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»Ich fürchte mich vor Feuer und Hitze und davor, was mein Name bedeutet.« – Romantasy zum Dahinschmelzen
Unsägliche Hitze, erbarmungslose Armut und eine aussichtslose Zukunft: Flame will diesem Elend entfliehen, um endlich mutig, stark und frei zu sein. Ihre Chance sieht sie gekommen, als die neuen Götter ein Turnier zur Jahrtausendwende veranstalten – der Siegerin winkt Unsterblichkeit. Doch was auf den ersten Blick verlockend erscheint, birgt höllische Gefahren. Nicht nur, weil der Glaube an ihr bisheriges Leben ins Wanken gerät, sondern auch ihr Herz – auf das es der Gott der Angst und der Finsternis längst abgesehen hat ...
Herzklopfen pur!
Ein Mädchen ohne Vergangenheit, das seine wahre Bestimmung sucht, und ein dunkler Gott, der nichts und niemandem vertraut – hier sprühen die Funken!
//Dies ist der erste Band der »Flame«-Reihe. Alle Romane der göttlichen Liebesgeschichte im Loomlight-Verlag:
-- Band 1: Feuermond und Aschenacht
-- Band 2: Dunkelherz und Schattenlicht (Juli 2021)//
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Das Buch
»Ich fürchte mich vor Feuer und Hitze und davor, was mein Name bedeutet.« – Romantasy zum Dahinschmelzen.
Unsägliche Hitze, erbarmungslose Armut und eine aussichtslose Zukunft: Flame will diesem Elend entfliehen, um endlich mutig, stark und frei zu sein. Ihre Chance sieht sie gekommen, als die neuen Götter ein Turnier zur Jahrtausendwende veranstalten – der Siegerin winkt Unsterblichkeit. Doch was auf den ersten Blick verlockend erscheint, birgt höllische Gefahren. Nicht nur, weil der Glaube an ihr bisheriges Leben ins Wanken gerät, sondern auch ihr Herz – auf das es der Gott der Angst und der Finsternis längst abgesehen hat ...
Die Autorin
© privat
Man erzählt sich, dass Henriette Dzeik auf einem Floß treibend von Nixen gefunden, von Hexen entführt, und in einem Schloss, das an goldenen Ketten hing, von Feen aufgezogen wurde. Sie kämpfte gegen den Drachen, der diesen schönen Käfig bewachte, und erlangte schließlich durch einen Deal mit einem verrückten Flaschengeist die Freiheit. Heute lebt sie mit ihrem dunklen Prinzen und einem furchterregenden Wächterhund in ihrem minimalistischen Palast, wo sie auf Papier all ihre Träumereien wahr werden lässt.
Mehr über die Autorin auf https://www.instagram.com/henriettedzeik
Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
Henriette Dzeik
FlameFeuermond und Aschenacht
Für alle, die manchmal zweifelnoder sich selbst noch nicht gefunden haben.Geht euren Weg, auch wenn andere ihn nicht sehen können,und lasst euch niemals unterkriegen.Ich glaube an euch.
„When you feel my heatLook into my eyesIt's where my demons hide“
Imagine Dragons, Demons
Mein Name ist Flame. Ich lebe im Jahr 2999. Ich fürchte mich vor Feuer und Hitze und davor, was mein Name bedeutet. Vor 200 Jahren hat die Erde gebrannt. Es gab nichts als rote und orangene Flammen, die alles verschlangen, den Menschen die Luft zum Atmen nahmen. Wir bezahlen bis heute dafür, was damals geschah und auch davor. Was die Menschen der Erde antaten, dass sie schlussendlich so brennen musste.
Es grenzt an ein Wunder, dass es uns überhaupt noch gibt. Es stand so schlimm um uns, dass die Götter vom Olymp hinabstiegen, um einzugreifen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren sie immer nur Mythen und Legenden gewesen, die man den Kindern als Gutenachtgeschichte zum Einschlafen erzählte. Doch an diesem Tag, vor 200 Jahren, da wurden sie alle wahr.
Nicht jeder Gott kam, um zu helfen. Zeus tat sich mit Chaos und einigen niederen Gottheiten zusammen, um uns endgültig zu vernichten. Die Menschheit war ihm ein Dorn im Auge, seit Prometheus uns das Feuer gebracht hatte. Poseidon hingegen kämpfte gemeinsam mit Okeanos. Sie vereinten ihre Kräfte und löschten die Brände, kühlten die Erde und das Klima ab.
Doch tief im Inneren, da bin ich mir sicher, dass sie noch existiert, diese unsagbare Hitze. Deshalb leben die Menschen seit diesem Tag in ständiger Angst, dass die Flammen zurückkehren, um zu beenden, was sie einst begannen.
Kurze Zeit nach dem heißen Krieg kamen neue Gottheiten auf unsere Erde, von einem anderen, fernen Planeten. Bis heute ist es für uns ein ungelüftetes Geheimnis, warum sie sich gerade für diese Welt entschieden. Warum sie ihre Heimat verließen und sich auf die Seite von Okeanos und Poseidon stellten, deren Unsterblichkeit noch in diesem Krieg erlosch. Gemeinsam mit einigen menschlichen Kriegern kämpften die neuen Götter gegen Zeus und das Chaos und besiegten sie. Noch immer werden die beiden an einem Ort gefangen gehalten, der für keine sterbliche Seele erreichbar ist.
Die Menschenkrieger, die an ihrer Seite kämpften, erhielten das Geschenk des ewigen Lebens und werden bis heute als „Donati“ bezeichnet. Sie sind nicht übermäßig stark oder mit besonderen Fähigkeiten gesegnet. Doch uns gewöhnlichen Menschen sind sie trotzdem um Welten überlegen.
Nach der Schlacht nahmen die neuen Götter die Erde ein und teilten sie unter sich in sechs Länder auf. Sie sind nicht unsere Feinde, aber auch nicht unsere Freunde. Sie herrschen über uns, wir sind nicht frei. Sie lassen uns in Ruhe, solange wir nach ihren Vorschriften leben. Diese werden uns eingebläut, seit ich denken kann. Die oberste Regel lautet: kein Feuer.
Ich stehe auf dem Marktplatz und merke, wie die Sonnenstrahlen mir langsam Nacken und Schultern versengen. Ein Schweißtropfen löst sich von meinem Haaransatz und rinnt mir über die Stirn bis zur Nasenspitze, wo ich ihn entnervt wegwische.
Es ist die mittägliche Hitze, die mir so zu schaffen macht. Heute ist sie besonders schlimm. Trotzdem verharre ich reglos, weil ich muss. Es ist meine Aufgabe. Die einzige, die ich verrichten kann. Jeder muss seinen Teil zu unserem Überleben beitragen.
Eine ältere Frau kommt an meinen Stand und betrachtet die ledernen Häute. Mein Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse, als ich versuche zu lächeln. Der Trick ist es, freundlich zu wirken und die Menschen an den Stand zu locken. Aber nicht zu sehr, sonst denken sie, man sei leicht über den Tisch zu ziehen.
Miriam hat auf der Jagd ganze Arbeit geleistet, sodass wir eine große Auswahl zu bieten haben. Eine Weile feilsche ich mit der Frau, bevor sie sich für zwei Häute entscheidet und mir einige Taler in die ausgestreckte Hand drückt. Als sie geht, lasse ich erleichtert die Schultern sinken und fahre mit der Zunge über meine spröden Lippen. Mein Hals ist so trocken, dass ich nicht einmal schlucken kann.
Ich verspüre Durst.
Brennenden, alles verzehrenden Durst.
Eine schwere Hand legt sich auf meine Taille und ich quietsche erschrocken auf. „Cato“, keuche ich, halb belustigt, halb verärgert. Ich lege den Kopf nach hinten, um in seine Augen sehen zu können, die blaugrau sind, wie die stürmische See. Grinsend fährt er sich durch sein kurz geschorenes dunkelblondes Haar, während er meinen Blick erwidert.
„Du träumst. Schon wieder“, stellt er fest.
Ich zucke mit den Achseln und wende mich erneut dem regen Treiben auf dem Markt zu. „Sie wissen, dass ich zu euch gehöre. Sie würden es nicht wagen, etwas von diesem Stand zu stehlen.“
„Trotzdem solltest du aufmerksamer sein.“
Ich höre ein Rascheln, und als ich aufsehe, hält er mir einen Wasserschlauch unter die Nase. „Den hast du heute Morgen vergessen.“
Ich seufze schuldbewusst. Dann trinke ich gierig und genieße, wie das kühle Nass meine Kehle hinabfließt. Schlagartig fühle ich mich wieder wacher, meine Sinne sind geschärft. „Was würde ich nur ohne dich machen?“
„Verhungern und verdursten.“
Ich nicke, denn er sagt die Wahrheit. Es ist kein Geheimnis, dass ich definitiv der nutzlose Part unserer Gruppe bin. Bis heute verstehe ich nicht, warum sie mich bei sich behalten und versorgen. Den Verkauf auf dem Markt kann auch jeder andere übernehmen. Doch ich bin ihnen dankbar und möchte mich nicht beklagen. Außerdem habe ich Pläne. Große Pläne, von denen Cato noch nichts weiß, und bei denen ich mir nicht sicher bin, ob sie ihm gefallen werden.
