herzschlag mit ihrer Finsternis verführen.

»Hallo.«

Eine Stimme unterbricht meine Gedanken und ich zucke heftig zusammen. Gleichzeitig reiße ich meine Lider auf, von denen ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal bemerkt habe, dass ich sie geschlossen hatte. In etwa zehn Schritten Entfernung, vor einem wehenden Vorhang, der die Sicht auf einen Balkon aus Knochen freigibt, steht ein Mädchen. Neben ihr liegt Kerberos, der Höllenhund. Ich kenne ihn aus Tisiphones Erzählungen, doch jetzt, wo ich ihn von Nahem sehe, denke ich, dass sie in ihren Beschreibungen untertrieben hat. Er ist riesig. Einen seiner drei Köpfe hat er gehoben, beobachtet mich aufmerksam. Und obwohl er in dieser Sekunde einen friedlichen Eindruck macht, erscheint es mir, als wäre ich seine Beute, die er taxiert. Reglos harre ich an Ort und Stelle aus, denn ich bezweifle, dass er sich nach wie vor so ruhig verhalten würde, wenn ich den Abstand zwischen dem Mädchen und mir verringere.

Während sie mit schräg gelegtem Kopf meine Antwort abwartet, begegne ich zum ersten Mal ihren Augen. Das eine ist aschgrau, das andere hat die Farbe von Bernstein. Es ist faszinierend, und je länger ich hinschaue, desto sicherer bin ich mir, dass ich mich nicht mehr abwenden kann. Als wäre ich in einer Art Zauber gefangen. Gleichzeitig wehen die Vorhänge des Balkons stärker ins Innere des Palastes, bis der Windhauch ihren kurzen schwarzen Locken schmeichelt, sodass die einzelnen Strähnen sanft ihr Gesicht umschweben.

»Mein Name ist Flame. Kerberos und ich wollten gerade Suchen und Finden spielen. Möchtest du uns Gesellschaft leisten?« Meine Brauen schnellen überrascht in die Höhe und ich frage mich, ob es eine Falle ist. Ich weiß, wer sie ist. Einer der Gründe, aus dem Hades meine Mutter getötet hat. »Wie heißt du?«, bohrt sie weiter, und nun zucken meine Mundwinkel. Vielleicht, weil ich trotz des Schmerzes, der an mir nagt, meine Neugierde in ihr entdecke.

»Niemand.« Ich erstarre, als Flügelschlagen ertönt und Megaira an meiner Seite landet. Eine Hand an meinen Rücken gelegt, schiebt sie mich vorwärts, weg von der Treppe, in die entgegengesetzte Richtung des Mädchens. »Er ist niemand, Prinzessin.« Flame mustert mich, als würde sie mich mit ihren einschüchternden Augen fragen, ob die Rachegöttin die Wahrheit sagt. Krallen bohren sich in mein Schulterblatt und ich bringe ein Nicken zustande.

»Ich schulde Euch einen Gefallen, wenn Ihr unseren Besuch gegenüber dem König und der Königin unerwähnt lasst.« Nie zuvor habe ich gesehen, dass Meg vor jemandem den Kopf neigt, doch sie tut es vor der Prinzessin, von der Tisiphone flüstert, dass sie meinen Platz gestohlen hat.

Flame kniet sich neben den Höllenhund, der kurz darauf einen seiner Köpfe in ihren Schoß bettet. »Kerberos und ich sind gut darin, Geheimnisse zu bewahren«, murmelt sie leise, als würde sie gegen eine Regel verstoßen. Der Rachegöttin scheint ihre Antwort als Absicherung zu genügen, denn sie bedeutet mir, auf ihren Rücken zu klettern, ehe sie an eines der hohen Fenster tritt. Ich folge ihrer Aufforderung, schaue lediglich ein letztes Mal zurück, bevor Meg auf die Fensterbank springt, in die Knie geht und sich abstößt. Fast bilde ich mir ein, dass die Lippen der Prinzessin stumme Worte des Glücks formen. Als würde sie mir an einem verfluchten Ort etwas Gutes wünschen. Erst als wir über den Vorplatz des Palastes fliegen, Megs Schwingen mich vor den Blicken der Wächterdaimonen schützen, fällt mir auf, dass ich keinen einzigen Ton von mir gegeben habe. Vielleicht bin ich tatsächlich der Geist, der Tisiphone mich bittet zu sein.

»Du solltest froh sein, dass du nicht an ihrer Stelle bist«, spricht Megaira gegen den heißen Wind, der dafür sorgt, dass meine Kleidung unangenehm an meinem Körper klebt. »Der König der Unterwelt ist unberechenbar.«

»Und du solltest am besten wissen, dass auch die Toten Ohren haben«, erwidere ich, beobachte die durchscheinenden Gliedmaßen, die im Acheron treiben. »Ich wollte nur ein einziges Mal den Palast betreten.«

»Dort bist du nicht willkommen.«

»Aber was würde passieren, wenn Vater mich sieht? Wenn er nicht glauben würde …« Ich schlucke, weil meine Kehle plötzlich trocken ist.

»Du würdest sterben, ebenso wie Styx.«

Als ich von der Seite angerempelt werde, blinzele ich die Erinnerungen fort und stoße denjenigen, der gegen mich geprallt ist, zurück, sodass er mit einem Laut der Empörung in den Acheron fällt. Ja, ich sehe nach wie vor aus wie ein Herumtreiber, aber ich bin nicht der schmächtige Junge von damals. Und mittlerweile weiß ich auch, dass ich mehr als nur ein Geist bin. Schließlich bin ich in jener Nacht nicht in diesem Grab gestorben.

Ich überwinde die letzten Meter zum Vorplatz und schaffe es, mich zwischen den Anwesenden bis zu einer der größeren Statuen vorzukämpfen, stabilisiere mich am Unterarm des steinernen gehörnten Wesens und steige zu ihm auf den Sockel.

Mehrere Wächterdaimonen, welche die dunkelblaue Lederkluft des Reichs des Nebels und der Nacht tragen, trennen die Menge von Nyx, der Urgöttin der Nacht, die an der Eingangsschwelle des Knochenpalastes steht. Ihr Gemahl Erebos sowie die anderen Herrscher, zu denen Charon, Hypnos und Thanatos gehören, stehen ein wenig abseits. Ihre Mienen sind vollkommen starr, sodass ich nicht in ihnen lesen kann. Lediglich Tartaros, der über das Reich des grausamen Todes regiert, ist nicht gekommen. Dafür halten sich die drei Schicksalsgöttinnen ganz in der Nähe auf, während Megaira, Tisiphone und Alecto mit ihren ausgebreiteten Schwingen, die dem Gefieder von Raben gleichen, auf den Geländern der Balkone aus Knochen verharren. Ihre Haare sind leuchtend rot wie eine Warnung, und es sind Alectos elektrisierende Iriden, die mich als Erstes finden, doch in ihnen liegt keinerlei Regung. In der Öffentlichkeit habe ich mit nichts anderem gerechnet. Sie stehen im Dienst der Göttin der Nacht, werden gefürchtet als ihre todbringenden Vollstreckerinnen. Doch dass in Wahrheit auch sie unruhig sind, erkenne ich an Tisiphones zuckenden Flügeln und dem angespannten Zug um Megs Mund.

