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Phillip P. Peterson

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Beschreibung

Ein Wettlauf zum Mars, der das Schicksal der Menschheit entscheiden könnte Die Astronautin Jenny Nelson soll zum Marsmond Phobos fliegen, um ein Objekt zu bergen, bei dem es sich womöglich um außerirdische Technologie handelt. Russen und Chinesen bereiten ebenfalls eine Bergungsmission vor und wollen als erste vor Ort sein. Jenny bricht mit einem Team zu einer eilig vorbereiteten Mission auf, die zu einem Wettlauf mit den östlichen Mächten wird. Schon während des Flugs könnte die kleinste Panne den Tod bedeuten. Und niemand weiß wirklich, was sie auf dem Marsmond erwartet. Realistisch, spannend, wissenschaftlich fundiert – große deutschsprachige Science Fiction für Leser von Cixin Liu.

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Seitenzahl: 428

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Phillip P. Peterson

Janus

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein Wettlauf zum Mars, der das Schicksal der Menschheit entscheiden könnte.

Die Astronautin Jenny Nelson soll zum Marsmond Phobos fliegen, um ein Objekt zu bergen, bei dem es sich womöglich um außerirdische Technologie handelt. Russen und Chinesen bereiten ebenfalls eine Bergungsmission vor und wollen als erste vor Ort sein. Jenny bricht mit einem Team zu einer eilig vorbereiteten Mission auf, die zu einem Wettlauf mit den östlichen Mächten wird. Schon während des Flugs könnte die kleinste Panne den Tod bedeuten. Und niemand weiß wirklich, was sie auf dem Marsmond erwartet.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Phillip P. Peterson arbeitete als Ingenieur an zukünftigen Trägerraketenkonzepten und im Management von Satellitenprogrammen. Neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen schrieb er für einen Raumfahrtfachverlag. »Transport« war sein erster Roman, der zum Bestseller wurde. Mit »Paradox« gewann er 2015 den Kindle Storyteller-Award, bei FISCHER Tor erschien zuletzt »Nano«. Zu seinen literarischen Vorbildern gehören die Hard-SF-Autoren Stephen Baxter, Arthur C. Clarke und Larry Niven.

1

Jenny Nelsons Hände schwitzten in den Handschuhen, als sie nach dem Steuerknüppel griff. »In Ordnung, ich übernehme.« Sie gab sich alle Mühe, selbstsicher zu klingen, konnte jedoch nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte.

»Keine Sorge, du schaffst das schon.« Malcolm Berry, ihr Kommandant, saß links neben ihr in der Raumkapsel.

Kosmonaut Mikhail Gidzenko, zu ihrer Rechten, schwieg.

Jenny rückte sich mit der linken Hand den Helm ihres Raumanzuges zurecht und beugte sich ein wenig nach vorne, um besser aus dem Fenster schauen zu können.

Genau vor sich, vielleicht noch ein paar hundert Meter entfernt, sah sie die Internationale Raumstation ISS. Die rechte Seite der Station wurde von der Sonne angestrahlt, und die silbernen Module, die ein wenig an überdimensionierte Mülltonnen erinnerten, schimmerten im grellen Licht. Die großen Solarsegel, mit denen der Strom für die Station gewonnen wurde, waren weggeklappt, damit sie nicht durch die ausströmenden Triebwerksgase ihrer Gaia-Kapsel verschmutzt werden konnten. Ein Fadenkreuz und mehrere Linien mit Winkelangaben waren im Fenster eingearbeitet und sollten ihr die Navigation erleichtern.

Ein erstes Andocken an der ISS – Jenny war sich der Verantwortung vollkommen bewusst. Wenn sie Mist baute, beschädigte sie nicht nur die Hunderte Milliarden Dollar teure Station. Sie riskierte auch das Leben ihrer Besatzung und das der drei Astronauten an Bord der ISS.

Sie atmete tief ein und drückte dann den Steuerknüppel leicht nach vorne. Ein dumpfes Zischen ertönte, als die Kapsel beschleunigte.

»Relativ zwei Meter pro Sekunde.« Gidzenko hatte immer noch seinen schweren, russischen Akzent, der dafür sorgte, dass sie ihn manchmal kaum verstand. Der Kosmonaut hatte erst sehr spät angefangen, Englisch zu lernen, und tat sich mit der Sprache offenbar recht schwer. Dafür war der hagere, eher kleine Mann mit dem an Lenin erinnernden Spitzbart ein mathematisch-physikalisches Genie. Bei der NASA hatte man schnell seinen von Kosmonautenkollegen stammenden Spitznamen »Menschlicher Computer« übernommen. Jenny mochte den Kollegen, und daran konnten auch die schlechten internationalen Beziehungen zwischen den USA und Russland nichts ändern.

Die Station wurde allmählich größer. Langsam näherten sie sich dem Andockstutzen des amerikanischen Teils der Station.

»Sieht weiterhin sehr gut aus«, meldete Malcolm. Jenny erlaubte sich, kurz den Kopf zu wenden, und sah, dass ihr Kommandant lächelte. Allmählich beruhigte sie sich. Malcolm hatte ein enormes Talent, anderen Menschen alleine durch seine positive Ausstrahlung ein gutes Gefühl zu geben.

Er hatte bereits zwei Flüge zur Internationalen Raumstation absolviert und insgesamt schon über vierhundert Tage im All verbracht. Commander Malcolm Berry war der erfahrenste Astronaut im aktuellen amerikanischen Astronautenkorps. Jenny war froh, dass der große, stämmige Marine bei ihrer ersten Weltraummission ihr Kommandant war.

»Achtung!« Gidzenko rückte sich in seinem Sitz zurecht. »Du entfernst dich mit einer leichten Komponente in Richtung plus Z vom Zentrum des Andockkegels.«

Jennys Blick wanderte vom Fenster zum Bildschirm vor ihr auf der Konsole. Rechts war mit einigen Rechtecken die ISS schematisch dargestellt. Vom Knotenmodul ragte ein sich erweiternder Kegel nach links auf den Bildschirm. Das kleine Dreieck, das ihre Gaia-Kapsel darstellen sollte, wanderte langsam, aber deutlich sichtbar nach oben.

Was soll denn das?

Jenny ärgerte sich. Vor wenigen Augenblicken hatte sie noch genau auf der weißen Linie im Zentrum des Kegels gelegen. Warum entfernte sie sich nun vom optimalen Kurs?

»Du musst ausgleichen.« Malcolm sprach mit ruhiger Stimme.

Das war Jenny schon klar. Wenn das kleine Kapsel-Dreieck den Rand des Kegels berührte, dann musste sie den Anflug abbrechen und wieder von vorne beginnen, was den Zeitplan durcheinanderwerfen würde. Außerdem würde es sie blamieren. Es gab bei der NASA nach all den Jahren seit Sally Ride und Eileen Collins immer noch erzkonservative Männer, die Frauen prinzipiell für die schlechteren Piloten hielten. Ein Scheitern des Anflugs würde diesen Ewiggestrigen Wasser auf den Mühlen sein.

Mit einem kurzen Druck auf den Steuerknüppel zündete Jenny die oberen Lageregelungsdüsen. Nur für einen kurzen Augenblick, aber das reichte, um die Kapsel wieder auf das Zentrum des Andockkegels zuzusteuern.

»Gut gemacht.« Malcolms Stimme klang nüchtern.

Als das Dreieck auf dem Bildschirm die Linie in der Mitte berührte, stoppte Jenny mit einem erneuten Druck auf den Steuerknüppel die Bewegung.

»Äh …«, machte Mikhail.

Jenny hob die Augenbrauen. »Was denn?«

»Nichts«, sagte Malcolm anstelle des Russen. »Mach einfach weiter.«

Mikhail zuckte mit den Schultern und schwieg.

Irgendetwas lief falsch, warum sagte er es ihr nicht?

Egal! Ich muss mich auf meine Aufgabe konzentrieren.

Jenny drückte den Knüppel erneut leicht nach vorne. Langsam, ganz langsam wurde die Station in ihrem Fenster wieder größer.

»Relativgeschwindigkeit ein Meter pro Sekunde«, verkündete Mikhail.

Jenny nickte befriedigt. Das war der nominelle Wert. Alles sah gut aus. Wenn sie sich der ISS bis auf hundert Meter genähert hatte, würde sie die Geschwindigkeit weiter verringern.