Mein Leben lang schon bin ich ruhig und zurückhaltend, eben die ängstliche Art von Mensch. In genau sechs Monaten werde ich zwanzig Jahre alt und mir wird immer mehr bewusst, wie kostbar und kurz meine Zeit auf dieser Erde ist. Ich möchte mich verändern. Vielleicht habe ich die letzten zwei Jahrzehnte verschenkt, weil ich mich in meinem Schneckenhaus versteckt habe, doch damit ist nun Schluss. Ich möchte eine andere werden. Ich möchte zu einer Frau werden, die stark ist und mutig. Ich möchte alles entdecken, was die Welt noch zu bieten hat, all die schönen und schrecklichen Seiten des Lebens, weit weg von zu Hause. Denn jedes Abenteuer ist nur eine Entscheidung von mir entfernt, und ich will endlich herausfinden, wer ich wirklich bin. Alles, was ich tun muss, ist, mich zu trauen. Doch ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, wenn Cato mich nicht begleiten will. Oder ob es genau das ist, was ich in Wahrheit brauche.
In letzter Zeit habe ich mich mehr und mehr gefragt, ob ich nur mit ihm zusammen sein will, weil Jules, Miriam und Amanda es erwarten. Schon immer mache ich mir zu viele Gedanken darüber, was andere denken, und zu wenig darüber, was ich selbst für das Richtige halte.
„Du sollst nicht grübeln“, mahnt Cato mich. Er fährt sanft über meinen Rücken und ich lehne mich, trotz der Hitze, an ihn. Ich bin mir nicht sicher, was zwischen uns ist. Cato ist stark und gut aussehend, auf eine etwas grobe Art. Die neidischen Blicke der anderen Mädchen im Dorf entgehen mir nicht. Neben ihm sehe ich mit einer Größe von anderthalb Metern aus wie eine Puppe, und jeder, einschließlich ihm, hat das Bedürfnis, mich zu beschützen. Das kann lästig sein, doch in Zeiten wie diesen ist es wohl eher praktisch.
Als ich neun Jahre alt war, hat er mich aus einem heißen Erdkrater gezogen und mich so vor schlimmen Verbrennungen bewahrt. Die Haut an meiner rechten Seite ist bis zum unteren Rippenbogen etwas dunkler und fleckig, doch ich bin am Leben und allein das zählt. Wo ich herkam und wer ich davor gewesen bin, weiß ich nicht, denn es gibt keine Erinnerung. Einzig meine Angst vor Feuer und Flammen hat sich unwiderruflich in meine Seele und mein ganzes Sein eingebrannt. Cato sagt, es ist das Trauma, das mich vergessen ließ und dass es so vielleicht besser sei. Zu meinem eigenen Schutz. Doch ich denke an vielen Tagen, dass ich mich gern erinnern würde. An davor. Seit er mich gefunden hat, sind wir keinen Tag getrennt gewesen. Er war schon immer mein Retter und mein Held. Doch mir ist klar, dass ich nicht mehr das kleine Mädchen von damals bin. Ich bin neben ihm zu einer Frau geworden. Ich wünschte mir nur, er würde es endlich sehen.
Seine Finger fahren in langsamen Kreisen über meinen Arm und ich muss ein wohliges Schnurren unterdrücken. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, es gäbe keine Anziehung zwischen uns. Ich weiß nur nicht mehr, ob es genügt.
„Was hältst du davon, heute früher Schluss zu machen?“, fragt er nach einer Weile des Schweigens.
Überrascht mustere ich ihn. „Ist das dein Ernst?“ Als er nickt, breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. In den vergangenen Tagen ist er viel beschäftigt gewesen. Es freut mich, dass er von sich aus auf mich zugekommen ist. „Wer kümmert sich dann um den Stand?“
Er zeigt zum Ende des Marktes, von wo aus sich ein schlaksiger junger Mann den Weg zu uns bahnt. Ein ums andere Mal verheddern sich seine langen Beine miteinander und er stolpert nach vorn. Die anderen Dorfbewohner sehen ihm kopfschüttelnd nach und ich unterdrücke ein Kichern.
„Jules“, begrüße ich ihn, als er endlich bei uns ankommt. Cato nickt ihm ebenfalls zu.
„Hi, Flame“, erwidert er etwas atemlos und rückt sich seine verschmierte Brille auf der Nase zurecht.
Jules, der eigentlich Julius heißt, ist zwei Jahre nach mir zu unserer Gruppe gestoßen. Er hat hellblondes, etwas zotteliges Haar und große vertrauenerweckende, braungrüne Augen mit goldenen Punkten. Begleitet wurde er damals von Miriam. Da sie dieselbe ungewöhnliche Augenfarbe wie Jules hat, glaube ich, dass die beiden miteinander verwandt sind. Geredet haben sie nie darüber.
Jules mag zwar etwas tollpatschig sein, doch er ist eine Bereicherung für uns, da er sehr bewandert im Umgang mit diversen Heilkräutern ist. Miriam dagegen ist eine ausgezeichnete Jägerin und vermutlich noch nie in ihrem Leben über ihre eigenen Beine gestolpert. Sie verkörpert nichts als pure Eleganz und Selbstbeherrschung. Pfeil und Bogen, mit denen sie jagt, scheinen wie eine Verlängerung ihres rechten Armes zu sein.
„Du kommst zurecht?“, fragt Cato, schon halb im Gehen, während er nach meiner Hand greift.
Jules nickt eifrig und winkt uns zu. „Genießt euren freien Nachmittag. Miriam hilft mir nachher beim Abbauen.“
Ich will ebenfalls etwas erwidern, doch wir sind schon zu viele Schritte entfernt und die Nebengeräusche des Marktes sind so laut, dass ich nur zurückwinken kann.
„Du hast es aber sehr eilig“, stelle ich fest und streiche mir eine meiner widerspenstigen Locken aus der Stirn.
„Ich habe eine Überraschung für dich. Und ich kann kaum erwarten, sie dir zu zeigen“, erwidert er und umfasst meine Hand noch etwas fester.
Aufregung durchfährt mich, und meine Wangen werden heiß. Es ist schon eine Weile her, dass Cato sich so aufmerksam verhalten hat. Früher brachte er mir fast täglich von der Jagd Geschenke mit oder schnitzte mir kleine Figuren aus Holz. Bedauerlicherweise ist er seit jeher ziemlich zurückhaltend und unser Körperkontakt geht nicht über Händchenhalten oder flüchtiges Streicheln hinaus. Es gibt Tage, an denen ich mich frage, ob jemals mehr zwischen uns sein wird. Mehr als das Beschützen und die innige Freundschaft, die uns verbindet. Cato ist schon mit anderen Frauen zusammen gewesen, doch es war nie etwas Ernstes.
Vielleicht sollte ich den ersten Schritt wagen. Weniger schüchtern sein. Seit ich den Unterschied zwischen Mädchen und Jungen kenne, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als von ihm geküsst, von ihm richtig berührt zu werden. Ich warte schon so lange, und meine größte Angst ist, dass es womöglich vergebens ist. Miriam meint, ich solle mir die Zeit mit anderen jungen Männern aus dem Dorf vertreiben, denn Konkurrenz belebe das Geschäft, doch so bin ich einfach nicht. Ich habe die absurde romantische Vorstellung, dass ich mich nur einmal richtig verliebe und dann ist es für immer. Nur mit dieser großen Liebe möchte ich zusammen sein, ihr alles von mir geben. Deshalb halte ich mich zurück, obwohl ich mich nach Nähe und offener Zuneigung sehne.
Sofort spüre ich, wie meine Wangen noch heißer werden. Möglicherweise hat Miriam recht und ich bin wirklich ein wenig altmodisch und verklemmt. Und vielleicht ist es tatsächlich lächerlich, mit neunzehn Jahren vollkommen unberührt zu sein, nur wegen ihm. Nur weil ich denke, dass er womöglich der Richtige ist.
„Woran denkst du schon wieder, Rabenmädchen?“, neckt er mich, doch ich weiche seinem Blick aus. Cato kennt mich besser als jeder andere und kann in mir lesen wie in einem offenen Buch. Und für gewöhnlich vertraue ich ihm alles an – nur eben diese eine Sache nicht.
Wir gehen die unebene Straße entlang, die Geräusche vom Markt verklingen langsam. Die wackeligen Häuser, welche die Straße säumen, schießen aus dem Boden wie Unkraut. Die meisten von ihnen sind klobig und nicht besonders hübsch anzusehen, da sie aus grobem Stein gebaut sind. Die wenigsten wohnen noch in Hütten aus Holz. Vermutlich nur diejenigen, die eine gewisse Todessehnsucht hegen.