Es ist seit geraumer Zeit kein Geheimnis, dass Nyx die Macht an sich reißen will. Allerdings konnte sich niemand von uns das Beben erklären, das die Unterwelt vor wenigen Stunden erfasste und uns glauben ließ, der Hades würde über unseren Köpfen zusammenstürzen. Und es liegt nahe zu vermuten, dass die Göttin der Nacht etwas damit zu tun hat, weil Alecto gestern sah, wie sie die Hölle verließ. Nicht über die Felsspalte, vor der seit einigen Wochen zu jeder Zeit die Zyklopen wachen, sondern über ein Portal, das Helena für sie erschaffen hat. Die Magierin stammt aus derselben Blutlinie wie Hekate und bedeutet für gewöhnlich Ärger, weil sie dunkle Zauber ausübt. Es ist besser, sie zu meiden, allerdings auch nicht überraschend, dass Nyx sich mit ihr umgibt, während sie offenbar dabei ist, sich ihren eigenen Hofstaat aufzubauen. Manchmal denke ich, dass meine Zeit, die Hölle zu verlassen, schon lange gekommen ist. Gleichzeitig bin ich der Styx und somit ein Teil der Unter- und nicht der Oberwelt. Ich wüsste nicht einmal, was mich hinter den Grenzen des Hades erwartet. Und ob ich überhaupt gehen könnte.

Von dem Turm der Feueruhr ertönt ein tiefer Klang, vermutlich Helenas Werk. Erst als sich eine gespenstische Stille über den Vorplatz des Palastes legt, realisiere ich, dass zuvor Stimmengewirr geherrscht hat. Keiner der Versammelten gibt nunmehr ein Geräusch von sich, und als ich einen Blick über die Schulter werfe, entdecke ich, dass sich auf dem Acheron die Gondeln stauen, voll besetzt mit den Daimonen, die ihre Reiche verlassen haben, um dem Ruf der Harpyien ins Zentrum zu folgen. Die Anspannung, die über uns liegt, ist heiß und schwer, als hätte man die Luft um uns herum mit dem Pyriphlegethon getränkt.

»Bewohner der Hölle«, ergreift Nyx das Wort, als ich meine Zähne bereits so fest aufeinandergebissen habe, dass mein Kiefermuskel schmerzhaft zuckt. Kurz wandern meine Augen zu ihren Söhnen, und nun bin ich mir ziemlich sicher, Abscheu in Thanatosʼ Zügen zu lesen. Wobei auch Hypnos nicht sonderlich begeistert wirkt. Im selben Moment trifft mich Charons Blick. Er runzelt die Stirn, als würde er überlegen, ob ich eine Todessehnsucht hege, weil ich mich auf diesem Platz aufhalte oder weil ich mich der Anweisung der Erinnyen widersetzt habe. Er würde sein Wort niemals gegen das der drei Schwestern stellen, die mich großgezogen haben. Allerdings ist der Grund dafür nicht Furcht, sondern die Tatsache, dass er Tisiphone den Hof macht und … tja, dem ehemaligen Fährmann der Toten wurde es nicht in die Wiege gelegt, wie man eine Frau umwirbt. Erst vergangene Woche hat er ihr ein geflochtenes Armband aus dem Haar einer tausend Jahre alten Todesfee geschenkt, was einerseits ein mächtiger Talisman, andererseits einfach nur eklig ist. Zumal eine Feuerspinne ihre Eier darin abgelegt hatte und die Kleinen mit dem Schlüpfen nicht lange warteten.

»Poseidon starb vor über zweihundert Jahren«, zerrt Nyxʼ schnarrende Stimme mich zurück in die Gegenwart. »Sein Tod leitete den Zerfall des Herrschergeschlechts der alten Welt ein. Hades, der König der Unterwelt, ist seinem Bruder nun gefolgt.« In meinen Ohren breitet sich ein Rauschen aus, als würde eine weitere Welle des Acheron über mich schwappen. Warum lässt die Urgöttin es klingen, als wäre es erst kürzlich geschehen, nicht schon vor Monaten? Glaubt sie das wirklich oder gehört es zu ihrem Plan? »Doch das ist nicht alles.« Nyxʼ Stimme wird lauter, um bis in den letzten Winkel der Hölle zu dringen. »Vergangene Nacht bin ich in das Verlies eingedrungen, in welchem die neuen Götter Zeus gefangen hielten.« Sie macht eine Pause, um ihren Worten noch mehr Gewicht zu verleihen. »Ich bin hier, um euch zu verkünden, dass ein neues Zeitalter anbricht. Ich habe es eingeleitet, als mein Speer Zeusʼ Herz durchbohrte.« Langsam begreife ich, was das Beben vor wenigen Stunden ausgelöst hat. Zeus – der einstige König der Götter – ist tot.

Zustimmendes Gemurmel ertönt, allerdings entgeht mir nicht, dass es von Nyxʼ Garde sowie von den Hohedaimonen und ihren Familien kommt, die auf ihrer Seite stehen. Neben den Toten, die in die Unterwelt einkehren, leben hier Götter, Urgötter. Daimonen und einige magische Kreaturen, wie die Zyklopen, Harpyien oder Todesfeen. Die Daimonen selbst unterteilen sich in verschiedene Gruppierungen – so gibt es die Hohedaimonen, die im Zentrum des Hades zu Hause sind, und die niederen Daimonen, welche in den Reichen der einzelnen Herrscher wohnen. Es existieren auch Kreuzungen aus Tieren und Daimonen oder solche, die aus einer Verbindung mit einer Gottheit hervorgegangen sind und aus diesem Grund zur Hälfte von daimonischem und zur anderen Hälfte göttlichen Blutes sind. Ein Beispiel hierfür sind Hypnos und Thanatos, deren Vater nicht der Urgott Erebos ist.

