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Vor zehn Jahren hat Tanna Murphy ihn ohne ein Wort der Erklärung verlassen und Levi Brogan zutiefst verletzt. Jetzt steht sie wieder vor seiner Tür - heißer und verführerischer denn je. Sie will sich mit ihm versöhnen. Aber so leicht lässt er sie nicht davonkommen! Nach einem Sportunfall kann der Business-Tycoon sich kaum bewegen. Warum also nicht Tanna für eine Weile seine sexy Krankenschwester spielen lassen? Doch die süße Rache wird bald zur prickelnd sinnlichen Gefahr. Will Levi wirklich noch einmal sein Herz riskieren?
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Seitenzahl: 204
IMPRESSUM
BACCARA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2019 by Joss Wood Originaltitel: „Second Chance Temptation“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto in der Reihe: DESIRE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARABand 2163 - 2020 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Roswitha Enright
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 12/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733726485
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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„Verdammt, tut das weh!“, stieß Levi Brogan zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Überall. So etwas passierte eben, wenn man mit dem Motorrad auf einem Schotterpfad ausrutschte und gegen eine Felswand knallte. Aber er war selbst schuld.
Nun war er auf diesen Rollstuhl angewiesen. Und das nicht nur, weil das eine Bein vom Fußgelenk bis über das Knie eingegipst war, sondern weil alles schmerzte, was er bewegte, von den Augenlidern einmal abgesehen. Die Kniescheibe war zertrümmert, und er hatte eine schlimme Muskelzerrung in seinem rechten Schultergelenk, sodass es höllisch wehtat, wenn er Krücken benutzte.
Oh, wie er es satthatte, hier herumzusitzen und sich selbst zu bedauern! Inzwischen war er zu der Überzeugung gekommen, dass er allein nicht zurechtkam und Hilfe brauchte. Und zwar weder von seiner Mutter noch von einer seiner Schwestern. Er liebte seine Familie wirklich von ganzem Herzen, aber leider redeten die drei unentwegt. Über Hochzeiten oder Flitterwochen oder Babys oder Kleider oder Blumen. Und sie bemutterten ihn und wollten ihm ständig etwas Gutes tun. Es war nicht zum Aushalten!
Am Vormittag hatte er sich dann nicht mehr beherrschen können und sie angeschrien, sie sollten ihn in Ruhe lassen und verschwinden. Erschreckt waren sie aus dem Haus gestürzt, und Levi hatte das dumpfe Gefühl, dass er wohl etwas voreilig gewesen war. Er war hilflos. Wann begriff er das endlich?
Frustriert fuhr er sich durchs Haar. Kein Gedanke dran, dass er das unterste Stockwerk seines Hauses verlassen konnte. Den Keller, in dem er sich einen Fitnessraum eingerichtet hatte, konnte er genauso wenig erreichen wie sein Schlafzimmer im ersten Stock. Also musste er auf dem Sofa im Fernsehraum schlafen und das kleine Bad hier unten benutzen. Wie sehr sehnte er sich nach einer heißen Dusche, aber dabei brauchte er Hilfe. Auch die Küche war gefühlt einige Kilometer entfernt.
Und er hatte Hunger.
Ein skeptischer Blick auf die Krücken, dann befühlte Levi seine Schulter. Autsch! Nach den zehn Metern zur Toilette tat sie immer noch verdammt weh. Ohne Schmerzmittel würde er es nicht in die Küche schaffen. Und wenn er Tabletten auf nüchternen Magen nahm, wurde ihm sofort schlecht. Super Aussichten …
Plötzlich klopfte jemand an die Eingangstür.
Levi runzelte die Stirn. Wer konnte das sein? Die Familie benutzte immer die Tür vom Garten aus, die in die Küche führte. Außerdem riefen seine Leute vorher an. Auch seine Freunde Ronan, Carrick und Finn Murphy besuchten ihn häufiger und benutzten dann die Hintertür, die selten abgeschlossen war. Geschäftsfreunde würden vorher anrufen, und die wenigen Freunde, die Levi sonst noch hatte, arbeiteten tagsüber. Und wenn jemand freihatte und ihn besuchen wollte, hätte er ihm vorher eine SMS geschickt.
