Transport 1 - Phillip P. Peterson - E-Book

Transport 1 E-Book

Phillip P. Peterson

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Beschreibung

„Transport? Transport wohin, Sir?“, fragte Russell skeptisch. „Möglicherweise direkt in die Hölle“, antwortete General Morrow. Vor der Küste Kaliforniens wird ein außerirdisches Artefakt geborgen, das Menschen zu anderen Sternensystemen transportieren kann. Der zum Tode verurteilte Russell Harris und neun andere Häftlinge bekommen als Versuchspersonen für den Teleporter die Chance, ihr Leben zu retten. Doch das Unternehmen entpuppt sich als gnadenloses Todeskommando, nachdem der erste Freiwillige auf grauenhafte Weise stirbt. Russell und seinen Kameraden wird klar, dass sie das Projekt nicht überleben werden. Der einzige Ausweg besteht darin, das Geheimnis des Artefakts zu lüften. Aber auch das scheint hoffnungslos – denn von den Erbauern fehlt jede Spur. Stargate meets Das dreckige Dutzend - ein ungewöhnlicher und spannender Science-Fiction-Roman von Storyteller-Award-Preisträger Phillip P. Peterson. Als erstes Buch der gleichnamigen Trilogie jetzt schon ein Klassiker.

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Inhaltsverzeichnis

 

1. Unerwarteter Besuch

2. Flug nach Nevada

3. Training

4. Der Transporter

5. Die hässliche Wahrheit

6. Diskussionen

7. Der Raumanzug

8. Der erste Transport

9. Die Lotterie

10. Der Physiker

11. O’Brien

12. Elise

13. Walker

14. Russell

15. Albert

16. Bridges

17. Hilmers

18. Rushworth

19. Williams

20. Ungewissheit

21. Die Bombe

22. Verzweiflung

23. Erkenntnis

24. Testmissionen

25. Elises zweite Mission

26. Nichts gefunden

27. Die Drohne

28. Tomograf

29. Begegnungen

30. Kommando

31. General Morrow

32. Flucht

33. Kontakt

34. Ursprung

35. Antworten

36. Epilog

37. Impressum

1. Unerwarteter Besuch

 

„Aufstehen. Hände durch die Luke!“

Russell Harris brauchte einen Moment, um sich von seinen düsteren Gedanken zu lösen, und blinzelte verwundert den Schlitz im Stahl an. Normalerweise ließ man die Todeskandidaten in ihren letzten Tagen in Ruhe.

„Was ist los, Dan? Zellenkontrolle?“

Harris stand auf und schleppte sich zu der schweren Stahltür. Er streckte beide Hände durch die Luke. Daniel, der offenbar die Schicht von Walter übernommen hatte, legte ihm Handschellen an.

„Keine Kontrolle mehr, Harris. Besuch. Jetzt tritt zurück an die Zellenwand.“

Russell ging rückwärts, bis er die Wand im Rücken spürte. Als Dan die Tür aufschloss, legte er die gefesselten Hände auf seinen Bauch. Der Wärter kniete nieder und ließ weitere Schellen um seine Fußgelenke einrasten. Russell blickte auf und sah Joe im Gang stehen, der missmutig in die Zelle starrte.

Joe, mit offiziellem Namen Joseph Hill, war der Oberaufseher des Todestraktes. Normalerweise scherzte er um diese Zeit längst am Stammtisch über die nächste Hinrichtung. Wenn er sich jetzt noch im Gefängnis aufhielt, musste es sich um etwas Wichtiges handeln.

Bald richtete Dan sich wieder auf und Russell stand ihm wie ein ungleichwertiger Duellant gegenüber. Kurz darauf griff der Wächter nach seinen Handschellen und zog ihn aus der Zelle. Langsam marschierten sie den Gang hinunter, auf dessen Boden Russells Schuhsohlen ein quietschendes Geräusch verursachten. Bis zu seiner Hinrichtung hatte er mit keinem Besuch mehr gerechnet.

„Ist es mein Anwalt?“, fragte er. „Ich dachte, der wäre nach dem abgewiesenen Gnadengesuch schon auf dem Weg in die Karibik.“

Bei dem Gedanken lachte Russell leise auf. Sein arbeitssüchtiger Winkeladvokat würde niemals freiwillig in den Urlaub fahren. Eher würde er nach Feierabend in die nächste Unfallaufnahme stürmen und Verletzte dazu überreden, ihn als Beistand für eine Klage zu engagieren.

„Kein Anwalt“, brummte Joe.

Er spürte, dass die Aufseher verunsichert waren. Offenbar konnte sein unbekannter Besucher mit verdammt guten Argumenten aufwarten. Vor der Tür des Besucherraumes blieb er stehen, aber Dan zog ihn weiter, zum Ausgang des Todestraktes. Russell sträubte sich. Er hatte bereits akzeptiert, den Todestrakt in entgegengesetzte Richtung zu verlassen – mit Kurs auf den Hinrichtungsraum, auf den elektrischen Stuhl.

Der Wärter schritt vor und öffnete die Stahltür.

„Joe, ich hatte nicht mehr damit gerechnet, durch diese Tür zu gehen.“

„Wenn es nach mir ginge, würdest du das auch nicht.“

Sie schritten an dem Überwachungsraum vorbei, in dem sich normalerweise die Wärter aufhielten. Dann durchquerten sie die äußere Tür. Geradeaus befand sich der Durchgang zum Haupttrakt, dessen Fenster aus massivem Bleiglas bestanden. Sie bogen nach rechts in einen Korridor, der zu einigen Büros und Lagerräumen führte. Grelles Licht fiel aus der offenen Tür eines Besprechungsraums auf den Boden des Flurs. Ein Mann in einem schwarzen Anzug stand neben der Tür und starrte ausdruckslos die gegenüberliegende Wand an. Der Anzugträger war eindeutig vom Secret Service, wie Russell aus dem Knopf im Ohr schloss.

