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Ein spannender Near-Future-Space-Thriller von Hard-SF-Autor Phillip P. Peterson. Ein Flug zum Mond – dank milliardenschwerer Investitionen der Firma FrontierTech ist das nun auch für Privatpersonen machbar. Die Lehrerin Luna Patel ist eine der ersten begeisterten Mond-Touristinnen. Das Ziel ihrer Landefähre ist eine kleine Station im Tal Taurus-Litrow. Doch als es zu einer Triebwerk-Fehlfunktion mit anschließender Bruchlandung kommt, verwandelt sich der Traum in einen Alptraum. Als einzige Überlebende gelingt es ihr, sich aus dem Wrack zu befreien und sich in die nahe Mondstation von FrontierTech zu retten. Sie kann zwar Kontakt mit der Erde aufnehmen, aber Sauerstoff und Wasser sind knapp. Es beginnt eine dramatische Rettungsaktion, in deren Verlauf es zu internationalen Verwicklungen auf höchster Ebene kommt. Für Leser von Andy Weir, Cixin Liu und Frank Schätzing
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Seitenzahl: 451
Phillip P. Peterson
Roman
Ein Flug zum Mond – dank milliardenschwerer Investitionen der Firma FrontierTech ist das nun auch für Privatpersonen machbar. Die Lehrerin Luna Patel ist eine der ersten begeisterten Mond-Touristinnen. Das Ziel ihrer Landefähre ist eine kleine Station im Tal Taurus-Litrow. Doch als es zu einer Triebwerk-Fehlfunktion mit anschließender Bruchlandung kommt, verwandelt sich der Traum in einen Alptraum. Als einzige Überlebende gelingt es ihr, sich aus dem Wrack zu befreien und sich in die nahe Mondstation von FrontierTech zu retten. Sie kann zwar Kontakt mit der Erde aufnehmen, aber Sauerstoff und Wasser sind knapp. Es beginnt eine dramatische Rettungsaktion, in deren Verlauf es zu internationalen Verwicklungen auf höchster Ebene kommt.
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Phillip P. Peterson arbeitete als Ingenieur an zukünftigen Trägerraketenkonzepten und im Management von Satellitenprogrammen. Neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen schrieb er für einen Raumfahrtfachverlag. »Transport« war sein erster Roman, der zum Bestseller wurde. Mit »Paradox« gewann er 2015 den Kindle Storyteller-Award, bei FISCHER Tor erschien zuletzt »Nano«. Zu seinen literarischen Vorbildern gehören die Hard-SF-Autoren Stephen Baxter, Arthur C. Clarke und Larry Niven.
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
DerMond.
Riesengroß prangte er draußen vor dem großen Cockpitfenster. Zu groß, als dass er in seiner Gänze erkennbar gewesen wäre.
Bin ich wirklich hier?
Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder.
Es wirkte gar nicht wie ein Raumflug, sondern eher, als würde sie mit einem Passagierflugzeug über eine Wüste fliegen.
Aber der Boden mit den schroffen Felsen, den dunkelgrauen Staubflächen und den zahllosen Kratern war blendend hell, während der Himmel über ihnen pechschwarz war.
Mit im Cockpit des Mondschiffes »Taurus« saßen Grant Torben, Elly Washington und natürlich Max Dekker, dem Luna diese unglaubliche Reise zu verdanken hatte.
Max war ein niederländischer Selfmade-Milliardär, der durch eine mit künstlicher Intelligenz arbeitende Statistik- und Datenauswertungssoftware innerhalb von kürzester Zeit unermesslich reich geworden war. Ein Branchengigant hatte die Software aufgekauft. Gerade mal 28 Jahre alt, groß gewachsen mit buschigen schwarzen Haaren und einem schelmisch wirkenden Lächeln, würde Max nun den Rest seines Lebens damit beschäftigt sein, das aufgetürmte Geld auszugeben. Allerdings konnte seine Leidenschaft für den Weltraum gut und gerne dafür sorgen, dass seine Reichtümer schneller dahinschmolzen, als viele Journalisten glauben wollten. Über hundert Millionen Dollar hatte er der Raumfahrtfirma FrontierTech bezahlt, damit sie ihn mit ihrer neuesten Entwicklung, dem Taurus-Schiff, zum Mond brachte. Damit das Ganze nicht zu egoistisch wirkte, hatte er Wissenschaftler eingeladen, im Nutzlastraum Experimente zu installieren und einen Platz in seiner Crew einer jungen Lehrerin angeboten, um die nachwachsende Generation für Technik und Naturwissenschaften zu begeistern.
Luna hatte sich beworben, um mit einer Mission zum Mond ihren Horizont zu erweitern, war aber nicht davon ausgegangen, ausgewählt zu werden. Zu ihrer Überraschung hatte dann ohne jede Ankündigung Max Dekker mit einem Blumenstrauß vor ihrer Tür gestanden. Ganz schnell war so viel Rummel um sie gemacht worden, dass sie gar keine Chance mehr gehabt hatte, die Teilnahme an der Expedition noch in Frage zu stellen oder gar abzulehnen.
Und so fand sie sich nach dem anhaltenden Protest ihrer Mutter, einem viel zu kurzen Training in Florida, einem nervenaufreibenden Start und einer dreitägigen Reise bei einer im Fenster immer kleiner werdenden Erde nun in einem niedrigen Mondorbit wieder.
In einer Stunde würde sie als erste Frau in der Geschichte der Menschheit in einem Raumanzug einen Fußabdruck auf dem staubigen Mondboden hinterlassen.
Luna Patel – ein Name für die Geschichtsbücher.
Sie schüttelte den Kopf und dachte an die vielen NASA-Astronauten, die jahrelang trainiert und ihr ganzes Leben darauf ausgerichtet hatten, irgendwann einmal in den Weltraum zu fliegen.
Und hier sitze ich und habe einen simplen Wettbewerb gewonnen!
Insgeheim fragte sie sich natürlich, ob es eher an ihrem überaus passenden Vornamen als an irgendwelchen persönlichen Leistungen gelegen hatte, doch diese Selbstzweifel verschwanden, als ihr bewusstwurde, dass sie gleich wahrhaftig auf dem Mond landen würde. Das Kribbeln ganz tief im Bauch wurde von Sekunde zu Sekunde stärker.
»Wir unterschreiten eine Flughöhe von fünfzig Kilometern über der Mondoberfläche«, sagte Grant Torben mit seiner gewohnt ruhigen Stimme. »Abstiegszündung in zehn Minuten.«
Der Pilot hatte früher für die NASA gearbeitet und war einmal zur internationalen Raumstation ISS geflogen, bevor er zu dem Raumfahrtkonzern FrontierTech gewechselt war. Vor zwei Jahren hatte er den Prototypen des Taurus-Raumschiffes auf seinem gewaltigen Booster zu einer kurzen Runde in den Erdorbit geflogen. Probleme mit den Triebwerken hatten laut seinen anekdotenhaften Erzählungen eine sofortige Rückkehr zur Erde nötig gemacht. Luna konnte nur hoffen, dass nun alle Kinderkrankheiten des Raumschiffes beseitigt waren. Aber sowohl Grant als auch seine Copilotin Elly wirkten entspannt und zuversichtlich.
Elly beugte sich über ihre Bildschirme. Während Grant das Schiff mit Blick aus dem Fenster und den Händen an den Kontrollen steuerte, war seine Kollegin für die Systeme und die Navigation verantwortlich. Nur selten hob sie für eine Sekunde den Kopf in Richtung Fenster. Im Gegensatz zu ihrem Boss hatte Elly keine NASA-Vergangenheit. Sie war Testpilotin bei Boeing gewesen, hatte sich dann bei FrontierTech als Astronautin beworben und in deren Simulatoren ihre Astronautenpilotenausbildung gemacht. Der Mondflug war gleichzeitig auch ihr erster Raumflug, das hatte sie mit Luna gemeinsam. Aber Elly war Expertin und Luna war trotz des wochenlangen Trainings nur Passagier.
»Taurus, Capcom«, sagte die Stimme von Jenn Marsden in Lunas Kopfhörern. »Von unserer Seite aus seht ihr gut aus für die Landung auf dem Mond. Alle Systeme grün. Ihr habt Freigabe für die Landung. Ich wiederhole: Ihr habt die Landefreigabe.«
Jenn war die Stimme des Kontrollzentrums. Wie bei der NASA üblich, redete nur der Capcom mit den Astronauten. Dennoch konnte Luna den Kontrollraum mit den Dutzenden Controllern vor ihrem geistigen Auge sehen, die von der Erde aus den Flug vor ihren Computern überwachten. Sie hatte viele der dort arbeitenden Menschen, meist Ingenieure und Techniker, kennengelernt. Vor allem der ruhige, ausgeglichene Michael Burbank hatte sie beeindruckt, der als Flight Director die Mission vom Boden aus leitete. Der Ingenieur hatte so kompetent gewirkt, als würde er schon seit Jahrzehnten Raumflüge überwachen. Dabei war der kleine, drahtige, immer ernste Mann gerade mal 32 Jahre alt.