»Das Ende von Kronosʼ Söhnen ist nun besiegelt”, frohlockt Nyx. »Ebenso wie die Titanen müssen die Olympier ihren Rückzug antreten.«

Erneutes Gemurmel, und ich habe nicht das Gefühl, dass die niederen Daimonen begeistert sind. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Bewohner der Unterwelt vor Veränderungen zurückschrecken. Womöglich ist es auch die Tatsache, dass wir alle das drohende Unheil gespürt und gesehen haben, wie die Hölle auseinanderfällt – ihren einstigen Glanz verliert. Nyxʼ Rede, wenngleich sie so eingenommen von sich selbst ist, dass sie es nicht bemerkt, ist der Moment, den viele gefürchtet haben. Obwohl sie behauptet, ein neues Zeitalter einzuläuten, bedeutet das – zumindest in ihren Händen – eher einen Untergang.

Nyxʼ lässt ihren Blick über die Menge schweifen. Eine Strähne ihres schwarzen Haars hat sich aus dem strengen Dutt gelöst, der ihre markanten Gesichtszüge betont. »Aber das Ende geht auch Hand in Hand mit einem Anfang. Und der Anfang sind die Urgötter und ihre Elemente: Gaia, die Mutter Erde; Uranos, der Himmel; Pontos, das Meer; Thalassa, die See; Aither, das Licht; Hemera, der Tag; Erebos, die Finsternis und ich – die Nacht. Wir sind das einzige göttliche Geschlecht, dem es bisher tatsächlich gelungen ist, die Ewigkeit zu überdauern.« Ein siegessicheres Lächeln umspielt nun ihre Lippen, und aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, dass Tisiphones Flügel ein weiteres Mal zucken. »Als die zweitälteste Urgöttin sehe ich mich in der Pflicht, Hadesʼ Erbe anzutreten. Und ich versichere jedem Einzelnen, der heute hier anwesend ist, dass uns Großes erwartet. Ein Teil der Hölle mag mit Hades gestorben sein und wir sollten es als ein Zeichen betrachten. Als ein Zeichen dafür, dass die Unterwelt sich erhebt. Wir haben lang genug in den Armen der Erdgöttin gelebt. Ich werde euch in eine Zukunft führen, in der wir nicht mehr übergangen werden.«

Die Hohedaimonen pfeifen zustimmend. Ich bin mir sicher, dass sie die Tragweite von Nyxʼ Worten nicht einmal annähernd begreifen. Sie spricht von einem Krieg mit der Oberwelt, während die Hölle im Sterben liegt. Sie ist der Meinung, dass ihr mehr zusteht als ein Leben in der Unterwelt. Dass sie als Urgöttin zu Höherem geboren wurde, als umgeben von Daimonen und den Seelen der Toten in Vergessenheit zu geraten. Zwar ist Nyx nicht zu unterschätzen, schließlich hat sie Jahrtausende überdauert, doch an diesem Punkt spricht Größenwahn aus ihr – und eine Sehnsucht, die sie vermutlich seit einer Ewigkeit in sich trägt: unermessliche Macht zu erlangen und Herrscherin über diese Welt zu werden. Allerdings ist ihr Einschätzungsvermögen durch ihre Gier getrübt. Denn ja, es gibt eine Armee – die Krieger leben unter der Herrschaft von Tartaros, der sich seinen Namen mit dem tiefsten Punkt der Unterwelt teilt, im Reich des grausamen Todes, doch ich bezweifle, dass sie der Göttin der Nacht folgen werden. Tartaros besitzt seinen eigenen Kopf, und von dem, was ich mitbekommen habe, hat er sich sogar Hadesʼ Willen kaum gebeugt.

»Was ist mit den neuen Göttern?«, ruft jemand sehr Mutiges – oder sehr Dummes – Nyx zu. Andererseits ist es eine berechtigte Frage, schließlich kamen sie zu Zeiten des heißen Krieges von einem fernen Planeten auf die Erde und kämpften an der Seite von Poseidon gegen seinen Bruder Zeus und gegen Chaos. Poseidon starb in dieser Schlacht – ebenso sein Verbündeter Okeanos, der Titan des Urstroms, der aus der urgöttlichen Linie von Uranos abstammt. Die neuen Götter hingegen überlebten und teilten die Oberwelt unter sich in sechs Reiche auf. Seitdem gab es zwar einige Schwierigkeiten, über deren Details ich nicht gänzlich im Bilde bin, weil die Informationen, die von der Erde in die Unterwelt fließen, stets einen langen Weg hinter sich haben. Allerdings bezweifle ich, dass die neuen Götter sich Nyx einfach so ergeben werden.

»Die neuen Götter sind Eindringlinge. Sie gehören nicht hierher.«

»Und die Prinzessin?«, ruft ein Weiterer aus der Menge. »Was ist mit Hadesʼ Tochter? Sie ist die rechtmäßige Erbin.«

»Fehler«, murmele ich kaum hörbar. Diese Frage wird ihn heute Nacht den Kopf kosten. Vermutlich wird Meg den Job erledigen. Mehr als einmal habe ich die Rachegöttinnen gefragt, warum sie es tun. Weshalb sie für Nyx arbeiten. Ihre Antwort lautete, dass die Grenzen zwischen Recht und Unrecht an einem Ort wie der Hölle stets verschwommen sind. Und dass man immer die Nähe der potenziell größten Gefahr suchen sollte, weil Überleben auf diese Weise funktioniert.

»Flame«, spuckt Nyx den Namen förmlich aus, »ist nicht hier. Sie hat längere Zeit dort oben als in unseren Reihen gelebt. Außerdem hat meine Schwester Gaia, die mein Ohr in der Oberwelt ist, mir zugeflüstert, dass Hades kein lebendes Kind besitzt.« Ein überraschtes Raunen geht durch die Menge. »Persephone hat den König damals hintergangen.« Interessant. Offenbar hat Nyx die Wahrheit über die vermeintliche Erbin der Unterwelt herausgefunden. Mit der Zeit erfährt man viele Dinge, wenn man der Styx ist und den Gesprächen der Mitfahrenden in den schwarzen und goldenen Gondeln lauscht, die glauben, dass sie ungestört sind und der Totenfluss nichts mit ihren Geheimnissen anzufangen weiß.

Keine Kenntnis hingegen hatte ich über das Bündnis zwischen Nyx und Gaia, von der ich annahm, dass sie sich in einem Schlaf befindet. Doch gleichzeitig beruhigt es mich, dass beide irren. Schließlich gibt es mich.

2 Wir haben einen Deal

LACHESIS

Obwohl ich mir die größte Mühe gebe, kann ich nicht aufhören, ihn anzuschauen. Er ist groß gewachsen, breitschultrig und hat dennoch einen athletischen Körperbau. Sein schwarzes Haar ist kurz geschoren und an seinem rechten Lid befindet sich eine Narbe, die ihm etwas Verwegenes verleiht. Sein Gesicht ist so symmetrisch, als hätte Aphrodite es vor ihrem Tod selbst gezeichnet, und seine Iriden haben die Farbe des Styx, mit dem einzigen Unterschied, dass ein dunkelroter Zirkel beide Pupillen umgibt.