Sie schritten in den Raum. Er war nicht groß und für Zusammenkünfte der Wärter mit der Gefängnisleitung gedacht. Manchmal warteten die Angehörigen des Hinzurichtenden hier auf den Beginn der Zeremonie. Ein runder Tisch aus dunklem, abgenutztem Holz stand in der Mitte des Raumes. Einige unbequem aussehende Stühle waren um ihn herum verteilt. Die Wände präsentierten sich vergilbt und kahl. Ein Bild von Präsident Bigby hing etwas schief unter einem Regal, auf dem ein kleiner Plasmafernseher stand. Auf der entgegengesetzten Seite des Tisches saß ein Mann in einer dunkelblauen Uniform. Der Besucher sah ihm in die Augen. Es waren braune, beinahe schwarze Augen, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte. Russell blieb stehen und sie schauten sich gegenseitig mit ausdrucksloser Miene an.

„Sir, ich weiß immer noch nicht, was ich davon halten soll“, brach Joe das Schweigen.

Der Mann am Tisch stand auf, wandte nun erstmals den Blick von Russell ab und stierte dem Wärter abschätzig entgegen.

„Leutnant Hill, Sie haben die Papiere, noch dazu unterzeichnet vom Präsidenten der Vereinigten Staaten. Sie haben mit dem Justizministerium telefoniert und sich das Schreiben bestätigen lassen. Wenn ich noch länger warten muss, wird das Konsequenzen für Sie haben.“

Diese Stimme hatte Russell schon lange nicht mehr gehört. Vor allem diesen Tonfall hatte er immer gefürchtet. Colonel Morrow zögerte nie, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Er wusste das aus eigener Erfahrung.

„Was meinen Sie, was Senator Gould morgen mit mir macht?“, jammerte Joe. „Er hat sich persönlich darauf gefreut, den Bastard nächsten Dienstag in der Hölle schmoren zu sehen!“

Russell spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Wurde seine Hinrichtung aufgeschoben? Sollte er begnadigt werden? Normalerweise mischte sich der Präsident nie in die Justizangelegenheiten der Bundesstaaten ein, aber vielleicht hatte sich Bigby doch für ihn eingesetzt, immerhin hatte er von ihm die Tapferkeitsmedaille überreicht bekommen. Damals war Russell mehrere hundert Meter durch feindliches Feuer gelaufen, um zu einem verletzten Kameraden zu gelangen. Das hatte auf einige Leute mächtig Eindruck gemacht. War die Rettung eines Lebens nun genug, um ihn zu begnadigen? Jedoch würde eine Begnadigung „lebenslänglich“ heißen – und was hatte Morrow damit zu tun?

„Das ist Ihr Problem, Leutnant. Und jetzt nehmen Sie dem Mann bitte seine Fesseln ab!“

„Das werde ich erst, wenn Sie Ihre Unterschrift unter die Amnestieerklärung gesetzt haben, General!“

General. Russell blickte auf die Rangabzeichen der Uniform. Es war vorherzusehen, dass man Morrow irgendwann zum General beförderte. Sein politisches Gespür war so berüchtigt wie sein messerscharfer Verstand. Er fragte sich, welche Einheit Morrow jetzt führte.

Die Gesichtszüge des Generals entspannten sich. Er wusste genau, welcher Ärger dem Leutnant bevorstand. „Also gut. Lassen Sie uns bitte allein. Agent Smith wird Sie rufen lassen, wenn wir fertig sind.“

Mit einem verbissenen Gesichtsausdruck verließ Joe den Raum und der Agent schloss von außen die Tür. Sie waren allein. Der General ging um den Tisch herum auf Russell zu, bis sie sich gegenüberstanden.

„Schön, Sie zu sehen, General. Es ist lange her.“

„Ja, das ist es, Soldat.“

Russell lachte leise. „Ich bin kein Soldat mehr.“

„Sie werden es wieder sein, Harris. Wenn Sie mein Angebot akzeptieren, werden Sie es wieder sein.“

„Sie wollen mich aus der Todeszelle rausholen und mich wieder in die Armee stecken?“ Er lachte erneut. „Das muss aber ein übler Einsatz sein, Sir. Es ist ungewöhnlich, dass sich die Army bei Hinrichtungskandidaten bedient.“

„Setzen Sie sich, Harris. Es ist kompliziert, weil ich Ihnen viele Aspekte nicht verraten darf. Jedenfalls nicht, bevor Sie eine Entscheidung getroffen haben.“

Russell setzte sich und legte seine gefesselten Hände auf den Tisch. Der General ging um den Tisch herum und blieb hinter seinem Stuhl stehen. Mit den Händen stützte er sich auf die Rückenlehne und beugte sich nach vorne.

„Passen Sie auf, Harris. Ich möchte nicht, dass Sie sich falschen Hoffnungen hingeben. Ich bin zwar noch bei der Army, aber als Leiter einer Spezialeinheit direkt dem Präsidenten unterstellt.“

„Was für eine Spezialeinheit soll das sein, die …“

Morrow hob die Hand. „Lassen Sie mich ausreden, danach können Sie Ihre Fragen stellen! Es handelt sich jedenfalls nicht um einen Kampfeinsatz.“

Russell sah ihn fragend an.

„Es geht um eine Erkundungs- und Aufklärungsmission. Die Überlebensaussichten sind gering, daher unterbreitet der Präsident Ihnen folgendes Angebot: Sie nehmen an zehn extrem gefährlichen Einsätzen teil und bekommen die Chance, Ihr Leben für Ihr Land zu opfern, vielleicht sogar zum Wohle der gesamten Menschheit. Sollten Sie die zehn Missionen überstehen, werden Sie begnadigt. Sie sind einer von zehn Häftlingen, denen dieses Angebot gemacht wird. Jetzt können Sie Ihre Fragen stellen. Viel mehr werde ich Ihnen jedoch nicht sagen können. Sie haben fünf Minuten für Ihre Entscheidung.“

Russells Gedanken rasten.