»Verstanden, noch zwei Minuten bis zur Zündung«, antwortete Grant.
Luna blickte auf den Bildschirm vor ihrem Sitz. Weder beim Start von der Erde noch beim Reiseflug oder bei der Landung auf der Mondoberfläche hatte sie irgendeine Rolle zu spielen. Was den Flug anging, waren sie und Max als Passagiere ganz der Kompetenz von Grant, Elly und der Bodencrew ausgeliefert. Darum war sie dankbar für den kleinen Bildschirm, auf dem sie die wichtigsten Flugdaten im Blick hatte. Es gab ihr wenigstens die Illusion einer gewissen Kontrolle.
Flughöhe über Grund, Geschwindigkeit, Statusanzeigen der Triebwerke und eine Karte des Mondes, über die sich eine wellenförmige Linie zog. Das war ihr Kurs. Ein kleines, rotes Dreieck markierte ihre Position und ein schwarzer Kreis das anvisierte Landegebiet, das sich in einem weiten Tal inmitten des Taurus-Littrow-Gebirges befand. Dort war in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts Apollo 17 gelandet. Mit Gene Cernan und Harrison Schmidt hatten damals die letzten Menschen Spuren auf dem Mond hinterlassen. Es erschien Luna passend, dort nach fast sechzig Jahren die Erforschung des Mondes wieder aufzunehmen.
Die Taurus hatte sich auf ihrer elliptischen Umlaufbahn dem Mond nun bis auf zwanzig Kilometer angenähert. Krater rasten mit irrsinniger Geschwindigkeit vor den Fenstern vorbei. Wenn sie eine Höhe von zehn Kilometern erreichten, würden die Triebwerke entgegen der Flugbahn feuern und nach und nach das Schiff verlangsamen, bis es wenige Minuten später sanft im grauen Staub aufsetzen würde.
So weit die Theorie.
Luna holte tief Luft.
Hoffentlich klappte das auch in der Praxis.
Immerhin war vor drei Monaten ein unbemannter Testflug erfolgreich absolviert worden.
»Noch eine Minute bis zur Zündung der Abstiegstriebwerke«, meldete Grant.
»Systeme grün«, sagte Elly. »Ich aktiviere die Hydrauliksysteme und öffne die Vorventile. Flugbahn wird angepasst.«
Das Schiff drehte sich, bis es entgegen der Flugrichtung ausgerichtet war. Die Triebwerke zeigten nun nach vorne.
Luna spähte nach rechts auf die Computerbildschirme der Copilotin, die komplexe Schemata der Systeme im Bauch der Taurus zeigten. Sie wusste nur, dass alle zuverlässig arbeiten mussten, damit sie sicher auf dem Mond landen oder einen erfolgreichen Notstart zurück in den Mondorbit schaffen konnten.
Und dann mussten sie natürlich auch noch in der Nähe der Taurus-Mondstation landen, die FrontierTech vor zwei Monaten zum Erdtrabanten gebracht hatte. Das Raumschiff führte nicht genügend Energie und Verbrauchsstoffe mit, um sie auf dem Mond länger am Leben zu erhalten. Verfehlten sie die Station, würden sie nach einem kurzen Spaziergang auf der Oberfläche wieder starten müssen, statt – wie geplant – eine Woche auf dem Mond zu bleiben.
Luna konnte nicht anders als zu schmunzeln.
Es wäre der teuerste Spaziergang in der Geschichte der Menschheit.
»T minus dreißig Sekunden.« Grants Stimme drückte nicht die geringste Spur von Anspannung aus.
Dieser Mann musste Eis in seinen Adern haben.
Luna blickte zu Max. Das Gesicht des Milliardärs war durch das Glasvisier seines Raumhelms nur undeutlich zu erkennen. Aber er presste die Lippen aufeinander, so dass sie nur noch schmale Striche waren.
Machte er sich Sorgen um sein Leben oder um seine milliardenschwere Investition in dieses Unternehmen?
»Flughöhe zehn Kilometer über der Mondoberfläche«, sagte Elly. »Zündung in zwölf, elf, zehn, neun …«
Luna atmete tief ein. Sie wusste, dass die kommenden fünf Minuten von der Zündung der Abstiegstriebwerke bis zur Landung auf dem Mond die kritischsten des ganzen Fluges waren. Gefährlicher als der Start mit der monströsen Boosterrakete von der Erde. Gefährlicher als der noch bevorstehende Rückstart vom Mond.
»Zwei, eins, Zündung!«, kommentierte Elly.
Zunächst langsam, dann zunehmend schwerer wurde Luna in ihren Sitz gepresst. Schließlich schnappte sie nach Luft. Zwar war der Andruck geringer als der der Schwerkraft auf der Erde, aber nach den Tagen in der Schwerelosigkeit fühlte es sich an, als hätte ihr jemand einen Amboss auf die Brust gelegt.
Ich ersticke!
Doch sie kannte das Gefühl aus dem Training in der großen Zentrifuge und sie beruhigte sich schnell wieder.
»Triebwerke grün«, sagte Elly. »Schub konstant. Temperatur und Druck im Treibstofffördersystem innerhalb der Parameter.«
»Schön«, erwiderte Grant. »Dann wollen wir die Kiste mal runterbringen. Was sagt die Navigation?«
»Wir sind genau da, wo wir sein sollen«, erklärte Elly.
Luna erlaubte sich, ein wenig zu entspannen. Es sah doch alles ganz gut aus.
»Schon ein Signal von der Station?«, fragte Max.
Luna verzog das Gesicht. Noch vor wenigen Minuten hatte der Pilot ihnen beiden zu verstehen gegeben, dass sie bis zur erfolgreichen Landung bitte den Mund halten sollten.
»Nein«, antwortete Elly trotzdem. »Sie ist aber noch hinter dem Horizont. Wir erwarten den Kontakt in neunzig Sekunden.«
Grant starrte schweigend aus dem Fenster, beide Steuerknüppel in den Händen. Luna konnte an den grünen Lichtern erkennen, dass das Schiff weiterhin vom Computer geflogen wurde. Grant war lediglich bereit, im Notfall einzugreifen oder beim Landeanflug Feinkorrekturen durchzuführen.
»Flughöhe acht Kilometer«, sagte Elly. »Geschwindigkeit etwas zu schnell, aber der Computer korrigiert schon.«
Plötzlich setzte eine leichte Vibration ein, die schnell stär-ker wurde. Schon schüttelte sich das ganze Cockpit. Metall ächzte.
»Was ist das?« Luna konnte einen Anflug von Panik nicht unterdrücken.
»Das ist gleich vorbei«, sagte Elly unbekümmert.
Dennoch verstärkte sich das Gerüttel weiter. Luna krampfte die Hände in ihren Sitz. Ihre Zähne klapperten aufeinander.
Was zum Teufel ist das?
Dann hörte das Gerüttel von einem Moment auf den anderen auf.
»Was war das?« Max hörte sich nicht sehr beunruhigt an. Eher neugierig.
Grant und Elly schwiegen.
Nach langen Sekunden setzte die Copilotin doch zum Reden an. »Die Treibstofftanks leeren sich. Die Eigenfrequenz des Schiffes verändert sich dadurch. Offenbar hat es eine kurze Resonanz mit den Turbopumpen der Triebwerke gegeben.«
Egal! Es ist vorbei!
Luna blickte auf ihren Bildschirm. Nur noch fünf Kilometer Höhe. Sie war der Mondoberfläche nun näher als ein Passagierflugzeug der Erdoberfläche.
Die Krater zogen nicht mehr so schnell vorbei. Gleichzeitig neigte sich das Schiff. Hatten die Triebwerke eben noch parallel zur Mondoberfläche entgegen der Flugrichtung gezeigt, so wiesen sie jetzt in einem flachen Winkel nach unten. Das Schiff richtete sich langsam auf.
»Ich habe die Station auf dem Bildschirm«, verkündete Elly. »Sie ist noch zehn Kilometer entfernt. Wir sind genau auf Kurs für eine Punktlandung.«
»Sehr schön.« Der Stolz in Grants Stimme war nicht zu überhören, obwohl er bei diesem Landeanflug bisher noch nichts anderes getan hatte, als die Leistung der Computer zu überwachen.
»Drei Kilometer Höhe«, sagte Elly. »Geschwindigkeit runter auf dreißig Meter pro Sekunde. Vektor auf Delta vier zu nominell zwanzig.«
Grant nickte nur.
Wieder setzte eine leichte Vibration ein.
