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Pilot Christoph Wilder wird einem Forschungsprojekt zugeteilt, bei dem ein Flugzeug mit einer Zeitmaschine ausgestattet wird. Beim Jungfernflug wird die Maschine in das Jahr 1939 entführt, wo es den Entführern - politischen Aktivisten - gelingt, Adolf Hitler zu töten. Die Crew des Flugzeugs kann in die Zukunft zurückkehren, kommt aber in einer Gegenwart heraus, die von einem Atomkrieg verwüstet wurde. Verzweifelt versucht Christoph mit seinen Kollegen herauszufinden, was geschehen ist. Ein spannender Roman zwischen Science-Fiction und Thriller im Stil von Michael Crichton.
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Georg sprang an der ersten Haltestelle auf der Rosenheimer Straße aus der Tram. Er war der einzige Fahrgast, der hier ausstieg. Die meisten Leute waren an diesem nasskalten Novemberabend wohl zu Hause und wärmten sich am Kaminfeuer. Es war schon dunkel gewesen, als er, von Ulm aus kommend, am Münchner Hauptbahnhof in die Straßenbahn umgestiegen war.
Er wartete, bis sich die Tram bimmelnd in Bewegung gesetzt hatte, und ging dann langsam die Rosenheimer Straße hinunter. Ein Wagen kam ihm entgegen. Zwei Männer, sie trugen Schirmmützen und schwarze Uniformen. Wahrscheinlich SS. Georg beschleunigte seinen Schritt und blickte zu Boden, wie ein Arbeiter, der in diesem ungastlichen Wetter einfach nur schnell nach Hause wollte.
Die Männer in ihrem Fahrzeug passierten ihn, ohne sich um ihn zu kümmern. Als er einen Blick zurück riskierte, bog der Wagen soeben in die Hochstraße ab. Langsam ging Georg weiter, ließ die Schleibinger Straße rechts liegen und hatte wenige Minuten später sein Ziel erreicht. Er stand vor dem steinernen Bogen des Bürgerbräukellers. Er drückte sich einen Moment vor dem Eingang herum und beobachtete das Gelände. Natürlich wusste er, dass er sich dadurch verdächtig machte, ƒaber er wollte sichergehen. Er sah weder Soldaten noch SS-Angehörige. Nur ein sichtlich angeheiterter Mann in einem verschlissenen, schmutzigen Anzug durchquerte das Tor, ohne ihn zu beobachten.
Georg seufzte und setzte sich in Bewegung. Er ging unter dem steinernen Bogen hindurch und schritt zielstrebig auf den Eingang zu. Klaviermusik und Gelächter drang aus einem Fenster auf den Hof.
Was war das? Er drehte sich um, hatte er doch aus dem Augenwinkel eine Bewegung vernommen. Georg litt gewiss nicht unter Verfolgungswahn, aber manchmal hatte er das Gefühl, jemand sei hinter ihm her. Menschen, die ihn einen Augenblick zu lange anstarrten, wie ein Gestapo-Scherge, der ihn observieren sollte. Fahrzeuge, die er mehrmals sah, als seien sie im Kreis gefahren, um ihn nicht aus den Augen zu lassen. Uniformierte SS-Soldaten, die sich umblickten, scheinbar um ihn in der Menge zu suchen. Georg wusste, dass es Einbildung war. Denn wenn jemand wirklich etwas von seinem Vorhaben erfahren hätte, dann wäre er schon längst festgenommen worden.
Mit einem Ruck zog Georg die Eingangstür auf, durchquerte den Vorraum und stellte erleichtert fest, dass sich niemand auf dem Gang aufhielt. Die wenigen Gäste, die heute hier waren, befanden sich wohl alle in der Schänke. Er ging an der Garderobe vorbei und zog die Tür zum großen Saal auf. Sie war - wie immer - unversperrt. Er schloss die Tür hinter sich. Genügend Licht fiel von draußen durch die Fenster herein, daß er den gewölbeartigen Raum gut erkennen konnte. Tausend Leute konnten hier Platz finden und weitere hunderte auf den ausladenden Galerien, die sich links und rechts oben befanden. Ohne Mühe fand er den Weg zur nächsten Treppe, die ihn auf die Galerie brachte. Aber nach den vielen Nächten, in denen er hier seinen Plan vorbereitet hatte, hätte er seinen Weg selbst mit verbundenen Augen gefunden. Oben angekommen, schlich er gebückt an einer Reihe Tische vorbei, bis er die Säule erreichte, die in der Mitte der Galerie das Dach abstützte. Sie sah völlig unverdächtig aus. Langsam beugte er sich näher heran, wandte den Kopf, bis sein rechts Ohr direkt vor der Holzverkleidung ruhte.
Georg hielt den Atem an und hörte ganz leise, wie aus weiter Ferne, das regelmäßige Ticken zweier Uhrwerke. Erleichtert atmete er auf.
Dann ging er in die Knie, holte ein kleines Taschenmesser aus seiner Jacke und hebelte die Holzverkleidung auf. Darunter befand sich ein koffergroßes Loch im Mauerwerk der Säule, das er in mühsamer nächtlicher Arbeit mit einem Handbohrer während der vergangenen Wochen hineingetrieben hatte. Den Sprengstoff, im Frühjahr bei einer Anstellung in einem Steinbruch in Königsbronn zusammengeklaut, hatte er schon vor Tagen deponiert. Ebenso den Zünder in die Säule eingebaut. Georg hatte sich eine Konstruktion einfallen lassen, bei der ein von einer Feder angetriebener Schlitten die Pulverladung dreier Gewehrpatronen auslösen würde. Besonders stolz war er auf das Uhrwerk. Ja, das Uhrwerk ...