Der Sohn des Hades ist jemand, der heraussticht, der anders wirkt. Da hilft es auch nichts, dass er sich halb hinter der Statue verbirgt. Denn ich sehe ihn. Klarer und deutlicher als je zuvor. Ihn und das Geheimnis, das meine Schwestern und ich bewahren, seit wir das Leben in Styxʼ Leib gespürt haben, das entgegen Hadesʼ Willen nicht in dem Grab auf dem Friedhof im Reich des Nebels und der Nacht starb. Für die Zukunft der Hölle war es wichtig, dass die Essenz des Totenflusses weiterbesteht. Falsch wäre es gewesen, den unschuldigen Jungen in den Tod zu schicken. Trotzdem sorgt seine Anwesenheit dafür, dass noch einmal alles anders wird. Und dass er vielleicht die Lösung ist, nach der Hypnos, Thanatos, meine Schwestern und ich monatelang gesucht haben. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich der Wille des Schicksals oder Ironie ist, dass stets die Kinder der Hölle, die Erben der Finsternis, Heilung bringen.

Seit ich durch die Lücke zwischen den Holzbrettern im Steg in seine Augen geblickt habe, ist es, als würden die Pfade des Schicksals tanzen. Da ist so viel, das ich plötzlich … erkenne, was zuvor im Nebel lag. Ich bin keine Seherin, was ich verspüre, sind Vorahnungen. Doch nach unserer Begegnung vor Nyxʼ Ansprache bin ich mir fast sicher, in welche Richtung wir uns bewegen. Es ist nicht länger, als würde ich im lockenden, aber trüben Wasser der Lethe fischen. Dennoch fällt es mir schwer einzuschätzen, wer Grave wirklich ist, und welche Absichten er verfolgt. Auf welcher Seite er in Wahrheit steht, wo er für so lange Zeit zurückgezogen lebte – genau wie seine Mutter zu ihren Zeiten. Zudem wurde er von den Rachegöttinnen aufgezogen, die Nyx dienen. Meine Schwestern und ich vermeiden den Kontakt zu ihnen, weil wir sehr verschieden sind. Einzig über Thanatos weiß ich, dass er sich manchmal mit Alecto herumtreibt. Allerdings bezweifle ich stark, dass es dabei um gemeinsame Interessen geht. Überhaupt bezweifle ich, dass bei dieser Art von Treffen besonders viel geredet wird.

»Aber die Unterwelt ist von einer Krankheit befallen!«, wird eine weitere Stimme aus der Menge laut. »Was werden wir dagegen unternehmen?«

»Dass die Unterwelt von einer Krankheit befallen ist, ist ein albernes Gerücht.« Nyxʼ Stimme hallt derart laut über den Platz, dass ich kaum merklich zusammenzucke. Als hätte Hypnos es gespürt, wirft er einen Blick über die Schulter, lässt ihn über mich gleiten. Ich kann nicht verhindern, dass meine Knie dabei weich werden.

»Dann hat sich ein böser Zauber der Hölle bemächtigt!«, ruft ein anderer Daimon. »Es ist, als würde uns jemand sämtlicher Kräfte berauben! Jeden Tag werden wir schwächer.« Bei seinen Worten bricht ein Tumult aus, die Masse nähert sich dem Palast, sodass Nyxʼ Garde beginnt, die Menge zurückzudrängen. Sie sind zwar in der Unterzahl, doch aus dem Augenwinkel registriere ich, dass Helena ihre Hände bewegt, silberne Fäden spinnt, die in Richtung jener wandern, die gegen Nyx rebellieren. Es fällt mir schwer, nicht die Nase zu rümpfen. Magierinnen zählen ebenfalls nicht zu der Gesellschaft, die ich mir freiwillig aussuchen würde. Ich bin noch keiner ihrer Art begegnet, die tatsächlich edle Absichten hegte.

»Meine Krönung findet in drei Feuermonden statt«, ignoriert die Urgöttin die Proteste. Anschließend wendet sie sich ab und bedeutet den Herrschern der anderen Reiche, ihr in den Palast zu folgen. Als würde sie glauben, dass dieser tatsächlich ihr gehört. Als hätte irgendwer außer ihr alledem zugestimmt. Dass sie Zeus getötet hat, klingt wie ein böser Traum. Somit ist keiner der drei Herrschergötter der alten Welt mehr am Leben. Allein aufgrund ihrer Gier hat die Urgöttin die Erde aus dem Gleichgewicht – uns alle in Gefahr gebracht.

Ich schlucke schwer, während ein dumpfer Schmerz hinter meinen Schläfen pocht. Mir ist bewusst, dass es meinen Schwestern ebenso ergeht – ihr Schulterblatt brennt und juckt, das wie meines mit dem Mal des Lebensbaums versehen ist. Seit Hadesʼ Tod ist unsere Macht nicht mehr, wie sie einst war. Und keine von uns versteht, weshalb wir es nicht kommen sahen. Warum wir das Problem – ungeachtet der Tatsache, dass Monate vergangen sind – noch immer nicht gelöst haben. Es quält mich, weil ich mich durch die Gabe, die Klotho, Atropos und ich teilen, verantwortlich fühle.

In den Geschichten und Legenden dieser Zeit werden wir als Spinnerinnen bezeichnet. Was wir spinnen, sind die Lebenstage, bis das Schicksal entscheidet, einen Lebenstag in einen Todestag zu verwandeln. Klotho ist der Geburt und der Entstehung am nächsten, während ich spüre, welche Rolle jeder von uns zu erfüllen hat. Atropos hingegen ist mit dem Ende verbunden und wird deshalb auch ›die Todesmoira‹ genannt, wenngleich sie selbst diesen Titel verabscheut.

Ein wenig erscheint es mir deshalb, als hätte ich versagt. Eine Schicksalsgöttin sollte nicht vom Schicksal überrumpelt werden. Finger schieben sich unter mein Kinn, heben es sanft an, sodass ich in Hypnosʼ zitronengelbe Iriden blicke. Strähnen seines mittelbraunen Haars fallen ihm in die Stirn und es juckt in meinen Fingern, sie zur Seite zu streichen. »Sieh mit deinen Schwestern in Hadesʼ Gemächern nach, ob euch irgendetwas auffällt, das für uns wichtig sein könnte. Wir treffen uns anschließend in eurem Haus«, raunt er in mein Ohr, ehe er sich rasch zurückzieht und den anderen in den Palast folgt. Es ärgert mich selbst, dass ich seine Berührung noch Sekunden später spüre, ihm hinterherstarre, während er kein einziges Mal zurückschaut.

