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Eine gefahrvolle Reise bis ans Ende des Universums – und darüber hinaus. Der neue Science-Fiction-Roman von Bestseller-Autor Phillip P. Peterson. Im 22. Jahrhundert hat sich die Menschheit über die Grenzen unseres Sonnensystems hinaus ausgebreitet. Dank neuer Antriebe ist überlichtschnelles Reisen zur Normalität geworden, und es gibt Kolonien in den entlegensten Ecken der Galaxie. Das Reisen zwischen den Sternen ist sehr sicher - nur ganz selten geht etwas schief, und ein Schiff verschwindet spurlos im Hyperraum … Die Challenger unter Kommandantin Christine Dillinger ist ein solches Schiff. Doch wie sich herausstellt, verschwindet es nicht einfach. Stattdessen erwartet Christine und ihre Crew ein Abenteuer, das jede Vorstellungskraft übersteigt. Realistisch, spannend, wissenschaftlich fundiert – große deutschsprachige Science Fiction für Leser von Andreas Eschbach, Andy Weir und Cixin Liu.
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Seitenzahl: 505
Phillip P. Peterson
Roman
Eine gefahrvolle Reise bis ans Ende des Universums – und darüber hinaus. Der neue Science-Fiction-Roman von Bestseller-Autor Phillip P. Peterson.
Im 22. Jahrhundert hat sich die Menschheit über die Grenzen unseres Sonnensystems hinaus ausgebreitet. Dank neuer Antriebe ist überlichtschnelles Reisen zur Normalität geworden, und es gibt Kolonien in den entlegensten Ecken der Galaxie. Das Reisen zwischen den Sternen ist sehr sicher - nur ganz selten geht etwas schief, und ein Schiff verschwindet spurlos im Hyperraum …
Die Challenger unter Kommandantin Christine Dillinger ist ein solches Schiff. Doch wie sich herausstellt, verschwindet es nicht einfach. Stattdessen erwartet Christine und ihre Crew ein Abenteuer, das jede Vorstellungskraft übersteigt.
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Phillip P. Peterson arbeitete als Ingenieur an zukünftigen Trägerraketenkonzepten und im Management von Satellitenprogrammen. Neben wissenschaftlichen Veröffentlichungen schrieb er für einen Raumfahrtfachverlag. »Transport« war sein erster Roman, der zum Bestseller wurde. Mit »Paradox« gewann er 2015 den Kindle Storyteller-Award. Zu seinen literarischen Vorbildern gehören die Hard-SF-Autoren Stephen Baxter, Arthur C. Clarke und Larry Niven.
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»Hier spricht Ihr Erster Offizier«, tönte es aus den Lautsprechern. »Noch zwei Minuten bis zum Start. Bitte stellen Sie sicher, dass sich Ihre Sitze in einer aufrechten Position befinden und Ihre Anschnallgurte fest geschlossen sind.«
Noch zwei Minuten.
Dann würde Mike Warnock die Erde verlassen. Wenn es nach ihm ginge, für immer.
Die Stewardess eilte durch den Mittelgang des Shuttles. Sie lächelte, während sie die Gurte der Passagiere überprüfte. Ihre Augen lächelten nicht.
»Ich habe Angst«, sagte Neil.
Mike wandte sich seinem fünfjährigen Sohn auf dem Nachbarsitz zu. Er wirkte blass, allerdings sah er mit seiner hellen Haut und den blonden Haaren immer ein wenig kränklich aus. »Du musst keine Angst haben«, sagte er mit kühlerer Stimme als beabsichtigt. »Der Zuverlässigkeitsfaktor moderner Raumfähren liegt nahe bei eins.«
Neil sah ihn einen Moment lang aus großen Augen an, dann drehte er den Kopf in die andere Richtung. »Ich habe Angst, Mama.«
Ellie, die am Gang saß, beugte sich zu ihm und nahm ihn in den Arm. »Ich weiß.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Eine Locke fiel ihr in die Stirn. Mit einer Bewegung, die sie sicher Hunderte Male am Tag wiederholte, schob sie sich die langen, braun gelockten Haare zurück.
Mike seufzte und blickte wieder aus dem Fenster.
In einigen Kilometern Entfernung schimmerten die alten Startrampen von Cape Canaveral golden im Licht der untergehenden Sonne. Noch gestern hatte Mike seinem Sohn bei einer Führung die Überreste des legendären Apollo-Programms gezeigt, mit dem die Menschheit vor über hundert Jahren ihre ersten Schritte ins All unternommen hatte. Neil hatte die Tour ohne jede Begeisterung über sich ergehen lassen.
Mike beobachtete seine Frau aus dem Augenwinkel. Sie strich Neil über den Kopf und gab ihm erneut einen Kuss. Wie so oft fühlte Mike sich ausgeschlossen, wenn er mit seiner Frau und seinem Sohn zusammen war, und er hatte nicht die geringste Ahnung, ob sich das jemals ändern würde.
»T minus eine Minute bis zum Start«, informierte der Erste Offizier die Passagiere über den Lautsprecher.
Mike saß mit seiner Familie in der ersten Reihe. Vor sich hatte er nur eine Wand aus hässlichem grauem Plastik. Ein Werbeaufkleber versuchte, ihn mit einer leichtbekleideten Blondine zu einem Urlaub auf den Bahamas zu animieren. Er sah sich um. Die Kabine des Shuttles war gerade mal halb voll. Vielleicht zwei Dutzend Menschen machten den Flug zur Knotenstation fünf in den Orbit mit. Die Mitreisenden waren bunt durcheinandergewürfelt. Alte, Junge, Männer, Frauen und – neben Neil – drei Kinder. Etwa die Hälfte der Menschen trug Anzüge, sie waren wohl geschäftlich in den Weltraum unterwegs. Der Rest hatte sich in Freizeitkleidung gehüllt. Ein Mann mit braunen Haaren, aber schneeweißem Oberlippenbart blätterte gezwungen lässig in einem Modemagazin. Eine junge Frau in einem schicken Kostüm und mit dunklen Rändern unter den Augen schien eingeschlafen zu sein. Der Rest der Menschen in der Kabine wartete mehr oder weniger angespannt auf den Start des Shuttles.
»Noch vierzig Sekunden.«
Neil klammerte sich an seine Mutter, die nach wie vor den Arm um seine Schultern gelegt hatte.
Die Sonne ging gerade rot zwischen den alligatorverseuchten Sümpfen unter. Als wollte die Erde Floridas eine Träne aus Blut in den Himmel weinen.
Womöglich war das der letzte Sonnenuntergang, den er jemals auf der Erde zu sehen bekam. Bei dem Gedanken verzogen sich Mikes Lippen zu einem Lächeln.
Der Planet, auf dem er aufgewachsen war, hatte ihn in einen brutalen Krieg geschickt und zum Mörder gemacht. Und dann war er am Ende auch noch unehrenhaft entlassen worden. Ausgespuckt von einem unbarmherzigen, bürokratisch-militaristischen System, nachdem er einmal Rückgrat gezeigt hatte. Natürlich hatte man ihm auch den Entlassungssold gestrichen und das Recht entzogen, auf Kosten des Staates ein Studium anzutreten, was letzten Endes der Grund für ihn gewesen war, sich freiwillig zu melden. Nur dem Erbe seiner verstorbenen Mutter hatte er es zu verdanken, dass er für sich und seine Familie diese Fahrkarte nach Omicron hatte lösen können.
Nein, mit dieser Erde und ihren Bewohnern, mit diesem Staat wollte er nichts mehr zu schaffen haben. Er würde seine Familie nehmen und gehen.
Familie.
Er warf Ellie und Neil wieder einen Seitenblick zu. Wie seltsam, über diese beiden Menschen, die er kaum kannte, als Familie zu denken.
Lieber Gott, bitte hilf mir, Liebe für meine Frau und meinen Sohn zu empfinden.
Er war nie ein gläubiger Mensch gewesen. Obwohl er katholisch getauft war, hatten seine Eltern darauf verzichtet, mit ihm in die Kirche zu gehen, wenn man von Weihnachten, Ostern, Hochzeiten und Beerdigungen einmal absah. Doch der Krieg hatte vieles geändert. Mike ging zwar immer noch nicht in die Kirche, aber er hatte begonnen zu beten. Zunächst nur, wenn die Verzweiflung groß gewesen war, dann immer öfter und nun regelmäßig. Hauptsächlich, um Gott um Vergebung zu bitten. Er wusste nicht, warum, doch irgendwie spendeten ihm diese stummen Gespräche Kraft und Hoffnung. Manchmal hatte er sogar das Gefühl, dass Gott neben ihm stand und zuhörte. Vielleicht würde Er irgendwann sogar antworten.
»Noch zwanzig Sekunden.«
»Mama«, schluchzte Neil und klammerte sich fest an seine Mutter.
Mike wollte etwas Tröstendes sagen, aber er verzichtete darauf. Egal was, es würde sich wieder einmal zynisch und kühl anhören.
Er presste den Kopf an das kleine Fenster und erkannte die Startrampe, die sich vor ihnen immer höher und steiler in den Himmel erhob. Das Gebilde hatte entfernte Ähnlichkeit mit den Achterbahnen seiner Kindheit.
»Zehn Sekunden. Neun, acht, sieben, sechs …«
Mike atmete tief ein und wieder aus. Er hatte schon so viele Raketenstarts mitgemacht, aber das verhinderte nicht, dass er sich auch heute wieder verkrampfte.