»Zwei Kilometer«, meldete Grant. »Orlando, Low Gate. Wiederhole: Low Gate.«
»Taurus, Capcom«, hallte die Stimme von Jenn in Lunas Helm. »Ihr passiert Low Gate. Alle Systeme grün. Ihr habt unser Go für die Landung.«
Low Gate! Der Endanflug hatte begonnen. Sie näherten sich der Mondoberfläche nun sehr schnell. Die Erde war zu weit entfernt, als dass das Kontrollzentrum bei dringenden Entscheidungen noch einbezogen werden konnte. Alleine die Funksignale brauchten drei Sekunden hin und zurück. Orlando beschränkte sich von nun an auf die Beobachtung. Die Taurus lag jetzt komplett in den Händen von Grant und Elly.
»Verstanden, Go für Landung«, bestätigte Grant.
»Ein Kilometer.« In Ellys Stimme mischte sich nun doch eine gewisse Aufregung. »Tausend Meter und sechzig Sekunden.«
Noch eine Minute, dann lande ich auf dem Mond.
Luna schüttelte wieder den Kopf.
Auf dem Mond, Herrgott nochmal!
Jenseits des Fensters erkannte sie die schroffen, grauen Konturen der Berge des Taurus-Littrow-Gebirges. Die Spitzen waren bereits über ihnen.
»Fünfhundert Meter«, meldete Elly.
»Wo ist die Station?«, fragte Grant.
»Hundert Meter in plus X«, antwortete die Copilotin. »Wir sind jetzt im Zielzylinder.«
Grant nickte. »Dann leite ich den vertikalen Abstieg ein.« Mit dem rechten Daumen drückte er einen kleinen Knopf am Steuerknüppel.
Auf dem Bildschirm konnte Luna sehen, dass die Bewegung relativ zur Mondoberfläche zum Stillstand kam. Das Raumschiff verharrte nun an derselben Stelle, während es weiter dem Mondboden entgegen sank.
»Flughöhe zweihundert Meter«, meldete Elly. »Vertikal fünf Meter pro Sekunde.«
»Ich übernehme bei fünfzig«, sagte Grant.
Luna war von ihrem Sitz aus nun nicht mehr in der Lage, den Mond zu erkennen. Sie flogen aufrecht, die Nase nach oben. Nur Grant und Elly konnten durch ihre kleinen Navigationsfenster nach unten blicken.
»Hundert Meter«, sagte Elly.
Lunas Herzschlag beschleunigte sich.
»Siebzig, sechzig …«, meldete Elly.
Grants Daumen näherte sich einem anderen Knopf.
»Fünfzig Meter über null!«, sagte Elly.
Grant nickte und drückte den Knopf.
Ein rotes Licht leuchtete auf, und ein durchdringendes Piepen hallte in Lunas Ohren. Gleichzeitig verstummte das Brummen der Triebwerke.
»Triebwerke eins, zwei und drei sind aus!«, schrie Elly.
Lunas Herz gefror. Ihre Gedanken rasten. Sie hatte aus den Simulationen nicht sehr viel mitgenommen. Aber an einen Satz des zuständigen Ingenieurs erinnerte sie sich genau.
Fallen während der Landung alle drei Triebwerke gleichzeitig aus, dann seid ihr totes Fleisch.
»Neustart!«, forderte Grant.
Elly drückte mit drei Fingern gleichzeitig auf drei verschiedene Knöpfe.
Das Piepen hörte nicht auf und drang durch den Raumhelm direkt in Lunas Gehirn.
Weitere rote Lichter flammten auf der Instrumententafel von Pilot und Copilotin auf.
»Neustart nicht möglich«, sagte Elly rau.
Dann war da nur noch das Piepen, während das Schiff dem Mondboden entgegenraste.
Ich werde sterben!
Der Gedanke war merkwürdig nüchtern. Fast schon kühl.
Vor ihrem geistigen Auge tauchten plötzlich die Kinder ihrer Schulklasse auf. Sie standen in einer Reihe, lächelten und winkten zum Abschied.
»Scheiße!« Max’ Stimme klang gleichgültig.
Dann löschte ein lautes Krachen Lunas Welt aus. Irgendetwas krachte von der Seite gegen ihren Raumhelm. Ihr Kopf wurde herumgerissen, und alles wurde schwarz.
Ein Piepen holte sie aus dem Dämmerschlaf.
Wo bin ich?
Das Piepen erinnerte sie an ihr Handy, das sie morgens aus dem Schlaf riss. Sie musste ins Badezimmer gehen und sich für die Schule fertig machen.
Doch irgendwas stimmte an diesem Gedanken nicht. Sie war nicht zu Hause in ihrem kuscheligen, warmen Bett.
Sie war …
Luna riss die Augen auf.
Das Piepen kam nicht von ihrem Smartphone, sondern aus dem Inneren ihres Helmes. Sie versuchte, die kleine Anzeige in ihrem Helmfenster abzulesen, aber ihre Sicht war verschwommen. Sie blinzelte, aber das machte es nicht besser.
Wir sind abgestürzt!
Sie waren unkontrolliert auf der Oberfläche des Mondes aufgeschlagen!
Sie wollte nach ihrem Kommandanten rufen, aber aus ihrem Mund kam nur ein Stöhnen.
»Grant«, gelang es ihr schließlich, zu sagen. »Elly!«
Sie erhielt keine Antwort. Sie tastete nach dem Verschluss ihres Gurtes, aber der war gar nicht mehr da.
Noch immer konnte sie nichts erkennen. Sie spürte Feuchtigkeit in ihrem Gesicht. Tränen. Instinktiv wollte sie sie wegwischen, aber die Handschuhe berührten nur das Visier.
»Grant! Elly! Max!«
Wieder keine Antwort.
Sie blinzelte so lange, bis sich ihr Blick schließlich klärte.
Sie befand sich nicht mehr in ihrem Sitz. Und das war auch gut so, da eine der Deckenplatten mit der Ecke voran nach unten gestürzt war. Wäre sie noch auf ihrem Platz, hätte das Metall sie aufgespießt.
Luna lag auf der Seite. Ihre Beine ruhten auf irgendeinem Gegenstand und schmerzten. Aber sie konnte sie bewegen, ohne den Schmerz zu verschlimmern, also waren sie nicht gebrochen.
Sie richtete sich auf und alles drehte sich.
Ich habe sicher eine Gehirnerschütterung.
Wieder wurde sie sich des Piepens in ihrem Raumhelm bewusst und blickte erneut auf die Anzeige, die sie nun endlich klar erkennen konnte.
Ihr wurde eiskalt.
Der Luftvorrat des Anzugs hatte einen kritischen Wert erreicht. Dabei sollte er im Normalfall für mehrere Stunden ausreichen.
Wie lange war ich denn bewusstlos?
Und was war mit den anderen?
Dann sah sie, worauf ihre Beine lagen.
»Max!«
Als sie sich viel zu schnell herumdrehte, schoss ein Schmerz durch ihren Schädel, der sie beinahe in die Ohnmacht zurückbefördert hätte. Sie keuchte und zwang sich, nicht in die Bewusstlosigkeit abzudriften.
Max lag auf der Seite. Sein Oberkörper war seltsam nach hinten verkrümmt. Er musste sich beim Aufprall sämtliche Rippen gebrochen haben.
Dann blickte sie endlich in das Innere seines Helmes.
Die Augen des Milliardärs waren geöffnet, sein Mund in einem stummen Schrei verzerrt. Das ganze Gesicht war mit feinen Eiskristallen bedeckt.
Er war tot.
Luna schluckte.
Sein Anzug musste irgendwo gerissen sein. Die lebenserhaltende Luft war ausgetreten und hatte ein Vakuum hinterlassen.
Langsam krabbelte Luna zurück.
Er hatte sich seinen Traum erfüllt. Und das hatte ihn gleichzeitig das Leben gekostet.
Aber was war mit Grant? Und Elly?
»Grant? Elly?«
Keine Antwort.
Mühsam richtete sich Luna auf.
Grant saß immer noch in seinem Sitz. Aber der Raumhelm fehlte, mitsamt Kopf. Der lag auf dem Boden neben einer der Ausrüstungsboxen aus dem hinteren Teil des Cockpits. Sie musste sich aus der Verankerung gelöst haben und nach vorne geschnellt sein.
»Elly?«
Die Copilotin saß ebenfalls noch an ihrem Platz. Aber Luna sah die Risse in ihrem Raumanzug. Blut lief aus ihnen heraus und zerkochte im Vakuum des Weltalls.
Sie sind tot! Sie sind alle tot!
Ich bin allein!
»Orlando!«, schrie sie in Panik. »Hört ihr mich?«
Aus den Helmlautsprechern drang noch nicht einmal ein Rauschen.
Die Bildschirme waren schwarz, die Lichter aus. Nur das Sonnenlicht außerhalb der Fenster und die gelbliche Notbeleuchtung, gespeist aus miteinander reagierenden Chemikalien, sorgten für Licht.
Das Schiff war so tot wie der Großteil seiner Besatzung. Und damit auch die elektrischen Systeme und die Funkeinrichtung.