Es ist Atropos, die mich schließlich aus meinem tranceartigen Zustand reißt, ihre Hand auf meine Schulter legt. Gemeinsam rufen wir den Nebel, wechseln den Ort innerhalb eines Wimpernschlags, wozu in der Hölle nur Tartaros, meine Schwestern und ich in der Lage sind. Der König der Unterwelt besaß diese Fähigkeit auch, und ich frage mich, ob sie auf seinen Sohn übergegangen ist.

Wir landen im Empfangsbereich von Hadesʼ Gemächern. Rasch kontrolliere ich, dass die Flügeltür verschlossen ist. Klotho und Atropos sichern die Türen rechts und links von uns ab, hinter welchen sich ein Baderaum sowie ein Waffenzimmer befinden. Dann drücke ich die Klinke herunter, die zum Schlafgemach führt. Die Zauber, die Eindringlinge zu Lebzeiten des Königs ferngehalten haben, wirken nicht mehr, und auch Apates Illusion, welche die Daimonin der Täuschung, die in der Oberwelt lebt, kurz nach Hadesʼ Tod webte, um die Neuigkeit vor Nyx zu verbergen, ist verblasst. Der Geruch von Kräutern und Fäulnis tränkt die Luft, als wir über die Schwelle treten. Übelkeit steigt in mir auf, als ich daran zurückdenke, wie meine Schwestern und ich versucht haben, den Verwesungsprozess von Hadesʼ Körper zu verlangsamen. Auch Atropos neben mir würgt, presst ihren Unterarm über Mund und Nase, während Klotho gänzlich unbeeindruckt in den Raum läuft. Gleichzeitig frage ich mich zum ersten Mal, ob die Göttin der Nacht auch bei Hades’ Tod ihre Finger im Spiel hatte.

»Der Leichnam ist fort«, informiert Klotho uns. Mein Magen rumort und ich presse meine Faust auf die Stelle, um ihn zu beruhigen. Erleichterung flutet mich, weil ich ihn nicht noch einmal sehen muss. Es war ein Anblick, den ich nie vergessen werde. Ich gebe mir einen Ruck und folge Klotho. Das Schlafgemach ist ordentlich hergerichtet, außer dem Geruch erinnert nichts an das, was hier geschehen ist.

»Weshalb hat Nyx ihn fortbringen lassen?«, erkundigt Atropos sich erstickt, die nun ebenfalls zögerlich ein paar Schritte in unsere Richtung macht.

»Weil er so furchtbar stank«, erwidert Klotho trocken. »Wie die Ratten bei den Feuergruben.«

Ich schüttele den Kopf, wenngleich ich ihr nicht gänzlich widersprechen kann. »Aufgrund der Gerüchte, die mittlerweile selbst die toten Seelen in jeden Winkel der Hölle tragen: dass die Unterwelt von einer Krankheit befallen ist.« Ich trete ans Fenster, hebe den Vorhang nur einen winzigen Spalt an, um einen Atemzug zu nehmen. Luft, die nicht nach Tod, Verwesung und Hoffnungslosigkeit auf der Zunge schmeckt. »Die Daimonen werden rastlos, obwohl sie für gewöhnlich nichts aus der Fassung bringt. Hätte irgendwer bei einem Trauerzug einen Blick auf Hades erhascht …« Nachdenklich schüttele ich den Kopf. »Das hätte Panik ausgelöst. Die Falten und die Flecken des Alters.« Ernst mustere ich meine Schwestern. »Denn wir werden nicht älter. Niemand von uns. Ich habe noch keinen Gott, Daimon oder sonst ein überirdisches Wesen kennengelernt, das nicht bis zu seinem Tod das Abbild ewiger Jugend war.«

»Aber es kann nichts Ansteckendes sein«, erwidert Klotho gelassen. »Schließlich sind wir nicht gealtert.« In unsere Richtung macht sie eine Geste mit ihren Fingern, als würde sie uns erschrecken wollen. »Obwohl wir den Greis berührt haben.«

»Haha«, antwortet Atropos, die sichtlich fröstelt und es für einen Moment aufgibt, Mund und Nase zu bedecken, um sich über die Arme zu reiben, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hat. »Sehr witzig, Toto.«

»Ich hasse es, wenn du mich so nennst.« Unsere Schwester rümpft die Nase. »Wir sind keine Babys mehr.«

Ich räuspere mich, um die beiden zur Ordnung zu rufen. »Hypnos will, dass wir uns hier umschauen.«

»Und wir machen immer, was Hypnos will«, brummt Klotho. »Weil du ihn magst.«

»Weil es das Richtige ist«, korrigiere ich sie, wende mich ein wenig ab und ignoriere, dass meine Wangen heiß werden. »Wir sind die Schicksalsgöttinnen und verantwortlich für die Zukunft der Hölle. Außerdem tragen wir selbst den Beweis, dass etwas nicht stimmt, auf unserem Schulterblatt.«

Bei meinen Worten und der Erinnerung, dass womöglich auch unsere Zeit abläuft, stößt Klotho ein abgrundtiefes Seufzen aus. »Na schön«, murmelt sie leise, woraufhin wir uns in Hadesʼ Gemach verteilen. Was Hypnos vorhin meinte und wonach wir suchen, sind nicht zwingend physische Beweise. Wir sind hier, um zu spüren. Deshalb schließe ich meine Augen, fahre mit den Fingerspitzen über die Wand, die Hitze ausstrahlt, über eine Vase, deren erhabene Muster sich wie Schlangen winden, ehe ich weiterwandere und über das Kopfende des Bettes und eines der Kissen streiche.

»Es ist frisch bezogen«, spricht Atropos meinen Gedanken aus und ich öffne die Lider.

»Ich wette, das war diese Hexe Helena.« Missmutig schaut Klotho sich um.

»Sie ist eine Magierin, keine Hexe«, wirft Atropos ein.

