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Jacobo Montes ist ein Shooting- Star der zeitgenössischen Kunstszene. Er ist politisch engagiert und arbeitet immer wieder mit Migranten, so auch in der Installation, die er für die Kunsthalle einer spanischen Provinzstadt plant - wo er eine Affäre mit der ansässigen Kunstdozentin Helena hatte. In die hat sich auch Marcos, Student im letzten Semester, verguckt. Dank Helena darf er Montes assistieren und knüpft Kontakte zu Immigranten aus Afrika, die sich auf dem Handwerkerstrich verdingen. Omar ist einer von ihnen - er soll viel Geld für jeden Tag erhalten, den er sich von Montes in eine enge Holzkiste sperren lässt. Doch dann kommt Montes auf die Idee, die Kiste zu vernageln … Mit minimalen Mitteln baut Miguel Ángel Hernández in seinem Romandebüt eine Spannung auf, die den Leser noch über die letzte Seite hinaus umtreibt. Wie weit darf Kunst gehen, um auf das Schicksal der Schwächsten einer Gesellschaft aufmerksam zu machen?
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Seitenzahl: 297
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Verlag Klaus Wagenbach Berlin
Die spanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Intento de escapada bei Anagrama in Barcelona.
Diese Ausgabe wurde mit einer Beihilfe der Abteilung für Bücher, Archive und Bibliotheken des spanischen Ministeriums für Erziehung, Kultur und Sport übersetzt.
La presente edición ha sido traducida mediante una ayuda de la Dirección General del Libro, Archivos y Bibliotecas del Ministerio de Educación, Cultura y Deporte de España.
E-Book-Ausgabe 2014
© 2013 Miguel Ángel Hernández
Editorial Anagrama S.A.
© 2014 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 978 3 8031 4164 4
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3266 6.
Daniel AlarcónDes Nachts gehn wir im KreisRoman
Auf der Theaterbühne ist Nelson seiner Rolle gewachsen – nicht aber im wirklichen Leben. Er ist einer derjenigen, die nach einem Krieg noch immer den Weg zurück in die Normalität suchen. Und so probt auch er seine eigene Existenz, geht im Kreis – und wird dabei vom Feuer verzehrt.
Aus dem Amerikanischen von Friederike MeltendorfQuartbuch. Gebunden mit Schutzumschlag. 256 SeitenAuch als E-Book erhältlich
Tanguy VielDas Verschwinden des Jim Sullivan
Ein amerikanischer Roman
Das Leben war schon mal netter zu Dwayne Koster, und so besieht er sich die Welt nun vorzugsweise von seinem Wagen aus und hört dabei Musik von Jim Sullivan. Das neue Buch von Tanguy Viel ist ein Roman hinter dem Roman. Eine hochkomische, sehr unterhaltsame Parodie ebenso wie eine Hommage an den amerikanischen Roman.
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-HenkelQuartbuch. Gebunden mit Schutzumschlag. 128 SeitenAuch als E-Book erhältlich
Deborah LevyBlack VodkaRoman
Auf Deborah Levy, die preisgekrönte Meisterin der messerscharfen Präzision, ist die Form der pointierten Erzählung genau zugeschnitten: Jede ihrer Geschichten ist wie ein Drink, der in einem Zug genossen werden muss.
Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Quartbuch. Gebunden. 128 SeitenAuch als E-Book erhältlich
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Verlag Klaus Wagenbach Emser Straße 40/41 10719 Berlinwww.wagenbach.de
Ein Künstler pfercht einen Afrikaner in eine Holzkiste und stellt ihn aus – die Kritiker sind begeistert. Doch danach ist der Eingesperrte wie vom Erdboden verschluckt. Der Student Marcos beginnt nachzuforschen und steckt mit seinem bösen Verdacht auch den Leser an: Kann Kunst tödlich sein?
Miguel Àngel Hernández bringt frischen Wind in die spanische Literatur. Kenntnisreich, intelligent und lustvoll.
ABC
Für Raquel, für alles
Prolog
Ein verborgenes Geräusch
I.
Flüchtige Eindrücke
II.
Die unsichtbare Stadt
III.
Schattentanz
IV.
Ikonostase
V.
Es gibt keine Zauberei
Epilog
Ein Roman und kein Essay
Manche Personen zeichnen sich durch das aus, wovor sie fliehen, andere durch die Tatsache, dass sie fliehen.