Also wer hatte da gerade angeklopft? Vielleicht jemand von der Zeitung, ein Reporter? Ein Fotograf? Die Presse hatte ihm aufgelauert, als er aus dem Krankenhaus gekommen war. Aber Levi hatte auf keine der Fragen geantwortet, die er auch kaum verstand, so sehr schmerzte sein Kopf. Selbst seine Mutter und seine Schwestern hatten geschwiegen, was ungewöhnlich war. Sein Vater wäre da ganz anders gewesen, der hatte die Presse geliebt.
Obwohl die Brogans im Umgang mit der Presse immer sehr zurückhaltend waren, wurden Levi und seine Schwestern selten in Ruhe gelassen. Und das nur, weil sie die Kinder von Ray Brogan waren. Denn Ray war Bostons erfolgreichster Geschäftsmann gewesen und hatte das gute Leben geliebt. So hatten die Medien auch diesmal Levis Unfall zum Anlass genommen, erneut über den Vater-Sohn-Konflikt zwischen Levi und Ray zu berichten – immer noch ein beliebtes Thema. Levi hatte Rays Angebot abgelehnt, dauerhaft in die Brogan-Unternehmensgruppe einzusteigen. Dass Levi damit bewies, dass er ganz anders war als sein Vater, war ein gefundenes Fressen für die Presse.
Nein, er war nicht so charmant, nicht so exzentrisch, nicht so impulsiv, wie sein Vater es gewesen war. Gott sei Dank. Levi traf keine übereilten Entscheidungen, machte keine Versprechungen, die er nicht halten konnte, und ging keine gefährlichen Risiken ein, die die Menschen, die er liebte, in Angst und Schrecken versetzten.
Ray war das krasse Gegenteil gewesen. Er liebte Risiken, den Adrenalinschub und hielt Menschen wie Levi, die zur Vorsicht rieten, für fantasielos und langweilig. Er hatte große Erfolge gefeiert, aber auch ebensolche Niederlagen erlitten. Für Levis Mutter war das Auf und Ab schwer erträglich gewesen, aber sie hatte durchgehalten. Levi war zwar nach dem Studium in die Unternehmensgruppe eingetreten, hatte es aber nur ein Jahr dort ausgehalten.
Daraufhin hatte sein Vater ihn als Feigling beschimpft. Er sei für diese Welt nicht geschaffen. Levi hatte ihm nur kopfschüttelnd zugehört. Er hatte seinen Vater nie verstanden, den selten etwas in Verlegenheit brachte und der Kritik gegenüber taub war. Der sich ohne Rücksicht auf Verluste seinen Weg in dieser Welt gebahnt hatte und den die Welt für diese Unerschrockenheit umso mehr liebte.
Levi dagegen hasste Misserfolge, geschäftlich oder privat. Ihm war es wichtig, immer die Kontrolle zu behalten, und er mied Situationen, die er nicht abschätzen konnte. Aber alle Welt erwartete, dass er sich wie sein berühmter Vater verhielt. Und wann immer ihm etwas Unvorhergesehenes zustieß – so wie jetzt der Unfall –, griff die Presse das Ereignis begierig auf.
Er angelte nach einer Krücke, schob den Vorhang ein wenig zur Seite, sodass er seine Einfahrt überblicken konnte, und stutzte. Dort stand ein SUV, den er nicht kannte. Eigentlich zu teuer für einen Reporter …
Wieder klopfte es.
„Herein!“ Im Grunde war es ihm mittlerweile egal, wer vor seiner Tür stand. Wenn es nur jemand war, der ihm ein Sandwich und eine Tasse Kaffee machen konnte … „Ich bin im Fernsehzimmer. Den Flur runter, die zweite Tür links!“
Levi hörte, wie die Eingangstür wieder geschlossen wurde. Den zögernden Schritten zufolge war es niemand, der sich hier im Haus auskannte. „Himmel noch mal!“, fluchte er ungeduldig und schrie dann: „Zweite Tür links!“
„Ich habe verstanden. Bin doch nicht taub.“
Diese Stimme kannte er doch … Und da stand sie auch schon in der Tür – Tanna Murphy. Ungläubig starrte Levi sie an. War sie es wirklich, oder hatte er zu viele Schmerzpillen genommen, sodass er schon Gespenster sah?