Klotho rollt mit den Augen. »Wo ist da der Unterschied?« Sie hebt den Schürhaken an, der am Kamin lehnt, und riecht daran. »Wie neu«, stellt sie fest. »Sie haben diesen Raum blitzblank geputzt, keine einzige Spur hinterlassen. Diese Helena kennt unsere Kräfte. Das war Absicht.«

»Ich weiß nicht«, überlegt Atropos. »Vielleicht wollten sie auch generell nicht, dass neugierige Augen zu viel sehen. Natürlich müssen wir in Erfahrung bringen, was Nyx vorhat, was ihre Pläne sind. Doch was soll Hadesʼ Leichnam damit zu tun haben? Er ist tot. Schon lange fort. Für was sollte er ihr noch nützlich sein?«

Nachdenklich kaue ich auf meiner Unterlippe. »Es ist trotzdem nicht gut. Überhaupt nicht gut. Ich meine, wir haben gar keine Ahnung, was passiert …« Ich zwicke mir in den Nasenrücken, um mich zu beruhigen. »Er sollte richtig bestattet werden.«

»Vielleicht macht Nyx das ja«, überlegt Klotho achselzuckend. »Weniger Arbeit für uns.«

»Mh«, bringe ich undeutlich hervor und kneife die Lider zusammen, als mir auf dem Teppich, der mit floralen Ornamenten verziert ist und trotz der roten Farbe nicht so recht in diese Räumlichkeiten passen mag, ein Funkeln ins Auge sticht. Gerade will ich mich danach bücken, als ohne Vorwarnung die Tür auffliegt und ein Wächterdaimon, der die Lederkluft des Reichs des Nebels und der Nacht trägt, hereinstürmt. In der rechten Hand hält er eine gezückte Klinge. Ich erstarre und frage mich, ob er uns tatsächlich angreifen würde, obwohl wir zum inneren Kreis gehören. Oder gehörten? Viele Dinge ändern sich mit Hadesʼ offiziellem Tod.

Mein Herz sackt mir in die Magengrube, die Zeit scheint mit einem Mal langsamer zu laufen. Doch Atropos macht einen Schritt nach vorn. Immerhin ist sie der Ansicht, dass man mit Worten alles lösen kann. Ein leiser Schrei entweicht Klotho. Da sie einen anderen Blickwinkel hat als ich, erkennt sie vor mir, dass der Daimon seinen Dolch auf Atropos richtet. Zumindest sorgt es dafür, dass ich mich aus meiner Starre befreie, den Nebel rufe und meine Schwester packe. Ein Brennen breitet sich auf meinem Unterarm aus, als die Klinge mich in ihrem Flug streift, während ich Atropos und mich zum Fenster bringe. Wir materialisieren uns in dem Moment, in dem sich der Dolch in das Gemälde gräbt, welches die Lethe zeigt.

»Zum Haus«, befehle ich Klotho und Atropos, doch bevor wir uns gemeinsam in den schützenden Nebel hüllen, taucht eine weitere Gestalt hinter unserem Angreifer auf. Ein Knacken ertönt, dann sackt der Wächterdaimon zusammen. Es ist Grave, der hinter ihm steht und die Tür ins Schloss drückt.

»Meine Damen«, grüßt er uns mit einer angedeuteten Verbeugung. Dabei blinzelt er uns zu und verzieht seinen linken Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln.

»Was tut er hier?«, will Klotho wissen. »Er ist doch, für wen ich ihn halte, oder?«

»Ich habe ihn vorhin getroffen«, raune ich ihr zu.

»Ihn getroffen?«, wiederholt sie ungläubig.

»Zufällig«, zische ich zurück. »Am Steg.« Na ja, eigentlich unter dem Steg. »Auf dem Weg zu Nyxʼ Ansprache.«

Klotho zieht ihre Brauen zusammen. »Aha. Wenn die Hölle untergeht, kommen selbst die Bastarde hervorgekrochen.« Meine Schwester ist eine nachtragende Göttin. Ihrem Tonfall entnehme ich, dass sie ihm sein Verhalten bei unserer letzten Begegnung nicht verziehen hat. Wir haben nur ein Mal aktiv den Kontakt zu Hadesʼ Sohn gesucht. Für lange Zeit haben die Erinnyen ihn im Reich der Schatten versteckt, aber eines Tages trat er das Erbe seiner Mutter an. So trafen wir ihn am Südufer des Styx. Zu einem richtigen Gespräch kam es allerdings nicht, denn der Fluss wehrte sich gegen uns, schlug hohe Wellen mit seinem Wasser, das entweder vergiftet oder Unverwundbarkeit und Heilung bringt. Im Vorhinein weiß man es nie. Wie eine lockende Frucht, die reif und süß aussieht, verheißungsvoll riecht, doch im ersten Bissen, nach welchem es bereits zu spät ist, bitter schmeckt.

Grave schnalzt mit der Zunge, ehe er zu dem Gemälde schlendert und den Dolch mit einem Ruck herauszieht. »Sieht so der Dank aus, den man seinem Retter entgegenbringt?« Dann streicht er mit der Hand, aus der Schwärze in das Bild dringt, über die Leinwand, bis nichts mehr an den Schaden erinnert, den die Klinge angerichtet hat.

Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass seine Gabe mich fasziniert, trete stattdessen an den Daimon heran, fühle mit zwei Fingern seinen Puls, wenngleich das Knacken bereits alles verraten hat. »Er ist tot.«

Seufzend lässt Grave sich auf den samtüberzogenen Stuhl fallen. »Ich war ein bisschen grob mit ihm, schon klar«, erwidert er auf meinen vorwurfsvollen Blick. Wie zur Verdeutlichung lässt er den Dolch in seinen Schoß fallen und hebt in einer unschuldigen Geste beide Hände. »Aber besser er als wir, oder?«

»Er spinnt«, raunt Atropos.

»Was hast du erwartet?«, gibt Klotho zurück, fast so, als wäre Grave nicht anwesend. »Aufgewachsen unter der Hand der drei Rachegöttinnen. Natürlich ist er ein Wildling.«

Sie zeigt auf Graves zerschlissene Kleidung. Sein Kiefer zuckt, doch nur kurz, ehe er amüsiert lächelt. »Und trotzdem habt ihr Schweigen über diesen Wildling bewahrt.« Er beginnt, den Dolch zwischen seinen Fingern zu drehen. »Meg hatte recht. In der Unterwelt wird man als potenzielle Bedrohung nur am Leben gelassen, wenn man nützlich ist.« Er lacht leise. »Und was wäre die Hölle ohne den Styx, der zufällig ich bin.«

»Der Wächterdaimon hätte dennoch nicht sterben müssen«, lenke ich zum eigentlichen Thema zurück. »Wir hatten alles unter Kontrolle und gehen für gewöhnlich etwas … unauffälliger vor.«

»So unauffällig, dass der Daimon zu Nyx gerannt und ihr Bericht erstattet hätte, sobald ihr im Nebel verschwunden wärt?«, fragt Grave spöttisch zurück.

»Auf demselben Stuhl hat übrigens Hadesʼ Leichnam gesessen«, versucht Klotho ihn aus der Fassung zu bringen, weil er mit seiner Antwort einen Nerv getroffen hat. Sie ist diejenige von uns, die einen Hang zum Morbiden hat, obwohl sie nach außen hin und in Anwesenheit Fremder meist vorgibt, unterwürfig und schüchtern zu sein. Ihrer Ansicht nach ist es wichtig, zwei Gesichter zu haben.