„Sir … Sie wollen mich hier rausholen, um mich bei einer Geheimmission einzusetzen, die meinen sicheren Tod bedeutet? Was für eine Mission hat solch eine niedrige Erfolgswahrscheinlichkeit? Wollen Sie mich in einen Vulkan schicken?“

„Es wäre möglich, dass Sie genau dort herauskommen.“

Russell runzelte die Stirn. „Wohin wollen Sie mich schicken?“

„Genau das sollen Sie herausfinden.“

„Sie wissen nicht, wo Sie mich hinschicken wollen?“

Der General nickte. „So ist es, Harris! Wenn Sie mein Angebot annehmen, gehen wir in einer Minute gemeinsam aus diesem Gefängnis. Sie gehören sowieso nicht hierher. In den nächsten Wochen werden Sie die Details erfahren, während Sie sich auf Ihre Mission vorbereiten.“

„Warum ausgerechnet ich?“

„Sie haben am Projekt Leo teilgenommen. Es wäre möglich, dass sich dieses Training jetzt auszahlt.“

Harris schluckte. Projekt Leo lag schon einige Jahre zurück. Dabei war es um das Training von Nahkämpfen in der Schwerelosigkeit gegangen. Seine Einheit hatte unzählige Parabeln in einem alten Kotzbomber der NASA geflogen, denn irgendein hohes Tier im Pentagon hielt es für eine gute Idee, sich auf das Entern der chinesischen Tiangong-Raumstation im erdnahen Orbit vorzubereiten. Im Ernstfall hätte man sein Team in eine Orionkapsel gesteckt und mit einer Delta-Rakete hochgebracht. Nach der Wahl des neuen Präsidenten war das Projekt genauso heimlich beerdigt worden, wie es ins Leben gerufen worden war.

Aber was hat das mit der jetzigen Situation zu tun? Wollen die mich auf eine Rakete setzen und in den Weltraum schießen?

Russell schüttelte den Kopf. Dafür gab es Astronauten und Testpiloten. Die Sache musste verdammt übel sein, wenn sie dafür Todeskandidaten aus dem Knast holten.

Aber es ist auf jeden Fall besser, als in ein paar Tagen auf dem elektrischen Stuhl zu verrecken.

„Ich habe keine andere Wahl, oder?“

General Morrow blickte ihm in die Augen. „Nein, Harris, die haben Sie nicht. Aber ich sage Ihnen was: Wir haben auch keine!“

Der General unterschrieb die Amnestieerklärung und klopfte an die Tür. Fluchend kam Joe in den Raum. Er entfernte die Fußfesseln und löste dann Russells Handschellen. Durch einen Hinterausgang verließen sie das Gebäude und stiegen in eine schwarze Limousine. Agent Smith saß am Steuer.

Auch am Haupteingang des Geländes hielt sie niemand auf.

Vom Häftling und Todeszelleninsassen zurück ins Soldatenleben …

Es war surreal. In der staatlichen Verwaltung des Justizapparates fanden Änderungen nur sehr langsam statt. Selbst der Besuch seines Anwalts zog Unmengen an Papierkram mit sich und es dauerte Tage, bis das Treffen zustande kam. Dagegen hatte die Verwandlung vom Häftling zum Soldaten keine sechzig Minuten gedauert.

Während sie den Highway 32 entlangrasten, blinzelte Russell in die Dunkelheit hinaus.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte er.

General Morrow hatte sein Leselicht eingeschaltet und kramte in einigen Papieren.

„Zunächst geht es zum Cleveland Municipal Airport“, erklärte er, indessen er ein Dokument las. „Da warten zwei Maschinen. Eine für mich und eine für Sie. Ich fliege nach Florence zum nächsten Kandidaten und Sie reisen nach Nevada.“

„Nach Nevada? Lassen Sie mich raten: Wenn das Projekt so geheim und brisant ist, kann mein Ziel nur Area 51 sein.“

Russell musste schmunzeln. Es war als Scherz gemeint.

„Nicht ganz, aber dicht dran. Yucca Flats.“

„Das alte Atomtestgebiet?“, fragte er verblüfft. Damit hatte er nicht gerechnet. Eine böse Vermutung drängte sich ihm auf. Sollte er durch die Bombenkrater laufen, damit Wissenschaftler die Effekte der Strahlung studieren konnten?

„Ich sehe an Ihrem Gesichtsausdruck, was Sie denken, Harris. Aber ich kann Sie beruhigen. Das Projekt hat nichts mit Atomwaffen zu tun. Auf dem Gelände können wir in Ruhe arbeiten und die Reststrahlung der Bombenkrater verdeckt unsere eigenen Emissionen.“

„Worum geht es? Können Sie nicht konkreter werden?“

„Nein, nicht jetzt. Sie werden das Projekt und Ihre Aufgabe früh genug kennenlernen. In Yucca kommen Sie mit den anderen Freiwilligen zusammen und werden von Ausbildern erst mal wieder in Form gebracht.“ Morrow musterte ihn von oben bis unten. „Ihrem Aussehen nach haben Sie sich in der letzten Zeit nicht viel bewegt.“

„Zum Footballspielen war meine Zelle zu klein.“

Der General schmunzelte. „Ihren seltsamen Humor haben Sie jedenfalls nicht verloren. Genießen Sie Ihre wenigen Tage in Freiheit. Es wird früh genug unangenehm. Parallel zur physischen Ausbildung trainieren Sie an verschiedenen Ausrüstungsgegenständen, dann erfahren Sie auch Einzelheiten Ihrer Mission. Ihr erster Transport wird in vier Wochen stattfinden.“

„Transport? Transport wohin, Sir?“

„Möglicherweise direkt in die Hölle.“

 

2. Flug nach Nevada

 

Am Flughafen standen zwei Jets nebeneinander. Russell musterte die Leitwerke beider Maschinen, wo er jeweils ein Logo der Firma Tepper Aviation erkannte. Er wusste, dass es sich um eine Tarnfirma der CIA handelte. Die Maschinen der Scheinfluggesellschaft flogen vermeintliche Terroristen heimlich in Verhöreinrichtungen arabischer und osteuropäischer Länder, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nahmen. Licht brannte in den Cockpits der Flieger. Zwischen beiden Flugzeugen lief ein Pilot herum und zog hastig an einer Zigarette. Als Morrows Wagen vor den beiden Jets hielt, trat der Mann die Kippe aus und kletterte über eine Treppe in sein Flugzeug. Der General brachte Russell zum Einstieg der Maschine.