Georg war ein fähiger Handwerker, aber die Konstruktion seiner Bombe hatte ihm alles abverlangt und er hatte in seiner Werkstatt in München Wochen mit dem Bau verbracht. Er wollte absolut sicher gehen, dass sein Plan aufging, und darum hatte er nicht nur eine Uhr, sondern gleich zwei eingebaut, sodass der Zünder auslösen konnte, selbst wenn eine stehenblieb. Außerdem hatte er die Mechanik mit mehreren Tagen Vorlauf einstellen wollen, was eine Sonderkonstruktion erforderte. Heute war er nur da, um sicherzugehen, dass er auch alles richtig gemacht hatte. Befriedigt stellte er fest, dass beide Uhrwerke auf die Minute genau gingen, obwohl er sie schon vor zwei Tagen eingestellt hatte. Es waren Präzisionsuhrwerke, darauf hatte er Wert gelegt.
Er überprüfte nochmal die Einstellungen des Uhrwerks. Die Veranstaltung würde um zwanzig Uhr beginnen und mehrere Stunden dauern, also schien ihm zwanzig Minuten nach neun eine gute Zeit für das Auslösen des Zünders zu sein. Georg überlegte fieberhaft, ob er irgendetwas vergessen haben könnte. Aber er hatte so gewissenhaft gearbeitet wie möglich und er würde der Sache jetzt ihren Lauf lassen müssen.
Er schloss das Uhrengehäuse und brachte den mit Kork verkleideten Deckel an der Abdeckung an. Zuletzt fixierte er die Holzverkleidung der Säule und vergewisserte sich, dass nichts auf seine Manipulation hindeutete.
Es war so einfach gewesen, die Bombe zu installieren, trotz der vielen Arbeitsstunden. Sicher, vor einigen Tagen hatte ihn ein Angestellter auf der Galerie gesehen, als der Bürgerbräukeller noch geöffnet war und er auf die Einschließung wartete, aber er hatte es geschafft, sich mit einer abenteuerlichen Geschichte über das Ausquetschen eines Furunkels herauszureden. Am nächsten Tag hatte er es einfach erneut versucht und ohne Störung weiterarbeiten können. Der Saal wurde morgens auf- und abends wieder abgeschlossen. Da der Bürgerbräukeller zwei Eingänge an verschiedenen Straßen hatte, nutzten ihn einige Münchener als Abkürzung, wenn sie von der Kellerstraße in die Löwenstraße gelangen wollten, sodass Passanten hier nichts Ungewöhnliches waren. Selbst jetzt, gerade mal einen Tag vor der geplanten Rede des Führers, gab es nicht die geringsten Sicherheitsmaßnahmen. Mit der Hand wischte Georg einige Stückchen Putz vor der Säule beiseite.
Es war mittlerweile nach Mitternacht und die Gaststätte würde bereits abgeschlossen sein. Georg ging zu dem kleinen Vorratsraum am Ende der Galerie, dessen Eingang lediglich durch eine spanische Wand verdeckt wurde. Er hatte sich darin während seiner Nächte hier mit einigen Kartons ein Versteck hergerichtet und rollte sich hinter der Pappe zusammen. Georg versuchte, ein wenig Schlaf zu finden, was ihm Mühe bereitete. Nervös rutschte er auf dem kühlen Boden hin und her und grübelte darüber nach, was er vergessen haben könnte. Schließlich, es mochte schon drei Uhr sein, fiel er in einen unruhigen Dämmerzustand.
Ein Geräusch ließ Georg aufschrecken: das Drehen eines Schlüssels in einem Schließzylinder. Es kam von vorn, wo die Küche war. Georg blickte auf seine Taschenuhr. Es war schon sechs Uhr in der Früh, aber natürlich immer noch dunkel. Die ersten Angestellten waren offenbar eingetroffen.
Er rappelte sich auf und rückte die Kartons zurecht, sodass nichts auf seinen Aufenthalt hindeutete. Jetzt musste er nur noch darauf achten, dass er ungesehen aus dem Saal verschwinden konnte. Er stahl sich die Galerie entlang. Nachdem er die Treppe hinuntergeschlichen war und vor der Tür des Saales stand, blickte er sich ein letztes Mal um. Mit Stolz betrachtete er die Säule, in der seine fast schon liebevoll konstruierte Bombe ruhte. Auf der anderen Seite würde heute Nachmittag ein Podium aufgestellt werden. Am Abend sollte auf diesem Podium Adolf Hitler stehen und, wie jedes Jahr, seine Rede halten, umgeben von seinem Stab und den Größen des NS-Regimes. Georg hatte genug Sprengstoff in der Säule versteckt, um den verhassten Führer mitsamt seinen engsten Mitarbeitern in den Tod zu reißen. Um den Krieg in Polen zu verhindern, war es nun zu spät, aber Georg war überzeugt, dass er mit seinem sorgfältig geplanten Attentat eine noch viel größere Katastrophe abwenden würde.
Er atmete tief durch und verließ den Saal. Die Tür schloss er leise hinter sich. Stimmen drangen aus der Küche, als Georg zum Notausgang am anderen Ende des Ganges schlich. Geräuschlos zwängte er sich an mehreren Kisten vorbei ins Freie. Niemand hatte ihn bemerkt. Es war noch dunkel, aber bis zur Dämmerung würde es nicht mehr lange dauern. Georg atmete tief durch und genoss die kühle Novemberluft, die seine Müdigkeit vertrieb.
Was, wenn durch einen unglücklichen Zufall beide Uhren stehenblieben? Dann wären alle Mühen umsonst gewesen. Schlimmer noch: Der Führer würde weiter sein Unheil im Deutschen Reich und in der Welt anrichten. Polen hatte er schon überfallen und Georg rechnete damit, dass der kriegstreiberische Diktator auch Frankreich angriff. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Europa im Chaos versank und unzählige Menschen starben.
Betont langsam schlenderte Georg über die Anlagen des Bürgerbräukellers Richtung Kellerstraße. Er beschloss, am nahegelegenen Kiosk einen oder zwei Kaffee zu trinken, bevor er zu seiner Wohnung in der Türkenstraße ging. Dort wollte er sich von Schreinermeister Brög verabschieden, um dann den nächsten Zug nach Friedrichshafen zu nehmen, von wo aus er auf die Fähre nach Konstanz umsteigen würde. Irgendwie würde er von dort aus schon über die Grenze in die Schweiz gelangen.