Schwarze enge Jeans, dünner Pullover in hellem Türkis, der ihre Kurven sehr vorteilhaft zur Geltung brachte … Ein buntes Seidentuch hielt ihre Locken zurück. Eine schwarze kurze Lederjacke hatte sie sich über die Schultern gehängt. Ihr Gesicht war schmaler als früher und sah etwas älter aus. O mein Gott, war sie schön!
Levi umklammerte die Armlehnen seines Sessels, als wolle er sich daran hindern aufzuspringen, sie in die Arme zu ziehen und das Gesicht in ihrem duftenden Haar zu vergraben. Ob ihre Haut so seidig und glatt war, wie sie aussah? Nackt wollte er sie an sich drücken, wollte ihre runden festen Brüste umfassen, die harten Spitzen reizen und dann fühlen, ob sie zwischen ihren Beinen heiß und feucht war …
Dabei war das alles doch schon lange her, und Levi war schockiert, wie sehr er sie immer noch begehrte. Ihre hellgrünen Augen mit den langen schwarzen Wimpern hatten ihn immer schon fasziniert, ebenso die hohen Wangenknochen und das ausgeprägte Kinn. Wie sehr sehnte er sich danach, ihre vollen Lippen zu küssen. Dank ihrer indischen Großmutter hatte Tanna einen dunklen Teint, so als käme sie gerade aus einem Urlaub in der Karibik zurück. Wenn er sie ansah, dachte er unwillkürlich an gemeinsame Tage am Strand, sie im Bikini oder auch ganz nackt, Sonne, blauer Himmel, funkelndes Meer, Glück …
Aber das war alles lange her.
Bevor sie sein Leben vollkommen durcheinandergebracht und ihn vor seiner Familie, ja, der ganzen Welt lächerlich gemacht hatte. Bevor sie ihn verlassen hatte und seine Welt aus den Fugen geraten war.
Er wollte sie nicht wiedersehen, hatte keine Lust, sich anzuhören, was sie ihm zu sagen hatte. Zu hart hatte er daran gearbeitet, über diesen Schlag hinwegzukommen und sich ein Leben aufzubauen, in dem er gut zurechtkam. Er war sicher gewesen, sie vergessen zu haben. Wie sein Vater hatte Tanna sein Leben aus dem Gleichgewicht gebracht. Und dieses Gefühl, ohne Fallschirm aus dem Flugzeug gestoßen zu werden, wollte er nie wieder erleben.
Er war fertig mit ihr. Ganz bestimmt …
„Was, zum Teufel, willst du hier, Tanna?“, stieß er wütend hervor.
„Ich muss mit dir reden.“ Sie trat in den Raum und blieb dicht vor Levi stehen. Dann sah sie ihn überrascht an. „Was ist denn mit dir passiert?“ Sie zeigte auf sein Bein.
„Motorradunfall“, erklärte er knapp und wies mit dem Kopf zur Tür. „Und jetzt geh, bitte.“
Doch Tanna ließ sich in den Sessel neben ihm nieder, stellte ihre Tasche auf den Boden neben sich und schlug die Beine übereinander. „Wir müssen miteinander reden, Levi“, sagte sie leise und eindringlich.
Wollte er das? Levi runzelte die Stirn. Ganz bestimmt nicht. Hatte sie vergessen, dass sie ihn kurz vor der Hochzeit ohne eine Erklärung verlassen hatte? Und jetzt – nach beinah zehn Jahren – wollte sie ihn um Verzeihung bitten?
Oder vielleicht wollte er es doch? Weil es schließlich Tanna war, die hier neben ihm saß, die einzige Frau, die sein Herz wie verrückt schlagen und ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen ließ, wenn sie bei ihm war. Levi war kein Mann, der leicht Freundschaften schloss. Und bevor er Tanna Murphy begegnet war, hatte er noch nie geliebt. Noch Monate nachdem sie ihn verlassen hatte, hatte er diesen dumpfen Schmerz im Herzen gespürt, wenn er an sie dachte.
Er hatte sie geliebt, hatte sie begehrt und hätte alles für sie getan. Als sie ihn fallen ließ wie eine heiße Kartoffel, war das für die Klatschblätter auf dem ganzen Kontinent ein Festessen gewesen! Und er der größte Trottel aller Zeiten.