Mikhail räusperte sich. »Radialvektor in plus Z. Null Komma eins. Wir entfernen uns aus dem Zentrum des Andockkegels.«

Ungläubig starrte Jenny auf den Bildschirm. Das Dreieck der Kapsel entfernte sich schon wieder von der Mittellinie des Kegels und schob sich nach oben. Jenny schüttelte den Kopf.

Verdammt nochmal!

»Das kann doch nicht sein!« Sie konnte nun auch mit einem Blick aus dem Fenster erkennen, dass die Station nach unten zog.

Scheiße, verdammte!

Was war denn nur mit dem Schiff los?

»Immer mit der Ruhe«, beschwichtigte Malcolm. »Denk nach! Was könnte für die Abweichung verantwortlich sein?«

Er weiß es! Warum sagt er es dann nicht einfach?

Sie mussten ein Problem mit der Kapsel haben. »Vielleicht hat sich das Ventil einer Schubdüse verklemmt.«

Mit Sicherheit, das war es! Die Düse feuerte permanent, übte einen geringen Schub aus und drückte die Kapsel von der vorgesehenen Flugbahn weg.

Doch ihr Chef und der Russe wechselten einen schnellen Blick.

»Kann das sein?«, fragte Malcolm, mit sanfter Geduld wie ein Grundschullehrer.

Jenny spürte, wie sie einen roten Kopf bekam. Sie mochte Malcolm, aber im Moment verhielt er sich so, als wollte er sie bloßstellen. »Verdammt, Malcolm! Wenn du weißt, was kaputt ist, dann raus damit.«

Sie bereute ihren Ausbruch sofort.

Ihr Chef und Astronautenkollege lächelte. »Immer langsam. Wie lässt sich deine Theorie überprüfen?«

Jenny zwang sich zur Ruhe. Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Wollte Malcolm etwa, dass sie scheiterte? Was hätte er denn davon? Indessen bewegte sich das Dreieck immer weiter auf die Grenze des Andockkegels zu.

Denk nach, Jenny! Denk nach!

Wenn ein Ventil verklemmt war, würde permanent Stickstoff aus den Düsen strömen. Der Druck im Tank würde sinken. Langsam zwar, aber die Sensoren mussten die Änderung erfassen können.

Jenny drückte einen Knopf auf ihrer Konsole. Der sekundäre Bildschirm zeigte eine lange Reihe an Zahlen und Messwerten.

Nein!

Die Druckanzeige des Stickstofftanks für das Lageregelungssystem änderte sich nicht. Auch alle anderen Werte blieben stabil.

»Wir haben kein Leck.« Jennys Stimme zitterte.

»Nein, haben wir nicht«, sagte Malcolm.

Jennys Herzschlag beschleunigte sich. Was konnte denn sonst für die Abweichung des Kurses verantwortlich sein?

Gleich würde das Dreieck der Kapsel die äußere Linie des Kegels berühren. Sie konnte natürlich wieder Gegenschub geben, aber auf Dauer strapazierte das ihre Treibstoffvorräte. Es machte auch keinen Sinn, ein Andockmanöver durchzuführen, wenn ihre Kapsel ein Problem hatte.

Sie straffte sich. »Ich breche den Anflug ab.«

»Moment«, stoppte Malcolm sie.

Jenny blickte ihn an.

Ihr Kommandant lächelte wieder. »Gehen wir doch einfach mal davon aus, dass die Kapsel unbeschädigt ist und kein Problem hat.«

»Ja, aber …« Malcolm unterbrach sie mit einer schnellen Handbewegung.

»Was tust du, um dich der Station anzunähern?«, fragte er.

Verdammt, worauf wollte er nur hinaus?

»Ich beschleunige leicht.«

Er lächelte. »Was bedeutet das für die Umlaufbahn, in der wir uns befinden?«

Sofort wusste sie, was er meinte.

Jenny schloss die Augen.

»Genau!« Malcolm musste an ihrem Gesichtsausdruck bemerkt haben, dass sie die Situation verstanden hatte. »Wenn wir stabil hinter der Station fliegen, sind wir auf derselben Umlaufbahn um die Erde. Beschleunigst du aber auf die Station zu, veränderst du die Bahn. Erhöht sich deine Orbitalgeschwindigkeit, steigt auch die Höhe der Umlaufbahn an.«

Jennys Wangen glühten. Sie kam sich so dumm vor. Sie war die Physikerin. Malcolm war ausgebildeter Kampfpilot. Sie hätte sofort draufkommen müssen. Aber sie hatte vergessen, dass sie sich auf einer Umlaufbahn um die Erde befanden. Sie hatte es einfach vergessen.

Diese aus der Himmelsmechanik resultierende Bewegung musste kompensiert werden. Das machte die Kapsel normalerweise automatisch, aber sie hatte bei der Vorbereitung des Anflugs vergessen, den entsprechenden Schalter zu drücken. Sie musste den Punkt auf der Checkliste überlesen haben.

»Jenny!«, sagte Mikhail.

»Ich sehe es.« Die Linie der Kapsel berührte die Linie des Kegels. Schnell gab sie Gegenschub und brachte das Dreieck wieder in die Mitte des Kegels.

Dann stoppte sie die Bewegung der Kapsel und drückte den Knopf für den automatischen Kursausgleich, den sie schon vor einer halben Stunde hätte drücken müssen.

»Gut«, bestätigte Malcolm knapp.

Mit einem kurzen Stoß des Steuerknüppels brachte Jenny die Kapsel zurück in eine leichte Vorwärtsbewegung. Erneut wurde die ISS hinter dem Fenster größer.

Jenny ärgerte sich über sich selbst. Auf diese Lehrstunde hätte sie gerne verzichtet. Nachher würde sie sich von der Leiterin des Astronautenbüros etwas anhören können.

Immerhin verlief der Rest des Anfluges nun wie vorgesehen. Hundert Meter vor der Station verringerte Jenny die Geschwindigkeit der Kapsel. Kurz vor dem ersten Kontakt mit der Station stoppte sie ganz. Ein grünes Licht auf der Konsole bestätigte ihr, dass sie für den Endanflug nun genau ausgerichtet war.

Sie überprüfte ein letztes Mal die ordnungsgemäße Funktionsbereitschaft des Dockingadapters. Auch die wurde ihr mit einem grünen Licht bestätigt.

Jenny holte tief Luft.

Also gut, wagen wir’s!

Sie drückte den Steuerknüppel ganz sachte nach vorne.

»Sieht gut aus«, flüsterte Mikhail.

Es gab einen Ruck und einen leisen Knall.

Ein gelbes Licht leuchtete vor Jenny auf der Konsole auf. Sie hatten Kontakt, aber die Klammern waren noch nicht verriegelt.

Es sollte nicht mehr als einige Sekunden dauern, aber das Licht blieb gelb.

Na, mach schon!

Nichts tat sich.

Jenny kannte das Problem. Der Ring des Dockingadapters hatte sich womöglich leicht verzogen. Das war kein Wunder, denn die Kapsel flog alle neunzig Minuten einmal um die Erde und wechselte dabei zwischen Tag- und Nachtseite. Die dabei entstehenden großen Temperaturunterschiede wirkten sich nun einmal auf das Material des Fluggeräts aus.

Jenny griff wieder zum Steuerknüppel. Sie hörte das Klacken der Ventile, als Gas in die Lageregelungstriebwerke strömte. Es passierte immer noch nichts, also gab sie noch mehr Schub, um die Kapsel in die Dockingvorrichtung zu drücken.

»Äh …«, machte Malcolm.

Er kam nicht dazu, mehr zu sagen, denn es gab einen weiteren Knall, und das Licht auf der Konsole wechselte endlich von Gelb zu Grün.

Jenny atmete auf. Sie hatte angedockt. Erfolgreich. Und ohne das Schiff zu beschädigen.

Zufrieden war sie dennoch nicht. Es hätte glatter laufen müssen. Aber man lernte aus seinen Fehlern, und dafür war sie schließlich hier.

Plötzlich wurde es hell in der Kapsel.

»Simulation beendet«, sagte die quengelige Stimme von Grant Phillips aus den Lautsprechern. »Nachbesprechung in zehn Minuten in Meetingraum B.«

»Essen wir danach noch zusammen?« Mikhail löste seine Gurte.

»Nichts dagegen.« Malcolm hatte sich bereits abgeschnallt und stand auf, um die Luke des Simulators zu öffnen.