»… fünf, vier, drei, zwei, eins, Zündung!«
Zunächst spürte Mike eine Vibration, die irgendwo weit hinter ihm ihren Ursprung hatte. Dann hallte ein tiefes Wummern durch die Kabine, als hätte die Fähre sich in einen gigantischen Subwoofer verwandelt. Noch bewegte sich die Rakete um keinen Millimeter.
Doch dann löste das Katapult aus, und Mike wurde tief in seinen Sitz gepresst. Ein lautes Schleifen bohrte sich in sein Hirn und drohte, die Verbindungen zwischen seinen Synapsen zu zertrennen.
Neil schrie auf. Er war nicht der Einzige.
Wie ein Geschoss raste die Raumfähre nach vorne, dem Horizont entgegen.
Sie erreichten den Teil der Rampe, an dem die Schienen allmählich nach oben in den Himmel führten. Immer tiefer wurde Mike in seinen Sessel gedrückt, bis er kaum noch atmen konnte.
Die Erde hinter dem Fenster drehte sich. Der Boden fiel zur Seite weg. Sie mussten schon einige hundert Meter hoch sein.
Dann hatten sie das Ende der Rampe erreicht, und ein Geräusch wie gigantische Hammerschläge kündete davon, dass sich die Fähre gerade von ihrem Katapult löste.
Der Andruck ließ etwas nach, und schlagartig wurde es leise in der Kabine. Nur noch der tiefe Bass der Triebwerke wummerte in erträglicher Lautstärke vor sich hin. Ein Geruch nach Schweißarbeiten stieg Mike in die Nase, das kam von der Reibungshitze des Katapults. Er würde gleich vergehen, wenn sich in der dünner werdenden Luft die Ventile der Kabinenbelüftung schlossen.
Schon wurde der Himmel dunkler. Dafür stieg die Sonne plötzlich wieder auf. Ihre blutrote Färbung verwandelte sich in ein blendendes Gelb. Mike musste blinzeln.
Dann hatten sie genug Höhe erreicht, und die Fähre bog auf eine Flugbahn nach Osten, in Richtung Dunkelheit, ein.
Auch in der Kabine nahm die Intensität der Beleuchtung ab. Mike fragte sich, ob das Kabinenlicht durch eine Automatik oder von einer Stewardess im Handbetrieb gesteuert wurde.
Es dauerte nicht lange, dann war die Sonne abermals untergegangen und machte einem Sternenhimmel Platz, den man auf der Erde so niemals sehen konnte.
Mike mochte den Weltraum. Das Gefühl unendlicher Weite. Nach den Jahren als Bomberpilot, während deren er meistens auf Raumbasen stationiert gewesen war, empfand er inzwischen eine merkwürdige Beklemmung, wenn er auf einem Planeten landete. In den ersten Tagen zurück auf der Erde hatte er sich fast schon eingesperrt gefühlt.
Das Triebwerk schaltete sich ab, und Mike hing schwerelos in seinem Sitz. In der Kabine wurde es wieder hell.
»Sehr geehrte Passagiere«, meldete sich wieder der Erste Offizier. »Unsere Antriebsphase ist beendet. Wir befinden uns nun im Transferorbit zur Raumstation. Sie können sich abschnallen und die Waschräume aufsuchen. Da es aber hin und wieder zu Korrekturzündungen unserer Lagetriebwerke kommen kann, möchten wir Sie bitten, auf Ihrem Platz zu bleiben. Unsere Transferzeit beträgt aufgrund einer günstigen Orbitalkonfiguration lediglich dreißig Minuten, bevor das Dockingmanöver beginnt. Wir wünschen Ihnen aus dem Cockpit nun noch einen angenehmen Flug und möchten uns dafür bedanken, dass Sie mit American Orbital geflogen sind.«
Der Lautsprecher verstummte kurz, dann war eine helle Frauenstimme zu hören. »Wegen der kurzen Transferzeit werden auf unserem heutigen Flug keine Mahlzeiten serviert, sondern lediglich kalte und warme Getränke, die Sie mit Ihrer Kreditkarte oder ContactPay bezahlen können. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf unser Bonusprogramm hinweisen.«
Mike verdrehte die Augen.
»Mit OrbitalPoints können Sie bei jedem Flug Punkte sammeln«, fuhr die Stewardess fort. »Diese können Sie für hochwertige Sachprämien verwenden oder bei künftigen Reisen mit American Orbital als Ermäßigungen anrechnen lassen. Sprechen Sie uns einfach an oder besuchen Sie American Orbital im Internet.«
»Mir ist schlecht«, sagte Neil.
Mike beugte sich über seinen Sohn. »Das ist nur die Schwerelosigkeit. Den meisten Leuten wird übel, wenn sie zum ersten Mal in den Weltraum fliegen. Aber keine Angst. Sobald wir die Knotenstation erreichen, haben wir künstliche Schwerkraft.«
Neil wandte sich an seine Mutter. »Mir ist schlecht, Mama.«
Ellie strich Neil über den Rücken. »Ich weiß«, sagte sie zärtlich. »Mir ist auch ein bisschen übel.«
Irgendwo hinter Mike würgte jemand.
Die Stewardess hangelte sich lächelnd an Handgriffen an der Decke des Mittelgangs entlang. Als sie die Tür zum Cockpit erreichte, schwang sie elegant herum und klopfte. Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür, und einer der Piloten in weißem Hemd und Sonnenbrille ließ sie ein. Der Mann sah sich kurz in der Kabine um und verschwand dann wieder im Cockpit.
»Wie geht es dir?«, fragte Mike, der das Gefühl hatte, mit seiner Frau reden zu müssen.
Ellie lächelte ihn an. »Wie gesagt, mir ist auch etwas flau im Magen. Aber es geht schon.«
»Gut, gut.« Mike schaute erneut aus dem Fenster. Es war tiefste Nacht im Erdorbit. Tief unter der Raumfähre leuchtete eine Vielzahl von kleineren und größeren Lichtern, die auf der linken Seite des Fensters wie abgeschnitten wirkten. Eine Küstenlinie. Wahrscheinlich Europa. Möglicherweise Frankreich oder Spanien. Leider hatten die Raumfähren von American Orbit keine Bildschirme, die die Flugbahn anzeigten. Oder überhaupt irgendeine Form von Unterhaltung. Typisch Billig-Spaceline.
Um seinen endgültigen Aufbruch von der Erde zu feiern, hatte Mike kurzzeitig überlegt, ein Business-Class-Ticket bei einer angesehenen Fluggesellschaft zu kaufen. Vielleicht bei Mexican oder Dreamways. Aber nach einem Blick auf die Preise hatte er den Gedanken ganz schnell wieder verworfen. Jetzt, da der Krieg vorbei war, nahm die Nachfrage nach interstellaren Geschäftsreisen wieder zu, und die Preise explodierten. Das Angebot war derweil überschaubar, weil die Fluggesellschaften während der Krise einen großen Teil ihrer Kapazitäten abgebaut hatten. Selbst die Reise mit der Billigfluglinie hatte ihn fast tausend Dollar gekostet.
Tausend Dollar für einen Flug in den Erdorbit. Was für ein Wucher!
»Möchten Sie ein Getränk?«
Mike hatte gar nicht bemerkt, dass die zweite Stewardess neben ihnen aufgetaucht war. Sie schob einen Schwebewagen, der mit Getränken in durchsichtigen Plastikbeuteln befüllt war. An dem Wagen war eine Preisliste angebracht. Alle Getränke kosteten mindestens einen zweistelligen Dollarbetrag.
Mike schüttelte den Kopf. »Danke, wir brauchen nichts.«
»Komm nur nicht auf den Gedanken, uns zu fragen«, sagte Ellie und lächelte dabei nachsichtig.
Mike biss sich auf die Lippe. Er hätte das Geld gerne gespart, aber er konnte wohl kaum seiner Frau und seinem Sohn etwas zu trinken verwehren. »Natürlich«, sagte er. »Entschuldigung.«
»Bitte ein Wasser für mich und …« Sie wandte den Kopf. »Möchtest du etwas, Schatz?«
Neil schüttelte den Kopf. »Mir ist immer noch schlecht.«
»Vielleicht hilft etwas Wasser«, meinte Ellie. »Aber du kannst ja bei mir mittrinken.«
»Also ein Wasser.« Die Stewardess reichte Ellie einen Beutel.
»Danke«, sagte Ellie.
»Das macht dann 23 Dollar. Möchten Sie mit Kreditkarte bezahlen oder mit …«
»Ich mache das.« Mike beugte sich in Richtung Gang. »Mit ContactPay, bitte.«
»Sicher, Sir«, sagte die Stewardess und hielt das Lesegerät an Mikes Stirn, um ihn anhand seiner Hirnströme zu identifizieren.
Es verging keine Sekunde, dann piepte es.
»Danke, Sir. Brauchen Sie eine Quittung?«
Mike schüttelte den Kopf, und die Stewardess verschwand hinter ihnen im Gang.
Ellie löste den kleinen Plastikstrohhalm und stieß ihn an einer mit einem gelben Kreis versehenen Stelle in den Beutel. »Du kannst auch gerne einen Schluck abhaben, Mike.«
Mike schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Durst. Ich hatte ja im Terminal noch eine Cola.«
»Ist doch auch schon über eine Stunde her.«
Mike verzog das Gesicht, erwiderte aber nichts. Bei seinen Bombermissionen im Krieg hatte er stundenlang nichts trinken können, wenn wieder einmal ein Schrapnell die Außenwand des Raumschiffs durchschlagen und der Druckabfall das Öffnen des Raumhelms unmöglich gemacht hatte.