Seit dem heißen Krieg hat die Erde sich verändert. Die Erdplatten hatten sich schon vorher stark verschoben, doch nun ist auch das Wasser der Meere extrem zurückgegangen. Das Dorf, in dem wir leben, ist eines der größeren in der Umgebung und liegt direkt zwischen dem Land der Angst und der Finsternis und dem Land der Wahrheit und der Wirklichkeit an einem Gebirgshang. Durch das Gebirge ist es bei uns nicht so heiß wie beispielsweise im Land der Hoffnung und des Lichts. Wir leben ganz im Norden. An das Land der Angst und der Finsternis grenzt im Südosten das Land der Vergangenheit und des Vergessens. Direkt daneben, nur getrennt durch den Indischen Ozean, oder besser gesagt das, was von ihm übrig ist, befindet sich das Land der Hoffnung und des Lichts. Im Südwesten liegen der Atlantik sowie das Land der Fantasie und der Träume. Dorthin wollte ich schon immer einmal reisen. Ich stelle es mir schön, lebendig und voller Farben vor, nicht so eintönig und grau, wie es bei uns ist. Ganz im Westen ist der Pazifik, und das Land der Zukunft und des Lebens bildet das Zentrum unserer Erde. Vom Mittelmeer ist auch noch etwas übrig – ein kleiner Klecks zwischen dem Zukunftsland und dem der Wahrheit und Wirklichkeit.
Besonders viel wissen wir leider nicht über die Zustände der anderen Länder und Erdteile, es gibt keine Nachrichten und keine Kommunikation. Ab und an durchqueren Reisende unser Dorf, bringen Neuigkeiten mit und berichten von ihren Erlebnissen. Doch das geschieht nur sehr selten. Die meisten sind froh, wenn sie eine feste Bleibe finden. Mein ganzes Wissen stammt daher aus Julesʼ wenigen Büchern, die er hütet wie einen wertvollen Schatz. Doch manchmal, zum Beispiel zu meinem Geburtstag, gewährt er uns Zugang.
Die Bücher, die er besitzt, haben so vergilbte Seiten und verblichene Buchstaben, dass man kaum etwas entziffern kann. Ich liebe ihren Geruch, alt und geheimnisvoll, der von tausend verschiedenen Leben erzählt. Sobald mich der Zauber ihrer Worte in den Bann zieht, vergesse ich alles um mich herum und verspüre nichts als Geborgenheit und Glück. Mag sein, dass es eine Flucht vor der Realität ist, doch ich genieße sie in vollen Zügen.
Manchmal rätseln Cato und ich darüber, wie viele Besitzer sie schon hatten und an welchen Orten sie gelesen wurden. Und manchmal erlaube ich mir, davon zu träumen, wie ich meine ganz eigenen Abenteuer erlebe.
„Wohin gehen wir?“, frage ich neugierig, als wir den Dorfkern hinter uns lassen und auf den Wald zusteuern, der rechts von den Gebirgsfelsen liegt, in dessen Höhlen wir leben.
„Nicht mehr weit.“ Wir schweigen erneut, doch es ist nicht unangenehm. Wenn man sich so gut kennt, bedarf es nicht immer vieler Worte.
Als wir den Wald betreten, wird die Luft kühler und ich atme den Geruch von getrockneten Kiefernnadeln ein. Es ist ein wenig schattig und sofort entspanne ich mich. Soweit ich weiß, wird die klägliche Vegetation nur durch die Magie der neuen Götter aufrechterhalten. Einerseits verspüre ich Dankbarkeit und auch ein wenig Neugierde, andererseits Wut, weil sie nicht mehr tun. Man sagt, dass sie in ihren Palästen hausen, während wir in verfallenen Hütten und kahlen Höhlen leben. In meinen Augen macht sie das nicht zu besonders guten Herrschern. Insgesamt wissen wir kaum etwas über sie. Ja, sie existieren, bewohnen unsere Erde, aber im Endeffekt sind sie trotzdem eine Art Mysterium für uns. Ich habe nie auch nur einen einzigen von ihnen zu Gesicht bekommen und dementsprechend keine Kenntnis über ihr Aussehen oder ihre Namen. Niemand aus meinem Umfeld ist ihnen je begegnet. Manchmal denke ich, dass sie vielleicht nur Geister sind. Geister der Vergangenheit, die uns einst vor Zeusʼ Rache bewahrt haben und dann wieder im Nebel verschwunden – und nie wieder gesehen worden sind. Sie haben dafür gesorgt, dass der Göttervater uns nicht zerstört, doch nun wird uns möglicherweise der Hunger holen. Oft frage ich mich, weshalb sie sich damals überhaupt die Mühe gemacht haben, uns zu retten, wenn sie sich jetzt so wenig um uns scheren.
Heute ist definitiv ein Tag, an dem ich ihnen gegenüber Wut empfinde, obwohl ich weiß, dass sie diese Emotion gar nicht wert sind, sie meine Gedanken nicht verdienen. Sie sollten mir gleichgültig sein, denn wir sind es ihnen offensichtlich auch.
Cato führt mich zwischen den hohen Stämmen hindurch, und als sich eine Lichtung auftut, bleibe ich überrascht stehen. In der Mitte befindet sich ein kristallklarer See. Die wenigen Sonnenstrahlen, die zwischen den Bäumen hindurchbrechen, lassen die Oberfläche glitzern.
„Wie?“, hauche ich überrascht. So viel schönes, sauberes Wasser. Normalerweise waschen wir uns im schmutzigen Fluss, der am Gebirge entlangfließt. Diesen kleinen See habe ich noch nie gesehen.
„Freust du dich?“, fragt Cato lächelnd, ohne auf meine Frage einzugehen.
Ich kann nur sprachlos nicken. Für gewöhnlich ist er weder leidenschaftlich noch besonders romantisch. Doch genau das ist es, was ich will. Ich will es aufregend haben, wenn es um die Liebe geht.
„Dann komm.“
Ohne Umschweife zieht er sein Shirt und die Cargohose aus. Er trägt nichts darunter. Mein Mund ist trocken wie Staub, als er sich in Bewegung setzt und den See betritt. Ein wenig schockiert schaue ich ihm nach. Mit zitternden Fingern streife ich meine kurze Hose und das dunkelgrüne Hemd ab. Ein Unwohlsein überkommt mich und ich betrachte meine Narben, berühre unsicher die unebene Haut. Noch nie zuvor habe ich jemandem so viel von mir gezeigt. Mit meinen Händen am Slip verharre ich und kann mich nicht überwinden, ihn ebenfalls abzustreifen. Ich gebe es auf und folge Cato, versuche, meinen hämmernden, viel zu schnellen Herzschlag zu ignorieren.
Am Ufer bleibe ich stehen und blicke hinab, während die feinen Wellen sanft meine Füße umspülen. Aus dem klaren Nass des Sees blicke ich mir selbst entgegen. Seit Langem nehme ich mir Zeit, mich genau zu betrachten: Mein herzförmiges Gesicht wird von kraus gelocktem Haar umrahmt, das schwarz ist wie die verbrannte Erde, in der Cato mich einst fand. Es lässt mich wild wirken, was ich nicht bin. Meine vollen Lippen sind bläulich, wie fast immer, sodass ich oft gefragt werde, ob ich trotz der Hitze friere. Dann sind da noch meine Augen. Das eine hat die Farbe von Asche. Das andere schimmert in bernsteinfarbenem Gold. Und als ein Sonnenstrahl es erhellt, sieht es so aus, als tanze eine Glut darin, die nur darauf wartet, entfacht zu werden. Mit einem sehe ich, wie in der Abenddämmerung, alles in Schwarz und Weiß, mit dem anderen nehme ich die Welt in Farben wahr. Es mag sonderbar sein und ich erzähle es nur meinen engsten Vertrauten, doch ich kenne es nicht anders. Ich mag den Gedanken an Licht und Dunkelheit und die Vorstellung, dass beides in mir ist.
„Flame“, holt mich Catos Stimme aus meinen Gedanken zurück. Ich schaue auf, direkt in seine strahlenden Augen. Ich verbiete mir, meinen Blick hinabwandern zu lassen, als er meine Hand nimmt, und mich ins Wasser zieht. Das hier ist genau das, was ich immer wollte. Ich sollte überschäumen vor Freude und Glück. Doch etwas nagt an mir, tief in meinem Inneren. Zu diesem Zeitpunkt will ich mir noch nicht eingestehen, dass es Zweifel sind.
Ich schlucke schwer, mein Hals fühlt sich mit einem Mal wie zugeschnürt an. Cato streichelt meinen Handrücken, und während mir das Wasser bereits bis zu den Schultern reicht, sind bei ihm gerade so die Hüften bedeckt. Er hält inne und will mich noch näher an sich ziehen, doch ich zucke zurück. Seine Nacktheit ist mir nur allzu deutlich bewusst. Etwas zu fest beiße ich auf meine Unterlippe, bis sich ein metallischer Geschmack in meinem Mund ausbreitet.
Bei allen Göttern!