Als er auf den Bürgersteig der Kellerstraße trat, fiel ihm ein Mann auf der anderen Straßenseite auf, der ihn fixierte. Er trug einen dunkelbraunen Ledermantel und war von mittlerer Größe. Entschlossen trat der Mann auf die Straße und ging ihm entgegen. Ein eisiges Gefühl presste Georgs Herz zusammen. Ein Blick in die Augen des Fremden sagte ihm, dass er Bescheid wusste. Wie angewurzelt blieb Georg stehen. Wer war der Kerl? Gestapo? Hatten sie ihn doch im Visier gehabt und würden ihn jetzt festnehmen? Waren im Saal schon Spezialisten mit der Entschärfung seines Sprengsatzes beschäftigt?
»Georg Elser?« Der Mann sprach mit leiser, aber deutlicher Stimme. Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.
»Was wollen Sie?«, krächzte Georg.
»Ich muss mit Ihnen reden. Gehen Sie langsam weiter.«
Wie betäubt setzte sich Georg in Bewegung, unfähig, den Blick von dem Fremden abzuwenden. Er war um die vierzig, hatte kurze, blonde Haare. Diese Augen ... der Mann schaute ihn an wie einen alten Freund. Kannte er ihn von irgendwoher?
»Was wollen Sie von mir?«, wiederholte Georg.
»Ich weiß alles über Sie«, flüsterte der Fremde. »Und über Ihren Plan. Die Bombe in der ausgehöhlten Säule.«
Panik stieg in Georg auf. Der Mann konnte nur von der Gestapo sein! Sie mussten ihn die ganze Zeit beobachtet haben. Aber warum griffen sie ihn dann nicht einfach? Wollte der Mann ein Geständnis von ihm hören? Er versuchte es mit einer Lüge. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
Der Fremde kicherte leise. »Doch, das wissen Sie ganz genau. Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich bin weder von der Gestapo noch von der SS.«
Georg blieb stehen und fixierte den Fremden. »Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Max Jung. Ich bin in einer Organisation, die ein Interesse am Gelingen Ihres Planes hat.«
War der Mann vom Widerstand? Aber woher konnte er von Georges Plan wissen? Und wenn er - wie er sagte - ein Interesse an dessen Gelingen hatte, warum ließ er George nicht einfach in Ruhe? Irgendetwas stimmte hier nicht. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass dieses Gespräch nicht stattfinden durfte. »Woher kommen Sie?«
Der Mann lachte leise. »Das würden Sie mir niemals glauben, also fragen Sie mich das besser nicht. Ich will Ihnen nur helfen.«
Es war so surreal. Da tauchte dieser Mann wie aus dem Nichts auf und bot George seine Unterstützung an. Jetzt, wo er seine Arbeiten sowieso schon abgeschlossen hatte. »Ich brauche keine Hilfe«, sagte er und bemerkte, wie seine Stimme zitterte.
»Oh doch, die brauchen Sie. Ihr Plan ist nämlich zum Scheitern verurteilt.«
Der Plan ... er war in den vergangenen Monaten das Wichtigste in Georgs Leben geworden. Er hatte alles akribisch vorbereitet und seine Konstruktion sogar im elterlichen Garten ausprobiert. Jetzt ließ er alle Vorsicht gegenüber dem Fremden fahren. »Meine Vorrichtung wird funktionieren«, sagte er, fast schon beleidigt.
Jung nickte. Dann griff er in die Tasche seines Mantels und holte zwei Fotos heraus. Eines davon reichte er Georg. Der nahm das Bild und erkannte den Saal des Bürgerbräukellers. Er lag in Trümmern, die hintere Wand eingestürzt, ebenso wie das Dach. War das ein Trick? Eine Fälschung? Der Mann reichte ihm das zweite Bild. Es zeigte Adolf Hitler in Uniform vor dem Eiffelturm. Georg schüttelte den Kopf und blickte wieder den Fremden an.
»Woher haben Sie das? Ich verstehe nicht, was ...«
Jung unterbrach ihn. »Ihre Bombe wird funktionieren. Aber der Diktator wird dreizehn Minuten vor der Explosion den Saal verlassen, um mit dem Zug zurück nach Berlin zu fahren. Heute Abend kann er sein Flugzeug nicht nutzen, weil dichter Nebel herrscht.«
Woher wollte der Mann wissen, was heute Abend geschah? Woher wollte er wissen, dass München im Nebel liegen würde? Sicher, das geschah oft zu dieser Jahreszeit, aber ... Woher hatte er diese Bilder? War Jung ein Verrückter? Es ergab einfach keinen Sinn. Georg reichte die Fotos zurück. »Was erwarten Sie von mir?«
Jung atmete tief ein und wieder aus. »Sie werden jetzt noch einmal in den Bürgerbräukeller gehen. Sie werden den Auslöser der Bombe auf 21 Uhr einstellen.«
Georg schüttelte den Kopf. Er fühlte sich wie in einem Traum. Hilflos zuckte er mit den Schultern. »Und dann?«
»Dann wird Hitler heute Abend tot sein und Sie allein haben unermessliches Leid in Europa und der Welt verhindert.«
»Seltsam.«
Christoph löste den Blick von seinem Electronic Flight Bag, einem Padcomputer, auf dem er die Anflugkarten für den Frankfurter Flughafen studiert hatte, und schaute seinen Ersten Offizier an. Er war nicht sonderlich beunruhigt. Der Flug war seit dem Start in New York vor fünf Stunden ruhig verlaufen. Sie hatten wegen des Orkans Bob vor Neufundland eine nördlichere Flugroute nehmen müssen als ursprünglich geplant, aber ansonsten hatte es bislang keine besonderen Vorkommnisse gegeben. Die A380 war bis auf den letzten Platz ausgebucht, was wohl auch an den vielen Geschäftsreisenden lag, die für das lange Wochenende um den Tag der Deutschen Einheit herum nach Hause zurückkehrten.