„Du vielleicht mit mir, aber ich nicht mit dir!“, fuhr er sie an. „Und jetzt sei so gut und beweg deinen hübschen Hintern zur Tür, Murphy.“
Tanna sah ihn entschlossen an. Verdammt, wie gut er diesen Blick kannte. Genauso hatte sie damals die Schmerzen hingenommen, als sie ihrerseits in einen Unfall verwickelt gewesen war, kurz vor ihrer Verlobung. Sie ließ sich nicht unterkriegen und schon gar nicht wegschicken. Und da er nicht in der Lage war, sie zu zwingen, musste er sich wohl anhören, was sie zu sagen hatte. Er blickte auf sein eingegipstes Bein und zuckte mit den Schultern. „Okay, fünf Minuten, wenn du mir einen Kaffee machst.“
„Fünfzehn Minuten.“
„Zehn Minuten. Aber nur, wenn du mir einen Kaffee und ein Sandwich machst.“
Sie lächelte leicht. „Und wenn ich nichts dergleichen mache, sondern nur hier sitze und dich betrachte, bis du nachgibst?“
Levi griff nach seinem Telefon und wedelte damit vor ihrem Gesicht herum. „Ich kann auch die Polizei anrufen und dich wegen unbefugten Betretens meines Hauses verhaften lassen.“
Sie zögerte, fluchte leise und stand dann auf, die Lippen fest aufeinandergepresst.
„Ich wusste, dass du dich überzeugen lässt“, sagte Levi grinsend. „Was du brauchst, findest du in der Küche. Aber ich will ein richtiges Sandwich mit Schinken, Salat, Tomaten und Käse. Kann gar nicht dick genug sein … Prinzessin!“
Tanna zuckte zusammen, als er ihren alten Kosenamen benutzte, diesmal allerdings mit einem bitteren Unterton, stand auf, nahm ihre Tasche und verließ den Raum.
Levi sah ihr hinterher und strich sich frustriert das Haar zurück. Er musste dringend etwas essen, schon damit er etwas gegen die Schmerzen nehmen konnte. Aber wenn sie jetzt das Haus verließ und damit endgültig aus seinem Leben verschwand, würde er die Schmerzen weiter aushalten müssen. Tanna Murphy hatte wirklich die Gabe, alles zu verkomplizieren. Und er sehnte sich doch nur nach einem einfachen und überschaubaren Leben und jetzt vor allem nach einem Kaffee und einem Sandwich.
Die Küche war leicht zu finden. Tanna Murphy ging zu dem übergroßen Kühlschrank und lehnte die Stirn gegen die Metalltür. Ihr Atem kam schnell, und sie versuchte sich zu fassen. Sie hatte damit gerechnet, dass Levi sie wegschicken würde. Und auch sie wäre am liebsten in ihren Mietwagen gestiegen, um nach Beacon Hill oder, noch besser, zum Flugplatz zu fahren. Aber sie hatte sich fest vorgenommen, die Sache durchzuziehen.
Sie musste endlich diese Panikattacken loswerden, die plötzlich wieder schlimmer geworden waren, kurz bevor sie London verlassen hatte. Wodurch sie wieder ausgelöst worden waren, war ihr klar. Sie war als Erste am Unfallort gewesen. Mehrere Wagen waren ineinandergefahren, und das junge Mädchen, das den Unfall verursacht hatte, hatte mit seinen dunklen Augen und dem schwarzen Haar wie Addy ausgesehen. Tanna hatte wie versteinert dagestanden, unfähig einzugreifen, weil sie sofort wieder an ihren eigenen Autounfall denken musste. Ein Kollege hatte sie zur Seite gestoßen und Erste Hilfe geleistet. Seitdem litt sie wieder verstärkt unter Panikattacken.
Sie war krankgeschrieben worden und auf Anraten ihrer Psychotherapeutin in ihre Heimatstadt Boston zurückgekehrt, um ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Für Freunde und Familie machte sie allerdings nur Urlaub. Denn ihre überfürsorglichen Brüder durften nicht erfahren, mit welch inneren Dämonen sie zu kämpfen hatte.
Leise seufzend, zog sie sich einen Küchenstuhl heran und setzte sich. Sie musste sich unbedingt sammeln und den Mut finden, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Denn das war nötig, um wieder in ihren Beruf zurückkehren zu können. Als Sanitäterin im Rettungswagen musste sie ihre Nerven beisammenhaben. Sonst war sie zu nichts nütze.