Neil würgte.
Mike kannte dieses Geräusch. Er hatte es oft genug von jungen Soldaten bei deren erstem Flug in die Schwerelosigkeit vernommen. Er griff zur Kotztüte, die in einem Netz an der vor ihnen liegenden Wand befestigt war. Er hob Neils Kopf etwas ruppig an, faltete die Tüte auseinander und hielt sie ihm fest vor das Gesicht.
Gerade noch rechtzeitig. Neil übergab sich in heftigen, regelmäßigen Stößen.
»Geht das nicht etwas sanfter«, sagte Ellie und legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Nein.« Mike bemühte sich, seine Stimme nicht zu kühl klingen zu lassen. »Es gibt nichts Ekelhafteres, als in der Schwerelosigkeit herumschwebende Kotze aufsammeln zu müssen.« Er hatte es weiß Gott oft genug mitgemacht. Hier und jetzt würde es nicht geschehen, wenn er es verhindern konnte.
»Mike, er kriegt keine Luft«, beharrte Ellie.
»Die Nase ist frei«, entgegnete Mike. »Außerdem ist das Material der Tüten luftdurchlässig.«
Aus genau diesem Grund verbreitete sich der stechende Geruch von Magensäure schnell in der Kabine. Schon würgte der Nächste hinter ihnen.
Endlich hatte Neil sich beruhigt. So viel war gar nicht in der Tüte. Es war klug gewesen, dem Jungen im Terminalrestaurant in Cape Canaveral den Burger vorzuenthalten.
Eine blonde Stewardess schwebte heran und nahm Mike den Beutel ab. Sie hielt ihn wie eine tote Ratte und steckte das Ding in eine Plastiktüte. Dann gab sie Mike zwei neue Kotztüten. Sie lächelte. »Für alle Fälle.« Schon war sie wieder verschwunden.
»Geht es denn wieder?«, fragte Mike.
Sein Sohn war furchtbar blass. Er nickte schwach.
Ellie legte erneut ihren Arm um Neil. »Hoffentlich sind wir bald da.«
»Es kann nicht mehr lange dauern«, erwiderte Mike.
»Wir hätten ihm doch die Tabletten geben sollen.«
Mike schüttelte den Kopf. »Die Tabletten gegen die Raumkrankheit machen furchtbar müde. Kinder schlafen meist ein, wenn sie eine genommen haben.«
»Es wäre nicht das Schlechteste gewesen.«
»Ich wollte, dass er seinen ersten Raumflug bei vollem Bewusstsein erlebt und sich immer daran erinnern kann.«
»Er ist doch erst fünf«, meinte Ellie.
Mike zuckte mit den Schultern. Er hatte immerzu das Gefühl, dass sie aneinander vorbeiredeten. Oder sie sahen viele Dinge so derartig unterschiedlich, dass er sich fragte, wie lange ihre Ehe gutgehen würde. Andererseits hatten sie ein hartes, karges Leben auf Omicron vor sich. Das Dasein als Kolonisten würde sie aneinanderketten. Für ein Rückflugticket hatten sie beide kein Geld. Als Geschiedene auf Omicron zu leben, war bei ihren Qualifikationen undenkbar. Es war vorbei. Die Möglichkeit einer Trennung gab es nun nicht mehr.
Ellie schmiegte sich an ihren Sohn, und Mike starrte aus dem Fenster die vorbeiziehenden Lichter der Erde an. Schließlich war der Horizont wieder erkennbar. Ein hellblaues Band, das sich allmählich in eine gleißend goldene Sichel verwandelte, kündigte den schnell herannahenden orbitalen Sonnenaufgang an, während die Erdoberfläche noch in völlige Dunkelheit getaucht war.
»Sehr geehrte Passagiere«, schnarrte es aus dem Lautsprecher. »Hier spricht Ihr Captain. Wir beginnen nun das Rendezvous mit Knotenstation fünf. Ich möchte Sie bitten, die Waschräume nicht mehr aufzusuchen und sich wieder anzuschnallen. Bitte klappen Sie Ihren Tisch zurück in eine aufrechte Position und genießen Sie die letzten Minuten in der Schwerelosigkeit.«
Die zweite Hälfte des letzten Satzes hatte einen deutlich sarkastischen Unterton. Mike wusste, dass die Piloten bei den Billig-Spacelines aus Kostengründen zusammen mit den Stewardessen für die Säuberung der Kabine zuständig waren. Er musste schmunzeln. Vielleicht war das im Sinne der Passagiere eine gar nicht mal so schlechte Idee, da es garantierte, dass die Piloten alle Manöver im eigenen Interesse so behutsam wie möglich durchführten.
In ihrem Falle hielt es den Captain trotzdem nicht davon ab, die Fähre für Mikes Geschmack etwas zu schnell in eine Rotation um die Längsachse zu schicken. Neil würgte wieder, und Mike zog vorsichtshalber eine neue Kotztüte aus dem Netz.
Die Erde verschwand hinter dem unteren Fensterrand, und die Sterne zogen vorbei. Für einen kurzen Moment war der schmutzig graue Halbmond zu erkennen.
Dann rückte die Knotenstation in Mikes Gesichtsfeld. Sie ähnelte einem silbern schimmernden Diskus. Hinter zahlreichen Fenstern waren helle Lichter zu sehen. Den höchsten Punkt der Struktur zierte eine große graue Parabolantenne, die in die Tiefen des Weltraums zeigte. An die Seiten der Station waren lange Ausleger angeflanscht: die Gangways zu den Raumschiffen.
Mike wandte sich an Neil. »Schau mal aus dem Fenster.«
Sein Sohn streckte kurz den Kopf nach vorne und drehte sich dann wieder zu seiner Mutter. »Ich will das nicht sehen.«
»Aber so einen Anblick wirst du lange nicht wieder haben.«
»Lass ihn doch«, sagte Ellie. »Wenn er nicht will.«
Mike verkniff sich eine Antwort.
»Ist eines davon unseres?«, fragte Ellie.
Ein halbes Dutzend Sternenschiffe hatte an der Knotenstation festgemacht. Da war ein großes, schnittig aussehendes mit langen Auslegern. Zwei weitere waren kobaltblau lackiert, hatten imposante Aufbauten und trugen das Logo der beliebten, komfortabel ausgestatteten Gulf Lines. Daneben lagen zwei graue Kriegsschiffe mit hässlichen Narben, die sich kreuz und quer über die Hüllen zogen. Löcher im Rumpf ließen einen Blick tief in die Eingeweide zu. Sie waren sicher zum Abwracken bestimmt und würden in den nächsten Tagen zu einer der Werften in der Mondumlaufbahn geschleppt werden.
Daneben war noch ein kleineres, eher unscheinbares Schiff an der Knotenstation festgemacht. Es hatte einen eleganten Bug, der an ein Kampfflugzeug des vorletzten Jahrhunderts erinnerte. Allerdings ging er hinter dem Cockpit und den Besatzungsunterkünften in eine hässliche Kombination aus Containern über, die man zusammengeschweißt hatte, ohne ästhetische Gesichtspunkte zu beachten. Eine zylindrische Triebwerkssektion bildete das Heck des Schiffes. An langen Auslegern umgaben es außerdem noch zwei Ringsektionen. Design und Technik waren für erfahrene Reisende sofort als veraltet zu erkennen. Solche Schiffe hatte man in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts gebaut, als die ersten Siedler zu den Sternen aufgebrochen waren.
Mike stöhnte im Stillen. Es war gut möglich, dass dieses Schiff älter war als er selbst. Sein Blick fiel auf den Rumpf unterhalb der Cockpitfenster, wo der Name aufgemalt war. Er war verblichen und gerade noch erkennbar.
»Das ist unser Schiff«, sagte Mike und deutete auf das Vehikel. »Das ist die Challenger.«
Ellie runzelte die Stirn. »Das ist aber ein ziemlich alter Kahn.«
Mike lächelte. »Es mag ein alter Kahn sein«, sagte er. »Aber er wird uns in ein neues Leben bringen.«
»Sie sind drei Minuten zu spät«, bemerkte Christine Dillinger, als Diego del Toro endlich den Besprechungsraum betrat.
Der Ingenieur erwiderte ihren Blick und brummte etwas, das man bei wohlwollender Interpretation für eine unterdrückte Entschuldigung halten konnte.
Christine hasste Unpünktlichkeit bei ihren Offizieren. Sie hasste Unehrlichkeit, Schlendrian, Illoyalität, Angeberei, Arroganz und Flecken auf den Uniformen ihrer Männer und Frauen. Aber Unpünktlichkeit hasste sie von allem am meisten.
Jedem anderen hätte sie nun eine Standpauke vor versammelter Mannschaft gehalten. Aber Lieutenant del Toro war ein Sonderfall. Der angegraute Ingenieur mit seinen vernarbten Händen war ein Genie. Er war einer der ganz wenigen, die diese Sorte Schiff in- und auswendig kannten und die jede Panne, jedes kritische Versagen, jede Fehlfunktion alleine oder lediglich gemeinsam mit dem Bordmechaniker beheben konnten. Jeder wusste das, vor allem er selbst, und er verstand es, dies für sich zu nutzen. Christine war überzeugt davon, dass er aktiv nach Möglichkeiten suchte, diesen Sonderstatus und die daraus resultierende Sonderbehandlung zu demonstrieren.