„Ich weiß, es ist für dich das erste Mal. Es ist nicht schlimm, wenn du Angst hast“, redet Cato beruhigend auf mich ein. „Aber du kannst mir vertrauen. Hier sind wir ungestört. Und ich werde sehr sanft mir dir sein.“
Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus, jedoch nicht vor Wohlgefallen. Ich fühle Scham und noch etwas anderes: Wut. Er gibt mir das Gefühl, unerfahren und naiv zu sein. Ich verschränke die Arme vor der Brust und wünsche mir, ich wäre nicht mit ihm in dieses verlockende Wasser gegangen. Ja, er hat recht. Es sollte er sein. Ich habe mir genau das hier erträumt. Niemand kennt mich so gut wie Cato. Wir beide gegen den Rest der Welt, so ist es schon immer gewesen. Und doch … So habe ich es mir nicht vorgestellt, schon gar nicht so schnell. Als würde man ein Geschäft abschließen. Ich mag unerfahren sein, doch selbst ich merke, dass das hier keine romantische Situation ist.
„Ich bin nur etwas überrascht“, erwidere ich, als ich meiner Stimme zutraue, dass sie nicht bricht. „Wir haben nie darüber gesprochen. Über uns, meine ich. Auf diese Weise. Also, ich war mir nie sicher, ob du auch … na, du weißt schon. Ob du mich begehrst. Als Frau.“
Cato hebt abwehrend die Hände und unterbricht somit meinen verzweifelten Redeschwall. Nachdenklich sieht er mich an, versucht aber nicht, mich erneut näher zu sich zu ziehen.
„Ich hätte nicht geglaubt, dass das mit uns jemals kompliziert sein würde“, seufzt er schließlich. „Es war nicht meine Absicht, dich zu überrumpeln. Ich dachte, die Sache wäre klar. Du und ich. Für immer. Ich denke, du bist nun so weit.“
„Ich bin so weit? Meinst du nicht, du hättest vorher fragen sollen, wie ich darüber empfinde? Und was soll das überhaupt bedeuten? Ich warte schon seit Jahren auf dich. Seit einer verdammten Ewigkeit, Cato!“ Ich hing immer an seinem Rockzipfel. Und er hat es genossen, war sich meiner Zuneigung gewiss, hat nie das Gefühl des Zweifelns verspürt wie ich so oft.
Genervt reibt er sich über die Stirn. „Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du abgeneigt bist. Ich dachte einfach, ich gebe dir Zeit, um noch etwas zu reifen.“
Ich schnaube verächtlich. Er spielt auf meinen kindlichen Körper an und hat vermutlich vergeblich darauf gewartet, dass mir irgendwann doch noch Brüste wachsen. „Trotzdem haben wir nie darüber geredet. Aber das sollten wir. Wir sollten über uns reden und darüber, wie wir uns die Zukunft vorstellen. Bei der ersten Verabredung hätte ich mich über einen Kuss gefreut, nicht über das, was du hier vorhast.“
Unruhig reibe ich mir über meinen Nacken. Ein angespannter Ausdruck liegt in Catos Gesichtszügen. Und Unglaube. Offensichtlich ist ihm nie in den Sinn gekommen, ich würde mich ihm nicht auf der Stelle hingeben. Zugegeben, ich habe es ihm in der Vergangenheit vielleicht zu leicht gemacht, nach jeder Berührung von ihm gelechzt. Trotz der warmen Außentemperatur friere ich, spüre kaum noch meine Zehen.
„Flame“, sagt er bittend. „Mach es mir nicht so schwer. Wir gehören zusammen. Du weißt es. Ich weiß es. Jules, Miri und Amanda wissen es. Wir werden heiraten. Wir werden wundervolle Kinder haben. Wir werden eine Familie sein. Ich werde für euch sorgen. Du musst dir keine Gedanken machen.“
Ich betrachte meine Hände, die langsam durch das Wasser schrumpelig werden. Mir gefällt das festgefahrene Bild nicht, das er von Mann und Frau hat. Cato ist mir gegenüber noch nie zuvor laut geworden, doch ich sehe, wie er die Fäuste ballt, versucht, seine aufkommende Wut zu zügeln.
„Und wäre es immer so?“, will ich wissen. „Dass du entscheidest und meine Gedanken dazu keine Rolle spielen? Wer sagt, dass ich überhaupt Kinder will? In einer Welt wie dieser?“ Ich stampfe wütend mit dem Fuß auf, was albern und zudem ein sinnloses Unterfangen ist, da das Wasser meine Bewegung dämpft. „Ich kann nicht glauben, dass wir von vorsichtigen, wie zufällig wirkenden Berührungen zum Thema Familiengründung gekommen sind. Und dass du offensichtlich denkst, alles für mich entscheiden zu dürfen.“ Mit diesen Worten drehe ich mich um und wate aus dem Wasser, meine bereits steif gewordenen Glieder wollen mir kaum gehorchen. Ich höre Cato, wie er mir folgt.
„Was ist nur in dich gefahren? Warst du zu lange in der prallen Hitze anstatt unter dem Schirm am Stand? Du hast doch sonst nichts dagegen einzuwenden, wenn ich dich beschütze und für dich sorge. Du kannst mir unmöglich weismachen wollen, du hättest andere Pläne außer uns.“
Nun bin ich diejenige, die ihre Hände zu Fäusten ballt. Meine Nägel graben sich in die Handinnenfläche und ich spüre, wie heißes Blut gemächlich an meiner Haut hinabläuft. „Du bist mein Freund“, schreie ich ihn aus voller Kehle an.
Ich weiß selbst nicht, was ich damit ausdrücken will. Vielleicht, dass Freunde nichts dergleichen sagen, den anderen nicht so sehr herabsetzen, wie er es gerade bei mir tut. Zum ersten Mal in unserem Leben brülle ich ihn an. Ich kann nicht glauben, dass er so wenig von mir hält, dass wir überhaupt in diese Situation geraten sind. Er zuckt nicht zurück. Sein Blick wird hart. In diesem Moment zerbricht etwas in meinem Inneren, der Traum eines kleinen Mädchens, der niemals wahr werden wird. „Du darfst mich beschützen, wenn es notwendig ist. Aber du darfst nicht über mein Leben herrschen. Das ist bestimmt nicht, was ich will.“ Ich warte seine Antwort nicht ab, haste weiter.
Plötzlich ist mir die Idylle zuwider. Als ich das Ufer erreiche, streife ich nur das weite Hemd über und raffe die restlichen Sachen in meinen Armen zusammen. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Cato ebenfalls hastig die Hose anzieht. Ich bin so abgelenkt, dass ich das riesige schwarze Tier erst sehe, als es kaum drei Meter entfernt von mir stehen bleibt. Ganz langsam lege ich meine Habseligkeiten auf den Boden zurück und richte mich vorsichtig auf.
„Nicht bewegen“, mahnt Cato leise, der längst neben mich getreten ist.
„Ein Wolf“, hauche ich. Ich habe nie zuvor einen gesehen, doch ich erkenne ihn aus einem von Julesʼ Büchern über die Pflanzen- und Tierwelt. Auf Papier hat er allerdings nicht so riesig gewirkt, seine Statur ist weniger muskulös gewesen.
Der Wolf gibt ein Knurren von sich, und nun sehe ich ihn. Sehe sein Fell, das schwarz ist, noch schwärzer als die Nacht, die alles verschlingt, sogar schwärzer als mein Haar, welches die Farbe von Rabengefieder hat. Sehe seine Augen und seine Iriden, die wie flüssiges Silber beide Pupillen umfließen. Ich bin gefangen in diesem geheimnisvollen Strudel, unfähig, den Blick abzuwenden.
Cato versucht, mich hinter sich zu schieben, doch ich weigere mich, will noch ein wenig länger dem Blick des Wolfes standhalten. Mein Leben lang bin ich ängstlich gewesen, habe mich hinter Catos starkem Rücken versteckt, meine kleine Hand in seiner, so schwach und zerbrechlich, und trotz all der Schrecken dieser Welt bei ihm immer in Sicherheit. Doch genau in diesem Moment, im Angesicht dieses riesigen Tieres, fühle ich mich tatsächlich stark und mutig und frei.
In diesem Moment fürchte ich mich vor niemandem.
„Bleib zurück“, mahnt mich Cato erneut und der Wolf knurrt, lauter dieses Mal.
„Er wird mir nichts tun.“
„Sag das noch einmal, wenn du wimmernd am Boden liegst“, erwidert er zwischen zusammengebissenen Zähnen – doch ich lasse mich nicht zurückhalten, gehe einfach weiter auf die majestätische Gestalt des Wolfes zu.
Erneut nehmen mich seine Augen gefangen, alles, was ich höre, ist das Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren.
Nichts.
Nichts, außer meinem pulsierenden Blut und meinem heftigen Herzschlag.
Die Zeit steht still.
Poch. Poch. Poch.
Es gibt nur mich, diese silbrigen Augen und diesen wunderbaren Duft, der von dem Wolf ausgeht. Er riecht nach Wald und Kiefernnadeln und Schnee, so wie ich ihn mir vorstellen würde, wenn es noch welchen gäbe. Meine größte Sehnsucht – einmal im Leben diese eisblauen Kristalle zu sehen.