Adam Phillips
Die Kunst ist eine schmutzige Angelegenheit, man kann sie nicht säubern, ohne dass sie ihre Farbe verliert.
Jacobo Montes
Mit einem Taschentuch vor dem Mund betrat ich den Raum. Schon nach wenigen Metern musste ich stehen bleiben. Der Gestank war unerträglich. Die Fäulnis drang durch jede einzelne Hautpore ein. Mir drehte sich der Magen um, und ein bitterer Geschmack stieg langsam meine Kehle hinauf. Ich schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, um mich nicht zu übergeben. Ich versuchte, meinen Atem so lange wie möglich anzuhalten. Fünf Sekunden, zehn, fünfzehn, zwanzig, dreißig … noch ein bisschen, vierzig, fünfzig … bis die Übelkeit nachließ und mein Körper sich allmählich an den Geruch gewöhnte. Erst dann war ich in der Lage, die Augen zu öffnen und meinen Blick auf die Mitte des Raumes zu richten. Endlich sah ich die Kiste, theatralisch beleuchtet stand sie in der Dunkelheit.
Die etwa ein Meter hohe und anderthalb Meter breite Konstruktion war aus Holz mit Winkelverstärkungen aus Metall. Daneben standen zwei kleine Bildschirme, auf denen unterschiedliche Filmsequenzen liefen. In der ersten stieg eine Person in eine Holzkiste. Nach ihr kam eine andere Person und machte den Deckel zu. Diese Handlung wiederholte sich in einem fort. Der zweite Bildschirm zeigte die verschlossene Kiste. Niemand legte sich in sie hinein oder stieg aus ihr heraus. Die Kiste stand einfach da. Es war dieselbe, die den Geruch verströmte, bei dem sich mir der Magen umdrehte. Dieselbe, die nun im Pariser Centre Georges Pompidou vor mir stand. Dieselbe, neben der auf einem kleinen Schild zu lesen war: Jacobo Montes, Fluchtversuch, 2003.
Das Werk war Teil der Ausstellung, die die Saison des Kulturzentrums eröffnete. Ein verborgenes Geräusch. Was die Kunst verheimlicht. Mehr als fünfzig Werke, von den historischen Avantgarden bis hin zur Gegenwart, die aufzeigen wollten, dass die Kunst unseren Blicken immer etwas entzieht. Verborgene, verschleierte, ausgemusterte, verdeckte, verhüllte, verschwommene und sogar zerstörte Kunstwerke. Duchamp, Manzoni, Morris, Christo, Acconci, Beuys, Richter, Salcedo … Und zu guter Letzt, wie sollte es anders sein, Jacobo Montes, der große gesellschaftskritische Gegenwartskünstler.
Ich war nach Paris gefahren, um ein Buch zu Ende zu schreiben. Das Bildungsministerium hatte mir einen Fahrtkostenzuschuss gewährt, und ich hatte vor, endlich die Forschung abzuschließen, mit der ich mich die letzten zehn Jahre meines Lebens beschäftigt hatte: der Bruch mit dem visuellen Vergnügen in der Gegenwartskunst. Diesem Thema hatte ich meine Doktorarbeit gewidmet. Die meisten Texte, die ich seither verfasst hatte, kreisten um genau dieses Problem. Aber sie waren überall verstreut, in Zeitschriften, in Katalogen, und ich fand nicht den richtigen Weg, dem Ganzen eine Form zu geben. Nach Jahren frenetischer Arbeit war der Moment gekommen, alles zusammenzuführen, es umzuschreiben und das Buch endgültig abzuschließen. Die Ausstellung war das perfekte Alibi für einen Neuanfang. Und der Aufenthalt sollte mir dazu dienen, der Angelegenheit die nötige Zeit zu widmen.
Ich wusste seit langem, dass die Ausstellung in Paris eröffnet würde. Und ich richtete alles so ein, dass mein Aufenthalt mit der Vernissage zusammenfiel. Dass ein Kulturzentrum wie das Centre Pompidou eine Ausstellung über das Versteckspiel und das Verheimlichen in der Kunst organisierte, bestätigte die fortwährende Aktualität meiner Arbeit über das Nicht-Sehen. Die Ausstellung passte genau zu meinem Forschungsgebiet. Das Verstecken und Aus-dem-Blickfeld-Nehmen ist nichts anderes als eine Enttäuschung des Zuschauerblickes. Verheimlichen, ausmustern, verhüllen, einschließen … das Sehvergnügen zerstören.