„Sehen wir uns in Nevada, General?“

„Erst gegen Ende Ihrer Ausbildung. Sehen Sie zu, dass Sie sich wieder in Form bringen. Und noch etwas: Wir holen zwar keine Perversen und Psychos aus der Zelle, aber ein paar von den anderen Kandidaten haben ganz schön was auf dem Kerbholz. Sie sind ein guter Mann und besitzen Führungsqualitäten. Helfen Sie, die Gruppe unter Kontrolle zu halten. Der Präsident ist von der Verwendung von Häftlingen für das Projekt nicht sonderlich begeistert und ich halte persönlich meinen Kopf hin. Wenn das Projekt außer Kontrolle gerät, wird die komplette Gruppe an einen Ort geschickt, an dem sie garantiert nicht überlebt. Behalten Sie das im Hinterkopf, Harris!“

„Ja, Sir“, antwortete Russell. „Aber eines noch.“

„Ja, mein Sohn?“

„Danke, dass Sie mich da rausgeholt haben!“

„Bedanken Sie sich nicht zu früh. Was auf Sie wartet, könnte übler sein als der elektrische Stuhl!“

Russell schluckte, woraufhin Morrow lächelte.

„Schon gut. Entspannen Sie sich. In der Kühlbox hinten finden Sie ein paar Dosen Bier.“ Der General nickte in Richtung der Kabine, und als Russell drin war, schloss er von außen die Tür.

Da spürte Russell, wie ein leichter Schwung durch das Flugzeug ging, und der Pilot drehte sich auf seinem Sitz zu ihm um.

„Setzen Sie sich und schnallen Sie sich an. Wir haben Startfreigabe und rollen schon. Die Flugzeit beträgt etwa fünf Stunden.“

Fünf Stunden von Mississippi nach Nevada?

Er stutzte, fragte aber nicht nach.

Die Kabine war spartanisch eingerichtet. Sechs Sitze mit zwei Tischen, dahinter ein freier Raum.

Sind das etwa Blutspuren auf dem Boden?

Am Ende der Kabine befand sich ein halb zugezogener Vorhang, hinter dem er eine chemische Toilette erkannte. Schließlich nahm er sich einen Platz am Fenster, griff in die Kühlbox hinter seinem Sitz und angelte sich eine Dose Bier heraus. Sie war eiskalt. Mit einem einzigen Zug leerte er sie, während das Flugzeug die Startbahn entlangjagte. Die Maschine schraubte sich in die Höhe.

Gedankenverloren starrte er aus der Luke in die Dunkelheit. Er zerbrach sich den Kopf darüber, was hinter der Geschichte steckte. Wenigstens war er dem elektrischen Stuhl entkommen und egal, welche Gefahren auf seinem baldigen Einsatz drohten, schlimmer als der Stuhl konnten sie nicht sein.

Nach zwei Stunden ging die Maschine in den Sinkflug, jagte in einer lang gezogenen Kurve knapp über dem Boden dahin und stieg dann wieder hoch.

„Keiner muss unseren Kurs nachvollziehen.“

Russell drehte den Kopf vom Fenster weg und blickte zu dem Sprecher. Im Durchgang zum Cockpit stand der Pilot.

„Wir haben unter dem Radar gedreht und den Transpondercode gewechselt“, erklärte er. „Jetzt fliegen wir auf dem schnellsten Weg nach Yucca Flats. Kurz nach Sonnenaufgang werden wir landen.“

Der Mann versuchte nüchtern zu klingen, aber seine Stimme verriet Unsicherheit.

„Was irritiert Sie?“, fragte Russell.

„Nichts. Ist nur etwas ungewohnt. Meistens sind die Passagiere hinten auf dem Boden festgekettet, während wir sie nach Osteuropa oder Libyen kutschieren.“

Also doch!

„Ich bin wohl ein Sonderfall.“

Der Pilot zuckte mit den Schultern, kramte zwei Flaschen Wasser aus der Kühlbox hervor und verschwand im Cockpit.

Viele düstere Gedanken später erkannte Russell spitze Felsnadeln und Sanddünen, die vom Mond in geisterhaftes Licht getaucht wurden. Als eine Meldung aus den Lautsprechern kam, befand sich der Jet bereits im Sinkflug.

„Schnallen Sie sich an. Wir landen in etwa fünfzehn Minuten“.

Russell befolgte die Anweisung, ehe er erneut durch die Luke starrte. Die Morgendämmerung zog herauf, in deren Licht er unter sich eine sandfarbene Mondlandschaft mit einer Vielzahl an Kratern erblickte. Es kam ihm vor, als würde er über ein verwittertes, vernarbtes Gesicht fliegen. Er sah die Überreste der zahlreichen Atomtests, welche die Regierung vor Jahrzehnten in der Wüste durchgeführt hatte.

Die Maschine landete auf einer staubigen Betonbahn und kam zum Stillstand. Sofort wurde die Tür aufgerissen und ein bulliger Militärpolizist stürzte herein.

„Aufstehen! Raus!“, brüllte er und griff Russell an der Schulter.

„Immer mit der Ruhe.“

„Nichts Ruhe! Beweg deinen Arsch aus dem Flugzeug, du bist hier nicht im Urlaub!“ Der Mann schubste ihn die Treppe hinunter, wo ein weiterer Militärpolizist neben einem Geländewagen wartete. „Steig da ein und halt die Fresse! Ich will keinen Ton hören!“

Russell nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Mit einem Ruck setzte sich der Jeep in Bewegung und fuhr durch die Wüste davon.

Es war eine zermürbende Fahrt. Die Helligkeit der tief stehenden Sonne brannte in seinen Augen und er spürte die Wärme auf seiner Haut, die nach der langen Zeit in der Zelle das Sonnenlicht nicht mehr gewohnt war.