»Auch wenn ich dein Handeln nicht gutheißen kann, hast du in diesem Punkt recht«, wirft Atropos wie immer diplomatisch ein. »Wir danken dir.« Überrascht lupft Grave eine Braue, ehe er den Kopf schüttelt und sich noch weiter zurücklehnt. »Wir sollten aufbrechen«, murmelt meine Schwester an uns gewandt. »Bevor noch mehr ungebetene Besucher auftauchen.«

»Autsch«, kommentiert Grave. »Dabei dachte ich gerade noch, dass wir eine Verbindung haben.«

»Ich meinte den Wächterdaimon«, rechtfertigt Atropos sich rasch, und ich beobachte, wie Röte ihren Hals hinaufkriecht.

Grave mustert uns der Reihe nach. Der rote Zirkel um seine Pupillen ist irritierend und faszinierend zugleich. »Ich habe Fragen, bevor ihr geht.«

»Was für Fragen?«, feuert Klotho umgehend zurück.

»Warum und wie Hades gestorben ist, was bei allen Zyklopen mit der Unterwelt nicht stimmt, aus welchem Grund Nyx freie Bahn gelassen wird und was genau ihr beispielsweise in diesem Zimmer treibt.«

»Das alles hat dich doch vorher auch nicht interessiert«, stellt Klotho mit zu Schlitzen verengten Lidern fest. »Woher der Sinneswandel? Spionierst du für deine Ziehmütter, die für Nyx arbeiten?« Sie schnaubt. »War die Rettung vor dem Wächterdaimon inszeniert, um unser Vertrauen zu erschleichen? Wir sind nicht dumm, Sohn des Hades.«

Dieses Mal ist es ein zufriedenes Lächeln, das an Graves Mundwinkeln zupft. »Nun gibst du also zu, dass ihr meine Rettung nötig hattet.« Klotho macht einen drohenden Schritt in seine Richtung, doch ich ziehe sie eilig zurück. Wir sind keine Kriegerinnen, was Klothos Temperament sie manchmal vergessen lässt. Es war für uns nie nötig, Kampftechniken zu erlernen, wo der Nebel uns wie kaum sonst jemandem in der Unterwelt gehorcht.

»Und ich dachte immer, dass die Schicksalsgöttinnen ausgeglichene Wesen sind«, kommentiert Grave und trommelt mit den Fingern seiner freien Hand auf das schwarze Holz der Armlehne. »Wenngleich ich zuvor die Umgebung des Styx und das Reich der Schatten bevorzugt habe, sind einige Dinge passiert, die mich vermuten lassen, dass es hier bald ungemütlich wird. Die Daimonen sind unruhig, die Unterwelt ist kaum wiederzuerkennen. Die Trommelschläge, die dunklen Rhythmen, welche die Hölle lebendig machten, sind mit Hadesʼ Tod nahezu gänzlich verstummt.« Sein Blick gleitet über die Einrichtung des Schlafgemachs. »Das ist euch sicher nicht entgangen. Außerdem hat mir Nyxʼ kleine Ansprache zu denken gegeben. Offensichtlich ist sie ganz versessen darauf, Hadesʼ Platz einzunehmen. Sie will seine Macht … und das Problem ist, dass ich spürte, wie sie – oder zumindest ein Teil davon – in mich floss, als er ging. Ich besitze also etwas, das die Urgöttin will.«

»Aber was möchtest du von uns?«, fragt Atropos, die ihre Höflichkeit niemals ablegen würde.

»Ich will, dass ihr mir helft, es wieder loszuwerden. Meine Aufgabe ist der Styx. Das andere … will ich nicht.«

Abwehrend verschränkt Klotho die Arme vor der Brust. »Warum bittest du nicht die Erinnyen um Rat? Schließlich hast du uns in all den Jahren noch nie aufgesucht.«

»Erstens sehen es Meg, Alec und Tisi nicht gerne, wenn ich mich herumtreibe … mich einmische. Sie denken, es bringt mich in Gefahr.« Ich runzele die Stirn, weil es mich überrascht, dass er vor uns eine Schwäche der Rachegöttinnen preisgibt. »Zweitens fungieren sie nicht als Nyxʼ Beraterinnen. Sie führen lediglich die Befehle der Urgöttin aus und sind nicht in alles eingeweiht. Drittens habe ich vorher keinen Kontakt gesucht, weil für mich kein Grund bestand. Ich hatte alles im Griff und bin unter dem Radar geblieben. Doch die Situation hat sich – offensichtlich – geändert. Ich habe keine Ahnung, was ich mit Hadesʼ Kräften soll. Und wie der König der Unterwelt überhaupt sterben konnte. Ich meine, jemand muss ihn ermordet haben, er wird nicht von allein umgefallen sein.« Er seufzt, klingt dabei genervt und angespannt zugleich. »Ihr seid die Schicksalsgöttinnen. Ihr solltet also in der Lage sein, mir zu sagen, was hier gerade geschieht.« Sein Blick richtet sich direkt auf mich. »Du hast etwas gesehen. Vorhin am Steg. Ich habe es in deinen Augen erkannt.«

Nun spüre ich auch die Aufmerksamkeit meiner Schwestern auf mir, während meine Gedanken rasen. Meine Haut juckt, und ich versuche im Bruchteil von Sekunden die richtige Entscheidung zu treffen, ohne uns und unser Vorhaben zu gefährden … bei welchem ich mir sicher bin, dass wir Grave brauchen werden. Es ist verwunderlich, dass er uns nicht schon früher in den Sinn gekommen ist. Andererseits war er all die Jahre untergetaucht … wie ein Geist, der sich stumm und unsichtbar durch den Styx bewegte.