Ich fuhr nach Paris, um ein Buch zu schreiben. Das sagte ich zumindest in der Universität. Und das sagte ich auch mir selbst. Aber im Grunde wusste ich, dass es nicht die ganze Wahrheit war. Da war noch etwas. Und ich war sicher, dass ich es an diesem Ort antreffen würde. Etwas, das ich jetzt vor mir hatte und bei dem sich mir der Magen umdrehte. Jacobo Montes, der Künstler, um den man nicht herumkam, der Umjubelte, die alles bestimmende Gestalt der Gegenwartskunst. Und sein Meisterwerk, Fluchtversuch, nach dem ich so oft gesucht hatte, mit dem mich zu konfrontieren ich vor zehn Jahren noch nicht gewagt hatte, das mich seit damals ununterbrochen verfolgte.
Ich war nicht allein in der Ausstellung. Die Besucher umringten die Kiste und versuchten dem, was sie sahen, irgendeinen Sinn abzugewinnen. Sie überlegten, was sich wohl im Innern dieses mysteriösen Objektes befinden mochte. Sie suchten nach einem Zusammenhang zwischen den gezeigten Videos und dem, was sie vor Augen hatten. Sicher fragten sie sich, ob die Person, die in die Kiste gestiegen war, immer noch darin lag, ob der unerträgliche Verwesungsgeruch etwas mit dem Körper zu tun hatte, der nirgends mehr auftauchte. Ich wusste, dass ihnen diese Möglichkeit durch den Kopf ging, dass sie dachten, dass da etwas nicht stimmte, dass im Grunde alles ein einziger Widerspruch war, ein Spiel … Ein Kunstwerk eben. Ich ahnte es, ich erkannte ihre Blicke wieder, verstand ihre Fragen. Ich hatte sie mir selbst tausendmal gestellt. Immer wieder. Wie sie. Weil auch ich nicht wusste, was sich in der Kiste befand.
Aber es gab etwas, das ich wusste und die anderen nicht. Die Geschichte der Kiste, ihre Vergangenheit, ihre Herkunft. Ich kannte sie besser als jeder andere im Raum. Besser als der Museumsdirektor, der Kurator der Ausstellung und die Kunstkritiker der Fachzeitschriften. Besser als sie alle. Ich kannte sie, weil ich dabei gewesen war. Weil ich damals vor zehn Jahren das Privileg genossen hatte, Zeuge dieses Fluchtversuchs zu sein.
Jetzt, während ich den Besuchern zuschaute, wie sie Vermutungen darüber anstellten, was sie vor Augen hatten, kamen mir die Bilder wieder in den Kopf. Und in diesem Moment wurde mir klar, dass dort drinnen noch ein Teil von mir steckte. Auch wenn ich vor der Kiste stand, meine Geschichte war darin eingeschlossen. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich den Namen Montes zum ersten Mal hörte. Ich erinnerte mich daran wie an einen dumpfen Schlag. Montes. Ein Hammerschlag. Ein gleißender Blitz, der meine Netzhaut pulverisierte. Montes. Ein hölzerner Schrei.
Und alles tat sich wieder vor mir auf.
Wie ein Fächer entfaltete sich die Vergangenheit vor mir. Vorlesungsende 2003, Montes, Helena, die Stadt, Lügen, Enttäuschungen, flüchtige Eindrücke, Schatten, Fluchtversuche … Und Omar, der unglückliche Omar. Alles war da, verschwommen, diffus, freiwillig in einem Winkel des Gedächtnisses verstaut. Eine dichte Wand aus Bildern hatte mir die Sicht verstellt. Aber der Anblick der Kiste, der Gestank, der bittere Geschmack, das zurückgehaltene Erbrechen, der verkrampfte Magen … all das verbündete sich an diesem Abend, um das Erlebte in die Gegenwart zurückzuholen.
Mit einem Paukenschlag öffnete sich die Bilderkiste.
Und wie ein unaufhörliches Rauschen lebte die Geschichte wieder in meinem Kopf auf. Ein verborgenes Geräusch, das ich nicht mehr abstellen konnte.
Am Anfang war das Bild. Die Eichel in Nahaufnahme auf einem Brett. Dann der brutale Akt. Der Hammer, der Nagel, der dumpfe Schlag, der das Stück Fleisch durchbohrt und an das Holzstück nagelt. Das Bild, ein Blitz auf der Leinwand, der mich taumeln ließ. Und etwas später die Stimme: »Wer zu empfindlich ist, kann gerne den Raum verlassen.« Die Warnung, wie immer, nach dem Bild. Erst der verstörende Anblick, dann die warnenden Worte. Zu spät. Wie immer.