Endlich ließ sich der Bordingenieur auf seinem Platz zwischen Navigatorin Lena Schmitt und Steuermann Kristof Laski nieder. In der hinteren der beiden Stuhlreihen saß noch Ray Goldman, der schweigsame Mechaniker, der garantiert auch in dieser Vorbesprechung wieder stumm wie ein Grabstein sein würde.
Christine biss die Zähne zusammen und stellte sich neben Ravi Chandrasekhar, ihren Ersten Offizier. »Nun, da wir endlich vollzählig sind, kann das Briefing beginnen. Irgendwelche Fragen oder Bemerkungen vorab?«
Lena Schmitt zuckte zusammen und hob dann die Hand. »Wohin wird die Reise gehen?«
Christine seufzte innerlich. Lieutenant Schmitt neigte dazu, Fragen zu stellen, die in wenigen Sekunden ohnehin beantwortet werden würden. Das war eines der größten Talente der Navigatorin.
»Es geht nach Omicron 3.«
Christine sah in fragende Gesichter und zwang sich eine freundliche Miene auf. »Es wundert mich nicht, dass Sie von diesem Drecksloch noch nichts gehört haben. Es handelt sich um eine neue Kolonie ganz am Rande unseres Einflussbereichs, in einer Entfernung von zweihundertvierzig Lichtjahren.«
Steuermann Laski lächelte spöttisch. »Am Rande? Die überwachte Zone endet in einem Radius von hundertsechzig Lichtjahren. Dieses Omicron-System ist also weit jenseits des Einflussbereichs.«
Christine ignorierte die Bemerkung. »Omicron ist ein Stern der G-Klasse und verfügt über neun Planeten. Einer davon ist bewohnbar. Zumindest fast.«
»Fast bewohnbar, Captain Dillinger?«, wiederholte Lieutenant Schmitt.
Christine nickte. »Er befindet sich am äußersten Rand der habitablen Zone des Systems. Der größte Teil des Planeten ist von Eis bedeckt. Nur ein kleiner Streifen am Äquator verfügt über flüssiges Wasser und eine tundraähnliche Landschaft, in die einige boreale Wälder eingebettet sind.«
Del Toro verzog das Gesicht. »Und da will man eine Kolonie etablieren?«
»Es ist die einzige mehr oder weniger bewohnbare Welt in dieser Richtung. Da will man natürlich einen Stützpunkt haben.« Christine zwinkerte. »Die Kolonisten tun mir jedenfalls jetzt schon leid.«
Laski hob die Hand. »Ich würde gerne noch wissen, ob …«
Christine unterbrach ihn. »Nach dem Briefing.« Sie zeigte auf ihre Armbanduhr. »Wir sind jetzt schon spät dran.«
Der Steuermann zuckte mit den Schultern.
Christine klappte eine Mappe auf und überflog die Routenplanung und die Vorgaben der Flugkontrolle auf den Seiten dahinter. Der ganze Papierkram war zwar auch im Flugmanagement des Schiffes eingespeichert, und sie hätte nur ihr Pad auspacken müssen, um Zugriff darauf zu haben, aber für den Fall eines Systemversagens war es immer noch Pflicht, die ganzen Unterlagen auch offline mitzuführen. »Die Route ist als Direktflug geplant, so dass wir wenigstens nicht noch Zeit auf irgendwelchen Zwischenstationen verschwenden müssen. Wir fliegen einen geraden Kurs mit einem Sprung. Rektaszension achtzehn Stunden und fünfzig Minuten. Deklination minus neunundzwanzig Grad. Das liegt im Sternbild Schütze.«
»Fast genau in Richtung galaktisches Zentrum«, sagte Schmitt.
Christine nickte. »Ganz recht. Wir verlassen das Sonnensystem allerdings nicht direkt, sondern fliegen auf einem leichten Umweg, der uns aber nur einige Stunden Zeit kostet.«
»Warum der Umweg?«, fragte Ravi.
»Auf Höhe der Marsbahn finden einige Testflüge der System Defense statt. Für heute und morgen gibt es ein NOTSM der Raumflugkontrolle.« Christine blätterte in ihren Unterlagen. »Anstelle des direkten Abfluges fliegen wir über die Wegpunkte ANDIK und GOROM nach DEGOR. Das entspricht dem SID ANDIK2D. Das ist auch so bereits im Flugplan vermerkt. Unser Fenster beginnt um 1800 und dauert eine Stunde.«
»Ist der Flugplan schon im Bordcomputer?«, fragte Laski.
Christine bejahte. »Aber ich möchte, dass du jeden einzelnen Punkt noch einmal mit den Unterlagen abgleichst.«
Der Steuermann stöhnte unterdrückt und machte sich eine Notiz auf seinem Pad.
Christine blätterte wieder in den Papieren. »Wo war ich? Ach ja, hier. Jenseits von DEGOR haben wir Freigabe für den Überlichtflug. Der Sprung führt uns über eine Distanz von zweihundertvierzig Lichtjahren an den Rand des Omicron-Systems. Die Sprungdauer wurde vom Großrechner der Station mit zwo Komma fünf Millisekunden berechnet. Wenn wir dann im Omi…«
»Ist ein recht weiter Sprung für einen Kahn wie diesen«, dröhnte del Toro. »Gefällt mir nicht.«
Christine unterdrückte ein Stöhnen. Es war selten, dass ihrem Ingenieur etwas gefiel. »Was ist das Problem? Ist etwas mit dem Antrieb nicht in Ordnung?«
Del Toro rümpfte die Nase. »Mit dem Antrieb ist alles in Ordnung, gefällt mir aber trotzdem nicht.«
»Liegen wir innerhalb der Toleranz?«
»Ja, aber …«
Christine machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn es mit dem Triebwerk keine Probleme gibt und wir innerhalb der Toleranzen liegen, werden wir den Flugplan einhalten, wie wir ihn von der Planungsabteilung erhalten haben.«
Del Toro murmelte etwas, das Christine nicht verstehen konnte, aber Ray Goldman ein hämisches Grinsen entlockte.
Christine holte tief Luft. »Wenn wir im Omicron-System eingetroffen sind, fliegen wir den dritten Planeten im Direktflug an. Es gibt dort eine kleine Station im Orbit, wo die Passagiere umsteigen und die Fracht gelöscht wird. Dort werden wir den Antrieb für den Rückflug warten, was etwa eine Woche dauert. Leider gibt es auf dieser Station keine künstliche Schwerkraft und keinerlei Unterhaltungsmöglichkeiten.«
Laski riss die Augen auf. »Kein Casino? Wenigstens eine Messe mit einer Bar?«
Christine schüttelte den Kopf. »Die Station ist lediglich ein Kopplungsknoten. Waren Sie einmal im ISS-Museum?«
Laski nickte.
»Dann wissen Sie, was uns dort erwartet«, sagte Christine trocken.
»Ich muss noch mal zum Duty-free-Shop, bevor wir starten«, sagte der Steuermann zu Schmitt. Er flüsterte, aber Christine konnte ihn dennoch gut verstehen.
»Das vergessen Sie gleich wieder«, sagte sie. »Auf der Station im Omicron-System herrscht Alkoholverbot. Laut den gesetzlichen Bestimmungen gelten die Vorschriften auch für angedockte Schiffe, also werden Sie Ihren nächsten Drink frühestens nach der Rückkehr in fünf Wochen genießen können.«
Laski wurde bleich. Er biss sich auf die Lippe und sank in seinen Sessel zurück.
Christine klatschte in die Hände. »Also noch einmal in der Kurzfassung: Wir brauchen zwei Wochen für den Hinflug, eine Woche für die Wartung des Antriebs und zwei Wochen für den Rückflug. Anschließend haben Sie alle eine Woche Heimaturlaub.«
»Immerhin«, murmelte Ravi.
»Was ist mit meinem Sonderurlaub?«, fragte Schmitt.
Christine runzelte die Stirn. »Welcher Sonderurlaub?«
»Wir hatten doch drüber gesprochen.« Schmitt rückte in ihrem Sessel nach vorne. »Die Hochzeit meiner Schwester.«
Ach du Schreck! Christine hatte es ganz vergessen.
»Ist gut, Lieutenant Schmitt. Ich kümmere mich darum.«
»Ich hatte auch schon lange keinen Sonderurlaub mehr«, sagte del Toro.
»Bei dir steht die Rente bevor, Opa«, frotzelte Laski. »Hast bald Urlaub genug.«
»Träum weiter, Schätzele«, brummte del Toro.
Christine verdrehte die Augen. Der Steuermann und der mehr als doppelt so alte Ingenieur provozierten sich gegenseitig immer häufiger. Christine hatte noch nicht herausgefunden, ob die beiden eine Hassliebe verband oder einfach nur Hass.
»Stimmt doch«, bohrte Laski weiter. »Deine grauen Haare sind jetzt schon …«
Christine schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Schluss mit dem Unsinn. Dafür haben wir keine Zeit.« Sie richtete den Blick auf Lieutenant Schmitt. »Sie überprüfen zusammen mit Lieutenant Laski die Flugbahnberechnungen.«
»In Ordnung«, sagte die Navigatorin. Laski nickte.
»Lieutenant del Toro, Sie checken bitte erneut den Antrieb für den Abflug. Richten Sie Ihr Augenmerk dabei bitte auf die vorderen Lageregelungstriebwerke der Backbordgondel. Beim Andocken letzte Woche hatten wir einen Ausfall innerhalb des Sicherheitskegels. Hat mir ziemlichen Ärger mit der Flugkontrolle und der Stationsaufsicht eingebracht. Das möchte ich beim Abflug nicht noch mal erleben.«
»Sicher«, sagte del Toro knapp.