Seit einer Woche war sie zurück in Boston. Ihre Therapeutin hier hatte sie bereits dazu gebracht, über den Unfall von vor zehn Jahren zu reden. Sie war mit Tanna zur Unfallstelle gefahren und wollte, dass sie sich mit den Menschen unterhielt, die in den Unfall verwickelt gewesen waren. Das Gespräch mit Isla, deren einziges Kind Addy dabei ums Leben gekommen war, war leider alles andere als gut gelaufen.
Ausgerechnet Addy! Bei dem Gedanken an ihre Freundin stiegen Tanna die Tränen in die Augen. Addy war so intelligent und hübsch und pflichtbewusst gewesen. Ihr Studium musste sie sich selbst verdienen, oft mit zwei Jobs gleichzeitig. Dennoch hatte sie fantastische Noten. An dem Abend, an dem der Unfall geschah, hatte sie sich das erste Mal seit Monaten erlaubt, nicht über ihren Büchern zu sitzen, sondern mit Freunden auszugehen. Und ausgerechnet sie, die nüchtern war und sicher am verantwortungsvollsten von allen, musste bei dem Unfall ums Leben kommen. Wie wahnsinnig unfair das Schicksal doch manchmal zuschlug!
Genauso empfand es auch Isla, was Tanna total verstehen konnte. Addy, arm, aber willensstark, hatte Sozialarbeit studiert und nebenbei in Suppenküchen für Obdachlose und in Tierheimen gearbeitet. Obwohl sie da wenig verdiente, hatte ihr diese Arbeit sehr am Herzen gelegen.
Tanna dagegen, die aus reichem Haus kam, studierte eher nebenbei und ließ keine Party aus. Auch an dem Abend hatte sie zu viel getrunken, und so fuhr Addy Tannas Wagen. Und da sie wenig Fahrpraxis hatte, konnte sie mit dem PS-starken Sportcabriolet nicht richtig umgehen.
Neben all der Trauer war Isla auch wütend auf Tanna, unlogisch, aber verständlich. Denn ihre fleißige, liebe Addy musste sterben, während dieses nutzlose Society-Girl überlebte. Und nicht nur das. Tanna hatte sich auch noch den Fahrer des Wagens geangelt, der scharf hinter ihnen gebremst hatte. Der junge Mann war derjenige gewesen, der den Rettungswagen gerufen und Tanna später im Krankenhaus besucht hatte. Natürlich auch einer von diesen Playboys aus reichem Hause!
Dieser Levi Brogan hatte sich dann mit ihr verlobt, und jeder sagte, dass sie unglaubliches Glück gehabt habe, überhaupt am Leben oder, wie Isla es nannte, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein. Denn sie sei bei dem ganzen Desaster mit ein paar Schrammen davongekommen – und hatte sich obendrein noch einen reichen Mann geangelt.
Dass Isla darüber verbittert war, war mehr als verständlich.
Das alles hatte so schwer auf Tanna gelastet, dass sie vor zehn Jahren nach London geflohen war, weg von ihrem privilegierten Lebensstil und ihrem geliebten Verlobten. Obwohl sie den Wagen nicht gesteuert hatte, fühlte sie sich schuldig, schuldig dem Schicksal gegenüber, in dem ein hart arbeitendes Mädchen sterben musste, während sie, die leichtsinnig ihr Leben vertat, überlebte.
Tanna stützte sich auf dem schweren Holztisch auf und schob sich beide Hände ins Haar. Das Gespräch mit Isla war kurz und unerfreulich gewesen, aber es war vorbei. Jetzt musste sie mit Levi reden.
Er sah gut aus, sehr gut sogar, wenn auch blass und verärgert wegen seiner Verletzungen, die ihn an den Sessel fesselten. Damals, mit vierundzwanzig, war er auch schon groß und gut gebaut gewesen, sodass sich alle Mädchen nach ihm umdrehten. Aber irgendwie war er jetzt, zehn Jahre später, noch attraktiver, obwohl er dieselben dunkelbraunen Haare und blauen Augen hatte. Er wirkte kräftiger und muskulöser, einfach männlicher. Und sehr sexy.
Tanna ließ sich zurückfallen und blickte nachdenklich an die Decke. Dass sie ihn damals ohne Erklärung verlassen hatte, erfüllte sie immer noch mit tiefer Scham. Denn sie wusste, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Sie hatte den Verlobungsring auf dem Tischchen in der Halle von ihrem Elternhaus liegen gelassen, zusammen mit einem kurzen Brief, an ihn adressiert. Sie hätte ihm schreiben sollen, dass sie ein schweres Schuldgefühl mit sich herumschleppe, dass sie anders leben, etwas für Addy tun müsse, um diese Schuld abzutragen.