»Was ist seltsam?«, fragte Christoph.
»Ich dachte gerade, ich hätte einen Blitz gesehen«, sagte Daniel Berger, der auf dem rechten Platz des Cockpits saß.
Christoph schaute auf den Monitor mit dem Wetterradar. Die Fläche war durchgehend schwarz, also keine Quellbewölkung. Sie befanden sich etwa tausend Kilometer unterhalb der Südspitze Grönlands und für diesen Teil des Fluges waren keine Unwetter gemeldet, daher konnte es kein Gewitter sein. »Bist du sicher?«
»Nein, ich habe es auch nur aus dem Augenwinkel gesehen. Vielleicht die Strobelights einer anderen Maschine?«
Christoph hielt das durchaus für möglich. Der Nordatlantik war eine regelrechte Flugautobahn. Etliche Maschinen konnten in der Nähe von GH124 auf einer anderen Flugfläche Richtung Europa fliegen. Allerdings war auf dem Navigationsdisplay kein anderes Flugzeug zu sehen. Er beugte sich nach vorn, um aus den Cockpitfenstern zu schauen, aber er sah nur die Schwärze einer transatlantischen Nacht. Er lehnte sich wieder zurück in seinen Sitz. »Vielleicht eine Maschine ohne TCAS. Kann nichts schaden, nachzufragen.« Für diesen Teil des Fluges hatte Daniel die Kontrolle über das Steuer, also war es Christophs Aufgabe, Kontakt mit den Fluglotsen aufzunehmen. Sie hatten N56W030 bereits vor einer halben Stunde passiert, befanden sich also schon in der Zuständigkeit von Shanwick Center. Christoph prüfte mit einem schnellen Blick, dass die korrekte Frequenz eingestellt war, und drückte die Sprechtaste. »Shanwick Center, GH124 auf Flugfläche 350. Erbitte Information über Verkehr auf NAT Delta.«
Die Antwort kam prompt, auch wenn der Lotse durch das Rauschen in der HF-Verbindung sehr schwer zu verstehen war. »GH124, Shanwick Center. Sie haben keinen Verkehr. NAT Delta wurde nach Ihnen geschlossen, wegen der Verlagerung von Orkan Bob. Sie sind die einzige Maschine in einem Umkreis von hundertfünfzig Meilen. Alles in Ordnung?«
Christoph und Daniel warfen sich einen kurzen Blick zu, dann betätigte Christoph wieder die Sprechtaste. »Alles in Ordnung, Shanwick Center. Keine Probleme. Vielen Dank.« Er wandte sich an Daniel. »Ich habe mich schon gewundert, dass es so ruhig ist. Die müssen alle nach uns kommenden Maschinen südlich umgeleitet haben. Bist du noch nicht zu müde?« Daniel hatte seine Grippe zwar überstanden und war auch diensttauglich, aber er sah noch reichlich mitgenommen aus.
»Alles bestens. Aber ein Kaffee würde trotzdem nicht schaden.«
Christoph wollte gerade hinten in die Bordküche durchklingeln, da sah auch er es: ein fahles Leuchten, direkt außerhalb der Cockpitfenster.
»Da ist es wieder«, sagte Daniel ruhig.
»Blitze sind das jedenfalls nicht«, meinte Christoph. Es war ein gespenstisches Leuchten, das sich immer weiter vor den Cockpitfenstern ausgebreitet hatte. Christoph beugte sich erneut nach vorn. Die ganze Nase des Flugzeugs war in eine fahle, weißliche Aura gehüllt. Als hätte Gott die Maschine mit einem Heiligenschein umgeben. Christoph hatte so etwas noch nie gesehen.
»Das ist unheimlich. Was kann das nur sein?«, fragte Daniel.
»Ich denke, das ist Elmsfeuer.«
»Aber wir sind hunderte Meilen von der nächsten Gewitterwolke entfernt.«
Christoph überprüfte die Flugzeugsysteme. Drehzahlen, Temperaturen, Druck - keine der Zahlen deutete auf ein Problem hin. »Ich verstehe es auch nicht. Aber mit der Maschine ist alles in Ordnung.«
Das Leuchten verstärkte sich in den nächsten Minuten noch und wurde greller. Christoph erinnerte sich an eine Dokumentation über das Space Shuttle, die er vor einigen Wochen im Discovery Channel gesehen hatte. Beim Wiedereintritt hatte eine helle Plasmasäule die Raumfähre umgeben. Genauso sah es hier auch aus. Als wäre die A380 im Weltraum gewesen und tauchte nun wieder in die Erdatmosphäre ein. Er schüttelte den Kopf, als das Klingeln des Interkom-Telefons neben ihm anzeigte, dass eine der Stewardessen ihn sprechen wollte. Er nahm den Hörer ab.
»Wilder im Cockpit, was gibt es?«
Er erkannte die Stimme von Veronika. Die verdammt gutaussehende, aber auch blitzgescheite Blondine war heute Purser auf ihrem Flug.
»Captain, hier ist Veronika auf U2Links. Wir haben eine leichte Rauchentwicklung in der Kabine.«
»Rauchentwicklung?« Er wiederholte das Wort, damit auch sein Kopilot davon erfuhr, der seinen Interkomkanal noch auf leise gestellt hatte. »Wo genau?«
»Auf dem gesamten oberen Deck. Es scheint aus der Belüftungsanlage zu kommen. Ich habe bereits eine Suche nach der Ursache angeordnet.«
»Danke, Veronika. Halte mich auf dem Laufenden.«
»Noch etwas, Christoph: Die Vorderkanten der Tragflächen sind von einem fahlen Leuchten umgeben, ebenso die äußeren Triebwerke.«
Jetzt war Christoph wirklich beunruhigt. Das Elmsfeuer schien das gesamte Flugzeug zu umschließen, und dazu kam noch eine Rauchentwicklung, die jeder Pilot in der Luftfahrt fürchtete wie sonst kaum etwas. Beides musste irgendwie zusammenhängen. Aber wie? Er überprüfte erneut die Systeme. Weiterhin schien alles in Ordnung zu sein, bis sein Blick auf die Anzeigen der Triebwerke fiel. Was er dort sah, gefiel ihm überhaupt nicht. »Die Abgastemperatur von eins und vier geht nach oben«, sagte er laut. Irgendetwas ging hier vor sich und er hatte keine Ahnung, was der Grund dafür war.