Das Bild, der dunkle Hörsaal, die letzte Kunstvorlesung und Helena, ihre Stimme, die vor der Grausamkeit der Bilder warnt und dem gezeigten Film einen Titel gibt: SICK: The Life and Death of Bob Flanagan, Supermasochist. Kirby Dick. 1997.
Nailed, die auf die Leinwand projizierte Aktion von Bob Flanagan, drang auch in meine Pupillen ein wie ein Nagel und blieb dort für immer stecken. Der Hammerschlag durchlöcherte meine Netzhaut, wie sicherlich auch die meiner Kommilitonen. Einige wandten das Gesicht ab. Andere kniffen sogar die Augen zu. Niemand konnte den Anblick der durchbohrten Eichel ertragen. Und wenn doch noch jemand auf die Leinwand schaute, wurde ihm schwarz vor Augen, als ein paar Blutstropfen auf die Kamera spritzten, die die Aktion aufzeichnete.
Das Bild war Teil des Films. Außerhalb dieses Zusammenhangs war es nicht zu verstehen. Und der Kontext, Bob Flanagans Leben, das die Bilder darstellten, zeigte, dass der Künstler den Schmerz liebte, dass er ihn genoss. Er war seine Rettung. Die Qualen der Krankheit – die Mukoviszidose, an der der Künstler seit seiner Kindheit litt – überstand er durch seinen eigenen Schmerz. Einen selbst zugefügten Schmerz, der ihm nicht nur Lust bereitete, sondern ihn auch lebendig machte. Der Schmerz der Krankheit roch nach Tod, Eiter und Schleim. Der Schmerz des Blutes der zugefügten Wunde war pure Lebenskraft. Als Flanagans Lebensgefährtin ihm an einer anderen Stelle des Films mit einem Messer in die Hoden schneidet, ihm eine Stahlkugel in den After einführt und ihm mit einem Seil die Kehle zuschnürt, bis er fast erstickt, scheint sich der Künstler befreit zu fühlen. Und sein lustvolles Stöhnen zerstört das chirurgische Ambiente der inszenierten Autopsie.
Die meisten Mukoviszidosekranken sterben vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr. Flanagan hatte die vierzig erreicht. Sein Schmerz, der gewaltige Schmerz, hatte ihn am Leben erhalten. Zumindest bis zum Ende des Films. Denn zum Schluss, wie konnte es anders sein, starb Flanagan im Krankenhaus bei dem Versuch, der Rolle des Künstlers zu entkommen, die er einen Großteil seines Lebens gespielt hatte.
In diesem Moment kam mir Flanagan wie ein Wunder vor.
Ein makabres Wunder.
Als der Film zu Ende war, schaltete jemand das Licht an. Neben der Leinwand, an den Tisch gelehnt, stand sie da, Helena, ganz in Schwarz gekleidet, mit dunklem Haar, langem Pony, schmalem Gesicht, blasser Haut, zerbrechlich, schwach, mit Augenringen, als wäre sie krank, als wäre sie einer Performance von Flanagan entflohen.
Mit brüchiger Stimme hauchte sie:
»Reaktionen?« Sie sah in den Hörsaal und wartete auf eine Antwort. Niemand sagte etwas.
Noch einmal:
»Fällt euch nichts dazu ein?«
Nur vereinzeltes Gemurmel. Unverständlich. Dann kamen die Worte.
»Völlig krank.«
»Der gehört eingesperrt.«
»Die Welt ist voll von Verrückten.«
Alle schienen einer Meinung zu sein. Flanagan sei ein Geisteskranker. Er sei verrückt. Er sei kein Künstler. So etwas dürfe nicht gezeigt werden. Ich verstand ihre Kommentare. Etwas an den Bildern brachte jeden aus der Fassung. Aber ich spürte auch, dass da etwas war, das über bloße Verrücktheit hinausging. Etwas, das es wert war. Ich sah es vor mir, ich war mir sicher. Deshalb beschloss ich, mich zu äußern.