Dann wandte sich Christine an ihren Ersten Offizier. »Ravi, du gehst noch einmal durch alle Abteilungen. Kontrolliere bitte, dass die Fracht ordnungsgemäß gesichert ist, und überprüfe auch noch einmal die Passagierkabinen, bevor wir die Leute an Bord lassen. Das letzte Mal hat die Putzkolonne eine ziemlich schlampige Arbeit abgeliefert.«
»Ist in Ordnung«, sagte Ravi.
»Noch Fragen?«
Es gab keine.
»Captain Manny Wheeler«, sagte der Mann in der gepflegten dunkelblauen Uniform der raumgestützten Infanterie und schüttelte Mike die Hand.
Er war sich nicht sicher, ob er den Namen seiner Zufallsbekanntschaft richtig verstanden hatte. »Manny Wheeler?«
»Ganz recht.« Der Soldat grinste.
Mike stellte sich lediglich mit seinem Vornamen vor und erklärte dem Mann den Grund seines Fluges nach Omicron. Dabei blickte er zur Bar des Terminals, an der seine Frau zusammen mit Neil stand, um dem Jungen ein Eis zu kaufen.
Der Raum sah wie ein Flugsteig auf einem beliebigen irdischen Regionalflughafen aus. Allerdings war er deutlich in die Jahre gekommen. Wie überall in der Erdumlaufbahn waren Pflege und Wartung teuer. Der braune Teppichboden hatte schon bessere Zeiten gesehen, und auch die ehemals weißen Wände mussten dringend neu gestrichen werden. Der muffige Geruch erinnerte mehr an einen Keller als an eine Raumstation.
Das Terminal war wohl eigentlich für größere Raumschiffe gedacht, und die wenigen Passagiere der Challenger ließen die Räumlichkeit fast verlassen wirken.
Ein großes Panoramafenster erlaubte Mike eine Aussicht auf die Flanke des Schiffes, das ihn in ein neues Leben bringen würde. Einige Frauen, deren grüne Uniformen sie als Stationspersonal auswiesen, standen an einem Schalter vor der Gangway, die in das Schiff führte. Sie diskutierten miteinander und zeigten immer wieder auf einen Bildschirm, als gäbe es bei dem Boardingprozess noch Unklarheiten. Ein Monitor zeigte den Passagieren, dass die Uhrzeit für das Boarding schon um eine Viertelstunde überschritten war.
»Sie wollen wirklich als Kolonist nach Omicron?«, fragte Captain Wheeler.
Mike bejahte. »Wir wandern für immer aus.«
»Freiwillig?«
»Freiwillig.«
»Darf ich nach dem Grund fragen?«
Mike hatte eigentlich gar keine Lust auf eine Unterhaltung, aber schließlich flogen die Mitpassagiere alle nach Omicron 3, und mit vielen würden sie auch noch im Anschluss an die Landung regelmäßig zu tun haben. »Nun ja, wir wollen ein neues Leben anfangen. Das ist eigentlich alles.«
»Es wird ein ganz schön hartes Leben.«
»Das ist uns bekannt.«
Das Gegenüber stutzte. Mike hatte wohl etwas zu hart reagiert.
Schließlich setzte der Soldat eine gleichgültige Miene auf. »Ihre Sache. Geht mich ja auch nichts an.«
»Ist ein schwieriges Thema.« Mike lächelte besänftigend. »Warum werden Sie nach Omicron verlegt? Gehören Sie zu den anderen Soldaten?« Er zeigte auf zwei Uniformierte, die mit jeweils einem Bier an der Bar saßen. Einige weitere liefen im Terminal herum.
Wheeler nickte. »Ja, das ist meine Gruppe. Ich bin der Vorgesetzte. Wir gehen nach Omicron 3, um die Kompanie zu verstärken.«
»Warum hat man dort überhaupt eine Einheit stationiert?«
Captain Wheeler lachte leise. »Ja, ja. Das System liegt weit weg von allen etwaigen Frontlinien. Es geht dem Oberkommando wohl hauptsächlich darum, Präsenz zu zeigen. Außerdem soll die Anwesenheit der Streitkräfte potenzielle Piraten abschrecken.«
Mike glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Piraten?«
»Allerdings. Haben Sie nichts von den Vorfällen im Ellington-System gehört?«
Mike schüttelte den Kopf. Er hatte zuletzt nicht viel Zeit auf Nachrichten verschwendet. »Was war denn da?«
»Piratenüberfall. Sind am Rande der Kolonie gelandet und haben die Nahrungsmittel- und Ressourcenspeicher geplündert. Dann sind sie in die Siedlung eingedrungen und haben zig Frauen vergewaltigt. Dreißig Kolonisten sind gestorben.«
Mike machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ellington ist Ewigkeiten von Omicron entfernt. Alles ist Ewigkeiten von Omicron entfernt.«
Der Captain wiegte den Kopf. »Ich bin mir da nicht so sicher. Das Oberkommando hält die aufkommende Piraterie für ein großes Problem. Sowohl wir als auch das Barnard’sche Imperium haben im Krieg Milizen eingesetzt und hochgerüstet. Nach dem Friedensvertrag haben sich viele nicht entmilitarisiert und sind spurlos verschwunden.«
Mike zuckte mit den Schultern. »Werden sich einfach aufgelöst haben und nach Hause gegangen sein.«
Captain Wheeler nestelte an seiner Krawatte herum, als wäre es ihm unangenehm, Mike zu widersprechen. »Bei manchen wird das gewiss der Fall sein, aber vergessen Sie nicht, dass einige unabhängige Gruppierungen ganz hervorragend am Krieg verdient haben. Denken Sie nur mal an die Nachtwölfe. Für ein bisschen Radau hinter den feindlichen Linien haben die jahrelang im Luxus geschwelgt. Nach dem Ende der Kampfhandlungen sind dann alle Einnahmequellen weggebrochen. Nicht jeder Partisan ist freudestrahlend zur Arbeit auf die Felder von Ross 154c oder in die Minen auf Gibsons Planet zurückgekehrt.«
Mike fand, der Captain mochte schon recht haben. Es war besser, wenn ihre Kolonie eine gewisse Kapazität zur Verteidigung hatte. Im Fall der Fälle würde Hilfe oder Unterstützung womöglich wochenlang unterwegs sein.
»Waren Sie auch im Krieg?«, fragte der Captain. »Sie haben etwas soldatenhaft Zackiges an sich.«
Mike konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Einmal ein Soldat, immer ein Soldat. Vor allem, wenn man im Krieg gekämpft hatte. Er nickte.
»Lassen Sie mich raten.« Der Captain lächelte. »Raumflotte. Richtig?«
»Erkennt man das wirklich so leicht?«
Wheeler grinste. »Welche Einheit?«
Mike war sich nicht sicher, ob er ehrlich darauf antworten wollte. Er entschied sich schließlich dafür. Man konnte nicht ein ganzes Leben vor seiner Vergangenheit davonlaufen. »42. Bombergeschwader.«
Das Lächeln des Captains gefror. Er schluckte. »Wirklich?«, fragte er schließlich.
»Wirklich.« Mike setzte ein gezwungenes Lächeln auf.
Der Captain sah auf seine Uhr. »Na ja, das Boarding wird ja hoffentlich bald beginnen.«
»Ja, hoffentlich.«
Captain Wheeler betrachtete noch eine Weile betreten seine Schuhspitzen, dann zeigte er auf einen seiner Männer, der gerade aus den Waschräumen trat, und sagte gekünstelt dramatisch: »Ah, da ist Private Brooke. Ich habe ihn schon die ganze Zeit gesucht. Entschuldigen Sie mich.«
Mike kannte das bereits. Er hätte die Klappe halten, hätte einfach sagen sollen, er sei während des Krieges bei der 17. Raumlandedivision gewesen oder beim 5. Rettungsgeschwader geflogen. Niemand hätte das nachgeprüft. Aber er hatte es satt, sich zu verstecken. Er hatte sich die Aufträge nicht ausgesucht. Es war nicht seine Entscheidung gewesen. Er hatte seine Befehle erhalten und sie ausgeführt. Wie jeder andere der sechzehn Millionen Soldaten während des Krieges auch.
»Dad?«
Mike erschrak. Er war so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass er Neil nicht bemerkt hatte. Ellie stand am Panoramafenster und betrachtete das Sternenschiff.
Mike musste sich zwingen, seinem Sohn ein Lächeln zu schenken. »Was ist denn, Neil?« Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme zitterte.
»Du kennst dich doch aus mit Raumschiffen, oder nicht?«
Mike bejahte. »Immerhin habe ich selbst schon Raumschiffe geflogen.«
»Kannst du mir was erklären?« Neil ergriff Mikes Hand und zog ihn mit sich zum Fenster.
»Was möchtest du denn wissen?«
»Wofür sind die großen Ringe da?« Neil zeigte auf den hinteren Teil des Schiffes, wo die Speichen am Rumpf festgemacht waren. »Mama sagt, das macht die Schwerkraft.«
»Nein.« Mike schüttelte den Kopf und warf Ellie einen schnellen Blick zu. Seine Frau grinste entschuldigend.