Was soll ich nur tun?
Alle ihre Freunde waren tot.
Tot!
Luna schluchzte. Das durfte doch nicht sein. Sie war die einzige Überlebende …
Auf dem Mond!
Tränen rannen ihre Wangen hinab. Wenn doch wenigstens Grant noch am Leben wäre. Der hätte sicher eine Ahnung, was nun zu tun war.
Aber konnte sie überhaupt etwas tun? Ihr Schiff war ein Wrack.
Zerstört!
Sie würde nie mehr zur Erde zurückkommen. Niemand würde ihr helfen können. Wenn ihr in wenigen Minuten der Sauerstoff ausging, würde auch sie sterben und ihre Freunde nur um wenige Stunden überlebt haben. Eigentlich konnte sie sich gleich jetzt auf den Boden legen und die Augen zumachen.
Nein!
Luna atmete tief ein. Trotz brach aus einem der hinteren Winkel ihres Bewusstseins hervor.
Nein, so nicht!
Sie wollte nicht sterben. Nicht hier und jetzt, alleine auf dem Mond.
Sie stolperte nach vorne, um aus dem Fenster zu blicken, dessen Glas von tiefen Rissen durchzogen war. Die graue Oberfläche des Mondes. Der Horizont gekrümmt.
Nein, der Horizont war nicht krumm. Das Schiff lag in einer bedenklichen Schieflage. Metallteile waren überall im grauen Staub verstreut. Neben einem Krater lag der grünlich schimmernde Kegel eines Triebwerks.
Die Taurus war nur noch ein Wrack.
Luna stieg über Grants Leiche zum anderen Fenster, vermied es dabei, zu genau hinzusehen. Auch auf dieser Seite lagen überall Trümmer herum. Doch dann entdeckte sie in etwa hundert Metern Entfernung einen großen silbernen Zylinder auf dem Mondboden. Auf dem Dach drehte sich ruhig ein rotes Licht.
Die Mondstation! Sie waren ganz in der Nähe heruntergekommen. Dort gab es alles, was Luna zum Überleben brauchte: Sauerstoff, Wasser, Nahrung. Und Funkgeräte, mit denen sie die Erde erreichen konnte.
Sie musste die Station erreichen. Irgendwie.
Doch dazu war es erst einmal erforderlich, aus dem Wrack der Taurus herauszukommen.
Nur – wie?
Luna blickte sich um. Die Luke der Ausstiegsschleuse war beim Aufprall aus der Verankerung gesprungen und hing schief. Luna bezweifelte, dass sich das Schott noch bewegen ließ.
Dennoch kletterte sie über die Trümmer zum Ausgang. Sie nahm den Lukenhebel in beide Hände und zog mit aller Kraft daran.
Das Ding bewegte sich um keinen Millimeter.
»Verdammt!«
Was war mit den Fenstern?
Vielleicht konnte sie sie mit einem harten Gegenstand einschlagen und herausklettern.
Nein, das würde nicht funktionieren. Die Fenster bestanden sicher aus gehärtetem Glas, sonst wären sie bei dem Aufprall längst zerbrochen. Und wenn es ihr doch irgendwie gelingen sollte, sie einzuschlagen, würde sie sich an den Glasresten den Anzug aufschlitzen. Außerdem bezweifelte sie, dass die Öffnung für sie groß genug war.
Aber sie musste irgendwie aus dem verdammten Schiff herauskommen.
Ihr Blick fiel auf das rote Blinken in ihrem Helm am Rande ihres Gesichtsfeldes.
Und das schnell, bevor mir der Sauerstoff ausgeht!
Dann erinnerte sie sich an das Training.
Die Notausstiegsluke!
Luna hob den Kopf und blickte an die Decke, was einen üblen Schwindel hervorrief. Ein Kreis aus schwarzen und gelben Markierungen befand sich genau über ihr.
Die Luke war zwar für die Landung auf der Erde gedacht, aber die Sprengbolzen würden auch auf dem Mond funktionieren.
Luna kletterte zu dem metallischen Steuerkasten an der Wand und öffnete die Schutzkappe. Sie entfernte den Sicherheitsstift, griff nach dem silbernen Hebel und zog ihn mit aller Kraft aus dem Kasten.
Es blitzte über ihr und Funken regneten geräuschlos zu Boden.
Als sie den Kopf wieder hob, war die Decke verschwunden, über ihr erstreckte sich das Schwarz des Weltalls.
Neben der Luke war ein breiter, schwarzer Kasten. Sie öffnete ihn, und eine dünne Leiter fuhr nach unten.
Luna atmete tief ein und kletterte nach oben. Trotz der niedrigen Schwerkraft machten ihr der klobige Raumanzug und die Schmerzen in ihrem Körper die Bewegung nicht leicht.
Sie langte nach einem Griff auf der Außenseite und schwang die Beine aus der Öffnung. Ein Seil baumelte vom Rand nach unten auf die Mondoberfläche. Die Explosion der Sprengbolzen musste es aus der Hülle gezogen haben.
Langsam ließ sie sich daran hinab und stand wenige Augenblicke später auf der von Trümmern übersäten Mondoberfläche.
Die fremdartige Umgebung faszinierte sie derart, dass sie trotz des Sauerstoffmangels gar nicht anders konnte als sich umzusehen.
Sie trat einige Schritte zurück, bis sie das Schiff in seiner Gänze überblicken konnte. Sie war in einem Tal, das von hohen grauen Mondbergen umgeben war. Schroffe Felsen wechselten sich mit sanften Hügeln ab. Der graue Mondboden sah heller aus als auf den Fotos. Überhaupt nicht dazu passen wollte der dunkle, schwarze Himmel, der gleich über dem Horizont begann.
Es war die völlige Lautlosigkeit, die ihr am überzeugendsten das Gefühl vermittelte, auf einem toten Himmelskörper zu sein.
Und außer mir ist hier niemand.
Erst jetzt sah sie die Erde. Sie hing hinter dem Wrack der Taurus knapp über dem Horizont. Der Kontrast der blauen, braunen und roten Farben auf dem Erdball zum Grau des Mondes hätte nicht größer sein können.
Dort, in vierhunderttausend Kilometern Entfernung, waren die nächsten Menschen. Sie war der einsamste Mensch im Universum.
Die Taurus war nur noch ein Wrack. Die gesamte Triebwerkssektion schien verschwunden. Sicher war der restliche Treibstoff in den Tanks explodiert. Die Detonation hatte die untere Hälfte der Taurus zerfetzt. Nur der Besatzungs- und Frachtbereich war noch erkennbar, er lag schief auf der Mondoberfläche. Auch in der Hülle des Frachtbereiches befanden sich zahlreiche Risse und Löcher.
Das durchdringende Piepen in Lunas Helm verkündete, dass ihre Sauerstoffreserven endgültig aufgebraucht waren. Sie musste zur Station, und zwar schnell.
Sie drehte sich um und versuchte zu laufen, aber der Raumanzug war einfach zu steif. Stattdessen stakste sie quälend langsam auf den silbernen Zylinder zu, der nicht weit vom Wrack der Taurus entfernt war.
Trümmer hatten sich auch durch den staubigen Boden neben der Station gepflügt. Hoffentlich hatte nicht eines der davonfliegenden Metallstücke ein Loch in die Station gerissen. Dann war sie endgültig verloren.
Doch äußerlich wirkte der silberne Zylinder intakt.
Vorsichtig stapfte sie durch den grauen Staub. Sie nahm einen tiefen Atemzug und merkte, wie ihr schwindelig wurde. Lag das schon am zur Neige gehenden Sauerstoff?
Endlich stand sie neben der Schleuse.
Luna wandte sich der Luke zu. Zum Glück hatte sie in einem Training gelernt, wie man hineinkam und sie in Betrieb nahm.
Die Luke öffnete nach außen. Es ging einfacher, als Luna gedacht hatte. Vorsichtig stieg sie in die Schleuse und zog die Tür hinter sich wieder zu. Sie verriegelte die Luke und drückte auf den grünen Knopf an der Konsole. Ein gelbes Licht leuchtete daneben auf.
Zuerst tat sich gar nichts, dann hörte Luna ein lauter werdendes Zischen, als Luft in die Schleuse strömte.
Luna wollte jubeln, aber sie war zu schwach dazu. Krampfhaft hielt sie sich an einer Stange neben der Luke fest.
Ich werde leben!
Doch dann fiel ihr erneut ein, wie weit sie von der Erde und von ihrem Zuhause entfernt war.
Und dass ihre Mission nach einer Woche wieder hätte starten sollen, bevor der Station die Vorräte ausgingen.
Der Mut verließ sie, und der stille Jubel verging.
Wie lange werde ich leben?
Blake ging zwischen den Konsolen des Kontrollzentrums auf und ab.
Was zum Teufel war nur geschehen? Wie hatte das passieren können?