Zwei Schritte entfernt bleibe ich stehen. Schlucke schwer. Mein Herzschlag setzt eine Sekunde aus, nur, um noch schneller als zuvor weiterzustolpern. Nun gänzlich eingehüllt in seinen Duft, fühle ich mich seltsam beschwingt, es ist wie verreisen und heimkommen, alles zusammen. Auch wenn meine Hand zittert, bin ich nicht zaghaft, als ich sie ihm entgegenstrecke. Er ist riesig, sein Kopf ist so groß wie mein gesamter Oberkörper, mit einem Bissen könnte er vermutlich meinen Arm verschlingen. Der Boden bebt, als er den letzten Meter zwischen uns überbrückt. Meine Handinnenfläche trifft auf seine warme Stirn, es ist wie ein Stromschlag, der mich durchzuckt.
„Wunderschön“, flüstere ich.
Keiner von uns bewegt sich. Wir stehen auf der Lichtung, unsere Köpfe nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, sodass sein Atem überraschend kühl über meine Haut gleitet. Vorsichtig streiche ich durch sein Fell, das gepflegter und weicher ist als erwartet.
Aus dem Nichts knackt ein Ast, und plötzlich dreht sich die Erde wieder. Erschrocken trete ich einen Schritt zurück und sehe über die Schulter. Dort steht Cato. Ich habe ihn komplett vergessen. Wie lange war ich in Gedanken versunken? Alles ist möglich. Drei Minuten oder auch eine halbe Stunde.
„Nein“, keuche ich, als ich das gezückte Messer in seiner Hand entdecke. „Das wirst du nicht tun!“
„Was erwartest du? Dass ich ihn laufen lasse? Er könnte das Dorf überfallen! Willst du die Verantwortung dafür tragen?“
Hinter mir stupst mich der Wolf spielerisch an. Er scheint nicht beunruhigt zu sein. „Er wird niemandem etwas tun“, erwidere ich energisch. „Du wirst ihn in Frieden lassen, es sei denn, du willst endgültig zerstören, was zwischen uns ist.“
„Du meinst das wirklich ernst“, erwidert er gepresst. „Verdammt! Was zum Hades ist nur los mit dir? Dein seltsames Verhalten, und jetzt auch noch dieser Wolf, der offensichtlich denkt, er sei ein Hund.“
Mit einem Satz springt der Wolf mühelos über mich hinweg und landet katzengleich vor Cato. Er gibt ein Brüllen von sich, welches die Bäume um uns herum erzittern und meinen Freund in die Knie gehen lässt. Es ist das erste Mal, dass ich sehe, wie Cato vor Furcht erbebt.
„Das genügt“, rüge ich den Wolf, wenn auch nur halbherzig. Für gewöhnlich bin ich kein Mensch, der vorschnell Vertrauen fasst, doch in seiner Gegenwart fühle ich mich sicher. Nicht in Sicherheit, sondern einfach nur sicher, was mich selbst betrifft.
„Niemand tut hier irgendwem etwas.“ Ich atme tief durch. Das ist so was von verrückt. Vielleicht habe ich tatsächlich einen Sonnenstich und halluziniere nur. Plötzlich kann ich die angenehme Kühle des Waldes nicht mehr genießen und all meine Sinne sind auf Flucht ausgerichtet. „Lasst uns heimgehen.“ Mit diesen Worten drehe ich mich um und laufe los. Wie selbstverständlich gehe ich davon aus, dass er mir folgen wird. Als hätte er mich nicht eben erst gefunden.
Die Sonne steht bereits tief am Himmel. Der Wolf macht sich erneut mit einem Stupsen in meinem Rücken bemerkbar. Dann kommt er neben mich und ich sehe, dass er in seinem Mund meine Stiefel und die Hose trägt. Ich lache. Es ist ein heller, viel zu fröhlicher Ton nach allem, was heute mit Cato passiert ist. Schnell presse ich meine Lippen wieder aufeinander.
„Wehe du sabberst meine Sachen voll“, mahne ich ihn.
Er schnaubt und bleckt die Zähne. Der klägliche Versuch eines Grinsens, bei dem er eine beeindruckende Zahl wirklich scharf aussehender Beißer präsentiert.
Ich schüttele den Kopf und blicke nach vorn. Tiere machen nichts dergleichen, sage ich mir im Stillen. Sie transportieren nicht deine Kleider oder lächeln. Doch was ist schon unmöglich in einer Welt voller Götter und Magie? Ich kann jemanden wie ihn gebrauchen. Keinen Beschützer, sondern einen treuen Gefährten. Ich werde herausfinden, ob dieser Wolf so etwas für mich sein kann. Ich glaube nicht an Zufälle. Ich glaube an das Schicksal und daran, dass eines Tages alles so kommt, wie es kommen muss.
Wir benötigen mehr Zeit als erwartet, in der Dämmerung sieht das hoch in den Himmel ragende Gebirge bedrohlich aus. Der Wolf trottet weiterhin gelassen neben mir her und ich entspanne mich wieder. Vorsichtig werfe ich einen Blick über die Schulter. Von Cato fehlt jede Spur. Obwohl ich sauer bin, keimt Sorge in mir auf. Bei Nacht sollte man den Wald meiden, denn keiner von uns kann mit Gewissheit sagen, welche Wesen dort noch in der Dunkelheit hausen. Kreaturen, die uns weit weniger gut gesonnen sind als der schwarze Wolf.
Schon von Weitem sehe ich die Leuchtkäfer, die den Eingang zu unserer Höhle umschwirren. Normalerweise haben wir immer ein Glas von ihnen dabei, damit uns die Nacht nicht überraschen kann, doch ich habe meines wohl am Marktstand vergessen. Eine schlanke, gut trainierte Gestalt kommt uns entgegen. Die fein geflochtenen Zöpfe wippen um ihr Gesicht und ihre braune Haut verschmilzt beinahe mit der beginnenden Dunkelheit.
„Flame, du kleines Luder! Wir haben uns schon Sorgen gemacht“, ruft sie vergnügt.
„Das ist Amanda“, raune ich dem Wolf beruhigend zu. Ist es sonderbar, dass ich sie ihm vorstelle? Vermutlich schon. Ich habe keine Ahnung, wie er auf die anderen reagieren wird. Unsicher betrachte ich ihn von der Seite, doch er nickt nur, als würde er verstehen. Ich lache erstickt auf.
Amanda ist eindeutig die Verrückte in unserer Gruppe. Sie war schon vor mir bei Cato, mehr weiß ich allerdings nicht über sie, denn sie spricht nicht gerne über die Vergangenheit und ich akzeptiere ihren Wunsch. Ihre eigene Schweigsamkeit hält sie jedoch nicht davon ab, mich über alles auszuquetschen.
„Ich habe gehört, du bist mit Cato losgezogen, um endlich deine Jungfräulichkeit zu verlieren, und kommst nun mit diesem Prachtexemplar zurück“, neckt sie mit ironischem Unterton.
Ich ziehe die Nase kraus und gebe einen warnenden Laut von mir. Amanda verfügt über keinerlei Schamgefühl, genauso wenig wie über einen gesunden Selbsterhaltungstrieb, denn sie kommt ohne Scheu auf uns zu. Als sie den Wolf tätscheln will, weicht er zurück. Mit einem diebischen Grinsen im Gesicht fordert sie mich dazu auf, ihr alles zu erzählen.
Ich verdrehe die Augen. „Lass uns doch erst einmal ankommen. Es war ein verdammt langer Tag.“ In Wahrheit ist mir einfach nicht nach Reden zumute.
„Höre ich da etwa einen Fluch aus deinem Mund?“
Ich lächle müde. „Möglicherweise.“
Am Höhleneingang werden wir von Jules und Miri erwartet. An ihrer Haltung erkenne ich, dass sie alles andere als erfreut sind.
„Du hast noch nie Unsinn angestellt, und nun bringst du uns einen Wolf nach Hause.“ Der bemüht fröhliche Ton, den Miri anschlägt, klingt schrill und falsch in meinen Ohren.
„Cato ist kurz vor euch eingetroffen“, bemerkt Jules. Ich frage mich, wie er das angestellt hat. Andererseits kennt er die Umgebung in- und auswendig.
„Er ist äußerst schweigsam“, wirft Amanda amüsiert ein, die sich über die Aufregung zu freuen scheint.
„Das wird nicht nötig sein“, ist das Erste, was ich zu Miriam sage, und meine damit den gespannten Bogen, dessen Pfeilspitze auf den Wolf neben mir gerichtet ist.
„Wir werden sehen. Tiere sind unberechenbar“, erwidert sie knapp, macht auf dem Absatz kehrt und geht bestimmten Schrittes hinein. „Er wird draußen bleiben.“ Jules dackelt ihr mit einem entschuldigenden Schulterzucken hinterher, und auch Amanda folgt ihr. „Rein mit dir. Bevor du festfrierst“, wirft Miri mir noch über die Schulter hinweg zu.