Blendendes Neonlicht fiel von draußen in das Innere der Kapsel.

Jenny seufzte und stieg hinter ihrem Boss nach draußen.

Heute hatte sie sich wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert.

Diese Simulation würden sie und ihre Astronautenkameraden gewiss wiederholen müssen, was einen ganzen Tag in Anspruch nehmen würde.

Dabei waren es nur noch wenige Wochen bis zum Start zu ihrer Mission auf der Internationalen Raumstation.

Und der würde dann keine Simulation mehr sein.

2

Daniel Perito seufzte wehmütig, als er, seine schwarze Ledertasche in der rechten Hand, das Administrationsgebäude des Johnson Space Center in Houston betrat.

Draußen schien die Sonne. Er hätte lieber die Wärme genossen, als nun den Rest des Nachmittags in dunklen, klimatisierten Besprechungsräumen zu verbringen.

Zu Hause in Washington war es am Morgen eisig kalt gewesen. Die Sonne hatte sich an der Ostküste schon während der letzten beiden Wochen nicht mehr gezeigt, und darum genoss er seine gelegentlichen Dienstreisen in die wärmeren Bundesstaaten. Er flog zwar auch oft zu Terminen nach Europa, Japan oder Russland, aber dort war das Wetter zu dieser Jahreszeit meist auch nicht besser.

In Moskau war es letzte Woche fast minus zwanzig Grad kalt gewesen. Sein erster Weg hatte ihn ins GUM am Roten Platz geführt, wo er sich für einen gesalzenen Preis einen neuen, wärmeren Mantel gekauft hatte.

Mit zwanzig Grad war die Temperatur im texanischen Houston hingegen sehr angenehm. Doch das Gebäude würde er wohl erst wieder verlassen, wenn es draußen dunkel war. Als Manager für internationale Kontakte im Hauptquartier der NASA in Washington war er in dieser krisengeschüttelten Zeit ein begehrter Gesprächspartner, egal, in welches NASA-Zentrum er reiste.

Daniel nahm sein schwarzes Handy aus der Tasche seines Jacketts und öffnete mit dem Daumen die Kalender-App. Sein erstes Meeting hatte er im obersten Stockwerk – hoffentlich in einem Raum mit Fenster.

Er nahm den Fahrstuhl und betrat wenige Augenblicke später sein Ziel.

Seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Der Besprechungsraum war nicht größer als ein Büro für zwei Personen und lag eingequetscht zwischen einer kleinen Kaffeeküche und den Herrentoiletten. Es war sehr warm und feucht, und sofort bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn. Daniel lockerte den Knoten seiner Krawatte.

Immerhin waren seine Gesprächspartner schon da. Sie saßen an einem runden Tisch aus hellem Holzimitat, auf dem ein Telefonapparat mit einem großen Lautsprecher stand.

Die Wände waren gelblich verfärbt mit einigen grünlichen Flecken in einer Ecke. Es roch leicht modrig. Über sich sah Daniel die quadratische Öffnung einer Klimaanlage, aber die war entweder nicht eingeschaltet oder kaputt. Obwohl im Houstoner NASA-Zentrum milliardenteure Missionen geplant und durchgeführt wurden, fehlte es an Geldern für die Wartung oder Erneuerung der Gebäude, die noch aus den Hochzeiten des Apollo-Programms in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts stammten.

»Schön, dass Sie da sind, Daniel«, sagte Susan Garfield. Die adrett in ein braunes Kostüm gekleidete Frau stand auf, um ihm die Hand zu reichen. Er kannte die Managerin des JSC, die direkt dem Leiter des NASA-Zentrums unterstellt war, von früheren Besprechungen. Sie mochte um die fünfzig sein und war eine leidenschaftliche Vorkämpferin für das bemannte Weltraumprogramm.

Daniel erwiderte den Händedruck und wandte sich dann Lee Kline zu. Auch mit dem knorrigen, älteren Flight Director hatte er schon zusammengearbeitet. Lee starrte Daniel aus blauen, kühlen Augen an. Bei früheren Treffen hatte er nicht den leisesten Anflug von Humor gezeigt. Daniel wusste, dass Lee eine große Vorliebe für Checklisten hatte. Astronauten, die Daniel kannte, lästerten auf Cocktailpartys nach ein, zwei Scotch gerne darüber, dass Lees ganzes Leben eine einzige Checkliste sei.

»Wie geht’s, Lee?« Daniel reichte seinem Gegenüber nicht die Hand. Lee mochte das seit der Covid-19-Pandemie nicht mehr. Aber wahrscheinlich hatte er es auch schon vorher nicht gemocht.

»Es geht«, antwortete Lee knapp.

Ein Gespräch mit dem Flight Director in Gang zu halten war nicht einfach. Daniel beschloss, es mit einem neuen Thema zu versuchen. »Wie läuft es bei Artemis?«

»Ich arbeite nicht mehr für Artemis«, sagte Lee.

Daniel hob die Augenbrauen. »Ach?« Soweit er wusste, war es ein Traum aller Flight Controller vom JSC, an den neuen Mondlandungen zu arbeiten.

»Zu wenig Fortschritt.« Lee zog die Mundwinkel nach unten. »Ich arbeite lieber an Missionen, bei denen es für mich auch was zu tun gibt.«

Daniel nickte. Lee hatte schon recht. Laut der ursprünglichen Planung hätte die erste der neuen Mondlandungen schon längst stattfinden sollen, aber es gab immer noch Probleme mit der amerikanischen Großrakete SLS. Auch mit der Mondlandefähre von SpaceX war die NASA nicht zufrieden und hatte Änderungen gefordert. Die kosteten natürlich Zeit und Geld. Eine erste bemannte Mondumkreisung war für das Folgejahr geplant, aber eigentlich rechneten alle im Hauptquartier in Washington damit, dass der Flug erneut verschoben wurde.

»Lee ist nun wieder Flight Director bei der Internationalen Raumstation. Ab der nächsten Expedition wird er den Posten im Kontrollzentrum übernehmen.« Susan stutzte. »Ist das nicht der Flug, bei dem deine Freundin mitfliegen wird?«

Bevor Daniel antworten konnte, hatte Lee wieder das Wort ergriffen. »Ja, Jenny Nelson. Sie ist Bordingenieurin.«

Daniel zwang sich zu einem Lächeln. »So ist es.« Dass Jenny nun tatsächlich bald zur ISS flog, war ein wunder Punkt in seinem Leben. Sie bekamen sich ohnehin nur alle paar Wochen zu sehen, da sie in Houston und er in Washington lebte. Aber ein halbes Jahr darauf zu warten, dass die Lebensgefährtin aus dem Weltraum zurückkehrte, war doch noch einmal etwas anderes. Er wollte nicht darüber reden. Schon gar nicht mit Susan und Lee. »Was kann ich denn für euch tun?«

Susan zeigte auf den freien Platz am Tisch. »Kaffee?«

Daniel schüttelte den Kopf und setzte sich. Der Stuhl war unbequem und neigte zum Kippen, wenn er sich nach hinten lehnte.

Susan nahm die Kaffeekanne und schenkte sich und Lee ein. Der Flight Director schaufelte sich einen Löffel Zucker nach dem anderen in das Gebräu. Susan trank ihren Kaffee schwarz.

Daniel öffnete seine Ledertasche und nahm einen Notizblock und einen Kugelschreiber mit dem NASA-Emblem, das von Journalisten gerne als blaues Fleischbällchen bezeichnet wurde, heraus.

Susan stellte die Kaffeekanne auf einen Beistelltisch und setzte sich. »Es geht um China.«

Daniel hob eine Augenbraue. »China?«

Susan nickte. »Ich war bei der IAU-Konferenz in Seoul und habe dort beim Konferenzdinner neben Ling Dai gesessen.«

Daniel zuckte mit den Schultern. Den Namen hatte er zwar irgendwo schon einmal gehört, konnte ihn aber im Moment nicht zuordnen. »Hilf mir auf die Sprünge.«

Susan seufzte. »Ling ist Managerin für Kommunikationssysteme bei der CNSA.«

Die CNSA war die chinesische Raumfahrtbehörde und verantwortlich für die unbemannte Raumfahrt Chinas.