»Beruhige dich, Blake!«, befahl Flight Director Michael Burbank mit ungewohnter Schärfe in der Stimme. »Wenn du hier herumtigerst, bringt uns das auch nicht weiter.«
Blake blieb stehen und ballte die Hände zu Fäusten.
Verdammte Scheiße!
Er zwang sich zur Ruhe und stakste schließlich wieder zu seinem Platz neben Michael.
»Capcom!«, sagte der Flight Director. »Irgendwas?«
Jenn Marsden, die blonde Astronautin, drehte sich auf ihrem Platz in der vordersten Reihe des Kontrollzentrums nach hinten um. Sie schüttelte den Kopf. Sie war äußerlich ruhig, aber Blake konnte die Bestürzung in ihren Augen erkennen.
»Nichts«, antwortete sie.
»Empfängt irgendjemand irgendetwas?«, fragte Michael in sein Mikrophon.
Die Frage war ganz und gar unnötig. Blake schaute auf die großen Bildschirme an der Front des fensterlosen Raumes. Wo eben noch Zahlen, Graphiken und Linien über die Position des Raumschiffes und die Leistungsparameter der Systeme und Subsysteme informiert hatten, war nun gähnende Leere.
Seit der Anomalie vor einer halben Stunde hatten sie hier in Orlando nicht ein einziges Datenbit von der Taurus empfangen.
Blake blickte von einem Controller zum anderen. Niemand reagierte.
Er selbst hatte keine eigene Konsole, noch nicht einmal eine feste Funktion während der Landung. Doch als Chef der Astronautengruppe von FrontierTech war sein Aufenthalt im Kontrollzentrum neben dem Flight Director in beratender Funktion erwünscht.
»Soll ich den Raum verriegeln?«, fragte Dan Oach von seiner Konsole rechts von Michael aus. Er war für die Computer und Gerätschaften des Kontrollzentrums verantwortlich und wurde von seinen Kameraden liebevoll »Hausmeister« genannt. Jetzt lag Ratlosigkeit auf seinem Gesicht.
Michael biss sich auf die Lippe. »Ja«, sagte er schließlich mit Grabesstimme. »Verriegle den Raum.«
Blake schloss die Augen. Es war eine Standardprozedur für den Fall eines katastrophalen Unglücks. Das Kontrollzentrum wurde geschlossen. Niemand kam mehr rein und raus, damit sich die Controller auf das Sichern der Daten und die Analyse der Telemetriedaten konzentrieren konnten.
Blake und Michael saßen lange Minuten nebeneinander. Er wartete darauf, dass der Vorgang endlich abgeschlossen war, während ihm tausend Gedanken durch den Kopf rasten.
Was ist nur schiefgegangen?
Haben wir versagt?
Habe ich versagt?
Blake hörte ein dumpfes Klopfen und wandte sich um. Auf der Besuchergalerie, die vom Kontrollzentrum durch eine große Glasscheibe abgetrennt war, saßen gut zwei Dutzend Menschen, darunter auch Angehörige der auf dem Mond abgestürzten Astronauten. Blake vermied es, ihnen in die Augen zu blicken.
Dan Leitner klopfte erneut an der Scheibe. Der kleine, drahtige Gründer und CEO von FrontierTech zeigte auf Michael und hielt sein Handy in die Höhe, hochrot im Gesicht. Was in Anbetracht der Ereignisse kein Wunder war.
Blake beugte sich zu Michael hinüber. »Dan will mit dir sprechen.«
Michael nahm den Hörer seines Telefons, an dem mehrere Lichter blinkten, und drückte auf einen Knopf.
»Ja!«, sagte er knapp und hörte dann zu.
»Nein, ich weiß es nicht. Ich will nicht spekulieren. Nein, nein … das weiß ich auch nicht … vielleicht irgendwas mit den Triebwerken, aber es ging zu schnell … nein, das sehe ich nicht so … wir fangen gleich mit der Analyse der Daten an … vielleicht eine Stunde … dann halt sie hin, ich will nicht irgendeinen Scheiß erzählen, der sich anschließend als haltlos herausstellt … ja, mach ich.«
Michael knallte den Hörer auf die Konsole. »Er weiß genau, wie das jetzt abläuft«, klagte er. »Es braucht halt seine Zeit, bis wir etwas Genaues sagen können.«
Blake riskierte einen weiteren Blick nach hinten. Firmenchef Leitner diskutierte erregt mit einem US-Senator, den Blake aus dem Fernsehen kannte, und mit einem anderen Mann. Zwei Töchter des Milliardärs Dekker hielten sich im Arm und weinten.
»Er steht ziemlich unter Druck«, sagte Blake.
»Das tut er schon sein ganzes Leben«, erwiderte Michael. »Hat er sich selber so ausgesucht. Wenn ich Touristen auf Testflügen zum Mond schicke, dann darf ich mich über schlechte Presse nicht wundern.«
Blake seufzte. Vor dem Flug waren in zahllosen Meetings Zweifel daran angemeldet worden, ob FrontierTech wirklich schon so weit war, zahlende Touristen zum Mond zu bringen. Michael Burbank hatte vehement die Ansicht vertreten, dass die erste bemannte Taurus-Landung aus einer Besatzung von zwei Testpiloten bestehen sollte, war aber von Dan Leitner überstimmt worden, der nach seinen neuesten Milliardeninvestitionen nun endlich Profite einfahren wollte. Er war alleiniger Gesellschafter von FrontierTech und hatte somit anderen Aktionären und Investoren keine Rechenschaft abzulegen.
Das Resultat waren jetzt zwei tote FrontierTech-Astronauten, ein toter Milliardär und eine tote Lehrerin.
Blake hatte Luna während des Trainings ganz gut kennengelernt. Er hatte die junge Frau mit ihrem Enthusiasmus für die Mission gemocht.
Nun war sie tot.
Und ich trage eine Mitverantwortung.
»Datensicherung abgeschlossen. Ich werde jetzt die einzelnen Stationen nach dem Status abfragen«, verkündete Michael. »Booster!«
»Ich habe einen ganzen Wust an Fehlermeldungen von den Triebwerken.« Die Stimme des dreiunddreißigjährigen Gary Mansfield zitterte. »Sie haben sich alle zum selben Zeitpunkt abgeschaltet.«
»Aber warum?«, fragte Blake.
»Ich sehe Druckschwankungen im Treibstofffördersystem«, erklärte der Ingenieur. »Die Turbopumpen haben sich abgeschaltet, damit die Triebwerke nicht beschädigt werden. Zeitgleich hat der Druck in den Tanks nachgelassen. Entweder ist einer der Tanks geplatzt oder eine der Leitungen gerissen.«
Blake schloss die Augen. Das Treibstofffördersystem der Taurus war ein hochkomplexes Wirrwarr an Tanks, Leitungen, Ventilen, Pumpen und Schläuchen. Die Beanspruchung während der Triebwerkszündung bei der Mondlandung musste irgendeine Komponente davon überlastet haben. Es würde Ewigkeiten dauern, den genauen Fehler zu finden.
Wir hätten die Crew nicht ohne weitere Tests zum Mond schicken dürfen!
»GNC!«, sagte Michael. »In welcher Höhe haben die Triebwerke versagt?«
»Etwa fünfzig Meter über der Mondoberfläche.« Das Gesicht der zierlichen, blonden Physikerin, die in der Reihe vor ihnen an ihrer Konsole saß, war aschgrau. »Ich habe die Telemetrie beim Aufschlag auf den Boden verloren.«
Blake nickte langsam. Die Schwerkraft auf dem Mond war zwar deutlich niedriger als die der Erde, aber einen Sturz aus dieser Höhe konnte das Schiff nicht überstanden haben. Laut Plan waren die Treibstofftanks noch zu einem Drittel gefüllt gewesen, da die Rakete ja vom Mond wieder hatte starten wollen. Tonnenweise Methan und Sauerstoff in den Tanks, die beim Aufprall auf die Mondoberfläche explodiert sein mussten.
Blake hoffte jedenfalls, dass der Tod für die Astronauten schnell und schmerzlos gewesen war.
»Thermal?«, fragte Michael.
Der stämmige, junge Ingenieur drehte sich an seiner Konsole um und sah Blake direkt in die Augen. »Auch meine Telemetrie ist beim Aufprall verstummt. Die Werte in den letzten Millisekunden deuteten einen enormen Temperaturanstieg in der Triebwerkssektion an.«
Das deutete auf eine Explosion hin.
»Wir müssen sichergehen«, sagte Michael. »Wir brauchen Bilder aus dem Mondorbit.«
»Ich könnte bei der NASA nachfragen«, schlug Dan Oach vor. »Der Moon Observer Satellite überfliegt in zwei Stunden die Taurus-Littrow-Region.«
Michael nickte. »Tu das!«
Der Ingenieur griff nach seinem Telefon.
»Station!«, sagte Michael.
»Die Station ist in gutem Zustand«, erwiderte Millie Green.