»Hast du eine Idee? Was denkst du?«, fragte er seinen Ersten Offizier. Es war kein Zeichen von Schwäche, sondern der Grundsatz eines jeden guten Piloten, seine Besatzung in die Ursachenfindung und Bekämpfung von Problemen mit einzubeziehen.
Aber Daniel schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
Plötzlich spürte Christoph ein leichtes Zittern, als würden sie ein Gebiet kaum spürbarer Turbulenzen durchfliegen, aber er wusste instinktiv, dass die Vibration nicht von der Atmosphäre herrührte.
»Jetzt steigt auch die Abgastemperatur von zwei und drei. Außerdem geht die Drehzahl von eins und vier leicht nach oben.«
Die Triebwerke wurden vom Autopiloten gesteuert, der Höhe und Geschwindigkeit kontrollierte. Es war nichts Ungewöhnliches, dass der Computer die Drehzahl variierte, wenn sich die Windverhältnisse änderten, aber Christoph vermutete eher, dass es sich um ein weiteres Symptom des sich anbahnenden Problems handelte.
Genug war genug! »I have control«, sagte Christoph laut und deutlich zu seinem Ersten Offizier. Niemals durfte im Cockpit unklar sein, wer das Flugzeug steuerte.
»Okay«, bestätigte Daniel knapp. »You have control!« Mehr geschah erstmal nicht. Die A380 flog immer noch mit Autopilot. Aber wenn es erforderlich war, würde Christoph die notwendigen Handgriffe vornehmen. Der Schritt war nur logisch. Er war der ranghöchste Pilot im Cockpit und hatte wesentlich mehr Erfahrung. Christoph studierte erneut die Triebwerksanzeigen und schüttelte ungläubig den Kopf, als sein Blick auf die Zahlen der Abgastemperatur fiel. Die Werte aller vier Triebwerke gingen deutlich nach oben. Was auch immer das Problem war, es musste von außerhalb des Flugzeuges kommen, sonst wären nicht alle vier Motoren betroffen. Oder war irgendetwas mit dem Treibstoff nicht in Ordnung? Nein, das konnte auch nicht sein. Das Zeug war so gut durchmischt, dass ein Problem damit sich schon deutlich früher nach dem Start gezeigt hätte. Sein Blick wanderte zu den Cockpitfenstern, die im gespenstischen Licht des Elmsfeuers fahl flackerten. Er versuchte, sich an die Pilotenausbildung zu erinnern. Elmsfeuer entstand durch den Austausch elektrostatischer Entladungen an der Flugzeughülle und war im Flugverkehr eher selten. Vor allem elektrisch geladene Partikel in der Atmosphäre konnten dafür verantwortlich sein.
Elektrisch geladene Partikel?
Irgendetwas machte in seinem Kopf Klick und sein Herzschlag tat einen Sprung. Mein Gott!
»Der Vulkan!«, murmelte Christoph.
»Chris?«, fragte Daniel.
»Der Vulkan!« Christoph blickte Daniel an, dessen Augen sich weiteten. »Wir sind in eine Wolke aus Vulkanasche geraten.«
»Hier? Der Eyjafjalla... dingsbums hat seine Wolke doch über die Ostsee und Skandinavien geschickt. Von der Flugverbotszone sind wir hunderte Kilometer entfernt.«
Daniel hatte recht. Ihnen war beim Briefing auch kein NOTAM angezeigt worden, da sie auf ihrer Route noch nicht mal in die Nähe der Aschewolke geraten sollten. Außerdem war der jüngste Ausbruch deutlich schwächer als der, der den Flugverkehr im Jahr 2010 lahmgelegt hatte. Aber was konnte sonst für das Elmsfeuer und die Unregelmäßigkeiten in den Triebwerksdaten verantwortlich sein? Und wenn sie tatsächlich durch eine Aschewolke flogen, dann sollten sie möglichst schnell sehen, dass sie da raus kamen. Christoph griff zum Autopiloten und stellte einen Gegenkurs ein. Sofort ging die Maschine in eine langgezogene Kurve.
»Daniel, frage beim Controller nach, ob er uns etwas über Vulkanasche über dem Atlantik sagen kann, und beantrage eine Änderung der Flughöhe. Ich werde wohl besser mal das Anschnallzeichen setzen.« Christoph griff nach dem Schalter auf dem Überkopfpaneel und legte ihn um. Daniel hatte noch nicht einmal zu sprechen begonnen, als der Masteralarm durch das Cockpit gellte. »Eng1 Flameout« las Christoph auf dem Triebwerksdisplay.
»Triebwerk eins fährt runter«, sagte der Erste Offizier mit ruhiger Stimme. In dem Moment, als Christoph auf den betreffenden Bildschirm blickte, schalteten sich auch die übrigen drei Triebwerke ab. »Zwei, drei und vier schalten sich ebenfalls ab«, kommentierte er. Die Drehzahlen fielen rapide. Als sie den kritischen Wert unterschritten, wurde es dunkel im Cockpit. Nur die allerwichtigsten Anzeigen blieben aktiv.
»All Engine Flameout. Wir sind auf Batteriebetrieb«, verkündete Daniel.