Nach einigen Minuten bogen sie auf eine breite Straße nach Norden ab, die über einen ausgetrockneten Salzsee in Richtung eines entfernten Gebirges führte. Scheinbar wahllos in der Landschaft verteilt, erkannte Russell Gebäudegruppen und turmähnliche Gerüste, die in der sengenden Hitze Nevadas vor sich hin rosteten. In regelmäßigen Abständen erspähte er flache, zerfurchte Mulden im Sand. Wie zusammengefallene, riesige Höhlen sahen sie aus und er vermutete, dass es sich um die Krater gezündeter Kernwaffen handelte.

„Nicht gerade eine einladende Gegend habt ihr hier“, meinte er zum Fahrer des Jeeps. Von der Rückbank schlug ihm der Soldat auf den Kopf. „Was habe ich dir gesagt? Du sollst die Schnauze halten!“, brüllte der Mann in sein Ohr.

Russell sagte nichts mehr, sondern verschränkte nur die Arme vor seiner Brust.

Sie fuhren etwa dreißig Kilometer, bis sie zu einer Gruppe aus vier Gebäuden gelangten. Hohe Stacheldrahtzäune umgaben den Komplex. Schließlich passierten sie ein Tor mit einem Wachposten und hielten neben einer in die Jahre gekommenen Baracke.

„Aussteigen.“

Russell gehorchte. Der Soldat hinter ihm ergriff seinen Arm und zog ihn in das Gebäude. Ein Korridor mit einem Fußboden aus Holzbrettern führte an einigen Türen vorbei. An der vorletzten Tür auf der linken Seite blieben sie stehen.

Der Soldat öffnete sie und stieß Russell hindurch. Ein klappriges Bett stand auf der linken Seite der schmalen Zelle. Ein kleiner Tisch und ein Stuhl standen auf der anderen Seite, und ein Loch im Boden vor dem Fenster sollte wohl als Toilette dienen. Der Soldat knallte die Stahltür zu und schloss ab.

Russell blickte aus dem Fenster. Er sah den Zaun und dahinter kilometerweit Sandwüste, die dann abrupt in ein felsiges Gebirge überging. Erschöpft setzte er sich auf das Bett und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er schloss die Augen und wartete.

3. Training

 

Zwei Tage blieb Russell in seiner Zelle. Die Mahlzeiten brachte ihm ein Soldat auf einem Plastiktablett. Er erhielt eine Felduniform und einen Beutel mit Hygienekram. In diesen Tagen hatte er nichts zu tun, als auf seiner Liege zu sitzen und seinen düsteren Gedanken nachzuhängen.

Welche Pläne haben sie mit mir? Auf welche Weise soll ich in den Tod laufen? Es kann nur ein Einsatz tief in feindlichem Gebiet ohne Rückzugsmöglichkeiten sein!

Am Morgen des dritten Tages riss ein Soldat die Tür der Zelle auf und stürzte in die Kammer. „Aufstehen. Anziehen und in sechzig Sekunden vor dem Gebäude antreten. Los, los!“

Russell zwang sich, Ruhe mit Zügigkeit zu vereinen. In geübter Manier zog er sich die Hose an, stürzte aber beinahe, als sein Kreislauf wegsackte.

Inzwischen war der Soldat in die Nachbarzelle gestapft. Auf der anderen Seite der Wand polterte es. Mit zitternden Händen knöpfte Russell sein grün-braun getupftes Hemd zu und schlüpfte in die Stiefel, die er gestern bereits vorgeschnürt hatte.

Da stand der Soldat erneut in seiner Zelle.

„Was habe ich dir gesagt? Du sollst deinen Arsch bewegen, bevor ich dich nach draußen trete!“

Tropfen seines Geschreis spritzten in Russells Gesicht. Ohne sie wegzuwischen, eilte er nach draußen und den Gang hinunter. Dabei stieß er mit einem glatzköpfigen Mann zusammen, der aus einer anderen Zelle auf den Gang hetzte. Nebeneinander stolperten sie ins Freie. Einige andere Männer – und eine Frau – standen dort in einer ungeordneten Reihe nebeneinander.

An der Seite wachte mit verschränkten Armen ein grauhaariger Soldat und schaute sich das Spektakel mit grimmiger Miene an.

„Los, los, in Reih und Glied, ihr faulen Säcke! Der Größe nach Aufstellung nehmen und stillgestanden!“, brüllte der Mann, der hinter ihnen aus der Baracke trat.

Russell drängelte sich zwischen einen Mann mit Schnäuzer und die Frau, der er in der Hektik auf die Füße trat. Er murmelte eine Entschuldigung, bekam aber keine Antwort.

Ein weiterer Gefangener stolperte aus dem Gebäude und wäre beinahe die kurze Treppe heruntergefallen.

„Der Größe nach habe ich gesagt! Du gehst da zwischen. Nein, da! Bist du blöde? Na endlich!“

Der Soldat stellte sich vor seinen Vorgesetzten, salutierte und erstattete Meldung.

„Gruppe vollzählig angetreten, Sergeant Niven!“

Der Angesprochene nickte. Noch ein Soldat trat aus der Baracke und verzog das Gesicht.

„Da drin stinkt’s schlimmer als in der Gosse! Da werdet ihr heute Abend erst mal sauber machen müssen!“

Er stellte sich neben seinen Kameraden. Dafür trat der Sergeant nach vorne.

„Na, das ist doch mal was“, sagte der Unteroffizier mit gereizter Stimme. „Ich habe selten eine so erbärmliche und verkommene Gruppe vor mir gehabt.“ Er schritt die Reihe ab und schlug einem der Männer auf die Stirn. „Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“

Der Angesprochene machte den Mund auf, um etwas zu sagen. Im letzten Moment überlegte er es sich aber anders.

„Ich habe keine Ahnung, warum man euch beschissenes Pack aus dem Knast geholt hat, und ich würde euch am liebsten mit eigenem Gewehr das Gehirn rauspusten. Aber ich habe den Befehl, wieder Soldaten aus euch zu machen. Und genau das werde ich tun.“

Er stellte sich wieder vor den Trupp und blickte den Häftlingen nacheinander in die Augen. Seine Unterlippe bebte.