Ich reibe mir über die Arme. So unerträglich heiß die Tage auch sind, bei Nacht ist es bitterkalt. Ich seufze. „Das lief doch gar nicht so schlecht“, sage ich zu dem großen Tier neben mir. Der Wolf verdreht die Augen und ich schüttele darüber erneut den Kopf. „Warte hier.“ Ich nehme meine Habseligkeiten, die er noch immer in seinem Mund verwahrt, und stelle zu meiner Erleichterung fest, dass sie sich nur leicht nass anfühlen. Anschließend schiebe ich den Vorhang aus geflochtenen Gräsern beiseite und schlüpfe in die Höhle. Die anderen sitzen in einem Halbkreis am Boden. Es riecht nach selbst gekochter Kräutersuppe von Jules.
„Wir müssen reden“, kommt es von Cato, der mit dem Rücken zu mir sitzt.
„Wir haben heute genug geredet“, erwidere ich stur.
„Er kann nicht bei uns bleiben. Ich werde mich darum kümmern, wenn du mich lässt.“
Die Wut von vorhin kocht erneut in mir auf, siedend heiß fließt sie durch meine Adern und lässt mich innerlich brennen. Stöhnend greife ich mir an die Stirn, und sofort springt Jules auf, um mir einen Becher zu bringen. „Du hattest heute noch nicht deine Medizin.“
Ich rümpfe unwillkürlich die Nase. Jules besteht darauf, dass ich regelmäßig aufgekochte Lindenblüten in stark dosierter Form zu mir nehme, weil ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr häufig unter Fieberattacken und Kopfschmerzen leide, wenn ich den Trank nicht einnehme. In einem Zug kippe ich die bitter schmeckende Flüssigkeit herunter und unterdrücke meinen Würgereflex. Auch nach all der Zeit kann ich mich nicht damit anfreunden. Ich habe nie kontrolliert, ob es tatsächlich nur Lindenblüten sind, die er mir verabreicht. Aber es sorgt dafür, dass es mir besser geht, und ich hinterfrage es nicht, da ich Jules vertraue.
„Halte dich von ihm fern“, zische ich in Catos Richtung, während ich zu meinem Lager gehe, eine raue Wolldecke schnappe und wieder zum Ausgang eile. Ich muss hier raus, bevor ich etwas sage, das ich im Nachhinein ernsthaft bereuen würde. Nie zuvor habe ich mich weniger zugehörig zu der Gruppe gefühlt, die wir schon seit so langer Zeit sind.
Amanda versucht mich noch einmal aufzuhalten. „Mich würde wirklich brennend interessieren“, setzt sie an, doch ich unterbreche sie mit einer unwirschen Handbewegung. „Morgen“, sage ich und zwinge mich zur Ruhe. „Morgen ist auch noch ein Tag.“
Sie mustert mich misstrauisch, bis sie schließlich beiseitetritt. Es ist offensichtlich, dass die anderen mein Verhalten seltsam finden.
An der frischen Luft atme ich erleichtert auf, als ich den Wolf sehe, der mir gegenübersteht. Für einen kurzen Moment hatte ich Angst, er wäre fort. Kurz streiche ich über sein weiches Fell, bevor ich neben dem Eingang nach links die Gebirgswand entlanglaufe, bis ich eine größere Einbuchtung im Felsen finde und dort die Decke platziere.
„Ich werde die Nacht bei dir hier draußen verbringen“, informiere ich den Wolf, der mir beinahe lautlos gefolgt ist. Er schaut einen Moment zu mir hinab, dann legt er sich neben mich, sodass ich zwischen seinem weichen Fell und der kühlen Felswand liege. Ich schiebe beide Hände unter mein Gesicht, suche eine bequeme Position und atme die kühle Nachtluft ein, die auf meiner Zunge nach Freiheit schmeckt.
Aus mehreren Gründen sollte diese Situation merkwürdig für mich sein, doch dem ist nicht so. Beinahe fühlt es sich so an, als hätten wir schon Tausende Male zusammen unter dem Sternenhimmel verbracht.
Irgendwann durchbricht meine Stimme die Stille. „Du brauchst einen Namen.“ Nachdenklich betrachte ich ihn. Einige frei umherschwirrende Leuchtkäfer werfen Licht und Schatten über uns. Sein großer Körper strahlt Hitze aus, schürt das Feuer in meinem Herzen und wärmt meinen ausgekühlten Leib. „Ich bin Flame“, hauche ich schließlich. Er neigt den Kopf noch ein wenig näher, bis meine Stirn an seiner lehnt. „Ich bin Flame und du bist Dark.“
Ich habe einen ziemlich verkorksten Traum. Unmengen an Bildern und Szenen stürmen auf mich ein. Da bin ich, wie ich meine Hose abstreife und über meine narbige, fleckige Haut streiche. Vor mir ist ein See, gefüllt mit dem schönsten und klarsten Wasser, das ich je gesehen habe. Plötzlich wird die Umgebung düster. Cato und ich streiten, obwohl wir das sonst nie tun. Es werden hässliche Dinge gesagt. Ich will davonstürmen und treffe auf einen riesigen Wolf, der mich vermutlich zum Abendbrot verspeisen wird. Mit einem Mal spüre ich etwas Schweres, das scheinbar quer über meinem Oberkörper liegt. Ich schlage die Augen auf. Das Erste, was ich wahrnehme, sind waberndes Silber und zwei große schwarze Pupillen. Schwach stoße ich den angehaltenen Atem aus. „Dark“, seufze ich. „Ich habe also nicht geträumt.“ Er grummelt. Zustimmend, würde ich meinen.
Ich betrachte die Position, in der wir uns befinden. Wir liegen noch immer seitlich, genau wie wir eingeschlafen sind. Jedoch befindet sich mein Kopf nun auf seinem linken Vorderbein, als wäre es ein Kissen. Sein rechtes Vorderbein liegt über mir, die riesige Tatze bedeckt fast gänzlich meinen Rücken. Ich schmiege mich enger an sein samtig weiches Fell und er schleckt mir über die Wange. Ich quieke erschrocken auf. „Das ist ja … ekelhaft!“
Erneut zeigt er seine beeindruckend spitzen Zähne. Ich will die Augen wieder schließen, diese wohlige Wärme und Geborgenheit genießen.
„Denk nicht mal dran“, vernehme ich Amandas Stimme, die durch das Wolfsfell gedämpft klingt. „Die Sonne ist schon vor einer Stunde aufgegangen, aber dein Schoßhündchen lässt mich nicht an dich heran.“
Ich stöhne. Langsam erinnere ich mich auch wieder an das späte Gespräch mit Jules, Miriam und Cato. Eine Erinnerung, die ich lieber verdrängen würde.
„Es hilft nichts“, murmele ich, und obwohl es mir widerstrebt, schiebe ich Darks schwere Pfote vorsichtig von mir herunter, bevor ich mich aufrichte und auf Amanda zulaufe. Hinter mir kommt Dark ebenfalls auf die Beine und schüttelt sich kräftig. Als ich einen Moment später seine Schnauze im Rücken spüre, muss ich unwillkürlich grinsen. Es ist so verdammt vertraut.
Amanda lächelt, doch es erreicht ihre Augen nicht. „Gehen wir zum Fluss?“ Ich nicke zustimmend und folge ihr. Von den anderen ist nichts zu sehen.
Wir gehen gen Osten, wo sich der Fluss befindet, der aus den Bergen bis ins Dorf fließt. Die Stelle, bei der wir uns immer baden, ist verlassen. Außer uns wohnt niemand so nah am Gebirge. Die Menschen bevorzugen es, dicht an dicht beisammen zu leben, fürchten den dunklen Wald, den niemand außer Cato, Amanda, Jules und Miriam so tief erkundet. Ich weiß nicht, ob unsere Höhle im Gestein schon immer da gewesen ist oder ob Cato sie erbaut hat. Unvorstellbar, welche Kraft man für so etwas aufwenden muss. Früher bin ich sehr neugierig gewesen, habe eine Menge Fragen gestellt. Oft habe ich mich damit beschäftigt, wie viele Geheimnisse die anderen tatsächlich vor mir hüten. Doch es hilft einem nichts, wenn man nie eine Antwort erhält. Als könne er meine Gedanken lesen, stupst Dark mich aufmunternd an, was mir ein Lächeln entlockt. Das ist das Gute an Tieren. Sie sind treu und würden dich nie hintergehen oder belügen.
Amanda räuspert sich vernehmlich, sodass ich meinen Blick von dem Wolf losreiße. „Es wäre mir lieber, wenn er uns nicht beim Baden beobachten würde.“
Ich runzele die Stirn. „Macht er überhaupt nicht.“
„Ich finde nicht, dass er sich besonders wölfisch benimmt“, bemerkt sie skeptisch.
Ich schaue zu Dark, dessen Augen intelligent funkeln. „Warte hier“, bitte ich ihn. Er verharrt einen Moment, dann schnaubt er, dreht sich um, und trottet einige Schritte zurück. „Zufrieden?“, frage ich Amanda.
Sie nickt knapp. „Sei vorsichtig. In einer Welt wie dieser ist nichts, wie es scheint.“
„Und was soll deiner Meinung nach nicht mit ihm stimmen?“
„Ich weiß es nicht. Das wirst du wohl herausfinden müssen.“
„Vielleicht bist du auch einfach nur paranoid.“
Sie mustert mich mit schief gelegtem Kopf, während wir unsere Kleider abstreifen und in den Fluss waten. Ich betrachte die bräunliche Suppe und denke wehmütig an das klare Wasser von gestern.