»Empfangen wir Bilder von den Kameras?«, fragte Blake.
»Ja, aber die Unglücksstelle ist nicht im Sichtbereich. Die Kamera in dem Sektor ist außer Betrieb. Sie muss ein Trümmerstück oder so abbekommen haben.«
»Gib mir bitte trotzdem ein Bild«, sagte Michael.
Die Ingenieurin drückte einen Knopf und ein Bild von der Mondoberfläche erschien auf einem der großen Screens vorne an der Wand. Metallische Trümmer, die in der Sonne funkelten, lagen hier und da auf dem Mondboden zerstreut.
Um Himmels willen!
Blake stand auf und wandte sich ab. Er konnte die Bilder kaum ertragen.
So viele Trümmer!
Das Raumschiff musste völlig zerstört sein.
Grant. Elly.
Er kannte die beiden seit Jahren. Sie hatten zusammen im Training geschwitzt, zusammen über Schaltplänen gegrübelt und sich abends nach anstrengenden Tagen gemeinsam im Henny’s einen hinter die Binde gekippt.
Nun waren sie tot.
Tot. Tot. Tot.
Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein.
Und Max. Stinkreich, mit hochtrabenden Ambitionen, der erste Weltraumtourist auf dem Mond zu sein.
Aber charakterlich auf dem Boden geblieben, ohne jede Spur von Überheblichkeit.
Luna. Die ihm von ihren Schülern vorgeschwärmt hatte, denen sie von ihren Erlebnissen auf dem Mond berichten wollte.
Tot. Tot. Tot.
Er zwang sich, wieder auf den Bildschirm zu schauen und seine Emotionen auszuschalten. Da waren die Trümmer. Aber es war nicht die Absturzstelle. Die war weiter links. Sie mussten sichergehen.
»Können wir nicht eine der noch funktionierenden Kameras schwenken?«, fragte Blake.
Millie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist von der Konstruktion her nicht vorgesehen.«
»Das war eindeutig ein Fehler«, murmelte Michael.
Immerhin würden sie am Nachmittag Bilder bekommen. Der Moon Observer der NASA hatte hochauflösende Kameras an Bord. Doch Blake wusste schon, was sie sehen würden: ein weit verstreutes Trümmerfeld. Es war ein Wunder, dass die Mondstation noch in Funktion und nicht durch Trümmer irreparabel beschädigt war. Die Taurus musste in unmittelbarer Nähe aufgeschlagen sein.
»Ist die Mondstation wirklich noch in Ordnung?«, fragte Blake.
Millie nickte. »Abgesehen von der Kamera und einer Backup-Antenne werden mir hier keine Ausfälle angezeigt. Ich … Moment!«
Blake seufzte. Er würde bald mit Dan Leitner zusammen vor die Presse treten müssen. Und die Angehörigen der Astronauten warteten auch auf genauere Informationen. Es würden keine leichten Gespräche sein.
Wie soll ich denen Trost spenden, wenn ich selber jeden Moment losheulen könnte?
Vielleicht wäre es sogar besser, vom Posten des Chefastronauten zurückzutreten. Es war zwar kaum anzunehmen, dass er die Verantwortung für den Absturz der Taurus auf der Mondoberfläche trug, aber er hatte den Einsatz seiner Astronauten und die Teilnahme der Passagiere abgesegnet. Er hätte auf einen weiteren Testflug drängen und die Zustimmung für einen bemannten Raumflug verweigern sollen. Man würde es ihm ankreiden, das war ganz sicher.
Und das völlig zu Recht.
»Flight!« Millies Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Die Luftschleuse der Station wurde von außen geöffnet!«
Blake schnappte nach Luft.
»Was?«, entfuhr es Michael.
Irgendjemand musste den Absturz der Taurus überlebt haben! Mindestens einer der Astronauten war noch am Le-ben!
Nach einem Absturz aus dieser Höhe? Obwohl die Tanks der Taurus explodiert sein mussten? Vielleicht war die Konstruktion der Cockpit-Zelle robust genug gewesen, um der Explosion standzuhalten. Vielleicht hatten alle überlebt!
»Geben Sie mir ein Bild auf den Monitor!«, forderte Michael.
»Das geht nicht«, sagte Millie. »Es gibt zwar eine Kamera in der Schleuse, aber die ist nur an das stationsinterne System gekoppelt.«
»Dann geben Sie mir ein Bild aus dem Inneren der Station. Irgendwas!«
Auf dem großen Monitor entstand ein Fenster. Es zeigte ein Schwarz-Weiß-Bild aus dem Vorraum der Schleuse. Das Bild war leicht unscharf, und Bereiche des Videos verschwanden immer wieder in einem Pixelbrei, aber die Schleusentür war gut zu erkennen. Sie war geschlossen.
»Der Luftdruck im Inneren der Schleuse steigt«, sagte Millie.
»Es hat tatsächlich jemand das Unglück überlebt.« Michael konnte es nicht fassen. »Gott sei Dank!«
Wann bekommen wir denn endlich ein vernünftiges Bild, verdammt?
Dann öffnete sich die Schleusentür. Eine Gestalt in einem Raumanzug humpelte aus der Kammer in das Innere der Mondstation. Eine! Wer, vermochte Blake nicht zu erkennen.
»Millie, geben Sie mir einen Kanal zur Mondstation«, forderte Capcom Jenn Marsden.
Millie drückte einen Knopf. »Erledigt. Sie sind auf dem Stationslautsprecher. Mikro ist offen.«
»Sie sind in Sicherheit«, sagte Jenn in ihr Mikrophon. »Sie können den Helm abnehmen. Der Druck in der Mondstation ist stabil.«
Die Gestalt auf dem Monitor ging in die Knie und hob die Hände, um an dem Helmverschluss herumzunesteln. Der oder die Überlebende musste sehr schwach sein.
Endlich nahm die Gestalt den Helm ab.
Es war Luna Patel. Die Lehrerin!
Sein Herz machte einen Sprung. Sie lebte!
Aber was war mit den anderen?
Blake hörte aus den Lautsprechern, dass die Frau schwer atmete. Hoffentlich war sie nicht zu schwer verletzt.
»Luna«, sagte Jenn. »Können Sie mich verstehen? Ihr Mikro ist offen, wir können Sie hören!«
»Die Triebwerke …« Luna stöhnte. »Die Triebwerke sind einfach ausgegangen.« Sie schluchzte auf.
Blake beugte sich nach vorne und aktivierte sein Mikro. »Was ist mit den anderen? Wo sind sie?«
Es war allein Jenns Aufgabe, mit der Besatzung zu sprechen, aber Blake wollte es wissen. Michael nickte und ließ ihn gewähren.
Luna atmete weiterhin schwer.
»Sie sind tot«, sagte sie schließlich. »Sie sind alle tot. Ich bin alleine.«
»Luna, beruhigen Sie sich!« Jenn zwang sich hörbar dazu, ihre Stimme selbst ruhig zu halten. »Sie sind in Sicherheit. In der Station sind Sie in Sicherheit!«
»Ich bin hier ganz alleine.« Luna schluchzte wieder. »Ganz alleine auf dem Mond!«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Jenn. »Sie haben erst einmal alles, was Sie zum Überleben brauchen. In der Station haben Sie Sauerstoff, Wasser und Nahrung.«
Luna blickte nun direkt in die Kamera. »Aber die Rakete ist zerstört. Wie soll ich denn jemals wieder nach Hause kommen?«
Jenn drehte sich auf ihrem Stuhl herum und schaute Michael und Blake fragend an.
Blake presste die Lippen zusammen.
Wie sollen wir zu der Lehrerin gelangen?
Wie sollen wir Luna vom Mond zurück zur Erde bringen?
Es ging nicht. Sie hatten nicht die Ressourcen dazu. Mit einer solchen Katastrophe hatte bei FrontierTech niemand gerechnet.
Sie mussten ehrlich sein.
Blake schloss die Augen.
Dann entstand ein Bild in seinem Kopf. Ein Bild aus der Vergangenheit. Ein Baby in seiner Wiege, das ihn lächelnd mit großen Augen anstarrte.
Billy.
Er konnte diese Erinnerung nicht länger ertragen und riss die Augen auf. Er hatte schon einmal ein junges Leben in seiner Verantwortung sterben lassen.
Das würde ihm nicht noch einmal passieren.
Sie durften sie da oben nicht ihrem Schicksal überlassen. Sie mussten einen Weg finden.
Grimmige Entschlossenheit breitete sich in Blake aus.
Er würde sie zurückholen. Koste es, was es wolle.
»Wir werden Sie abholen«, sagte Blake laut und deutlich. »Wir kommen und holen Sie ab!«
Luna setzte sich auf einen Stuhl und weinte.