Christoph nickte nur grimmig. Er fand es fast schon merkwürdig, dass keine Panik in ihm aufstieg, aber dafür waren sie zu gut trainiert. Erinnerungen an nicht lange zurückliegende Stunden im Flugsimulator wurden wach. »Checkliste!«
»Ist schon auf dem Bildschirm. Geschwindigkeit 250 Knoten.«
Christoph drehte das Rad am Autopiloten und überprüfte die Einstellungen. Mit 250 Knoten würden sie die niedrigste Sinkrate haben. »250 Knoten gesetzt.«
»Autothrust off.«
»In Ordnung. Autoschub ist aus.«
Schritt für Schritt gingen sie die Checkliste durch.
»Schub auf Leerlauf.«
Christoph griff nach den Schubhebeln auf der Mittelkonsole und setzte sie zurück auf Leerlauf.
»Schub ist auf Leerlauf.«
Daniel hakte den Punkt auf dem Bildschirm vor sich per Klick auf die entsprechende Taste der Mittelkonsole ab. Christoph hatte gehofft, dass die in das Triebwerk strömende Luft die Turbinen mittels Windmilling wieder in Gangs setzen würde, aber es tat sich nichts.
»Das war es für’s Erste. Wenn wir Flugfläche 200 passiert haben, können wir den Neustart mit der APU versuchen.«
Christoph blickte auf die Sinkrate. Jede Minute fielen sie um tausendfünfhundert Fuß. Im Moment betrug ihre Höhe etwas über 35.000 Fuß, also blieben ihnen gute zwanzig Minuten.
»Wie weit zum nächsten Flughafen?« Christoph wusste, dass der in Irland lag.
»Das ist Shannon. Fünfhundert Meilen«, antwortete Daniel. In seiner Stimme schwang nun doch eine Spur Panik mit. Das war viel zu weit.
»Setze einen Kurs!«
»112 Grad.«
Christoph blickte auf das Display vor sich. Er korrigierte ihre Flugrichtung über das Rad am Autopiloten. Das Elmsfeuer loderte immer noch vor den Cockpitfenstern, also befanden sie sich vermutlich noch in der Wolke aus Vulkanasche. Wenn die Partikel wirklich das Triebwerk stillgelegt hatten, dann mussten sie aus dieser Wolke hinaus. Sonst konnten sie die Aggregate niemals neu starten. Das hieß, wenn die nicht sowieso schon von der Asche so verstopft waren, dass sie nie wieder einen Mucks machten. Christoph wusste, dass sie bei den Wellen des Nordatlantiks keine Chance hatten, das riesige Flugzeug in der Finsternis sanft auf der Wasseroberfläche aufzusetzen. Es würde beim ersten Kontakt auseinanderbrechen. Die Flügel würden abreißen, die Kabine würde sich überschlagen und die Trümmer mit den immer noch angeschnallten Menschen an Bord sinken wie ein Stein.
Christoph wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er durfte nicht darüber nachdenken. Wenn sie in Panik gerieten, schafften sie es niemals.
Er schaute nach links. Daniel blickte gehetzt von einem Instrument zu nächsten und murmelte etwas.
»Ich habe dich nicht verstanden.«
Daniel sah ihn geradewegs an. Seine Augen waren stark gerötet. »Ich sagte, wenn wir die Triebwerke nicht starten können, werden wir alle draufgehen!«
Christoph legte die Hand sanft auf Daniels Schulter. »Niemand wird hier heute draufgehen. Ja, die Situation ist kritisch, aber wenn wir einen klaren Kopf bewahren, haben wir bessere Chancen, als wenn wir in Panik geraten.« Er ließ seine Worte einen Moment wirken. »Und ich brauche hier deine Mithilfe, okay?«
Es dauerte lange Sekunden, aber endlich nickte Daniel langsam. »Okay.« Der Erster Offizier atmete tief ein und aus.
»Wir steigen nun wieder in unser FORDEC ein, einverstanden?« Die Problemlösung nach den bewährten Richtlinien der Entscheidungsfindung in der Luftfahrt würde Daniel vielleicht beruhigen.
»Einverstanden«, antwortete Daniel mit tonloser Stimme. Er blickte auf die Instrumente vor sich. »Passieren Flugfläche 330.«
»In Ordnung, gib eine Meldung durch.«
»Okay. Shanwick Center, GI124. Mayday, Mayday, Mayday. Kompletter Triebwerksausfall. Ich wiederhole: Alle vier Triebwerke ausgefallen. Wir vermuten, durch Vulkanasche.«
»GI124, Shanwick Center, bestätige Mayday, kompletter Triebwerksausfall. Geben Sie bitte Position, Kurs und Flughöhe durch.« Die Stimme des Fluglotsen war sehr verrauscht.
Daniel zögerte einen Moment und blickte auf den Bildschirm. »Passieren gerade Flugfläche 320. Position 56/25. Kurs 112. Wir versuchen, Shannon zu erreichen, falls wir mehrere Triebwerke wieder starten können. Windmilling bislang erfolglos.«
»Verstanden, GI124. Habe Sie noch nicht auf dem Radar. Verständige Shannon.«
Christoph stieg ein unangenehmer Geruch in die Nase. Schwefel. Er schnüffelte laut und wandte den Kopf, aber in der Dunkelheit konnte er kaum etwas erkennen. Er griff nach der Taschenlampe links neben seinem Sitz, schaltete sie ein und entdeckte sofort Rauchschwaden, die durch das Cockpit waberten. »Wir haben ...« Sein Satz wurde durch ein weiteres Alarmsignal unterbrochen. Er blickte auf das Display mit den Statusmeldungen.
»Der Druck sinkt. Sicher durch den Triebwerksausfall«, sagte Daniel.
Christoph nickte. Die Kabinenluft wurde aus dem Überdruck in den Triebwerken gewonnen. Wenn die nicht mehr liefen, musste der Druck in der Kabine zwangsläufig sinken. »Also Sauerstoffmasken auf.«
Er griff in den Behälter links neben seinem Sitz, zog die Sauerstoffmaske an den roten Ventilhebeln heraus und streifte sie sich über. Als er die Ventile losließ, saugte sie sich an seinem Gesicht fest. Zuletzt setzte er den Kopfhörer mit dem Mikrofon auf. Daniel hatte seine Maske zeitgleich angelegt. In seinen Ohren hörte Christoph deutlich das Zischen des Regulators.