Sie hätte schreiben müssen, dass sie Angst habe, noch nicht reif für eine Ehe zu sein, und vielleicht Dankbarkeit mit Liebe verwechselte …
All das hätte sie ihm schreiben sollen, aber sie hatte es nicht getan. Stattdessen hatte sie nur zwei Zeilen aufs Papier geworfen. Es täte ihr leid, und sie könne ihn nicht heiraten.
Auch zehn Jahre später bedauerte Tanna nicht, die Verlobung gelöst zu haben. Im Gegenteil, sie wollte die letzten zehn Jahre nicht missen. Aber sie litt nach wie vor darunter, Levi so tief verletzt zu haben. Und sie schämte sich, einfach davongelaufen zu sein, anstatt den Mut gehabt zu haben, mit ihm zu sprechen.
Aber sie hatte Angst gehabt, dass er sie überreden könnte zu bleiben. Und dass sie auf ewig die behütete kleine Schwester ihrer Brüder geblieben wäre, dazu die hübsche Frau eines reichen Mannes, die ihre Tage damit verbrachte, Spendengalas zu organisieren und sich teure Klamotten zu kaufen.
Doch sie wollte mehr sein, das war sie Addy schuldig. Sie wollte wissen, wer sie war und wozu sie fähig war, wollte ihre eigene Persönlichkeit entwickeln. Wollte geben, statt zu nehmen, auch in der Hoffnung, dann endlich dieses quälende Schuldgefühl loszuwerden. Was bisher leider noch nicht geschehen war und vielleicht nie geschehen würde …
„He, Murphy! Musst du das Brot erst backen?“
Tanna fuhr zusammen und stand auf, um das verdammte Sandwich zuzubereiten.
Carrick Murphy, der Älteste der vier Murphy-Geschwister, stand in seinem lichtdurchfluteten Büro und blickte nachdenklich auf seine zwei Brüder. Finn starrte wie gewohnt auf sein Smartphone und nahm hin und wieder einen Schluck Kaffee aus seinem goldfarbenen Becher, den Tanna ihm vor vielen Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Ronan saß nur da und starrte schweigend aus dem Fenster. Offenbar war er mit seinen Gedanken ganz woanders.
Leise stöhnend, strich Carrick sein dunkles Haar zurück. Wahrscheinlich dachten die meisten Leute aus Boston, dass die Brüder, alle drei gut aussehend, reich und momentan unverheiratet, ein tolles Leben führten. Von außen mochte es so aussehen, wenn man nicht bedachte, dass die drei Söhne schon sehr früh ihre Eltern verloren und gemeinsam die kleine Tanna aufgezogen hatten. Und dann war die geliebte Schwester beinahe bei einem schweren Autounfall ums Leben gekommen.
Hinzu kam, dass sie mit ihren Ehen nicht gerade Glück gehabt hatten. Carricks Ehe war ein Irrtum gewesen, Ronans Frau war gestorben, und Finn und Beah hatten sich scheiden lassen. Und auch Tanna hatte ihre Verlobung gelöst und war Hals über Kopf nach London geflohen. Erfolg und Reichtum hatten durchaus ihre Schattenseiten, die nur meist nicht wahrgenommen wurden.
An die Arbeit … Carrick klopfte hart auf den Schreibtisch, und zwei grüne Augenpaare sahen ihn erschrocken an. „Bevor wir wieder an unsere Arbeit zurückkehren, sollten wir noch über Tanna reden.“
Ronan wandte den Blick vom Fenster. „Irgendwas ist mit ihr los.“
Carrick nickte. „Das glaube ich auch.“
„Ich frage mich, warum sie nach Boston zurückgekommen ist. Sie hat doch bisher noch nie Urlaub gemacht.“ Ronan ging zur Kaffeemaschine und goss sich Kaffee ein.
„Mir bitte auch.“ Carrick hielt ihm seinen Becher hin.