Michael schaltete mit einem Knopfdruck Blakes Mikro aus. »Sie abholen? Wie soll das gehen?«
Blake lehnte sich in seinem Sitz zurück. Es gab nur eine Möglichkeit. »Die Taurus 2«, sagte er. »Wir müssen die Taurus 2 fertigstellen und damit zum Mond, um Luna zu holen.«
Michael verzog das Gesicht. »Ich bin zwar hier nur der Flight Director, aber auch mir ist klar, dass die Zwo noch lange nicht flugtauglich ist. Der Erstflug ist erst in vier Monaten geplant.« Er blickte Blake durchdringend an. »Und die Vorräte der Mondstation sind begrenzt. Sie reichen niemals so lange.«
Blake biss sich auf die Lippe. »Als wenn ich das nicht selber wüsste!«
Und dennoch! Sie mussten es irgendwie schaffen, die Taurus 2 fertigzustellen und die Frau vom Mond abzuholen und nach Hause zu bringen.
Charlie stellte sich auf die Zehenspitzen. Das Ende der Schlange war nicht in Sicht. Sie konnte die Schalter der Einwanderungskontrolle noch nicht einmal erkennen.
Sie seufzte. Es würde noch einige Zeit dauern, bis sie wieder offiziell in ihrem Heimatland, den Vereinigten Staaten, angekommen war.
Aber sie hatte es bereits geahnt. Ihre Maschine aus Frankfurt war die letzte einer ganzen Reihe von Jumbos gewesen, die kurz hintereinander gelandet waren. Kein Wunder, dass sie trotz ihres Sitzes in der Businessclass nun ganz hinten in der Schlange war. Der Sommer ging zu Ende, und viele Amerikaner kehrten aus Europa in ihre Heimat zurück.
Charlie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Im Flughafen Orlando war es trotz Klimatisierung warm und feucht, und die Menge an Menschen trug ihr Übriges dazu bei, die Temperatur im Terminal unerträglich zu machen.
Schritt für Schritt quälte sie sich der Einreisekontrolle entgegen. Sie spielte mit dem Gedanken, ihr Handy herauszuholen, aber sie hatte nicht mehr sehr viel Akkuladung und beschloss, das Gerät in der Tasche zu lassen. Stattdessen zog sie ein zerfleddertes Kinomagazin, das sie am Frankfurter Flughafen gekauft hatte, aus ihrer Tasche und vertrieb sich damit die Zeit.
Als sie schließlich am Schalter stand, mochte eine gute Stunde vergangen sein.
Sie reichte dem Beamten, einem kräftigen Schwarzen, ihren Pass. Der legte ihn auf ein Lesegerät und blickte sie durchdringend an. »Wo kommen Sie her?«
Charlie runzelte die Stirn. Sie war Amerikanerin und gewohnt, die Einwanderungskontrolle unbehelligt zu passieren.
»Paris«, sagte sie einsilbig.
»Was haben Sie in Paris gemacht?«
Charlie blinzelte. »Wie bitte?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid. Vermehrte Stichproben heute. Bei Ihnen ist leider der Zufallsgenerator angesprungen.«
Charlie seufzte. »Ich war bei einer Konferenz.«
»Also waren Sie beruflich in Europa?«
Charlie nickte. »Eine Konferenz. Sagte ich ja bereits.« Es gelang ihr nicht, den sarkastischen Tonfall zu unterdrücken.
Der Beamte sah sie schief an.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Charlie. »Ich bin müde. Es waren einige lange Tage in Europa, und der Rückflug hat sich auch ziemlich verspätet.«
Der Mann ging nicht darauf ein, sondern blickte auf einen Monitor. »Als Sie die USA verlassen haben, waren Sie auf eine Maschine nach Frankfurt gebucht, nicht Paris.«
Charlie nickte. »Ich habe einen Termin bei der EASA in Köln gehabt und bin von dort aus mit dem Zug nach Paris weitergefahren.«
Das hatte auch nicht sonderlich viel Spaß gemacht. Der deutsche ICE war hinter Brüssel wegen eines Defekts liegengeblieben und zuletzt war auch noch die Klimaanlage ausgefallen. Mit zwei Stunden Verspätung und restlos verschwitzt war sie endlich zu ihrem Workshop eingetroffen.
»Für wen arbeiten Sie?«, fragte der Beamte.
»Für die FAA.«
»Die Luftaufsichtsbehörde?«
Charlie nickte. »In Paris fand eine Konferenz der ICAO statt. Die Organisation kümmert sich um eine internationale Standardisierung der Regeln im Luftverkehr.«
»Bearbeiten Sie Flugunglücke?«, wollte der Beamte wissen.
Das ging für eine offizielle Befragung eigentlich zu weit, aber Charlie nahm an, dass der Mann einfach neugierig war. Sie seufzte. »Nein. Ich bin in der Raumfahrtabteilung der FAA.«
Der Mann blickte auf. »Raumfahrt? Ich dachte, darum kümmert sich die NASA.«
Charlie schüttelte den Kopf. »Die FAA ist für die Vergabe von Startlizenzen zuständig. Jede Rakete, die von Amerika aus startet, muss von uns eine Freigabe erhalten. Ich selbst kümmere mich um die Untersuchung von Anomalien.«
»Anomalien?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn zum Beispiel eine Rakete explodiert oder bei der Landung verunglückt.«
»Auch bei Landungen auf dem Mond?«
»Nur, wenn das betreffende Raumfahrzeug von amerikanischem Boden aus gestartet ist.«
»Dann haben Sie sicher bald viel Arbeit, nach dem Desaster da oben.«
Charlie runzelte die Stirn. Was wollte der Mann von ihr?
Dann fiel es ihr ein. Sie spürte Wärme auf ihren Wangen. »Die Taurus?«
Das FrontierTech-Schiff sollte heute auf dem Mond landen. Sie hatte den Start vor einigen Tagen in ihrem Hotelzimmer in Köln gesehen, aber die Mondlandung fast vergessen. Ein Kollege hatte die Lizenzen bearbeitet.
Der Beamte blickte zu Boden. »Das Mondschiff ist bei der Landung abgestürzt. Ich hatte eben Pause, und auf CNN haben sie gesagt, dass die Besatzung tot ist.«
Charlie wurde abwechselnd heiß und kalt.
Obwohl sie solchen Flügen, die lediglich der Egomanie einiger weniger Superreicher dienten, skeptisch gegenüberstand, hatte FrontierTech immer gesagt, dass Sicherheit bei ihnen an erster Stelle stand. Dass es bei der Taurus-Mission verschiedene Abbruchmodi gab, und man im Falle von Problemen wieder sicher in den Mondorbit und zur Erde zurückkehren konnte.
Wenn es jetzt wirklich zu einem Absturz auf dem Mond und dem Tod der Astronauten gekommen war, dann musste etwas ganz Gravierendes schiefgelaufen sein.
»Was ist geschehen?«, fragte Charlie.
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Das Schiff ist auf dem Mond abgestürzt. Mehr weiß ich leider auch nicht.« Er lächelte entschuldigend und reichte ihr den Pass zurück.
Charlie ließ die Einwanderungskontrolle hinter sich zurück und schob sich durch eine dichte Menschenmenge zu den Gepäckbändern, während sie in ihrem Jackett nach ihrem Mobiltelefon nestelte.
Sie schaltete das Gerät ein. Sofort leuchtete das Akkusymbol in tiefem Rot.
Dann tauchte ein anderes Symbol auf. Das einer Glocke.
Ihre Chefin hatte schon dreimal versucht, sie zu erreichen.
Beinahe wäre Charlie über zwei Jungen gestolpert, die sich kreischend an ihr vorbeidrückten.
Bevor sie Marge zurückrufen konnte, musste sie zunächst einen ruhigeren Platz finden.
Sie wuchtete ihren schwarzen Rollkoffer, in dem sich mehrere Flaschen mit teurem, französischem Wein befanden, vom Band und rollte das Ding zum Ausgang.
Der Beamte vom Zoll nickte ihr nur kurz zu, und schon stand sie in der Ankunftshalle des Flughafens Orlando.
Hier drängten sich Unmengen von Menschen, schoben sich Richtung Ausgang oder standen einzeln oder in Gruppen herum und warteten auf Angehörige.
Ein großer Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand zeigte das Programm des Nachrichtensenders CNN. Der Chef von FrontierTech gab gerade mit fahlem Gesicht ein Interview. Ein Ticker am unteren Bildschirmrand kündete von einer Tragödie auf der Mondoberfläche.
Sie war sich sicher, dass Marges Anruf etwas mit dem Unfall zu tun hatte. Der Gedanke machte Charlie zunehmend nervös.