»Ich mache eine Durchsage an die Passagiere.« Er drückte den Knopf auf der Mittelkonsole nieder und sprach, ohne lange zu überlegen. »Liebe Fluggäste, hier spricht Ihr Kapitän. Sicher haben Sie bemerkt, dass wir ein Problem mit den Triebwerken haben. Vermutlich hat Vulkanasche für die Abschaltung gesorgt, weswegen nun der Kabinendruck sinkt. Aus diesem Grund aktivieren wir die Sauerstoffmasken, die gleich über Ihnen aus der Decke fallen. Wir tun unser Möglichstes, um die Triebwerke wieder zu starten. Wir haben das Flugzeug unter Kontrolle und sind voll manövrierfähig. Wir sind für exakt solche Situationen bestens ausgebildet und werden das Problem lösen. Bitte hören Sie auf die Anweisungen der Flugbegleiter und vertrauen Sie uns. Wir halten Sie über den weiteren Ablauf unseres Fluges informiert.« Er ließ die Taste los und hoffte, dass es in der Kabine nicht zu Tumulten kam.
»Das war aber ein deutliches Understatement«, kommentierte Daniel düster.
Christoph zuckte nur mit den Schultern. Er griff zur Konsole über seinem Kopf, klappte die rote Schutzkappe zur Seite, zögerte einen kurzen Moment und drückte den Knopf nieder. Jetzt fielen hinten in der Kabine die Masken von der Decke. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was nun bei den hunderten Passagieren los war. Hier im Cockpit bekamen sie davon nichts mit, aber sie hatten schon genug zu tun.
»Passieren Flugfläche 250«, sagte Daniel.
Der nicht abzustellende Ton des Masteralarms drang auch durch die Kopfhörer. Er würde sie begleiten, bis sie entweder die Triebwerke wieder starten konnten oder auf der Wasseroberfläche des kalten Atlantiks aufschlugen. Christoph löste seinen Blick von den Displays und schaute aus dem Fenster. Das Elmsfeuer loderte immer noch. Er schüttelte den Kopf. Dass die unerwartete Vulkanasche in einem eng begrenzten Höhenbereich auftrat, damit hatte er gerechnet. Wieso zum Teufel hatten die Meteorologen diese westwärts ziehende Wolke nicht bemerkt? Was war da so verdammt schief gelaufen?
Außer dem fahlen Leuchten vor den Kabinenfenstern war draußen nur Dunkelheit. Keine Sterne, kein Horizont. Den Sonnenaufgang hatten sie zu dieser Jahreszeit erst kurz vor der Landung in Frankfurt zu erwarten gehabt. Wenn es zu einer Notwasserung kam, hatte Christoph noch nicht mal eine Chance, die Bewegung der Wellen zu sehen, um die Maschine günstig auszurichten.
Immer wieder warf er einen Blick auf den Höhenmesser. Sie passierten nun 25.000 Fuß. Noch etwa vier Minuten, bis sie Flugfläche 200 erreichten. Dann war der Außendruck hoch genug, um einen Start der APU zu probieren. Lief erst einmal das Hilfstriebwerk, konnten sie versuchen, die Haupttriebwerke neu zu starten. Bis dahin hatten sie nur die Hoffnung, dass der Fahrtwind die Triebwerksschaufeln wieder auf Drehzahl brachte, aber da das bisher nicht passiert war, war Christoph diesbezüglich nicht mehr besonders optimistisch.
Das Warten und die Untätigkeit zehrten an der Substanz und Christoph musste sich nun doch am Riemen reißen, damit das steigende Gefühl von Panik nicht Oberhand gewann. Er hatte in seinem Pilotenleben einige kritische Situation gemeistert, aber einen umfassenden Triebwerksverlust über dem Nordatlantik hätte er sich in seinen kühnsten Albträumen nicht auszumalen gewagt. Er erinnerte sich an eine Maschine vor etlichen Jahren, der wegen eines Problems über dem Atlantik der Treibstoff ausgegangen war. Die Kollegen hatten Glück gehabt und ihr Flugzeug im Gleitflug auf den Azoren landen können. Aber hier gab es weit und breit nur Wasser. Treibstoff hatten sie genug, aber was nutzte das, wenn die Triebwerke mit Vulkanasche verstopft waren? Mindestens zwei mussten sie starten. Irgendwie!
Noch drei Minuten!
»Ich werde hinten anfragen, wie die Lage ist«, sagte Christoph. Daniel nickte nur.
Veronika nahm das Gespräch entgegen. Sie atmete schwer, hatte wahrscheinlich ihre Sauerstoffmaske nicht die ganze Zeit auf, um sich mit den Passagieren verständigen zu können.
»Wie sieht es in der Kabine aus?«
»Wir haben einen medizinischen Notfall in der Business. Herzstillstand. Reanimation mit dem Defibrillator. Ich wollte euch nicht stören und habe über die PA nach einem Arzt gefragt. Ein Allgemeinmediziner versucht, den Senior zu stabilisieren.«
»Ja, sehr gut. Und sonst? Die Passagiere?«
»Die Passagiere sind in ihren Sitzen und halbwegs ruhig, aber sehr verängstigt. Einige Sauerstoffmasken in der oberen Economy funktionieren nicht, aber die betreffenden Personen teilen sich die Masken mit den Sitznachbarn.«
»In Ordnung. Danke, Veronika.«
»Christoph?«
»Ja?«
»Werden die Triebwerke wieder starten?« Ihre Stimme war ruhig, was sicher auch eine Folge ihrer langen Erfahrung und des sorgfältigen Trainings war, aber Christoph war sich sicher, dass auch die versierten Flugbegleiter Angst hatten. Veronika wusste genau, was geschehen würde, wenn sie die Triebwerke nicht starten konnten.