„An die nächsten vier Wochen werdet ihr euch für den Rest eures Lebens erinnern. Und es werden keine guten Erinnerungen sein. Ihr werdet mich anbetteln, euch wieder in den Knast zu stecken. Ihr werdet laufen, bis ihr kotzt, und marschieren, bis eure Füße nur noch blutige Klumpen sind. Vier Wochen sind viel zu kurz, um aus euch Pennern wieder Menschen zu machen. Wenn ihr glaubt, dass ich auch nur das geringste Mitleid mit euch habe, dann ist das der Fehler eures Lebens.“

Erneut schritt er vor der Gruppe auf und ab.

„Ich bin Sergeant Niven und das hier sind Corporal Barnes und Corporal Gerrold. Was immer wir euch sagen, es geschieht in Rekordzeit, verstanden? Und wenn mir einer komisch kommt, stecke ich ihm meinen Schlagstock tiefer in den Arsch, als ihr es jemals für möglich halten würdet!“

Russell nahm das Spektakel nicht ernst. Das hatte er in der Vergangenheit zur Genüge bei seinen Ausbildungen erlebt. Nach der langen Zeit in seiner Zelle freute er sich geradezu darauf, bei einem unerbittlichen Training wieder seinen Körper zu spüren. Weitaus mehr Sorgen machte ihm, was hinter den vier Wochen des Trainings auf ihn wartete. Auch die anderen in seinem Team bereiteten ihm Bedenken. Einige sahen aus, als könnten sie für Ärger sorgen. – Und er hatte nicht damit gerechnet, dass eine Frau in der Gruppe war.

Er wandte den Kopf und blickte zur Seite. Sie war ein wenig kleiner und jünger als er. Ihre wachen Augen passten zu ihrem sportlichen Körper und selbst die Felduniform konnte nicht verbergen, dass sie sehr hübsch war.

Klatsch!

Sergeant Nivens Hand landete in Russells Gesicht.

„Augen geradeaus, Soldat!“

Wie befohlen blickte Russell nach vorn, wenngleich seine Gedanken noch bei seiner Kameradin weilten. Na, man würde sich schon kennenlernen.

„Schon besser!“, sagte der Sergeant. „Und jetzt schnappt sich jeder einen Tornister und dann los. Im Laufschritt!“ Er zeigte auf einen Stapel Rucksäcke, die ein Stück abseits lagen. Sie schienen mit etwas Schwerem gefüllt zu sein, aber keiner der Männer rührte sich. Daraufhin stierte er den Trupp mit schmalen Augen an. „Wer den Rucksack mit dem roten Kreuz erwischt, wird nach Feierabend die Latrinen leeren!“

Die Männer hetzten zu den Rucksäcken. Russell hatte keine Schwierigkeiten, eine Alternative zu dem markierten Gepäck zu finden. Zuletzt riss die Frau einem weitaus größeren Gefangenen den letzten Rucksack ohne Kreuz aus den Händen. Dabei quetschte sie seine Finger, der Unglückliche schrie auf.

Niven lief voraus und die Gruppe stolperte ungeordnet hinterher. Einige Meter hinter dem Tor des Geländes blieb der Sergeant stehen. „Halt, so geht das nicht. Alle in einer Reihe hintereinander. Und du hinter mir.“ Er zeigte auf den Größten der Gruppe. „Dann der Größe nach. Ja, das ist besser. Und jetzt los! Bis zum Mittagessen wollt ihr dreißig Kilometer hinter euch gebracht haben!“

Russell spurtete zusammen mit den anderen los. Sie liefen bis zum Fuße des Gebirges, wo der erste Gefangene zusammenbrach. Er übergab sich, obwohl es gar kein Frühstück gegeben hatte.

Corporal Barnes trat ihm in die Seite. „Du faules Stück Scheiße! Steh sofort auf und lauf weiter!“

Der Mann hustete, rappelte sich auf und stolperte die nächsten Meter vorwärts.

Sie bogen nach Osten ab und gelangten zum Rand einer weiten Mulde, die früher einmal ein Flusstal gewesen sein musste. Das Laufen in der Wüste war anstrengend. Bei jedem Schritt musste der Fuß mühsam aus dem Sand herausgezogen werden. Sandkörner gelangten in die schweren Stiefel und scheuerten die Haut auf.

Russell bekam Magenkrämpfe. Er spürte, wie ihm die Galle hochkam, und musste sich übergeben. Doch er machte sich nicht die Mühe, währenddessen anzuhalten, sondern spuckte das brennende Zeug zur Seite weg. Vor Jahren war er einen Marathon in dreieinhalb Stunden gelaufen, aber damals war er deutlich fitter gewesen und hatte er auch keinen Rucksack auf dem Rücken getragen.

Er blickte sich um. Hinter ihm lief die Frau, die tapfer die Zähne zusammenbiss. Die kurzen blonden Haare glänzten vor Schweiß.

Ganz schön zäh, die Kleine.

Sie erinnerte ihn an eine Sanitätsoffizierin, die zu seinem Trupp in Afghanistan gehört hatte. Sie hatten sich glänzend verstanden – bis zur Grenze von dem, was einem verheirateten Mann lieb sein konnte. Diese Frau war ebenfalls sehr zäh gewesen und hatte bei den langen Märschen in der sengenden Hitze am Grenzgebiet zu Pakistan niemals die Miene verzogen. Doch ihre Zähigkeit hatte ihr nicht mehr helfen können, als ihr Gehirn von einem Granatsplitter über eine Hauswand verteilt worden war. Von einem Moment auf den anderen war aus der jungen Frau ein Haufen totes Fleisch geworden.

Er fühlte eine beklemmende Enge in seiner Brust, als er an diesen Anblick zurückdachte. Bei jeder Patrouille hatten sie an diesem gottverdammten Haus in diesem verlotterten Dreckskaff vorbeimarschieren müssen, dessen Wände noch Monate später mit roten und gelben Flecken gesprenkelt gewesen waren. Ein junger Unteroffizier, der den Angriff ebenfalls miterlebt hatte, rastete eines Tages aus und warf eine Handgranate durch das Fenster des Gebäudes. Die halbe Fassade des Hauses stürzte ein, zum Glück hatte sich niemand darin aufgehalten.