»Und?«

»Die Chinesen haben nun ihr eigenes TDRS in Betrieb genommen.«

»Davon habe ich gehört.« TDRS war die Abkürzung für Tracking and Data Relay Satellite – ein Kommunikationssystem, das es Raumfahrzeugen im niedrigen Erdorbit, darunter Raumstationen, erlaubte, über hochfliegende Satelliten zu jedem Zeitpunkt mit der Bodenkontrolle zu kommunizieren.

»Wir benutzen unser eigenes TDRS für die Kommunikation mit der ISS.« Lees Stimme klang völlig emotionslos. »Die Chinesen nutzen ihres für Tiangong.«

Auch das war für Daniel nichts Neues.

»Ling hat eine Prozedur vorgeschlagen, nach der wir in einem Notfall auf das chinesische TDRS zurückgreifen können und die Chinesen bei einem Ausfall ihres eigenen Kommunikationssystems auf das amerikanische Satellitensystem. Es scheint mir eine gute Idee zu sein, von der beide Seiten profitieren.«

Daniel unterdrückte ein Ächzen. Das würde nicht funktionieren.

»Ich unterstütze Susans Idee mit Nachdruck. Es wäre eine reine Notfallprozedur und sowohl für die Chinesen und auch für uns im Falle eines Systemausfalls ein echter Gewinn«, schob Lee nach.

Daniel schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«

»Und wieso nicht?« Susans Stimme klang weniger enttäuscht als verärgert.

»Wegen des Wolf-Amendments«, sagte Daniel. »Das Gesetz aus dem Jahr 2011 verbietet die direkte bilaterale Kooperation mit der chinesischen Weltraumfahrt. Egal, in welchen Belangen.«

»Ich kenne das Gesetz.« Lee klang genervt. »Es ist der Grund, warum die Chinesen nie bei der Internationalen Raumstation mitmachen durften, obwohl sie durchaus Interesse gezeigt haben. Nun haben sie ihre eigene.«

Daniel atmete durch. Er war im Hinblick auf Sinn und Unsinn des Wolf-Amendments selber zwiegespalten, aber es war nun einmal seine Aufgabe, die aktuelle Politik durchzusetzen. »Das Gesetz hat schon einen Nutzen. Geopolitisch sind die Chinesen unsere Kontrahenten, und eine technische Kooperation würde China Einblicke geben, die sie für ihre Waffentechnik einsetzen könnten.«

Lee winkte ab. »In einigen Bereichen sind uns die Chinesen doch ohnehin schon voraus.«

»In der Raumfahrt läuft nichts ohne Kooperation«, wandte Susan ein. »Vor allem gefällt mir der Gedanke nicht, dass wir wissentlich unsere Leute gefährden, obwohl es um so etwas Banales wie ein Kommunikationssystem geht.«

Daniel hob abwehrend die Hände. »So einfach ist es nicht. Die Technik der TDR-Satelliten kann durchaus für die Steuerung von Atomraketen oder die Kommunikation von Soldaten auf dem Schlachtfeld benutzt werden. Wir müssten den Chinesen detaillierte Informationen über unsere Satelliten geben.«

Lee verzog den Mund. »Ich finde dieses Gesetz wirklich beschissen. Im Ernst, es geht doch nur darum, die wirtschaftliche Entwicklung Chinas zu behindern und unsere eigene Agenda voranzubringen.«

Mit dieser Ansicht stand Lee nicht alleine da. Besonders manche Demokraten vertraten die Meinung, dass man mit China eher kooperieren müsse, statt um die wirtschaftliche und geopolitische Vormachtstellung zu kämpfen. Aber es lag nicht an ihnen hier in diesem Raum, das zu entscheiden. »Es ist nun einmal so. Ich kann es nicht ändern.«

»Bei der chinesischen Mondsonde vor ein paar Jahren haben wir doch auch zusammengearbeitet«, warf Susan ein.

Lee nickte.

Das stimmte schon. Als die Chang’e-Sonde auf dem Mond gelandet war, hatte die NASA zugestimmt, die Landung mit dem Lunar Reconnaissance Orbiter zu beobachten und die Daten der chinesischen Raumfahrtbehörde zur Verfügung zu stellen. Dafür hatten die Wissenschaftler im Vorfeld die technischen Daten ihrer Raumfahrzeuge ausgetauscht. »Das war aber eine einmalige Angelegenheit, für die der Kongress extra abstimmen musste.«

Lee richtete sich kerzengerade auf. »Dann lassen wir den Kongress eben wieder abstimmen.«

Daniel seufzte. »Die Beziehungen haben sich seit 2019 leider nicht verbessert. Auch wenn es im Moment um Taiwan etwas ruhiger geworden ist, ist die Stimmung doch immer noch angespannt. Im Pentagon geht man davon aus, dass China in dieser Sache bereit zu einem Krieg sei, wenn sich die Umstände nicht ändern.«

Lee stöhnte und verdrehte die Augen.

Daniel bezweifelte, dass der Mann neben seiner Arbeit im Kontrollzentrum dazu kam, die internationalen Nachrichten zu verfolgen. »Ich denke nicht, dass der Kongress in dieser Lage einer weiteren Ausnahmegenehmigung für die NASA zustimmen würde.«

Susan rückte ihre Brille zurecht. »Man sollte es zumindest versuchen. Du könntest doch einmal beim Kongress vorfühlen, ob im Interesse der Sicherheit unserer Astronauten nicht noch einmal eine Ausnahme von diesem dämlichen Wolf-Gesetz denkbar ist.«

»Ich selbst kann da gar nichts machen.« Daniel wedelte abwehrend mit den Händen. »Nur mein Chef.« Und der würde nicht begeistert sein.

»Besprich es bitte mit ihm!«, forderte Lee.

»Natürlich werde ich eure Wünsche Graham vortragen«, sagte Daniel. »Aber ich verspreche nichts.«

»Vielleicht sollte ich selber einmal mit ihm sprechen.« Susan lächelte boshaft.

Daniel schmunzelte. Es war eine unverhohlene Drohung, vorgeschriebenen Dienstweg zu ignorieren und ihn zu übergehen. Bei Graham würde sie damit allerdings nicht durchkommen. Er würde auf Daniel verweisen und auflegen. Sein Chef war selber ein politischer Spieler, der schon mehr als eine Intrige angezettelt hatte, aber seinen Untergebenen gegenüber verhielt er sich immer loyal.

»Das kannst du gerne tun.« Daniel legte möglichst viel Kälte in seine Stimme. »Wenn Graham aber der Meinung ist, dass eine solche Anfrage alleine schon den Ruf unserer Abteilung beschädigt, dann wird er es nicht tun. Daran wird auch ein Anruf von dir nichts ändern.«

Lee starrte schmallippig die Wand an. »Zu feige, einfach nur mal zu fragen …«

Daniel öffnete den Mund für eine Antwort, schloss ihn aber gleich wieder. Die Ingenieure in Houston mochten Genies sein, wenn es darum ging, Raketen in den Weltraum zu schießen, Raumstationen zu bauen und Kapseln auf dem Mond zu landen, aber sie vergaßen immer und immer wieder, dass der eigentliche Treibstoff einer Raumfahrtmission das Geld war. Raumfahrt war ein verdammt teures Unterfangen, und die Mittel dafür kamen letzten Endes alle aus Washington, indem sie vom Kongress bewilligt wurden. Den Senatoren ging es in erster Linie darum, die Arbeitsplätze der Luft- und Raumfahrtindustrie in ihren Bundesstaaten und somit die Stimmen für ihre eigene Wiederwahl zu sichern. Ansonsten war Washington an ihrer Arbeit erstaunlich desinteressiert. Wenn man den falschen Politikern mit dämlichen Anfragen kam, dann war man seinen Job bei der NASA schneller los, als einem lieb sein konnte. Das galt vor allem für die oberen Manager, zu denen auch Graham Burke gehörte. Seinen Posten hatte er nur sicher, solange er sich des Rückhalts der richtigen Leute erfreuen konnte. Und solange er in der Lage war, die Menschen abzuwehren, die nur darauf warteten, an seinem Stuhl zu sägen. Nicht umsonst galten Abteilungsleiterposten beim Hauptquartier der NASA als Sprungbrett in noch höhere Positionen der Landespolitik. Was Graham anging, so liebäugelte er mit dem Posten des NASA-Administrators, der wahrscheinlich nach der nächsten Wahl im folgenden Jahr wieder zur Disposition stand.