Ich notierte mir ein paar Argumente auf einem Blatt, als wollte ich einen Vortrag halten, meldete mich und begann zu sprechen, wobei ich mehr Angst als sonst etwas empfand:
»Also«, sagte ich, »meiner Meinung nach überrascht und empört uns das Bild, weil wir es nicht erwartet haben. Ganz im Gegensatz zu den grausamen Bildern im Fernsehen. An das Leben mit ihnen haben wir uns längst gewöhnt.«
Meine Kommilitonen sahen mich an. Nur wenige teilten meine Ansicht. Ich schaute zu Helena. Zumindest sie schien meiner Argumentation zu folgen. Also fuhr ich fort. Ich führte an, dass diese schrecklichen Bilder ein wesentlicher Bestandteil unserer Ernährung seien und vielleicht schon niemand mehr ohne die tägliche Darbietung hungernder Kinder, leidender Mütter und verstümmelter Körper normal verdauen könne. Dass wir unser Essen ohne diese würzenden Zutaten möglicherweise nicht so gut vertragen würden. Salz, Essig, Öl und, natürlich, Blut, Eingeweide, Arme, Beine und Wehklagen. Irgendeine innerliche Befriedigung mussten uns diese Bilder offenbar verschaffen, wenn wir sie weiterhin ansähen, wenn wir weiteräßen, als wäre nichts dabei, und nicht zur Waffe griffen und anfingen, auf der Straße herumzuballern und für Ordnung zu sorgen.
Ich hatte mich in Fahrt geredet. Eigentlich wollte ich längst aufhören, wusste aber nicht, wie. Es war mir schon immer schwergefallen, das Wort zu ergreifen, noch schwerer aber, mich wieder zu bremsen.
»Ich glaube nicht, dass wir durch Bilder abstumpfen und darum nichts mehr sehen«, fuhr ich fort, »nicht die Medien betrügen uns. Wir sind selbst daran schuld, im Grunde wollen wir diese Bilder beim Essen im Hintergrund haben. Wir sind Vampire, erfreuen uns am Blut und denken, unser Dasein hat nur dann einen Sinn, wenn wir merken, dass der andere völlig am Arsch ist und ein ums andere Mal im Dreck versinkt. Vor dem Bildschirm fühlen wir uns sicher. Und manchmal geben wir vor, echtes Mitleid zu empfinden. Aber wir empfinden einen Scheiß. Manchmal vergießen wir sogar eine Träne. Und die Träne fällt in die Suppe. Dann essen wir weiter und stellen fest, dass die Suppe jetzt noch leckerer ist und mit unseren Tränen alles besser schmeckt. Aber es sind nicht unsere Tränen. Es ist das Blut des anderen, das vergossene Blut. Das ist nämlich richtig salzig. Das gibt erst die volle Würze. Unsere Tränen sind ein Scheißdreck gegen dieses würzige Blut.«
Nachdem ich das gesagt hatte, war ich so erschöpft, als hätte ich etwas aus meinem Innern hervorgeholt, das ich schon lange mit mir herumgetragen hatte. Niemand sagte etwas. Nur ein Schnauben war zu hören. Auf das Pult gerichtete Blicke. Ein paar Sekunden Stille. Eine halbe Ewigkeit. Und erst ganz zum Schluss bedankte sich Helena für den Beitrag.
Die restlichen Neonlampen gingen an – bis dahin hatten wir im Halbdunkel gesessen –, und ich packte langsam meine Notizen ein. Inmitten des Tumults hörte ich wieder Helenas Stimme.
»Einen Moment noch«, sagte sie. »Morgen ist die letzte Sitzung. Wir schließen den Kurs mit dem Werk von Jacobo Montes ab. Wenn euch Bob Flanagan extrem vorkam, bin ich gespannt, was euch zu Montes einfällt.«
Jacobo Montes. Ich hörte den Namen zum ersten Mal.
Damals wusste ich noch nicht, dass ich ihn nie wieder aus meinem Kopf bekommen würde.
»Ich bin’s. Ich wollte dich an was erinnern. Du weißt schon. Und diesmal kannst du dich nicht drücken«, sagte die Frauenstimme durch die Gegensprechanlage.
Ich erkannte Sonia sofort und konnte mir auch schon denken, an was sie mich erinnern wollte, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob ich mich drücken sollte oder nicht. In der nächsten Woche begann die Prüfungszeit, und bevor alle in Klausur gingen, stand die letzte große Party an.
»Wie geht’s? Was machen die anderen?«, fragte sie, nachdem sie hereingekommen war und es sich auf dem Wohnzimmersofa bequem gemacht hatte, mit übereinandergeschlagenen Beinen wie eine Hollywoodschauspielerin.
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