»Die Schwerkraft wird im Rumpf mit Hilfe eines künstlichen Gravitationsfeldes erzeugt. Das Sternenschiff braucht keine Rotation, um mittels Zentrifugalkraft Schwerkraft zu erzeugen.«
Ellie verdrehte die Augen und grinste.
»Zentralkraft?«, fragte Neil staunend.
»Zentrifugalkraft.« Mike sprach leise. Das konnte Neil mit seinen fünf Jahren natürlich nicht verstehen.
»Und wozu sind dann die Ringe da? Und warum leuchten sie so blau?«
»Die Ringe gehören zum Antrieb. Im Inneren werden Ionen bis fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt.« Zu oft hatte man ihm diese Frage in der Ausbildung gestellt und ihm eingetrichtert, dass es darauf nur eine richtige Antwort gab. »Resonanzen in den gegenläufig beschleunigten Teilchenströmen sorgen für Gravitationswellen, die das Schiff in eine Blase hüllen, und diese Blase trennt es wiederum vom Rest des Universums ab. Der Casimir-Effekt sorgt dann für eine Beschleunigung des Schiffes auf Überlichtgeschwindigkeit.«
Neil sah ihn erschrocken an.
Ellie begann zu lachen. »Ach, Mike.«
»Das habe selbst ich nicht verstanden«, sagte eine Frau mit langen braunen Haaren, die einen Meter entfernt an der Glasscheibe stand. Sie trug ein adrettes Kostüm und lächelte verschmitzt.
»Was?«, fragte Neil.
Mike stimmte in das Lachen seiner Frau mit ein. Die Situation war einfach zu absurd. »Entschuldigung. Man kann eben manchmal nicht aus seiner Haut.«
Er kniete sich neben Neil und legte seine Hand auf die Schulter des Jungen. »Das war auch wirklich zu kompliziert. Die Ringe sind jedenfalls dazu da, dass das Schiff ganz schnell fliegen kann und uns zu unserem neuen Zuhause bringt. Was bei einem Flugzeug die Flügel sind, sind bei diesem Schiff die Ringe.«
»Aber warum leuchten sie blau?«, beharrte Neil.
»Die Ringe sind große Magnete. Die am Raumschiff müssen hochfest sein und sind darum aus einer Kobaltlegierung. Und die schimmert blau im Sonnenlicht.«
»Kobalt.«
»Genau.«
»Sie kennen sich aus?«, fragte die fremde Frau und trat näher.
Mike nickte. »Ich war selber Pilot.«
»Im Krieg, nehme ich an.«
Mike nickte wieder. »Im Krieg.«
»Dann können Sie mir vielleicht eine Frage beantworten?«
»Ich werde es zumindest versuchen.«
Ellie trat interessiert neben ihn.
»Wie kommt es, dass der eigentliche Überlichtflug für uns nur einen Sekundenbruchteil dauert, im übrigen Universum aber derweil mehrere Tage vergehen?«, fragte die Frau.
»Das liegt an der Zeitdilatation. Sie ergibt sich aus Einsteins Relativitätstheorie.« Es hatte Mike sehr viel Mühe gekostet, das während seiner Pilotenausbildung zu verstehen. Dabei waren sie nicht einmal besonders tief in die Details der Theorie eingedrungen.
»Zeitdilatation«, wiederholte die Frau. Sie sprach sehr langsam, wohl, damit sie sich bei dem komplizierten Wort nicht verhaspelte.
»Je mehr man sich der Lichtgeschwindigkeit annähert, umso weniger Zeit vergeht für den Reisenden. Wenn Sie fast mit Lichtgeschwindigkeit nach Alpha Centauri reisen, dauert das für Sie im Extremfall nur Sekunden, während draußen im Universum viereinhalb Jahre vergehen, denn das System ist viereinhalb Lichtjahre von uns entfernt. Wenn Sie sich auf einen Lichtstrahl setzen könnten, würde gar keine Zeit ablaufen.«
Die Frau runzelte die Stirn. »Aber wir fliegen ja nicht mit Lichtgeschwindigkeit, sondern machen einen Überlichtsprung, wenn ich das richtig verstanden habe.«
Mike schüttelte den Kopf. »Das ist nur eine Illusion. Im Grunde fliegen wir mit annähernd Lichtgeschwindigkeit, was die Entfernung wegen der Lorentzkontraktion fast auf null reduziert. Der Casimir-Effekt dämpft dann noch den Zeitverlust durch die Zeitdilatation, weshalb der Flug wie ein Überlichtflug wirkt. Darum vergehen draußen nicht Jahre, sondern nur Tage. Zukünftige Antriebe werden den Zeitverlust weiter reduzieren.«
Die Frau winkte ab. »Ich werde das niemals verstehen. Aber eigentlich muss ich das ja auch nicht.«
»Trösten Sie sich.« Ellie lachte. »Mein Mann hat mir das schon so oft erklärt, aber ich habe es bis heute nicht verstanden.«
»Dann bin ich ja beruhigt.« Das dezente Lächeln der Frau war sehr sympathisch, aber sie wirkte auch ein wenig zurückhaltend.
Ellie streckte ihre Hand aus. »Ich bin Ellie Warnock, das ist mein Mann Mike, und der kleine Bursche hier heißt Neil.«
»Ich bin nicht klein«, protestierte Neil.
Die Frau gab Ellie und Mike die Hand. »Natasha Beckwith.«
Sie strich Neil über die Haare. Das mochte der Junge überhaupt nicht. Er verzog das Gesicht und drückte sich seiner Mutter von hinten an die Beine.
»Sind Sie Siedler?«, fragte Natasha.
Ellie nickte.
»Wir haben ein Grundstück auf Omicron 3 gekauft und wandern dorthin aus«, sagte Mike.
»Sehr abenteuerlustig. Dazu hätte ich nicht den Mut«, sagte Natasha.
»Was machen Sie auf Omicron 3?«, fragte Ellie.
»Ich bin Buchhalterin bei CGW.« Natasha lachte leise. »Die Administration von Omicron 3 hat einen Vertrag mit meiner Firma, und die schickt mich nun für drei Monate dorthin, um das Controlling zu unterstützen.«
Mike hob die Augenbrauen. »Buchhalterin?« Er konnte sich die Frau nicht den ganzen Tag in einem Büro vor einem Computer mit Finanzsoftware vorstellen.
Natasha bejahte.
»Wo kommen Sie denn als Gastarbeiterin unter?«, fragte Ellie.
Die Frau schien es selbst noch nicht genau zu wissen. »Es gibt wohl ein Wohnheim für befristet Beschäftigte. Meine Firma sorgt normalerweise dafür, dass die Unterkünfte nicht allzu spartanisch sind.«
»Fliegen Sie oft zu anderen Sternen?«, fragte Neil.
»Ja, Klei… Ja, ich werde in den Außendienst geschickt, wie man dazu in unserer Firma sagt. Zuletzt war ich auf Alpha Centauri A2 und davor im System von Ross 124. Drei Monate Außendienst, ein Monat Urlaub.«
So ähnlich hätte Mikes Militärdienst ablaufen sollen, wenn der Krieg nicht ausgebrochen wäre. »Respekt, Respekt«, murmelte Mike.
»Haben Sie Familie?«, fragte Ellie.
Natasha schüttelte den Kopf. »Nein, dann würde ich mir dieses Leben nicht antun. Ich habe einen Lebensgefährten, der ebenfalls bei CGW im Außendienst arbeitet.«
»Und das funktioniert auf Dauer?«
Natasha fuhr sich durch die Haare. »Es kann für eine Beziehung sogar erfrischend sein, wenn man sich regelmäßig zwei Monate lang nicht sieht. Wir haben nicht vor, zu heiraten, und Nachwuchs kommt für uns beide nicht in Frage, also funktioniert es.«
»Also, für mich wäre das nichts«, sagte Ellie. »Es war hart genug, fünf Jahre auf meinen Mann verzichten zu müssen, als der Krieg ausgebrochen ist. Jetzt würde ich ihn nicht mehr hergeben.«
Mike blieb nichts anderes übrig, als zu nicken. Im Grunde hatte Ellie recht. Dadurch, dass er zum Kolonisten wurde, war sein Reservistenstatus hinfällig. Selbst bei einem erneuten Kriegsausbruch konnte man ihn nicht mehr einziehen. Bestenfalls die Zuordnung zu einer regionalen Miliz wäre denkbar, aber selbst dann würde er auf Omicron 3 bleiben, um sein Land zu bestellen.
Ein Mann mit einer großen, runden Brille näherte sich. Seine braune Stoffhose und die gleichfarbige Weste wirkten abgetragen. »Entschuldigen Sie. Ich habe Ihre Unterhaltung zufällig mit angehört. Ich wusste nicht, dass noch weitere Siedler an Bord sind, darum wollte ich mich kurz vorstellen. Mein Name ist Gerry Paine.«
Sie gaben sich die Hand. Mike hatte auch nicht geahnt, dass es weitere Kolonisten an Bord gab. Die Agentur hatte nur von Personal für die Administration gesprochen. Mike stellte sich und seine Familie vor, und auch Natasha begrüßte den Mann.
»Wo haben Sie Ihren Grund?«, fragte Gerry. »Im östlichen oder südlichen Siedlungsbereich?«
»Im südlichen«, antwortete Mike. »Wo die Reaktoren sind.« Diese Tatsache hatte Diskussionen mit Ellie hervorgerufen, aber für die andere Siedlung waren sie zu spät gekommen.