»Aber du wirst mit Dr. Burke sprechen?«

Daniel nickte. »Natürlich. Gibt es sonst noch irgendwas?«

Susan und Lee blickten sich an und schüttelten dann gleichzeitig die Köpfe.

»Wir sind fertig«, erklärte Susan.

Lee erhob sich und verließ ohne weitere Worte den Raum.

Susan hingegen lächelte und folgte Daniel langsam vor die Tür. Da der offizielle Teil des Gesprächs vorüber war, taute sie wohl ein wenig auf. »Geht es heute wieder zurück nach Washington?«

Daniel erwiderte das Lächeln. Er fragte sich, wie die oft so streng wirkende Managerin privat war. »Nein. Ich habe noch zwei andere Meetings hier im JSC. Morgen steht noch ein weiteres Gespräch an.«

»Wo übernachtest du? Im Hilton oder im Courtyard?« Das waren die nächsten beiden Hotels, direkt hinter der Wache.

Daniel schüttelte den Kopf. »Bei meiner Freundin.«

Susan winkte ab. »Natürlich. Klar.«

Daniel hoffte nur, dass Jenny nicht den ganzen Abend wieder über technischen Handbüchern hing.

3

»Er hat mich einfach auflaufen lassen!« Jenny zitterte vor Wut. »Er hätte mir wenigstens einen Hinweis geben können, statt mich so vorzuführen.«

Was für ein mieser Tag. Jenny konnte die Demütigung im Simulator nicht vergessen. Das Debriefing war kühl und sachlich gewesen, und niemand hatte ihr explizit einen Vorwurf gemacht, doch ihr war klar, dass sie heute nicht gut ausgesehen hatte, und das war alleine ihre Schuld. Trotzdem hätte Malcolm sich ihr gegenüber loyaler verhalten können. Stattdessen hatte er sie behandelt wie ein Schulmädchen.

Jenny war gleichzeitig mit Daniel in ihrem kleinen Apartment in Galveston angekommen. Sie hatte erst einmal einen Drink gebraucht und sich ein Glas Rotwein eingeschenkt. Ihr Freund, der neben ihr auf der Couch saß, hatte sich ein mexikanisches Bier aus dem Kühlschrank geholt.

Daniel hob beschwichtigend die Hände. »Er hat dir doch dann einen Hinweis gegeben, warum du vom Zentrum des Dockingkegels abweichst.«

»Er hätte mir einfach sachlich sagen können, was das Problem war.«

»Er wollte wahrscheinlich, dass du von selbst drauf kommst.«

»Ich hasse es, vorgeführt zu werden.« Jenny trank mit einem Schluck den letzten Rest des Rotweins, stellte das leere Glas auf den Tisch aus gemasertem Eichenholz und verschränkte die Hände vor der Brust.

Daniel schüttelte langsam den Kopf. »Du hasst es, dir Kritik anhören zu müssen. Selbst wenn sie berechtigt ist.«

Sie wandte sich mit einem Ruck um und starrte Daniel direkt in die Augen. Das stimmte doch gar nicht! »Ich kann sehr wohl Kritik vertragen.«

Daniel lächelte. »Ja, das kannst du. Aber nicht, wenn andere dabei sind. Das nimmst du dann immer persönlich.« Seine Stimme hatte wie so oft eine beruhigende Wirkung auf sie. Anstatt aufzubrausen, fragte sie sich, ob er nicht vielleicht recht hatte.

»In einer Gruppe, die zusammen für eine Raumfahrtmission trainiert, geht es nun mal nicht ohne Kritik vor versammelter Mannschaft«, erklärte Daniel. »Das ist nichts Persönliches. Ich kenne Malcolm, er würde niemals einem Mitglied seiner Crew schaden. Wahrscheinlich wollte er, dass du etwas aus der Sache lernst. Vielleicht, damit dir dieser Fehler nicht noch einmal passiert. Vielleicht wollte er auch nur sehen, wie du reagierst, wenn er dich ein wenig von oben herab behandelt. Wenn er dich für unfähig halten würde, wärst du niemals in seine Crew aufgenommen worden.«

Vielleicht lag Daniel tatsächlich richtig. Aber dennoch … »Ich bin mir nicht sicher, ob er Mikhail so aufs Glatteis geführt hätte. Aber ich bin ja nur eine …«

»… Frau«, unterbrach Daniel sie. »Das hat nichts damit zu tun.«

»Ich bin schon so häufig von oben herab behandelt worden.« Jenny ärgerte sich über seine Reaktion. »Schon im Studium war es ein ewiger Kampf. Ich hatte jede Menge Professoren, die mich für unfähig hielten, weil Physik angeblich nur etwas für Männer ist.«

»Ich kenne die Geschichten.« Daniel verdrehte die Augen. »Du hast sie mir oft genug erzählt.«

»Solange immer noch keine Gleichberechtigung herrscht, muss man diese Geschichten erzählen.« Jenny war sauer. »Wie würdest du dich fühlen bei so einer Behandlung? Selbst nach all diesen Jahren, seit Frauen im Raumfahrtprogramm arbeiten, halten manche Männer sich immer noch für überlegen. Da fahre ich als Frau automatisch die Stacheln aus.«

Es war nun mal unfair. Die erzkonservativen Männer in hohen Positionen lehnten Frauen als Astronauten rundheraus ab, hüteten sich aber, das laut auszusprechen. Die Männer im mittleren NASA-Management ließen sie ihre Skepsis dagegen deutlich spüren.

Daniel rückte näher an sie heran. Er legte den Arm um sie, was sie im ersten Moment störte. Er hatte sie nicht ernst genommen, sie war nicht in der Stimmung. Sie wollte sich ihm schon entziehen, doch dann empfand sie seine Berührung als tröstlich und ließ es geschehen. Bei Daniel brauchte sie ihre Stacheln nicht auszufahren.

»Ich weiß«, sagte er nachdenklich. »Du hast recht, bis zur hundertprozentigen Gleichberechtigung ist der Weg noch lang, und vielleicht müssen dazu erst die älteren Generationen verschwinden. Aber ich finde, es wird immer besser.«

»Viel zu langsam!« Jenny seufzte. Manchmal wünschte sie sich, sie wäre erst hundert Jahre später geboren. Das schien ihr eine realistische Zeitspanne für das Verschwinden veralteter Denkmuster.

»Ich finde, die NASA ist auf einem guten Weg. Immerhin gibt es schon konkrete Beschlüsse und Richtlinien, Diskriminierung zu verhindern. Viele Firmen sind da noch nicht so weit. Und was deine alten Professoren an der Uni angeht, so kann man ganz eindeutig sagen, dass du es den Zweiflern gezeigt hast. Du hast nicht nur dein Studium erfolgreich abgeschlossen, sondern bist inzwischen Astronautin, und dir wurde eine Mission zugeteilt. Eigentlich kannst du dich ganz entspannt zurücklehnen. Vergiss sie.«

Irgendwie fand Daniel immer die richtigen Worte, um sie aus ihren Tiefs zu holen. Sie kuschelte sich ein wenig enger an ihn. »Ich zweifle manchmal selbst an mir.«

Daniel runzelte die Stirn. »Bitte?«

»Die Mission«, flüsterte Jenny. »Es ist so viel.«

Sie warf einen Blick rüber auf ihren Esszimmertisch vor der Küchenzeile. NASA-Handbücher und Ordner mit Prozeduren türmten sich fast einen Meter hoch. Eigentlich konnte sie es sich gar nicht leisten, mit Daniel den Abend zu verbringen. Morgen stand bereits die nächste Simulation auf dem Programm. Und garantiert würden die Simulationsingenieure wieder eine Gemeinheit finden, um sie auf die Probe zu stellen.

»Ich weiß.« Daniel strich ihr über die Haare.

»Manchmal wünschte ich mir, ich wäre in die freie Wirtschaft gegangen. Vielleicht in den Energiesektor oder in den Flugzeugbau. Ich hätte eine gut bezahlte Stelle angenommen, ein kleines Forschungsteam geleitet, wäre jeden Nachmittag pünktlich nach Hause gegangen und hätte an den Wochenenden Zeit für schöne Dinge gehabt.«

Daniel lachte leise. »Damit wärst du niemals glücklich geworden. Du hast schon immer den Blick nach oben gerichtet. Und dafür bewundere ich dich.«

»Vielleicht wären dann aber Kinder eine Option gewesen«, sagte sie leise.