Dem Kommandeur hatten sie erzählt, sie seien während der Streife aus den Fenstern beschossen worden. Keiner hatte Fragen gestellt und danach war der Vorfall vergessen gewesen.

Aber es gibt Narben, die verheilen nie, dachte Russell, während sie durch den Sand stapften.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie einen riesigen Krater. Sergeant Niven gewährte ihnen eine Pause und Russell setzte sich neben die Frau und einen älteren Mann mit Schnäuzer. Dann kramte er im Rucksack nach der Wasserflasche und blickte anschließend in den trichterförmigen Abgrund, der einige Hundert Meter Durchmesser hatte.

„Ganz schön tiefes Loch. Könnte ein Meteoritenkrater sein, was meinst du?“, wandte er sich an die Frau.

„Ich denke, es ist einfach nur ein Bombenkrater“, entgegnete sie.

„Das ist der Sedan-Krater“, sagte der Mann mit dem Schnäuzer.

„Wie bitte?“

„Das Projekt hieß Sedan. Hier wurde in den fünfziger Jahren eine Wasserstoffbombe unter der Oberfläche gezündet. Man wollte herausfinden, ob man mit Atomexplosionen Hafenbecken ausheben und Berge für den Autobahnbau einebnen kann.“

„Woher willst du das wissen?“, fragte die Frau.

„Weil ich in der Nähe gearbeitet habe und täglich über dieses Gebiet geflogen bin.“

„In der Nähe? Du meinst, in der Area 51?“, bohrte Russell nach.

„Ja, wir haben dort Testflüge mit der SR-71 durchgeführt.“

„SR-71? Das ist doch dieser Überschalljäger.“

„Nein, ein Überschall-Aufklärer, der als Nachfolger der U-2 entwickelt wurde. Ich habe die Maschine im Einsatz geflogen und später in der Area 51, wo sie von der NASA als Testplattform für luftatmende Raketentriebwerke genutzt wurde.“

„Tja, sieht aus, als hättest du dich nicht unbedingt gesteigert“, meinte die Frau sarkastisch.

„Gefällt mir immer noch besser als der Scheißladen, wo ich vor drei Tagen noch war“, meinte Albert.

„Ich muss zugeben, dass das auch für mich gilt. Ich bin Elise Slayton.“

„Albert Bridgeman.“

Russell stellte sich ebenfalls vor.

„Weiß einer von euch, worum es bei diesem Scheiß hier geht?“, fragte er nach einigen Sekunden Schweigen.

„Nein. Der General sagte nur, dass es verdammt ungemütlich wird. Aber alles ist besser als die Gaskammer, die in Arkansas für mich bereitstand“, entgegnete Elise.

„Bei mir wäre es die Spritze gewesen. Ich habe nur noch auf den Termin gewartet“, gestand Bridgeman.

Russell zögerte einen Moment.

„Ich hätte nur noch ein paar Tage gehabt“, offenbarte er. „Ich hatte mich längst damit abgefunden. Auch jetzt mache ich mir keine großen Hoffnungen. Der General sagte, dass die Überlebenschance bei unserer Mission eher gering ist.“

„Warum hast du es dann nicht im Knast hinter dich gebracht, anstatt dir diese Quälerei anzutun?“, fragte Elise.

„Eine kleine Chance ist besser als gar keine. Außerdem gehe ich lieber für eine Sache drauf, die Sinn macht, anstatt nur dafür zu büßen, dass ich einen Menschen auf dem Gewissen habe“, erwiderte Russell mit bitterer Miene.

„Ehrliche Antwort. Die meisten in meinem Knast haben behauptet, sie seien unschuldig.“

„Und was ist mit dir? Bist du unschuldig?“

Elise lachte trotzig. „Wohl genauso wenig wie du. Was ich getan habe, würde ich wieder tun. Mir blieb gar nichts anderes übrig, aber die Geschworenen sahen es anders. Mehr wirst du von mir nicht hören, denn das ist meine Sache und geht dich einen Scheißdreck an.“ Ihre Augen funkelten zornig.

„Schon gut“, beschwichtigte Russell sie und wandte sich zu Albert um. „Und was ist deine Ausrede? Hast du deine Bomben über dem falschen Land abgeworfen?“

Ihm ging es nicht darum, zu erfahren, was seine Kameraden in die Todeszellen geführt hatte, denn kein Häftling redete gern darüber. Er wollte nur herausfinden, wie reizbar seine Kameraden waren und auf wen er sich im Notfall verlassen konnte.

Albert blieb erstaunlich ruhig und redete offen über seine Vergangenheit.

„Ausrede?“, knurrte er. „Ich habe keine Ausrede. Ich kam zwei Tage früher von einem Einsatz zurück. Da wollte ich meine Frau überraschen und ging leise ins Haus. Sie war unter der Dusche. Ich konnte das Rauschen des Wassers bis in den Flur hören. Ich schlich mich ins Badezimmer und bemerkte, dass sie nicht alleine unter der Brause stand. In dem Moment ist mir die Sicherung durchgebrannt. Ich stürmte ins Schlafzimmer, holte mein Gewehr aus dem Schrank und schoss dem Liebhaber von hinten in den Kopf. Sein Gehirn verteilte sich über ihren ganzen Körper. Erst dann habe ich begriffen, was ich getan hatte.“

Während Bridgeman seine Geschichte erzählte, blinzelte er nicht ein einziges Mal.