Ronan schenkte ein. „Hier.“ Er reichte dem Bruder den Becher. „Im Übrigen habe ich mich schon häufiger gefragt, warum sie unbedingt in London arbeiten muss. Hier gibt es doch auch Rettungswagen.“
„Finde ich auch. Aber wir können sie nicht unter Druck setzen.“ Finn hatte sein Smartphone zur Seite gelegt und sah die Brüder an. „Ihr wisst ja, wie sie ist: sturer als wir drei zusammengenommen.“
Stur und hartnäckig. Sonst hätte sie nach ihrem Unfall nicht sämtliche Spezialisten des Landes aufgesucht, obwohl die Wahrscheinlichkeit, wieder laufen zu können, nur bei zehn Prozent lag. Zehn Jahre später wäre niemand auf den Gedanken gekommen, dass diese aktive und lebhafte junge Frau fünf Monate im Krankenhaus verbracht hatte. Sie hatte sich die rechte Hüfte gebrochen, das linke Fußgelenk war total zersplittert. Davon hatte sie nur ein paar Narben zurückbehalten. Und dass sie leicht hinkte, fiel nur dem auf, der es wusste.
„Weiß Levi eigentlich, dass sie wieder in Boston ist?“, fragte Finn.
Carrick zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“
„Sollten wir ihn informieren?“ Ronan sah zwischen den Brüdern hin und her.
Auch nach Tannas Trennung von Levi hatte die Freundschaft der drei Brüder mit Levi gehalten. Allerdings erwähnte Levi nie ihren Namen und vermied es, sich die zahlreichen Bilder anzusehen, die in Beacon Hill House, dem Elternhaus der Murphys, aufgestellt waren. So wie er sich jetzt verhielt, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, dass er Tanna einmal geliebt hatte.
Obwohl alle drei Brüder gut mit Levi befreundet waren, hatte Carrick das engste Verhältnis zu ihm. Er war der Älteste der drei und fühlte sich irgendwie als ihr Sprecher. „Ich werde es ihm sagen“, versprach er und griff gleich zu seinem Telefon. „Ihr könnt mithören.“
Es klingelte nur einmal. „Ja?“
Carrick grinste kurz. Das war typisch Levi. Bloß kein Wort zu viel sagen. Okay, dann würde er sich auch kurz fassen. „Tanna ist wieder in der Stadt, wahrscheinlich für sechs Wochen.“
„Weiß ich“, brummelte Levi. „Sie ist bereits hier.“ Klick. Er hatte aufgelegt.
Kopfschüttelnd drehte Carrick sich zu den Brüdern um. „Levi entwickelt sich ja geradezu zu einer Quasselstrippe.“
„Das kann man wohl sagen.“ Ronan nahm einen Schluck von seinem Kaffee. „Er war ja ganz außer sich vor Begeisterung, dass Tanna da ist. Na gut, wir haben ihn angerufen, mehr können wir nicht tun.“
„Ich muss euch übrigens noch was erzählen …“ Finn stockte kurz. „Was ziemlich Wichtiges sogar.“
Überrascht wandte Carrick sich zu ihm um. Normalerweise war Finn absolut cool, aber jetzt wirkte er regelrecht aufgeregt.
„Ihr wisst doch, dass Isabel Mounton-Matthews’ Erbe an Keely Matthews und an Joa Jones geht, den sie als Vierzehnjährigen aufgenommen hat. Die beiden haben beschlossen, Isabels exquisite Sammlung zu verkaufen und den Erlös Isabels Stiftung zukommen zu lassen. Und sie wollen, dass wir die Versteigerung übernehmen.“
Murphy International war eins der angesehensten Auktionshäuser der Welt und bekannt für die außergewöhnliche Qualität seiner Stücke. Die Auktion von Isabels Kunstsammlung würde weltweit Aufsehen erregen.
„Ich habe die Sammlung bereits katalogisiert“, fuhr Finn fort, „und dabei sind mir drei Gemälde aufgefallen. Das könnten bisher unbekannte Werke von …“ Er machte eine Kunstpause.
Carrick tauschte einen schnellen Blick mit Ronan. „Nun sag schon, von wem?“
„Keely meinte, dass Isabels Meinung nach mindestens eines von Winslow Homer sein könnte.“
„Ein unbekannter Winslow Homer?“ Carrick konnte es kaum glauben. Homer war einer der bekanntesten Maler des neunzehnten Jahrhunderts, speziell von ländlichen Szenen. „Das wäre ja zu schön, um wahr zu sein.“