Daniel wandte den Kopf und blickte ihr direkt in die Augen. »Du hast nie von Kindern gesprochen. Ich dachte, das steht bei dir überhaupt nicht zur Debatte.«

Das hatte es auch nie. Sie war immer zu sehr damit beschäftigt gewesen, die nächste Stufe auf der Karriereleiter zu erklimmen und es den blöden Arschlöchern zu zeigen, die an ihr zweifelten. Doch in der letzten Zeit ertappte sie sich dabei, Familien mit einem Gefühl des Neids hinterherzuschauen. »Vielleicht höre ich die biologische Uhr ticken. Immerhin werde ich dieses Jahr dreißig.«

»Es ist noch lange nicht zu spät für Kinder«, sagte Daniel vorsichtig. »Ich hätte nichts dagegen.«

Damit näherten sie sich wieder dem Thema Heirat. Daniel hatte schon mehrmals deutlich gemacht, dass er sich ein ›langfristiges Engagement‹ vorstellen könnte, wie er es diplomatisch ausgedrückt hatte. Aber wollte sie das? Wollte sie sich für den Rest ihres Lebens an einen anderen Menschen binden? Und konnte dieser Jemand Daniel sein?

Jenny war unentschlossen. Sie musste an die schmutzige Scheidung ihrer Eltern denken, die sich nun konsequent aus dem Weg gingen, obwohl sie nach wie vor in derselben Straße im selben Stadtteil von Atlanta wohnten. Sie hatte es selber gesehen: Ihr Vater drehte um, wenn er den Wagen ihrer Mutter auf dem Parkplatz des Supermarktes erblickte.

Jenny hatte sich damals vorgenommen, dass ihr so etwas niemals passieren würde. Aber vielleicht gehörte ein gewisses Risiko einfach zum Leben mit dazu.

Wenn sie in einigen Monaten von ihrer Mission zur ISS zurückkehrte, hatte sie den Höhepunkt ihres Lebens hinter sich. Das wusste sie genau. Sicher, man teilte sie gewiss in einigen Jahren einer weiteren Mission zu, doch das war dann nur noch eine Wiederholung des ersten Fluges und für sie nichts Neues mehr.

Jenny spürte, dass sie nach ihrem Raumflug in ein tiefes Loch fallen würde. Doch gerade war nicht der richtige Zeitpunkt, darüber nachzudenken. Sie blickte hinüber zu dem Tisch mit den Papierbergen. »Lass uns das nach dem Raumflug besprechen.«

Daniel seufzte. »In Ordnung.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Wollen wir den Fernseher anmachen? Es ist gleich so weit.«

Ach ja, die Marssonde!

»Okay!« Sie richtete sich auf, und Daniel griff zur Fernbedienung.

Der Bildschirm flackerte auf, und Daniel wechselte den Kanal, bis er NASA-TV gefunden hatte. Der Raumfahrtsender zeigte ein Kontrollzentrum mit langen Reihen an altertümlich aussehenden Computerkonsolen. Große Bildschirme hingen an der Wand gegenüber der Kamera, auf denen Kurven, Messwerte und kyrillische Buchstaben zu erkennen waren.

»Noch fünf Minuten bis zur Bremszündung von Sarja«, erklärte ein englischsprachiger Sprecher aus dem Off. »Der Flugdirektor bestätigt, dass alle Parameter im grünen Bereich sind.«

Sarja war die russische Marssonde. Auf der ISS gab es ein Modul mit demselben Namen. Morgenröte. »Ich verstehe immer noch nicht, warum die Mission der russischen Sonde von einem unserer Regierungssender übertragen wird.« Allerdings wusste sie, dass Daniel mit einigen Aspekten dieser Mission zu tun hatte. Er war deswegen sogar vor einigen Monaten in Moskau gewesen.

»Die NASA hat sich bereiterklärt, die Telemetrie von Sarja über ihren eigenen Relaissatelliten weiterzugeben. So können die Russen eine höhere Datenrate übertragen als durch ihre eigene Sonde, die ein erheblich schwächeres Sendegerät hat.«

»Wundert mich, dass die NASA das mitmacht.« Vor allem wenn man die momentane politische Lage betrachtete. Das Verhältnis zu Russland war selbst nach dem Waffenstillstand in der Ukraine bestenfalls als unterkühlt zu bezeichnen.

Daniel zuckte mit den Schultern. »Ist Goodwill, wenn man so möchte. Die NASA möchte zeigen, dass es Bereiche gibt, in denen man mit Russland konstruktiv zusammenarbeiten kann. Immerhin existiert im Gegensatz zu China kein Gesetz, das die Zusammenarbeit unterbindet.«

»Und wahrscheinlich wollte man auch verhindern, dass die Russen zu den Chinesen gehen.« Denn die Chinesen hatten inzwischen einen eigenen Relaissatelliten in einem hohen Marsorbit. Man mochte sich fragen, warum die Russen nicht direkt zu denen gegangen waren. Aber was wusste sie schon von internationaler Politik.

»Jedenfalls bekommen wir als Ausgleich dafür die Bodenradardaten der Landefähre«, erklärte Daniel. »Ihr Rover soll in derselben Ebene landen wie unsere nächste Marssonde, und genaue topographische Daten dieser Region steigern die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Landung. Für die Russen ist diese Mission eine ganz große Sache. Es ist der erste Flug zum Mars für das Land seit vielen Jahren, und man darf nicht vergessen, dass die meisten Marsmissionen der Russen in der Vergangenheit gescheitert sind.«

Jenny kannte sich damit nicht sehr gut aus. Sie hatte bei der Ausbildung zur Astronautin zwar einiges über die bemannte Raumfahrt Russlands gelernt, doch über interplanetare Sonden hatte Dimitri nicht gesprochen.

»Der Flugdirektor bestätigt, dass eine Kommunikationsverbindung zum Relaissatelliten der NASA aufgebaut wurde«, erklärte der Sprecher. »Der Datenstrom ist stabil und das Signal stark. Wir rechnen darum jeden Augenblick mit Live-Bildern der russischen Sonde.«

Wie auf Kommando wechselte das Bild. Es wurde kurz schwarz und zeigte dann ein Bild des Roten Planeten.

»Wow!«, rief Daniel. »Das ist mal eine hochauflösende Kamera an Bord.«

Jenny nickte. Das Bild war wirklich eindrucksvoll. Der Mars erschien gestochen scharf. Man sah gleich, dass das nicht nur ein Foto war, denn der Planet raste förmlich auf die Kamera zu.

»Die fliegen ja direkt in den Mars hinein«, sagte Daniel erstaunt.

Jenny schüttelte den Kopf. Auch wenn sie sich heute blamiert hatte, so wusste sie doch genug über Satellitenflugbahnen. »Das täuscht. Sie nähern sich nur sehr stark an, um dann am tiefsten Punkt der Umlaufbahn die Triebwerke zu zünden. Dadurch kommen sie dann von einer interplanetaren Flugbahn zu einer Marsumlaufbahn.«

»Schau mal, da ist ein Marsmond.« Daniel zeigte auf den Bildschirm.

Ihr Freund hatte recht. Eine kleine, unförmige Kugel tauchte hinter dem Marsorbit auf und schob sich langsam in Richtung Bildschirmrand. Jenny vermochte nicht zu sagen, ob es sich dabei um den Marsmond Phobos oder Daimos handelte.

Ein riesiger Mars-Canyon schob sich ins Bild, der ziemlich tief sein musste und sich über Hunderte Kilometer bis zum Horizont erstreckte. Sie fragte sich, wie es wohl sein würde, zum Mars zu fliegen und den Canyon mit eigenen Augen zu sehen.

Jenny seufzte. Das würde nie geschehen. Jahr für Jahr wurden die Gelder für das Marsprogramm immer weiter zusammengekürzt. Vielleicht landeten ein paar Amerikaner in den nächsten Jahren im Rahmen des Artemis-Programms auf dem Mond. Weiter würde man bis auf weiteres nicht kommen. Und zu den glücklichen Mondspaziergängern zählte sie ohnehin nicht. Die Zweimanncrews bestanden nur aus Pilot und Wissenschaftler. Wenn sie Glück hatte, durfte sie einmal einen Flug zu der geplanten Gateway-Station im Mondorbit absolvieren, doch selbst das war fraglich. Experimentalphysiker und Ingenieure wie sie waren eher auf der altersschwachen reparaturbedürftigen ISS gefragt. Sie hatte sich schon häufiger den Kopf darüber zerbrochen, wie sie sich als Mitglied der Besatzung einer Mondmission ins Gespräch bringen konnte, aber ihr war keine Lösung eingefallen.