Sie rollte ihren Koffer in eine Ecke der Halle, wo sich der Eingang zu einer Toilette befand, aus der es unangenehm nach Desinfektionsmitteln roch. Immerhin war es hier ruhig genug, um telefonieren zu können. Sie drückte die Kurzwahltaste ihrer Chefin und wartete. Es vergingen lange Sekunden, bis sie die kratzige Stimme von Marge Barker vernahm. »Endlich. Bist du gelandet?«
»Ja, ich bin in der Ankunftshalle des Flughafens.«
»Hast du es schon gehört?«
»Ja, gerade. Wissen wir schon etwas über die Ursache?«
»Nein, nicht das Geringste«, antwortete Marge. »Leitner hat gesagt, dass es Probleme mit den Triebwerken gegeben hat. Die Taurus ist daraufhin hart auf der Mondoberfläche aufgeschlagen. Ich möchte, dass du die Untersuchung leitest.«
Charlie hatte das befürchtet. »Wäre das nicht eher Terrys Aufgabe?«
»Nein. Der hat die Starterlaubnis gegeben und ist nun befangen. Ich habe ihn schon von FrontierTech abgezogen. Er ist unterwegs nach Washington. Ich will, dass die Untersuchungen von jemandem geleitet werden, der bisher nichts mit der Taurus zu tun hatte.«
»Ich bin auch befangen«, sagte Charlie.
»Nicht wirklich. Deine Ehe mit Blake ist Geschichte. Ich sehe nicht, dass dich das befangen macht. Außerdem bist du gerade in Orlando und kannst in einer halben Stunde dort sein.«
Charlie wusste, dass Marge ihr keine Wahl lassen würde. »Also gut. Ich fahre sofort zu FrontierTech. Ich melde mich, wenn ich mir einen ersten Eindruck verschafft habe.«
»Einen Moment noch«, stoppte Marge sie. »Ich gehe davon aus, dass FrontierTech so schnell wie möglich eine Rettungsmission starten will. Wir sollten darauf achten, dass …«
»Eine Rettungsmission? Ich dachte, die Astronauten wären alle tot.«
»Nein«, entgegnete Marge. »Diese Lehrerin hat überlebt. Sie hat sich als Einzige in die Mondstation retten können.«
Charlie schluckte. »Ist sie verletzt?«
»Wie es aussieht, nicht. Aber die Vorräte sind begrenzt. Trotzdem dürfen wir die Startgenehmigung für eine Rettungsmission nur geben, wenn wir die Ursache des Absturzes ohne jeden Zweifel aufgeklärt und beseitigt haben. Sonst liegen demnächst zwei Wracks auf dem Mond, und noch mehr Amerikaner sind tot. Es wirft sowieso schon ein schlechtes Licht auf uns. Ich hatte einige sehr unangenehme Anrufe aus dem Weißen Haus und dem Kapitol. Eine weitere Katastrophe können wir uns nicht leisten.«
Charlie schloss die Augen. Noch vor einigen Tagen hatte sie auf einem Online-Channel ein Porträt über diese Lehrerin gesehen. Sie hatte mit einer Begeisterung von ihren Schulkindern erzählt, dass Charlie unwillkürlich hatte lächeln müssen. Luna war in ihren Augen nicht nur Passagier. Sie hätte die Erfahrungen in sich aufgenommen und an ihre Schüler weitergegeben. Dieser Grund, in den Weltraum zu fliegen, war ebenso gut wie der von Wissenschaftlern. Aber sie war dennoch keine Berufsastronautin. Charlie konnte sich nicht vorstellen, wie sie sich nun fühlen mochte, fast eine halbe Million Kilometer entfernt von allen anderen Menschen. Natürlich würde FrontierTech alles versuchen, sie zu retten. Das würde Charlie selber auch, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte, aber sie sah auch die Einwände ihrer Chefin.
»Ist in Ordnung. Ich verstehe.«
Sie verabschiedete sich und legte auf.
Charlie holte ihr Auto aus dem Parkhaus und machte sich auf den Weg nach Norden, wo das Hauptquartier von FrontierTech in der Nähe des Flughafens Sanford International untergebracht war. Sie wäre am liebsten zunächst nach Hause gefahren und unter die Dusche gesprungen, aber der Umweg war einfach zu weit.
Die 417 war mal wieder ziemlich verstopft, und sie brauchte eine gute Stunde für die rund fünfzig Kilometer. Während dieser Zeit hörte sie im Radio zweimal die Nachrichten. Neue Informationen zu dem Absturz der Taurus gab es nicht, aber erste Politiker äußerten schon ihren Unmut über den milliardenteuren Privattrip zum Mond, der nun dazu geführt hatte, dass der Staat in Form der NASA womöglich eine Lehrerin in einer milliardenteuren Rettungsaktion zur Erde zurückbringen musste.
Aber Charlie wusste es besser. Es gab nichts, was die amerikanische Weltraumbehörde jetzt unternehmen konnte, um Luna zu helfen. Die nächste SLS-Rakete mit einer Orionkapsel, die zum Mond fliegen konnte, würde erst in einem Jahr flugbereit sein. Nach den Verzögerungen mit der NASA-Mondlandefähre sah es zudem eher so aus, dass die nächste staatliche Mondlandung erst in zwei Jahren stattfinden konnte. Auch andere Nationen würden nicht in der Lage sein zu helfen. Am ehesten noch die Chinesen, aber die hatten nach der Explosion ihrer neuen Schwerlastrakete Langer Marsch 9 vor fünf Monaten selber eine längere Aufarbeitung vor sich.
Abgesehen von FrontierTech gab es niemanden, der Luna vom Mond auf die Erde zurückbringen konnte. Und Charlie hatte nun die undankbare Aufgabe herauszufinden, ob die FrontierTech-Rakete überhaupt für einen neuen Flug bereit war.
Und wenn nicht? Wenn Charlie der Firma die Startgenehmigung verweigerte? Dann würde FrontierTech Charlie und der FAA die Schuld am Tod der Lehrerin in die Schuhe schieben. Eine unangenehme Situation.
Doch was blieb ihr schon anderes übrig, als den Auftrag anzunehmen, wenn sie ihre Stelle nicht verlieren wollte?
Endlich hatte sie das Firmengelände von FrontierTech erreicht. Am Zaun standen schon gerahmte Bilder der verunglückten Astronauten. Menschen blieben davor stehen und legten Blumen nieder.
Charlie hielt am Pförtnerhäuschen und zeigte dem Wachmann in seiner schwarzen Uniform ihren FAA-Dienstausweis.
Der hob die Hand zum Gruß und drückte auf einen Knopf. Die Schranke öffnete sich. »Fahren Sie direkt zu Gebäude 09. Sie werden bereits erwartet.«
Charlie war in der Vergangenheit mehrfach hier gewesen und kannte sich entsprechend aus. Sie passierte Werkshallen und Bürogebäude. Die Kantine mit den breiten Glasfronten sah verlassen aus. Immer wieder fuhr sie an Gruppen von Menschen vorbei, die zusammenstanden und diskutierten. In manchen Gesichtern nahm sie blanke Angst wahr.
Charlie kannte als Ingenieurin die Gedanken der Menschen.
Was ist, wenn ich in meinem Job Scheiße gebaut habe und für den Absturz des Raumschiffes verantwortlich bin?
Sie parkte vor Gebäude 09, einem vierstöckigen, hallenartigen Haus, das nur im obersten Stockwerk über dunkel getönte Scheiben verfügte. Es war das Raumfahrtkontrollzentrum der Firma mit den dazugehörigen Besprechungsräumen und Büros.
Als Charlie auf den Eingang zutrat, kam ihr ein schlanker, junger Mann entgegen. Er trug Bluejeans mit einem weißen Hemd und einem schwarzen Jackett. Er hatte auffallend dichtes, schwarzes Haar, das ein wenig ungeordnet wirkte. Er musterte sie durch eine dicke Hornbrille. »Sie sind Charlie Ross?«
Charlie nickte. »Von der FAA. Das ist richtig.«
Der Mann lächelte gequält und setzte sofort wieder eine ernste Miene auf. Er machte keine Anstalten, ihr die Hand zu reichen. »Mein Name ist Jack Borrows. Ich wurde Ihnen als Begleiter zugeteilt. Im Moment findet eine Besprechung der leitenden Manager und Ingenieure statt. Soll ich Sie dorthin bringen?«
Blöde Frage! »Ja, bitte.«
»Folgen Sie mir.«
Der Mann drehte sich auf dem Absatz um. Sie passierten eine Eingangshalle, wo sie um einen ausladenden Empfangsschalter herumgehen mussten. Die Pförtnerin schaute nur kurz auf und widmete sich dann wieder ihrem Computer.
»Sind Sie Manager oder Ingenieur?«, fragte Charlie.
Der Mann seufzte leise. »Beides. Ich habe nach meinem Raumfahrttechnikum einige Jahre als Antriebsingenieur gearbeitet und bin dann ins Management gewechselt. Ich habe Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen geleitet.«
Das beantwortete ihre eigentliche Frage nicht, wo sich der Mann innerhalb der Firmenhierarchie befand. Nun ja, sie würde es herausfinden.
Der Fahrstuhl brachte sie in das oberste Stockwerk. Von einem breiten, von hellen LED