Gerry grinste. »Dann sind wir womöglich bald Nachbarn.«
Der Mann winkte, und wenige Augenblicke später gesellten sich eine kleine blonde Frau und ein ebenso blondes Mädchen zu ihnen, das ein kleines braunes Plastikpferd in der Hand hielt.
»Das sind meine Frau Robin und meine Tochter Mary.«
Mike stellte seine Familie und Natasha vor.
»Das ist Orry«, sagte das Mädchen und hielt Neil das Pferd entgegen.
Neil trat einen Schritt zurück. »Ich mag Pferde nicht. Die stinken.«
Marys Mundwinkel wanderten nach unten. Dann drehte sie sich abrupt um und stellte sich hinter ihre Mutter, die laut lachte.
»Kinder.« Mike zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Dafür lieben wir sie«, stimmte Gerry Paine ihm zu.
Natasha grinste, wurde aber sogleich wieder ernst. »Ich dachte eigentlich, dass die erste Siedlergruppe längst nach Omicron 3 transportiert wurde. Oder gehört ihr schon der zweiten Gruppe an?«
Es entging Mike nicht, dass Natasha plötzlich zur vertraulichen Anrede gewechselt war. Aber sie hatte schon recht. Sie würden sich bei der geringen Zahl an Menschen auf Omicron 3 wahrscheinlich immer wieder über den Weg laufen. Es war sinnvoll, so früh wie möglich Freundschaften zu schließen.
»Wir wollten eigentlich nach Aldebaran gehen«, sagte Gerry. »Aber wir haben uns kurzfristig umentschieden.«
»Was war der Grund dafür?«, wollte Ellie wissen.
»Die Umweltbedingungen«, antwortete Robin Paine. »Man hat den Standort der geplanten Kolonie im Aldebaransystem wegen geologischer Probleme auf einen anderen Kontinent verschoben. Die neue Siedlung befindet sich nicht mehr in der Tundra, sondern in einem Wüstenklima. Wir haben aber vorher in Alaska gelebt und dort sowohl Weizen angebaut als auch Nerze gezüchtet. Das hätten wir im Aldebaransystem nun nicht mehr machen können, und so hat man uns in letzter Minute ein Grundstück im Omicron-System zugeteilt. Für uns passt das einfach besser.«
»Warum seid ihr von Alaska weggegangen? Hat es mit dem Erdbeben zu tun?«, fragte Mike.
Gerry nickte. »Ja, das ist richtig. Das ›Range Quake‹ hat unsere Farm restlos zerstört. Mein Bruder …« Er stockte, und seine Augen wurden feucht. »Wir haben die Ranch gemeinsam unterhalten. Mein Bruder, seine Frau und ihre fünf Kinder wurden bei einem Erdrutsch getötet, als das Beben die Flanke eines nahen Berges aufriss.« Gerrys Lippen bebten.
»Tut mir leid«, sagte Ellie betroffen.
Gerry drehte sich weg und schluchzte. Mary ging zu ihrem Vater und umklammerte seine Beine. Die Leute taten Mike leid. Er war so vielen Familien begegnet, die im Krieg alles verloren hatten. Man vergaß schnell, dass es auch noch Naturkatastrophen gab, die die Menschen um ihre Existenz brachten.
»Wir hätten die Farm wieder aufbauen können.« Robin wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Aber wir waren nicht dazu imstande. Wir wollten einfach nur weg. Darum haben wir beschlossen, auf einem anderen Planeten neu anzufangen.«
Das verstand Mike gut.
»Und warum seid ihr bei den Nachzüglern?«, fragte Natasha, an Ellie gewandt.
»Der Papierkram.« Ellie lächelte. »Mein Mann war noch als Reservist gemeldet, obwohl man ihn längst aus dem Militärdienst entlassen hatte. Darum wurde der Auswanderungsantrag zunächst abgelehnt.«
»Ich dachte, die Regierung ermutigt potenzielle Siedler und unterstützt sie, wo es nur geht«, wunderte sich Natasha.
»Das ist richtig«, entgegnete Mike. »In meinem Fall gab es aber noch ein offenes Gerichtsverfahren, das zunächst abgeschlossen werden musste.«
Das war natürlich nur die halbe Wahrheit.
»Als der Papierkram dann endlich vorlag, war der Siedlertransport schon abgeschlossen.« Ellie wollte offenbar schnell das Thema wechseln. »Wir mussten zwei Monate warten, bis wir für den heutigen Versorgungsflug eingeteilt wurden.«
Gerry drehte sich wieder herum und rieb sich mit der Hand über das gerötete Gesicht. »Entschuldigung.«
»Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest«, sagte Mike.
Ganz abgesehen davon, dass sie bald Nachbarn waren und er Gerry und seine Frau sehr sympathisch fand, konnte es für Mike und seine Familie von Vorteil sein, sich mit den Paines anzufreunden, da sie offensichtlich über große Kompetenz im Hinblick auf die Landwirtschaft in frostigen Gebieten verfügten. Mike und Ellie hatten zwar einen Lehrgang mitgemacht, und sie würden auch fortlaufend Unterstützung von der Administration auf Omicron 3 erhalten, aber jahrelange Erfahrung konnte das natürlich nicht ersetzen. Wenn die beiden Familien gut miteinander auskamen, war es vielleicht auch irgendwann eine Option, die Farmen zusammenzulegen. Mit Nerzfellen hatten sie sogar die Möglichkeit, Waren zu exportieren, statt nur für den Eigenbedarf der Kolonie zu produzieren. Dank der reduzierten Importzölle von neuen Siedlungen konnten sie hier womöglich wirklich etwas Geld machen. Mike nahm sich vor, Gerry während des zweiwöchigen Fluges zumindest einmal auf diese Idee anzusprechen. Bis dahin würde er nach weiteren Gemeinsamkeiten suchen.
»Du hast im Krieg gedient?«, fragte Gerry.
Mike nickte. »Ja, ich war Pilot«, erwiderte er knapp. Er wollte verhindern, über Details zu sprechen. Irgendwann würde er Gerry sagen müssen, was genau er im Krieg getan hatte, aber das konnte warten, bis sie sich besser kennengelernt hatten.
»Mich würde interessieren, wer die anderen Passagiere sind.« Robin sah sich um. »Habt ihr schon jemanden kennengelernt?«
Mike zeigte zu Manny Wheeler, der mit seinen Männern und Frauen an der Bar stand und sich an ein Bierglas klammerte. »Ja, da ist eine Gruppe von sieben Soldaten, die zur Verstärkung der dortigen Garnison mitfliegen.«
Gerry runzelte die Stirn. »Es gibt einen Außenposten des Militärs auf Omicron? So weit draußen?«
Einige Meter neben ihm hatten sich Neil und Mary an das Fenster gestellt und betrachteten das Sternenschiff. Mike trat einen Schritt auf Gerry zu. Es war nicht nötig, dass die Kinder die Unterhaltung mitbekamen. »Ich habe mit dem Captain gesprochen. Das Oberkommando hat wohl Angst vor Piratenüberfällen, so dass auch auf den äußeren Kolonien eine Militärpräsenz vorgesehen ist.«
»Piraten?« Natasha verzog das Gesicht.
Mike hatte selbst seine Zweifel.
»Ich hoffe, das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme«, sagte Natasha. »Ich habe jedenfalls auch einige Leute vor dem Start in Cape Canaveral kennengelernt, die mit uns nach Omicron 3 fliegen. Seht ihr den Typ da drüben?« Sie deutete auf einen mittelgroßen Mann mit sorgfältig gescheitelten braunen Haaren, der an einem Tisch saß und an einer Tasse Kaffee nippte. »Der heißt Baumann und kommt aus Deutschland. Er ist Reaktortechniker. Er soll den Verantwortlichen im Kraftwerk ablösen, der sich wohl als wenig kompetent herausgestellt hat. Sagt Baumann zumindest.«
Dann wies sie auf einen großgewachsenen Mann in einem dunklen Anzug mit grauer Krawatte, der aus einer goldenen Brille auf einige Papiere starrte, die er vor sich auf einem Stehtisch ausgebreitet hatte. In der Rechten hielt er ein Glas Whisky.
»Mit dem habe ich mich ebenfalls unterhalten«, sagte Natasha. »Der ist Geschäftsmann und hat eine Firma, die mit Rohstoffen handelt. Er fliegt nach Omicron, um mit den Geologen zu reden. Er vermutet dort einige Vorkommen und überlegt, Claims zu beanspruchen.«
»Rohstoffe?«, fragte Gerry. »Ich habe gehört, dass die Kolonie nicht gerade reich an Rohstoffen sein soll.«
Das war auch für Mike neu. Er hatte die Untersuchungsberichte der ersten Expedition vor zwei Jahren durchgelesen. Die Autoren des Berichts gingen davon aus, dass sogar Metalle wie Eisen und Aluminium importiert werden mussten. Von Edelmetallen hatte man mit den Spektrometern aus dem Orbit bestenfalls Spuren gefunden.
»Nach was sucht er denn?«, fragte Ellie.
Natasha schüttelte den Kopf. »Das hat er mir nicht sagen wollen.«
Robin starrte den Mann an seinem Stehtisch an. »Ob das mit der Rohstoffsuche nur ein Vorwand ist? Vielleicht hat er etwas ganz anderes vor?«
»Und was?«, forschte Gerry.
»Das weiß ich doch nicht«, erwiderte Robin.