»Der Countdown für die Bremszündung hat nun begonnen«, verkündete der Sprecher. »Die Ventile des Triebwerks wurden bereits geöffnet und der Bordcomputer übernimmt die Ausrichtung und Steuerung des Raumschiffs. Noch eine Minute.«

Jenny schnaubte. »Es handelt sich um eine Sonde und nicht um ein Raumschiff.«

Daniel winkte ab. »Das ist ein PR-Mann. Der weiß sicher gerade das Nötigste für seine Berichterstattung.«

Der Mars kam auf dem Fernsehbild nun nicht mehr ganz so schnell näher. Stattdessen raste die Sonde über die Oberfläche. Gesteinsformationen, Dünengebiete und zerfurchte Täler zogen in unglaublichem Tempo über den Bildschirm. Das Gerät konnte nicht weit über der oberen Atmosphäre des Mars sein.

»Hoffentlich hat sich da keiner verrechnet«, sagte Jenny.

Dann, ganz plötzlich, schob sich ein brauner Gesteinskörper von der Form einer Kartoffel ins Bild. Das musste wieder einer der Marsmonde sein.

»Hier sehen wir den Marsmond Phobos«, erklärte der Sprecher. »Sarja passiert den Körper auf seiner Umlaufbahn unmittelbar vor Beginn des Bremsmanövers. Da die Sonde auf ihrer Bahn nicht mehr so nahe an den Mond herankommen wird, gibt es ein automatisches Beobachtungsprogramm der Teleskope. Die Bilder sollen aber erst später übertragen werden.«

Dann war der Marsmond auch schon wieder verschwunden.

Jenny presste die Lippen zusammen. Es war so schade, dass ihr Land nicht mehr Geld für die bemannte Erforschung des Sonnensystems ausgab und endlich einen Marsflug in Angriff nahm. Das wäre ein lohnendes Lebensziel gewesen: ihre ISS-Mission nur ein Trittstein auf dem Weg zum Mars und nicht der Höhepunkt ihrer Karriere. Sie hatte erneut den Wunsch, ein paar Jahrzehnte später geboren zu sein.

Was für ein Elend!

»Noch sechzig Sekunden bis zum Beginn der Bremszündung«, meldete der Sprecher.

»Die Bilder sind wirklich atemberaubend«, flüsterte Daniel.

Jenny konnte ihm nur zustimmen.

Weitere Berge zogen scheinbar direkt vor der Kamera vorbei. Die Schatten der Formation wurden länger, also näherte sich die Sonde allmählich der Tag-Nacht-Grenze.

»Hoffentlich geht alles gut«, meinte Jenny. Es war zwar eine russische Sonde, aber sie freute sich dennoch auf die Bilder vom Mars.

»Ich hoffe es auch«, pflichtete Daniel ihr bei. »Das würde sicher gute Gelegenheiten für eine weitere Kooperation mit den Russen bieten.«

»Es gibt genügend Stimmen, dass man mit Russland überhaupt nicht mehr zusammenarbeiten sollte, solange die nicht eine neue Regierung haben.«

Daniel winkte ab. »Ja, das sagen viele Politiker. Aber das ist oft nur Wahlrhetorik. Russland wird sich nicht in Luft auflösen, nur weil wir es ignorieren. Es gibt Probleme, die wir nur gemeinsam lösen können. Darum brauchen wir die Russen.«

Das sahen zweifellos nicht alle so. »Umso schlimmer, dass Russland ein Teil des Problems ist.«

Daniel schüttelte den Kopf. »Es existieren nur zwei Möglichkeiten im Umgang mit Russland. Entweder Krieg oder Verhandlungen. Ersteres will im Westen niemand. Denk an die globalen Klimapakete, die nächste Woche in Dubai beschlossen werden sollen. Denk an die Atomverhandlungen mit dem Iran und mit Nordkorea. Da ist ohne Russland und China nichts zu machen. Wir müssen uns damit abfinden, dass wir auf dem Weg in eine multipolare Weltordnung sind und auch andere Mächte mit zunehmender Aggressivität ihre geopolitischen Ansprüche durchsetzen. Nur Verhandlungen können hier den ganz großen Knall verhindern. Unsere Zusammenarbeit im Weltall ist da wegweisend und zeigt den Nationen, wie man Probleme gemeinsam lösen kann. Darum teile ich die Ansicht der Kollegen in Houston, dass man gut daran täte, China ins Boot zu holen. Aber das ist nicht möglich, solange es dieses Wolf-Gesetz gibt.«

Von diesen Dingen hatte Daniel deutlich mehr Ahnung als sie. Aber Jenny sah selber, dass die Zusammenarbeit mit den Russen auf der ISS problemlos lief und alle Schwierigkeiten im Handumdrehen zusammen gelöst wurden. Wie schön wäre es, wenn das auch auf der Erde gelingen würde.

»Die Zündung steht unmittelbar bevor«, verkündete der Sprecher. »Noch zehn, neun, acht, sieben …«

Die Kamera war immer noch direkt nach unten auf die Marsoberfläche gerichtet. Es wurde allmählich dunkler, und nur noch die höheren Berge waren gut zu erkennen. Nach wie vor rasten sie im Irrsinnstempo über den Bildschirm.

»… drei, zwei, eins, Zündung.«

Der Bildschirm wurde schwarz. Ein Wort in kyrillischen Buchstaben blendete sich ein.

»Kommunikationsausfall.« Zur Vorbereitung auf den Einsatz auf der ISS hatte das Studium der russischen Sprache gehört, das ihr anfangs schlaflose Nächte beschert hatte. Mathe, Technik: alles kein Problem. Aber mit Sprachen hatte sie sich schon immer schwergetan.

Dann wurden wieder Bilder des Kontrollzentrums eingeblendet, wo die Männer und Frauen ruhig vor ihren Konsolen saßen. Allerdings waren keine Messwerte der Telemetrie mehr auf den großen Bildschirmen zu erkennen.

»Die Flugkontrolle hat bestätigt, dass die Verbindung zu der Marssonde im Moment der Zündung abgebrochen ist«, sagte der Sprecher mit gleichgültiger Stimme.

Jenny seufzte resigniert.

»Das war es dann wohl.« Wenn im Moment einer Triebwerkszündung die Kommunikation zu einem Raumfahrzeug abbrach, war das immer ein ganz schlechtes Zeichen.

»Der Flugdirektor meldet einen rapiden Druckabfall im Treibstofftank der Sonde kurz vor dem Abbruch der Verbindung. Die Controller gehen davon aus, dass das Triebwerk bei der Zündung explodiert ist.«

»Scheiße!« Daniel nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Dann zuckte er mit den Schultern. »Na ja, dann haben wir Zeit für etwas anderes.« Er lächelte und zeigte auf die Schlafzimmertür.

Jenny seufzte erneut. Ihr Blick fiel auf die Bücher auf dem Tisch. »Aber auf die Schnelle.«

4

Daniel wachte mit einem Ruck auf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er verschlafen hatte. Zwar nur um eine Viertelstunde, aber aus dem gemütlichen Frühstück mit Jenny würde nichts werden, wenn er pünktlich seinen Flug erreichen wollte.

Er drehte sich im Bett herum. Jenny lag nicht mehr neben ihm, er hörte dumpfe Geräusche aus der Wohnküche.

Ächzend richtete er sich auf und fuhr sich durch die verstrubbelten Haare. Er fühlte sich zerschlagen, hatte aber keine Ahnung, warum. Sie waren zeitig im Bett gewesen, und die zwei Bier gestern Abend reichten doch wohl nicht, um seinen Schlaf negativ zu beeinflussen.

Früher war das anders gewesen. Er hatte immer tief und fest geschlafen. Egal, wo er sich gerade aufhielt. Und auf seinen inneren Wecker hatte er sich auch immer verlassen können.

Vielleicht war es das Alter. Immerhin war er letztes Jahr dreißig geworden. Sein Vater würde lachen, aber er spürte, dass er seine Zwanziger hinter sich gelassen hatte. Er ermüdete an anstrengenden Tagen schneller, und es fiel ihm schwerer, über einen längeren Zeitraum die Konzentration aufrechtzuerhalten. Und an den Schläfen zeigten sich bereits die ersten grauen Haare.