„Also“, sagt sie schließlich gedehnt, „du und Cato, kein Happy End und glücklich bis ans Ende eurer Tage?“
Sofort versteifen sich meine Schultern. Ich zögere, wäge meine Worte ab. „Er war gestern in einer seltsamen Stimmung. So habe ich ihn nie zuvor erlebt.“
„Heißt?“
„Schätze, er wollte den nächsten Schritt wagen. Und hat dabei einige Dinge, die vorher angebracht gewesen wären, übersprungen.“
Sie sieht mich abwartend an, während sie ihre Arme abschrubbt, und so spreche ich weiter: „Er hat von dem vollen Programm geredet: Heiraten, Familienplanung und so weiter. Es hat mich einfach überrumpelt. Mal ehrlich, wir leben in verrückten Zeiten. Ich habe nicht vor, meine Kinder in einer Höhle großzuziehen, ohne zu wissen, ob wir täglich für ausreichend Nahrung und sauberes Wasser sorgen können. Ich meine, dafür bin ich nicht bereit. Es ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Eigentlich habe ich mir nur eine einzige Sache von ihm erhofft.“
„Was hätte er sagen sollen, um dich zu überzeugen?“
Ich schlucke, mit einem Mal brennen meine Augen. Energisch versuche ich, die Tränen zurückzudrängen. „Er hätte sagen sollen, dass er mich liebt. Dass es ihn schmerzt, wenn wir nicht zusammen sind. Dass die Welt untergehen könne und doch alles gut wäre, weil wir einander haben.“
Nun ist es Amanda, die schwer seufzt. „Flame, es ist sehr selten, dass man jemanden findet, mit dem es so ist, wie du beschreibst. Ich bin mir sicher, dass Cato nur das Beste für dich im Sinn hat. Du bist ihm wichtig. Du bist uns allen wichtig.“
„Ihr seid mir auch wichtig“, flüstere ich nach einer kurzen Pause. „Es ist nur …“ Kopfschüttelnd räuspere ich mich. „Ich zweifle schon länger. Es ist nicht von heute auf morgen geschehen. Ich weiß einfach nicht mehr …“
„Du weißt nicht, ob es genügt“, beendet sie meinen Satz.
Ich nicke, lasse mich in dem flachen Fluss treiben und stütze mich auf den Händen ab. „Tief in mir ist schon immer dieses Sehnen nach etwas, das ich nicht benennen kann.“
„Das Sehnen nach mehr? Niemand will dieses Leben, Flame. Jeder wünscht sich, etwas Besonderes zu sein.“
„Das ist es nicht.“ Ich fahre mir durch mein kurzes Haar. „Ich suche nach etwas, das mich komplett macht. Schon immer fühlt es sich an, als würde etwas fehlen, als hätte ich etwas Wichtiges vergessen, als hätte ich etwas verloren, das mir viel bedeutet hat. Etwas, das ich unbedingt finden muss. Doch mir will nicht einfallen, was es ist. An manchen Tagen löst dieses Gefühl in mir eine düstere Leere aus, die so schwer ist, dass ich nicht weiß, ob ich sie je wieder abschütteln kann.“ Amanda reicht mir ein Stück der Seife, die Jules hergestellt hat, und ich beginne mich einzureiben. „Ich dachte, dass es ausreichen würde, wenn Cato und ich endlich zusammenfinden. Dass er die Leere füllen könnte.“
„Es reicht dir also nicht, die Frau an Catos Seite zu sein?“
Gestern habe ich mir etwas eingestanden, was ich eigentlich schon die ganze Zeit über gewusst habe. „Vor einigen Monaten hätte meine Antwort auf diese Frage vermutlich Ja gelautet.“ Tatsächlich würde es genügen, die Frau an Catos Seite zu sein. Doch das bin ich nicht, bin ich nie gewesen und werde ich auch niemals sein. Ich befinde mich in seinem Schatten, immer einige sichere Schritte entfernt, lechze danach, dass auch mich endlich einmal ein Sonnenstrahl trifft und in helles Licht hüllt. „Es genügt nicht mehr. Ich weiß nicht, wer ich bin. Aber ich muss es herausfinden. Cato würde mir diese Freiheit nicht geben. Ich kenne ihn lang genug, um das einschätzen zu können. Er hat einen festen Plan und er kann nicht loslassen.“
Amanda schüttelt ungläubig den Kopf. „Das war es nun also für dich? Nach all der Zeit? Du wirst nicht für euch kämpfen und das, was ihr habt?“
Ich reiche ihr die Seife zurück und spüle den Schaum ab. Langsam bin ich genervt davon, dass sie offensichtlich so sehr auf Catos Seite steht. „Was ist es denn, was wir haben? Ich habe jahrelang zurückgezogen gelebt, für ihn. Ich habe mich aufgespart, für ihn. Ich habe mich selbst aufgegeben, nur für ihn. Es ist nichts mehr übrig. Ich kann ihm nicht noch mehr von mir geben. Dieser Moment mit ihm im Wasser hat mir die Augen geöffnet. Ich war blind, doch jetzt sehe ich. Ich habe mich geirrt. Auch wenn ein Teil von mir ihn immer lieben wird. Cato ist nicht, was ich brauche.“ Ich sehe ihr fest in die Augen, will ihr zeigen, wie ernst es mir ist. „Ich will nicht mehr diese ängstliche, feige Person sein, die nur von euch über Wasser gehalten wird. Ich muss meinen eigenen Weg finden. Das kann ich hier nicht. Und ihr werdet mich nicht aufhalten. Niemand kann das.“ Als der große schwarze Wolf in mein Sichtfeld getreten ist, da wusste ich, dass ich so sein will wie er. Ungebunden. Unerschrocken. Ich will endlich mein eigenes Abenteuer erleben.
Eine Weile sagt keine von uns etwas. Wir waten aus dem Wasser, setzen uns, um unsere nasse Haut von der Sonne trocknen zu lassen, die zu dieser Tageszeit noch angenehm und erträglich ist.
„Ich glaube dir, dass du deine Wahl getroffen hast und dass du nicht leichtfertig entschieden hast. Du warst in den letzten Monaten sehr in dich gekehrt und bist zu einer cleveren jungen Frau herangewachsen“, sagt Amanda schließlich warm. Ich kann sie nur mit offenem Mund anstarren. Ihr kühler Tonfall von vorhin ist verflogen.
„War das eine Art Test?“, frage ich sie ungläubig.
Amanda lächelt zwar nicht, doch in ihren Augen erkenne ich ein amüsiertes Funkeln. „Ich werde dir nun etwas erzählen, Flame. Und du wirst ganz genau zuhören.“
Ich kann sie nur ansehen und nicken.
„Cato hat dich gestern nicht grundlos ausgeführt. Als ihr weg wart, kam hoher Besuch ins Dorf. Unangekündigt, aber wir wussten trotzdem davon. Die neuen Götter sind unter uns.“
Scharf ziehe ich die Luft ein, doch kein Wort verlässt meine Lippen. Meine Gedanken rasen. Die neuen Götter? Hier? Und immer wieder: Warum? Was führt sie an einen ärmlichen Ort wie diesen? Sind sie sich nicht zu fein dafür?
„Jules hat dir die Geschichten zum Lesen gegeben, von den Spektakeln, die vor langer Zeit zur Jahrtausendwende stattfanden?“ Ich nicke mechanisch und sie fährt fort. „Früher noch, sehr lange vor dem heißen Krieg, bevor die Götter in Vergessenheit gerieten, wurden im ganzen Land zu diesem Anlass rauschende Feste gefeiert. Diese Tradition wollen die neuen Götter wieder aufleben lassen, jetzt da die nächste Jahrtausendwende bevorsteht. Es war zudem Brauch, dass im Frühling vor dem Ereignis ein Turnier veranstaltet wird, an dem zwölf Frauen teilnehmen. Dieses Turnier ging drei Monate. Die Teilnehmerinnen bekamen für jede bestandene Aufgabe ein Stück der Gabe eines Gottes geschenkt. Diejenige, die es bis zum Schluss schaffte, erlangte Unsterblichkeit und durfte auf dem Olymp mit den Göttern leben. Einige von ihnen verliebten sich auch und nahmen einen der Götter zum Gemahl.“
„Warum nur Frauen?“
„Sie galten früher als das starke Geschlecht. Dem ist noch immer so, wenn du mich fragst.“
„Was passierte mit den elf Frauen, die nicht gewonnen haben?“, frage ich mit einem unguten Gefühl in der Magengegend.
„Sie starben“, erwidert Amanda schlicht. „Die wenigsten kehrten lebend nach Hause zurück. Die Turniere waren damals wohl sehr blutrünstig.“
„Das heißt, sie gaben alles auf – sogar ihr Leben –, nur weil die Möglichkeit bestand, mit den Göttern zu leben?“
„Sie ließen ihr altes Leben zurück für die Chance auf mehr. Sie alle waren auf der Suche, und eine von ihnen hat es bekommen.“ Sie sieht mich bedeutungsvoll an, und ich verstehe.