Christoph atmete tief durch. »Wir tun unser Möglichstes.« Was konnte er sonst sagen? Es war fraglich, ob die mit Asche verstopften Turbinen jemals wieder in Betrieb gingen. Sollte er etwa lügen?
Es war jedenfalls nicht die Antwort, die Veronika erhofft hatte. »Verstanden, Christoph.« Ihr Tonfall blieb ruhig.
»Veronika?«
»Ja?«
»Kopf hoch!«, sagte er und unterbrach die Verbindung, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Flugfläche 210!«, meldete Daniel. Eine Minute, dann würden sie es wissen.
»In Ordnung. Wir gehen streng nach Checkliste vor.«
»Verstanden.«
Daniels Blick fixierte die Höhenangabe des Displays vor sich und zählte die Hunderterschritte in Gedanken mit.
20.400 Fuß.
20.300 Fuß.
Bitte, bitte!
20.200 Fuß.
Er warf einen kurzen Blick auf die Checkliste auf der Mittelkonsole, um die notwendigen Schritte zu verinnerlichen, obwohl Daniel ihm die Zeilen einzeln vorlesen und abhaken würde.
20.100 Fuß.
Christoph atmete tief ein und aus.
»Flugfläche 200!«, sagte Daniel.
»Los geht’s«, sagte Christoph.
»APU Start!«
Christoph drückte den APU-Hauptschalter auf dem Überkopfpaneel, um deren Elektronik zu aktivieren. Sofort gellte ein neuer Alarmton durch das Cockpit. Er hatte damit gerechnet. Die Klappe für das Hilfstriebwerk war für diese Geschwindigkeit nicht ausgelegt. Aber dann sollte sie halt zum Teufel gehen! Sie brauchten die APU. »APU Startschalter an.«
»Jetzt zwei Minuten warten, bis die APU hochfährt.«
Christoph nickte nur. Er blickte aus den Cockpitfenstern, wo das Leuchten deutlich zeigte, dass sie die Wolke aus Vulkanasche immer noch nicht verlassen hatten. Hoffentlich ruinierte das Zeug in der Luft nicht auch noch die APU! Er starrte den Timer an, als könne er ihn durch reine Willenskraft dazu bringen, schneller zu laufen.
Nach quälend langen Sekunden fuhr das Hilfstriebwerk endlich hoch, wie er an der Drehzahlanzeige erkennen konnte. Das Cockpit erhellte sich. Die Beleuchtung und die übrigen Instrumente bekamen wieder Strom. Es war ein gutes Zeichen, aber trotzdem hing ihr Schicksal an den vier Triebwerken unter den Flügeln.
Die zwei Minuten waren endlich um.
»Alle Triebwerkshauptschalter aus«, las Daniel den nächsten Punkt der Checkliste vor.
Christoph legte die Schalter auf der Mittelkonsole um. »Alle aus!«
»Wing Anti Ice Off!«
»Flügelenteisung aus.«
»APU Bleed On!«
»APU Bleed On geschaltet.«
»Engine Master 2 on!«, verkündete Daniel heiser. Jetzt kam es darauf an.
»Triebwerk 2 an«, sagte Christoph und legte den großen quadratischen Schalter mit zitternden Händen um.
Sofort fiel sein Blick auf die Anzeige der Drehzahlen.
»Jetzt komm schon!«, rief Daniel.
Nichts rührte sich bei den Triebwerken. »Es klappt nicht! Versuchen wir die drei!« Christoph schaltete die zwei ab und aktivierte die drei. Fehlanzeige!
»Verdammte Scheißteile!«, fluchte Daniel.
»Ruhig!«, sagte Christoph. Er schaltete noch mehrmals zwischen den einzelnen Triebwerken hin und her, aber die Aggregate blieben tot.
»Wir sind schon auf 10.000 Fuß runter.«
»Ich sehe es. Immerhin sind wir aus der Aschewolke raus. Das Elmsfeuer hat aufgehört.«
»Das ändert auch nichts an der Tatsache, dass wir in sieben Minuten im Atlantik schwimmen.«
Christoph antwortete nicht.
»Oder vielmehr tauchen!«, schob Daniel grimmig nach. Christoph versuchte immer wieder, die einzelnen Triebwerke zu starten.
Sie sanken nach wie vor tausendfünfhundert Fuß in der Minute. Es nutzte nichts, sagte Christoph sich. Sie würden sich damit abfinden müssen, dass die Triebwerke verloren waren. Eine Notwasserung war unausweichlich. So gering die Überlebenswahrscheinlichkeit war, er würde alles in seiner Kraft Stehende tun, die Maschine so sanft wie möglich auf die Wasseroberfläche aufzusetzen. Er drückte die Taste für die Kabinenlautsprecher. »Cabin Crew, auf Notwasserung vorbereiten.«
9.000 Fuß. Weniger als drei Kilometer trennten sie noch vom eisigen Wasser des Nordatlantiks. Wenn Christoph doch wenigstens Tageslicht hätte, um die Wasseroberfläche sehen zu können!
Plötzlich gab es einen harten Ruck. Das ganze Flugzeug vibrierte.
»Turbulenzen!«, verkündete Christoph.
»Auch das noch!«
Die Vibration wurde schlimmer. Ein leerer Kaffeebecher hüpfte hinter ihnen über den Fußboden.
»Hoffentlich hält das nicht an bis zum Boden!«, sagte Daniel laut.
Es würde schwierig sein, die Tragflächen bei dem Gerüttel gerade zu halten. Wieder erschütterte ein heftiger Schlag die Kabine, als die Maschine von Scherwinden getroffen wurde.
»So eine verdammte ...«, begann Daniel.
Zwischen dem Schütteln bemerkte Christoph kaum merklich eine vertraute Vibration. Sofort fiel sein Blick auf das Display rechts von ihm. Er konnte kaum glauben, was er sah.
---ENDE DER LESEPROBE---