Daniel stand auf und ging ins Bad. Er duschte abwechselnd heiß und kalt, rasierte sich gründlich und zog seinen Anzug an. Zum Abschluss gähnte er herzhaft. Er fühlte sich wirklich müde.

Vielleicht lag der Grund für seine Erschöpfung auch in der Tatsache, dass er schon zu lange keinen wirklichen Urlaub mehr gemacht hatte. Dazu kam das ständige Reisen. In den letzten Monaten hatte er kaum mehr als zwei Nächte hintereinander im selben Bett geschlafen. Aber das war nun einmal das Leben eines NASA-Managers.

Als er den Job vor fünf Jahren direkt nach seinem Studium angenommen hatte, kam es ihm wie die Erfüllung eines Traums vor. Er hatte das Gefühl, Dinge zu bewegen. Etwas bewirken zu können. Und auch das Reisen hatte durchaus seinen Reiz gehabt. Er war schon immer gerne unterwegs gewesen. Aber wenn er jetzt daran dachte, dass das für den Rest seines Lebens so weitergehen würde, fühlte es sich nicht gut an.

Wie sollte man bei einem solchen Leben eine Familie gründen? Zumal mit einer Astronautin an der Seite?

Sie hatten sich vor vier Jahren bei einer Party in Houston kennengelernt. Jenny war soeben zur Astronautenkandidatin gekürt worden. Beide waren sie noch blutige Anfänger gewesen, die gerade ihre ersten Schritte in der NASA-Welt unternahmen. Er schätzte ihre Zielstrebigkeit, ihre Intelligenz und ihre manchmal etwas aufbrausende Art, die das Zusammenleben mit ihr irgendwie spannend machte. Gut, es war nur eine Fernbeziehung, aber da sie beide an ihrer Karriere arbeiteten, funktionierte es. Was würde die Zukunft bringen?

Daniel war sich klar darüber, dass er Kinder wollte. Eine richtige Familie. Nicht unbedingt jetzt, nicht unbedingt nächstes Jahr, aber irgendwann. Und nicht erst, wenn er vierzig war.

Mit Jenny hatte er sich darüber nie wirklich unterhalten. Darum war er gestern überrascht gewesen, dass sie von sich aus das Gespräch darauf gebracht hatte. Es war klar: Einer von ihnen würde seine Karriere aufgeben müssen. Vor allem wenn Jenny mehr als einen Raumflug machen wollte. Dann blieb Daniel nichts anders übrig, als seine Stelle bei der NASA zu kündigen, denn er würde zu Hause bleiben müssen, während seine Frau mehrere Monate im Weltraum unterwegs war. Und er war sich nicht sicher, ob er dazu bereit war.

Aber Jenny verlassen wollte er auch nicht.

Aus der anfänglichen Zuneigung war schnell Liebe geworden. Er konnte sich nicht mehr vorstellen, sein Leben und seine Zukunft mit jemand anderem als mit Jenny zu teilen.

Aber immer wenn er das dachte, meldete sich die kleine Stimme im Hinterkopf, die fragte:

Oder doch?

Daniel seufzte, strich sich das Hemd glatt und ging in die Wohnküche.

»Hallo, Langschläfer!« Jenny saß mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch. Vor ihr lag ein dicker Ordner mit irgendwelchen technischen Zeichnungen.

Daniel ging zur Küchenzeile und schenkte sich aus der schwarzen Kanne Kaffee ein. »Hättest mich ruhig wecken können, als du aufgestanden bist.«

Jenny winkte ab. »Es ist noch früh genug. Und die 45 ist frei.«

Daniel nahm sich ein Croissant aus der Verpackung, einen Teller und das fast leere Glas mit Erdbeermarmelade. Dann setzte er sich neben Jenny an den Tisch. »Das kann sich schnell ändern.«

Die Interstate 45 führte von Galveston nach Houston und war regelmäßig verstopft. Außerdem musste er die Stadt noch komplett umfahren, um den dahinter liegenden Flughafen zu erreichen.

Jenny lachte. »Du hast noch nie einen Flug verpasst. Bei der übertriebenen Reservezeit, die du immer einplanst.«

Das stimmte. Er war stets überpünktlich. Lieber etwas Zeit in der Lounge verbringen und dort noch arbeiten. Er hatte später am Tag einen Termin im Pentagon, wo es um eine Kooperation mit der Space Force ging. Das Militär wollte aus irgendeinem Grund einen NASA-Kommunikationssatelliten für einen Raketentest nutzen. Daniel gefiel das nicht. Nicht umsonst war die NASA eine Zivilbehörde, aber viele hochrangige Militärs betrachteten die Weltraumagentur als eine Art Selbstbedienungsladen, bei dem man sich nach Belieben Ressourcen sichern konnte, ohne das eigene Budget anzutasten. Leider war die NASA bei einigen Missionen vom Militär abhängig, und schnell hing die Drohung im Raum, das eine oder andere gemeinsame Projekt abzusagen.

Daniel war froh, wenn er den Termin heute hinter sich gebracht hatte. »Was liegt bei dir heute an?«

Jenny verzog das Gesicht. »Eine weitere Simulation. Werde wohl den ganzen Tag in der Raumschiffattrappe hängen und nicht viel Tageslicht abbekommen.«

Daniel nahm einen großen Schluck Kaffee und biss in das ziemlich trockene Croissant.

»Ich hoffe nur, ich blamiere mich nicht mehr so übel wie gestern«, schob Jenny nach.

Daniel streckte die Hand aus und strich ihr über den Rücken. »Wird schon alles gutgehen.« Er atmete tief ein. »Wir sollten irgendwann das Gespräch von gestern noch mal aufrollen.«

Jenny hob den Kopf. »Das Gespräch von gestern? Was meinst du?«

Sie hatte es schon wieder vergessen. »Na, das mit den Kindern.«

Jenny beugte sich wieder über ihren Ordner. Über dem Raumfahrtkram geriet bei ihr alles in den Hintergrund. »Ja, irgendwann.«

Daniel schwieg. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte zu drängeln. Er musste sich wohl gedulden, bis Jenny ihren Flug zur ISS bewältigt hatte. Vorher würde sie keinen Nerv dazu haben. Vielleicht war sie empfänglicher für das Thema, wenn sie diese große Herausforderung in ihrem Leben hinter sich gebracht hatte. Möglicherweise war sie anschließend bereit dazu, es etwas ruhiger angehen zu lassen.

Oder sie hatte dann erst recht Feuer gefangen und arbeitete mit Hochdruck auf den nächsten Raumflug hin.

Daniel kannte das von anderen Astronauten. Zu keiner Zeit war die Scheidungsrate bei Raumfahrern höher als nach dem ersten Raumflug. Viele Ehepartner gaben im Anschluss daran zu verstehen, dass sie den Stress, die Ängste und die lange Abwesenheit des Partners nicht mehr mitmachen wollten. Und ebenso viele Astronauten erkannten nach dem ersten Raumflug, dass sie auf dieses Abenteuer, den Adrenalinkick des Raketenstarts, nicht mehr verzichten konnten.

Würde Jenny dazugehören?

Das ist die große Frage.

Daniel blickte auf die Uhr. Es wurde Zeit, aufzubrechen.

Er nahm Jenny in die Arme und küsste sie.

»Wann kommst du wieder?«, fragte sie.

Er seufzte und ging im Kopf seinen Terminkalender durch. Es war ein Wunder, dass er sich das ganze Chaos noch merken konnte. »Am Wochenende geht es nicht. Ich bin am Samstag auf einer Party eingeladen, wo ich mich tunlichst blicken lassen sollte.«

Jenny hob die Augenbrauen und grinste. »Eine Party? So, so …«

Daniel winkte ab. »Von einem unserer Lobbyisten im Kongress.«

»Dass dafür Geld ausgegeben werden muss …«, schnaubte Jenny.

Daniel lachte. Es ist wichtig für einen guten Draht in den Kongress, um permanent ein Stimmungsbild liefern zu können, was möglich ist und was nicht. Jedenfalls sind ein Haufen hoher Tiere aus der Politik da. Diese Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen.«

Jenny stöhnte. »Also ist es so ein Selbstdarstellerdings und keine Party. Wenn wir eine Party haben, dann haben wir auch Spaß.«