„Und was hat das mit Cato und mir zu tun?“
„Ist das nicht offensichtlich? Er hat Angst, dass sie dich erwählen könnten. Angst, dass du ihn verlassen wirst, für dieses Mehr.“
Ich schüttele den Kopf. Das hatte es also gebraucht, um ihn den ersten Schritt machen zu lassen. Mit einem Mal erfasst mich eine tiefgehende Traurigkeit.
„Man merkt erst, wie wichtig einem etwas ist, wenn die Gefahr besteht, es zu verlieren“, sagt Amanda.
Vor meinem inneren Auge sehe ich Cato, seinen stürmischen Blick, seine starke Haltung. „Ich glaube eher, dass er den Gedanken nicht ertragen kann, etwas zu verlieren, von dem er annimmt, dass es sein Besitz ist. Von dem er denkt, dass er schon immer Recht und Anspruch darauf hatte.“
Amanda verzieht amüsiert die Mundwinkel. „Ich sage doch, aus dir ist eine schlaue junge Frau geworden. Lass dich von niemandem zurückhalten.“
Zögerlich rücke ich an sie heran und schließe sie in meine Arme. Nach einem Augenblick erwidert sie die Umarmung. „Danke. Danke, dass du mich verstehst.“
Sie tätschelt meinen Rücken. „Du kannst immer auf mich zählen.“
Ich schniefe, drücke sie noch etwas fester. „Also, was muss ich noch wissen?“
„Im Prinzip erfüllst du alle Anforderungen. Das Mindestalter beträgt siebzehn Jahre. Man muss gesund sein und darf keine chronischen Leiden haben. Und man muss die Aufgabe bestehen, welche die Götter zur Aufnahme stellen.“
„Was ist das für eine Aufgabe?“
„Das wollten die Sahneschnitten nicht verraten.“ Amanda seufzt. „Sie sind wirklich sehr gut aussehend.“
Verlegen schlinge ich die Arme um die Knie und fahre durch meine Locken. Die Sonne hat sie schon beinahe getrocknet.
„Wird jeder der neuen Götter anwesend sein?“, hake ich mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube nach.
„Davon gehe ich aus. Gestern waren im ganzen Land die Ankündigungen, heute sind bereits die Auswahlen im Land der Fantasie und der Träume, im Land der Hoffnung und des Lichts sowie im Land der Vergangenheit und des Vergessens. Morgen sind wir dann dran, zusammen mit dem Land der Wirklichkeit und dem Land der Zukunft und des Lebens.“
„Schon morgen?“, rufe ich bestürzt aus und springe auf.
Amanda lacht.
„Warum rückst du erst jetzt damit raus?“, frage ich vorwurfsvoll.
Nachdenklich zwirbelt sie ihr Haar zwischen den Fingerspitzen. „Nun ja, als Cato dich mit zur Lichtung genommen hat, war ich mir sicher, dass sich dein sehnlichster Wunsch erfüllt. So lange, wie du ihn schon anschmachtest. Ich dachte, dass die Anwesenheit der Götter überhaupt keine Rolle spielt, wenn er dir endlich gibt, wonach du dich so lange gesehnt hast. Und als du wiedergekommen bist, war dieser Wolf bei dir. Er wirkte etwas einschüchternd, und ich wollte nicht zerfleischt werden, indem ich mich zwischen euch stelle.“
„Er würde dir nie etwas tun.“
„Möglicherweise.“
Schweigend ziehen wir uns wieder an. Die Kleidung kratzt und riecht nicht mehr besonders gut.
Währenddessen frage ich mich, wie es wohl ist, bei den Göttern zu leben. Ausreichend Nahrung, immer etwas Neues zum Anziehen, sauberes Wasser. Im nächsten Moment schelte ich mich selbst, schäme mich für meine teilweise oberflächlichen Wünsche. Als Amanda in die Hände klatscht, schrecke ich zusammen.
„Da nun geklärt ist, dass du morgen teilnimmst, haben wir eine Menge zu tun. Komm raus, du böser Wolf, wenn du uns begleiten willst.“
Das mulmige Gefühl in meiner Magengrube ist noch immer allgegenwärtig und meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen. All das geht mir viel zu schnell. Seit den Ereignissen am See hatte ich keine Sekunde zum Nachdenken und ich habe das Gefühl, mein Leben würde im Zeitraffertempo an mir vorbeiziehen. Ja, ich will ein Abenteuer erleben und nicht mehr in Catos Schatten leben, wo ich mich nicht frei entfalten kann. Aber ist dieses Turnier wirklich die Lösung? Kann ich dort finden, wonach ich mich sehne?
„Was ist los?“, fragt Amanda, die mein Zögern bemerkt hat.
Ein wenig hilflos zucke ich mit den Schultern. „Dieses Turnier klingt aufregend und auch verlockend, doch … ich bin mir nicht sicher, ob das der richtige Weg ist. Schließlich bin ich nicht auf der Suche nach Macht und Unsterblichkeit. Ich würde niemals einen Platz finden oder hineinpassen in die Welt der Götter.“
„Aber das kannst du doch gar nicht wissen, ehe du es nicht versucht hast. Nimm wenigstens an dem Auswahlverfahren hier im Dorf teil. Was gibt es schon zu verlieren?“
Ich runzele die Stirn und mustere meine Freundin. „Warum liegt dir so viel daran, dass ich an diesem Turnier teilnehme? Willst du, dass ich euch verlasse?“
Amanda nimmt meine Hand und drückt sie fest. „Natürlich nicht. Du bist unser Küken, Flame, aber auch die beste Freundin, die ich in diesem Leben habe. Der Gedanke, dass ich bald vielleicht nicht mehr jeden Tag mit dir sprechen kann, schmerzt mich sehr. Dennoch habe ich bemerkt, wie du dich in den letzten Wochen verändert hast. Du warst so ruhig und in dich gekehrt und es ist nicht zu übersehen, dass du hier nicht mehr glücklich bist. Es kommt mir vor, als wärst du eine Blume, der ich jeden Tag dabei zusehen muss, wie sie ein wenig mehr vertrocknet.“
„Das ist jetzt kein besonders netter Vergleich“, werfe ich ein.
Sie lacht und knufft mich spielerisch in die Seite. „Du verstehst doch, was ich meine. Um wachsen zu können, muss man auch mal ins kalte Wasser springen. Wenn du hier bei uns bleibst, wirst du dich nicht weiterentwickeln und zu dir selbst finden. Möglicherweise sollte dieser Ort auf lange Sicht gesehen nie dein Zuhause sein – vielleicht bist du sogar von Anfang an nur eine Durchreisende gewesen. Und wie du vorhin schon sagtest, solltest du dich nicht von uns zurückhalten lassen.“
In einer mütterlichen Geste streicht sie über meine Wange und ich schmiege mein Gesicht gegen ihre Hand.
„Du hast recht“, flüstere ich. „Und trotzdem habe ich Angst.“
„Ich weiß, dass das Turnier überraschend für dich kommt. Aber die Möglichkeiten in dieser Welt sind begrenzt. Es ist ein großer Zufall, dass diese Chance sich dir genau jetzt bietet, wo du dich nach Veränderungen sehnst“, sagt Amanda.
Es ist das erste Mal, dass ich heute lächle und mich dabei vollkommen frei im Herzen fühle. „Ich glaube nicht an Zufall.“ Ich atme tief durch und nicke schließlich. „Du hast mich vorerst überzeugt. Ich werde an der Auswahl teilnehmen.“
Amanda grinst mich zufrieden an. „So mag ich deine Einstellung gleich viel lieber. Nichts ist schlimmer, als sich im Nachhinein zu fragen, was wäre gewesen, wenn …“ Sie will weitersprechen, doch im nächsten Moment sehe ich Dark auf uns zukommen. Sofort schnellt mein Puls in die Höhe. Das kann unmöglich gesund sein. Sobald ich sein weiches Fell und die von ihm ausgehende Körperwärme neben mir spüre, entspanne ich mich. Das Gefühl der inneren Unruhe, welches sich ausgebreitet hat, als er nicht bei mir war, ist verschwunden. Als meine Gedanken allerdings erneut zu dem Turnier abdriften, werde ich schlagartig wieder nervös.
„Was genau müssen wir noch alles erledigen? Weißt du wirklich nicht, was mich morgen erwartet? Sollte ich vielleicht trainieren?“, bestürme ich Amanda mit den Fragen, die mir auf der Zunge brennen. Allein bei der Vorstellung von Pfeil und Bogen und anderen Waffen in meinen Händen schüttelt es mich vor Ablehnung. Meiner Freundin geht es scheinbar genauso, denn sie lacht laut auf, während sie den Weg ins Dorf einschlägt.
„Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass es für diese Aufgabe keiner körperlichen Anstrengung bedarf. Doch wir müssen die Schneiderin aufsuchen. So kannst du den Göttern morgen unmöglich gegenübertreten.“
„Ich habe keine Münzen bei mir.“
„Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich darum.“