Russell schüttelte den Kopf. „Kurzschlusshandlung im Affekt“, murmelte er vor sich hin. „Das hätte noch nicht mal lebenslänglich geben dürfen.“

„Nach der Einführung der Bigby-Doktrin?“, konterte Bridgeman und stieß einen abfälligen Laut aus. „Heute werden doch alle im Schnellverfahren zum Tode verurteilt.“

Russell schaute den Hang des Sedan-Kraters hinab. Albert hatte recht. Präsident Bigby hatte sein Wahlversprechen mit Hilfe des Senats schnell umgesetzt, etwas gegen die ausufernde Kriminalitätsrate und die explodierenden Gefängniskosten zu unternehmen. Seitdem wurde jeder Mord und jeder Totschlag, egal aus welchem Grund, in den Vereinigten Staaten mit der Todesstrafe vergolten. Dasselbe galt für Vergewaltigung und Drogenhandel. Gerichtsverfahren wurden im Eilverfahren durchgeführt und Berufungsprozesse nur noch im Ausnahmefall gewährt. Saßen die Gefangenen früher jahrelang im Todestrakt, so dauerte es heute von der Verhaftung bis zur Hinrichtung nur noch wenige Monate. Die Empörung über die neuen Regeln war anfangs groß gewesen, aber als die Kriminalitätsrate in Rekordzeit sank, verstummten die Proteste und Präsident Bigby konnte sich seiner Wiederwahl im nächsten Jahr sicher sein.

Umso erstaunlicher, dass er nun dieser Amnestie zugestimmt hatte, die ihn, Russell, an den Rand dieses Atombombenkraters geführt hatte.

„Müssen wir nicht fürchten, verstrahlt zu werden?“, fragte er.

„Keine Sorge. Wind und Wetter haben die radioaktiven Rückstände längst abgetragen. Aber wie viele Krebstote Las Vegas diesem Loch zu verdanken hat, das weiß nur Gott allein“, antwortete Albert.

„Aufstehen, ihr Penner! Ihr habt euch lang genug ausgeruht!“, brüllte Corporal Barnes. „Wer bei zehn nicht auf den Beinen ist, dem werde ich höchstpersönlich ins Gehirn springen!“

Russell mühte sich zurück auf die schmerzenden, untrainierten Beine, wobei er beobachtete, wie Albert das Aufstehen noch schwerer fiel.

Sie marschierten den ganzen Nachmittag und waren erst wieder zurück bei ihrer Unterkunft, als die Sonne längst untergegangen war. Vor dem Gebäude ließ Niven die Gruppe strammstehen. Einige der Männer schwankten, als würden sie jeden Moment umkippen.

„So, ihr Drecksäcke! Der erste Tag ist vorbei und ich sage euch jetzt, wie das hier läuft. Ihr könnt euch auf dem Gelände frei bewegen. Eure gemütlichen Hotelzimmer habt ihr ja bereits kennengelernt und das Gebäude dort drüben ist die Mannschaftsmesse.“ Er zeigte auf einen lang gestreckten Bau in einiger Entfernung. „Da könnt ihr euch abends aufhalten, wenn ihr noch nicht zu müde seid. Die Mahlzeiten werden ebenfalls dort eingenommen.“

„Und wo ist die Baracke mit dem Feldpuff, Sir?“, fragte ein Mann, dessen Stirn von einer Narbe durchzogen war, und grinste breit.

„Sperren Sie Soldat Bridges in seine Zelle“, ordnete Niven mit ungerührter Miene an. Kein Abendessen heute. Außerdem Hand- und Fußfesseln!“

Die beiden Hilfsausbilder führten den fluchenden Mann ab.

„Wenn es eines gibt, das ich hasse wie die Pest, dann sind das blöde Sprüche. Merkt euch das, sonst fallen mir noch ganz andere Dinge ein. Morgen beginnen wir um 0500 mit einer gemütlichen Wanderung auf den nächsten Gipfel. Mit vollem Gepäck, versteht sich. Und jetzt wegtreten!“

Russell wankte in die Messe, wo ein Kübel mit dampfendem Eintopf stand. Er schöpfte sich eine Schüssel voll und setzte sich an einen Tisch mit Elise und Albert.

Sein Kamerad sah fertig aus, aber Elise wirkte noch recht frisch.

„Du scheinst solche Tage gewohnt zu sein“, meinte Russell.

„Ich bin früher regelmäßig bei Wettkämpfen gelaufen“, sagte sie. „Ich war immer im Training und nicht lang genug im Gefängnis, um meine Form völlig zu verlieren.“

Russell senkte den Blick auf die Schale und sog den aufsteigenden Dampf mit der Nase ein. Das Essen roch gar nicht mal so schlecht, aber beim ersten Löffel zog es ihm die Mundwinkel zusammen. Total versalzen.

Hinter Elise tauchte ein Mann auf und fingerte in ihren Haaren herum. „Ja, was haben wir denn da? Ein blondes Schätzchen. Du solltest mich heute Nacht mal besuchen, dann zeig ich dir, wie …“

„Ich gebe dir zwei Sekunden, um die Finger von meinem Kopf zu nehmen, sonst werde ich sie dir brechen“, sagte Elise mit zuckersüßer Stimme.

„Kopfmassagen sind meine Spezialität. Kannst mich auch mal massieren. Am besten an meinem …“

Blitzschnell wirbelte Elise herum um und griff nach der Hand des Mannes. Es knirschte, als sie eine ruckartige Bewegung machte. Das Grinsen des Soldaten verwandelte sich in einen schmerzerfüllten Schrei. Die Schüssel, die er in seiner anderen Hand gehalten hatte, flog in hohem Bogen durch den Raum. Zwei seiner Finger waren unnatürlich weit nach hinten gebogen. Er biss die Zähne zusammen und wankte aus der Messe nach draußen.

Russell grinste. „Wo hast du das gelernt?“

„Ich habe mein ganzes Leben lang in einer Männerwelt gelebt und weiß genau, wie ich mich gegenüber Idioten verhalten muss. Ich wüsste nur gerne, ob es hier noch mehr von seiner Sorte gibt.“

Ein anderer Mann setzte sich auf den freien Stuhl neben Russell und blickte zu Elise herüber.

„Einige schon“, antwortete er auf ihre Frage, „aber Sean O’Brien ist der Schlimmste.“

„Und wer bist du?“, fragte Russell.

„Mein Name ist James Rogers. Nennt mich Jim.“

„Schön, Jim. Du scheinst ja einiges zu wissen. Also klär uns mal auf.“

„Ich bin mit diesem General Morrow hergeflogen. Er schlief auf dem Sitz neben mir ein, also habe ich die Gelegenheit genutzt, das Dossier vor ihm auf dem Tisch zu lesen.

---ENDE DER LESEPROBE---