Tief atme ich durch und straffe die Schultern. »Wir treffen eine Vereinbarung«, sage ich selbstbewusst und ignoriere Klothos protestierenden Laut. »Wenn die Rachegöttinnen dein Wohlergehen wirklich über ihren Dienst für Nyx stellen, sollen sie einige Dinge für uns in Erfahrung bringen.«

Graves Iriden, welche das Wasser des Totenflusses spiegeln, durchbohren mich förmlich, und es erscheint mir, als würde der rote Zirkel um seine Pupillen auflodern. »Du willst also, dass sie einen Verrat begehen.«

Ich hebe eine Braue, gebe mich kühl, wenngleich Hitze durch mein Innerstes kriecht und ich mich frage, ob die Flammen der Hölle ihm nun ebenso wie die verlorenen Seelen dienen. »Tun sie das nicht sowieso, indem sie deine Existenz seit zwei Jahrzehnten verbergen?« Ich ziehe den Vorhang, der ein wenig zurückgerutscht war, zu. »Sie werden die Fassade von Nyxʼ Vollstreckerinnen nicht auf ewig aufrechterhalten können. Es wird nicht mehr lange dauern …« Meine Augen huschen durch den Raum und ich spüre das vertraute Vibrieren in meiner Brust, das sich in meinem Körper ausbreitet, wie immer, wenn ich eine Vorahnung habe. »Wir alle müssen irgendwann unsere Karten zeigen – ob wir wollen oder nicht. Denn die Hölle verändert sich. Du fühlst es, Sohn der Styx. Ebenso wie wir.«

Graves rechtes Lid zuckt und er verschränkt die Arme vor der Brust. »Wie lauten eure Forderungen?«

Leise atme ich aus, um mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Sie sollen herausfinden, wo Hadesʼ Leichnam aufbewahrt wird. Und uns etwas von ihm bringen.«

»Wie einen Finger?«, fragt Grave interessiert.

Klotho kichert. »Nein.«

»Eher etwas von seiner Kleidung«, schaltet Atropos sich ein. »Noch besser wäre ein Schmuckstück. Der König der Unterwelt trug stets Ringe. Ein Haar ginge womöglich auch.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob da noch besonders viele Haare waren«, merkt Klotho an.

Grave runzelt die Stirn. »Weshalb sollte er keine mehr haben?«

»Er war ein Greis«, erkläre ich und mache eine Handbewegung, die Klotho verstummen lässt. Vorwurfsvoll schaut meine Schwester mich an, als hätte ich diese Tatsache nicht teilen dürfen. Doch Grave muss merken, dass wir bereit sind, uns mit ihm in der Mitte zu treffen. »Seine Haut war runzlig und von dunklen Flecken übersät. Er ist als alter Mann gestorben.«

»Das ist … unmöglich.«

»Niemand von uns hat eine Erklärung dafür. Aber wir müssen es in Erfahrung bringen. Denn was auch immer die Ursache für Hadesʼ Tod ist, hat auch den Zerfall der Hölle eingeleitet.« Bei meinen Worten prickelt und schmerzt mein Schulterblatt, die Verbindung zu Grave, welche ich am Steg entdeckt habe, und gleichzeitig die Erinnerung, dass sich die Zeiger der Feueruhr nicht zu unseren Gunsten bewegen.

»Und das Aufspüren seines Leichnams wird dabei helfen?«, hakt Grave nach.

»Unter anderem.«

»Es wäre außerdem hilfreich, wenn du uns einen Gegenstand von Helena bringen könntest«, überlegt Atropos.

»Wollt ihr eine Art Voodoo-Zauber sprechen?« Grave reibt sich über seinen Hinterkopf, aber ich kann nicht benennen, ob er es aus Unbehagen tut. Es ist nicht leicht, ihn zu lesen.

»Ganz genau«, bestätigt Klotho, wenngleich es Unsinn ist. Wir beherrschen weder Licht- noch Dunkelmagie.

»Um unsere Forderungen zusammenzufassen«, rufe ich meine Schwester indirekt zur Ordnung, »wir wollen, dass du über die Erinnyen herausfindest, wo Hadesʼ Leichnam hingebracht wurde. Zusätzlich benötigen wir ein Schmuckstück von ihm oder etwas von der Kleidung, die er am Leib trägt. Wie Atropos bereits sagte, wäre auch ein Gegenstand von Helena nützlich. Und jedes Detail zu Nyxʼ konkreten Absichten bringt uns weiter.«

»Also sollen sie auch Informationen für euch sammeln?« Grave erhebt sich langsam und schlendert ums Bett, ehe er sich an einen der Pfosten lehnt. Mein Blick folgt ihm und bleibt wieder an dem Funkeln im Teppich hängen, nach welchem ich mich vorhin bücken wollte, bevor der Wächterdaimon uns störte. Ich vermute, dass es sich dabei um einen Stein handelt. Aufregung und Erleichterung fluten mich, weil wir einen ersten möglichen Hinweis haben.

»Ja«, bestätige ich eilig, als Atropos mir ihren Ellenbogen in die Rippen rammt. »Aber verrate nicht, dass sie all das für uns tun. Sie sollen glauben, dass sie allein dir damit helfen.«

»Das gefällt mir nicht.«

»Ich verstehe die Gründe, aus denen du uns aufgesucht hast. Ich glaube dir. Aber die Rachegöttinnen … Selbst wenn sie ihre Hände für dich ins Feuer legen, können wir nicht darauf vertrauen, dass sie uns nicht verraten würden.«

Klotho nickt. »Sie schützen dich. Für dich sind sie mehr bereit zu geben.«

»Unterstütze uns dabei, Antworten zu finden und die Unterwelt zu heilen. Im Gegenzug helfen wir dir, Hadesʼ Macht loszuwerden, sollte es am Ende nach wie vor das sein, was du willst.«

Grave stößt sich von dem Pfosten ab und kommt auf mich zu, bleibt dicht vor mir stehen. »Weshalb sollte ich meine Meinung ändern, Lachesis?« Er mustert mich.

»Das Schicksal hat einen starken Willen. Nur wenige schaffen es, ihm zu entkommen.«

»Ich laufe nicht davon.«

»Du bist nicht der Erste, der das denkt«, murmelt Klotho.

»Ich habe dir bereits eine deiner Fragen beantwortet. Dir einen Vertrauensvorschuss gegeben, indem ich dir erzählt habe, wie Hades starb.« Ich strecke Grave meine Hand entgegen. »Wirst du deinen Teil der Abmachung erfüllen?«

»Wir haben einen Deal.« Dann schlägt er ein. Elektrisierende Wellen durchzucken mich, machen mir bewusst, dass ich einen Handel mit dem Sohn des Teufels eingegangen bin.

3 Kein Versprechen

NERO

Der Pegalux landet lautlos an der Grenze zu dem Wald, welcher den Eingang zur Unterwelt umschließt. Es ist Nacht und ich lege den Kopf in den Nacken, um die hohen Bäume zu mustern, die bedrohlich über mir aufragen. Nachdem das überirdische Wesen die mächtigen Schwingen dicht an seinem Körper gefaltet hat, schlucke ich schwer und rutsche von seinem Rücken. Kurz stütze ich mich ab, weil meine Beine sich von der ungewohnten Höhe weich anfühlen. »Danke«, raune ich, streiche einmal durch die seidige Mähne. Wenn Sterne eine Essenz besäßen, würde man sie in den silbernen Strähnen dieser außergewöhnlichen Geschöpfe finden.