Gerry grinste. »Meine Frau hat manchmal eine etwas paranoide Ader.«
Robin schlug ihm mit dem Handrücken gegen den Oberarm. »Das musst du gerade sagen. Wer hat denn immer den Gouverneur verdächtigt, die Verkaufspreise für Weizen in den Keller zu drücken?«
Gerry hob die Hände. »Gut. Gut. Sind wir beide halt etwas paranoid.«
»Was heißt paranoid?«
Robin bückte sich zu ihrer Tochter hinab, die vom Fenster zurückgekommen war. »Zum Beispiel, wenn du glaubst, dass dich alle anstarren. Und dann guckst du hin, aber dich starrt gar keiner an.«
Mike sah sich nach Neil um, der nach wie vor am Fenster stand und hinausschaute.
»Warum sollte mich jemand anstarren?«
Robin umarmte ihre Tochter und richtete sich wieder auf.
»Wer ist denn der finster aussehende Typ?«, fragte Ellie.
Mike drehte sich um. »Wer? Wen meinst du?«
»Der dahinten auf der Treppe sitzt.«
Jetzt erkannte Mike, wen seine Frau meinte. Hinter der Bar befand sich ein schmaler Treppenaufgang zur Aussichtsgalerie. Auf der zweiten Stufe saß ein mittelgroßer, muskulöser Mann. Sein Schädel war kahl rasiert, was einen guten Blick auf ein Tattoo ermöglichte, das sich wie eine Flamme von der Schulter über den Hals bis zur Schädeldecke zog. Der Mann hatte die Beine ausgestreckt und den Kopf nach hinten gelegt. Er schien zu dösen, was man wegen der dunklen Sonnenbrille aber nicht genau sagen konnte.
»Keine Ahnung«, sagte Natasha. »Der ist mir überhaupt noch nicht aufgefallen. In der Raumfähre von Cape Canaveral saß er jedenfalls nicht.«
»Vielleicht ist er von einer anderen Station hierhergekommen«, vermutete Mike. »Oder von einem anderen Planeten im Sonnensystem.«
»Jedenfalls wirkt er irgendwie gruselig«, erklärte Ellie.
»Ich finde, du übertreibst«, meinte Mike. Sie hatte dem Mann nicht einmal in die Augen sehen können, geschweige denn mit ihm gesprochen, wie wollte sie sich ein Urteil über ihn bilden? Er kannte viele ehemalige Kameraden, die seelisch verwundet aus dem Krieg zurückgekommen waren und die nun auf ihre Mitmenschen finster wirkten. Er nahm sich vor, nach dem Abflug mit dem Mann zu sprechen. Man würde sich sicher in der Messe einmal zu Gesicht bekommen. Vielleicht war er wirklich Soldat gewesen.
»Siebzehn«, verkündete Natasha trocken.
»Bitte?«
»Ich glaube nicht, dass noch jemand kommt. Also sind es siebzehn Passagiere.«
»Nicht gerade viel«, sagte Ellie.
Da hatte sie recht. »Kein Wunder, dass man uns ein so altes Schiff zugeteilt hat.«
Gerry blickte aus dem Fenster. »Aber für die Anzahl an Leuten ist es doch immerhin ein recht großes Schiff.«
»Ich denke, dass wir noch einige hundert Tonnen Fracht an Bord haben«, vermutete Mike mit Blick auf die angeflanschten Container.
»Kein Wunder«, meinte Robin. »Bei den klimatischen Bedingungen auf Omicron werden einige Jahre vergehen, bis wir unseren Bedarf an Nahrungsmitteln selbst tragen können.«
»Ich frage mich, wann wir endlich an Bord gehen können«, sagte Ellie.
Neil war vom Fenster zurückgekehrt und stellte sich neben seine Mutter.
Mike blickte auf seine Armbanduhr. Seine Frau hatte recht. Die Zeit für den Beginn des Boardings war schon um fast eine Stunde überschritten.
Natasha seufzte und ging zum Schalter des Boardingpersonals. Nachdem sie einen Moment mit einer jungen, blonden Frau gesprochen hatte, kam sie zurück. »Es geht wohl jeden Moment los.«
»Gab es denn Probleme an Bord?«, fragte Robin.
Natasha hob die Arme. »Keine Ahnung. Davon hat sie nichts gesagt.«
Robin wandte sich an Mike. »Sie kennen sich doch aus.«
Mike sah sie fragend an.
»Ist es gefährlicher, auf so einem alten Schiff zu fliegen?«
Mike lächelte und bemühte sich um die Demonstration von Zuversicht. »Überhaupt nicht. Die Schiffe dieser Baureihe gelten als die zuverlässigsten, die jemals gebaut wurden.« Dass es in der letzten Zeit Probleme mit den Überlichttriebwerken dieses Schiffstyps gegeben hatte, erwähnte er nicht.
»Da hörst du es«, sagte Gerry mit leicht überheblicher Stimme. »Es kann gar nichts passieren.«
»Ich fliege nicht gerne«, erklärte Robin mit einem entschuldigenden Lächeln. »Weder mit Flugzeugen noch mit Raumfähren. Und mit einem Sternenschiff in einem Sekundenbruchteil über eine solch gewaltige Entfernung zu springen, das macht mir richtig Angst.«
Mike wandte den Kopf. Neil hatte eine Brotdose aus seinem Rucksack genommen und bot gerade Mary die Hälfte seiner Knusperstange an. Das Mädchen griff sie, ohne zu zögern, und stopfte sie sich in den Mund. Dann flüsterte sie Neil etwas ins Ohr, und die beiden rannten in Richtung Fenster davon.
»Es ist wirklich selten geworden, dass irgendetwas bei einem Überlichtflug schiefläuft«, sagte Natasha.
»Erinnert ihr euch noch an die Artania letztes Jahr?«, wandte Robin ein. »Da ist es schiefgelaufen.«
Mike verkniff sich ein Augenrollen. Es war klar, dass der Name bei einer Diskussion über Flugsicherheit unweigerlich fallen musste. »Ja, das ist richtig. Aber denke einmal daran, wie viele Schiffe inzwischen jeden Tag im Überlichtflug durch den Weltraum reisen. Alleine auf der Rennstrecke zwischen dem Sonnensystem und Barnards Stern sind inzwischen jeden Tag Tausende kleine und große Schiffe unterwegs, neue und alte, ohne Probleme. Man schätzt, dass jetzt, nach dem Krieg, täglich mindestens zwanzigtausend Vehikel eine interstellare Reise machen.«
»Aber das ändert nichts daran, was mit der Artania passiert ist«, beharrte Robin. »Sie ist nie wieder aufgetaucht.«
»Die meisten Experten meinen, dass sie zusammen mit dem Triebwerk explodiert ist und niemand an Bord etwas gemerkt hat«, erklärte Gerry.
»Man darf nicht an diese Einzelschicksale denken«, sagte Mike mit ruhiger Stimme. »Ich habe im Krieg Hunderte Sprünge gemacht, und selbst mit bei Einsätzen schwer beschädigten Schiffen hat es im Überlichtflug niemals Probleme gegeben. Wenn eines von zehn Millionen bei einem Überlichtflug Probleme hat, dann ist das Risiko, in der nächsten Stunde an einem Herzinfarkt zu sterben, viel größer.«
Mike wusste nicht, ob dieser Vergleich stimmte, aber er hatte offensichtlich Eindruck hinterlassen. Die Frau entspannte sich zusehends.
Er lächelte wieder. »Sie müssen sich nicht die geringsten Sorgen machen.«
»Scheiße.« Christine holte den kleinen silbernen Metallrahmen mit dem Bild ihrer Tochter aus der Reisetasche und machte ihn mit einem Magnet über dem Bett fest.
Ich habe es schon wieder vergessen!
Nadine würde wütend werden, wenn sie wüsste, dass ihre Mutter immer noch das alte Bild auf ihre Dienstreisen mitnahm. Die Zöpfe fand sie längst lächerlich. Christine musste auf jeden Fall dran denken, es abzuhängen, wenn sie eine Videoübertragung mit Nadine aufrief. Sie nahm sich vor, es durch ein neues zu ersetzen.
Sie legte ihre Klamotten säuberlich in den schmalen Spind, genau so gefaltet, wie es die Fluggesellschaft von ihren Offizieren erwartete, ganz unabhängig davon, dass es sowieso niemals jemand kontrollieren würde. Die Whiskyflasche versteckte sie hinter den Slips, die sie vor zwei Tagen in Orlando noch schnell gekauft hatte, da sich ihre Größe schon wieder geändert hatte.
Leider nicht zu meinem Vorteil.
Sie schloss den Schrank mit einem Tritt und nahm sich vor, auf dieser Reise endlich mal den Raum mit den Fitnessgeräten aufzusuchen. In ihrem Alter konnte sie sich nicht mehr damit herausreden, dass körperliche Betätigung nur Zeitverschwendung sei.
Christine setzte sich an den Schreibtisch, der die andere Hälfte der winzigen Kabine einnahm. Ein Fenster gönnten diese veralteten Schiffe weder den Offizieren noch den Passagieren in ihren Privatkabinen.
Sie nahm die Mappe mit den Flugdokumenten aus ihrer Tasche und breitete die Papiere vor sich aus. Nacheinander ging sie jedes einzelne von ihnen durch. Christine hasste es, schlecht vorbereitet auf einen Flug zu gehen, und erwartete das akribische Studium der Flugpläne auch von jedem ihrer Offiziere. Aber sie konnte sich auf ihre Männer und Frauen verlassen. Vielleicht mit Ausnahme von del Toro, doch dessen Qualitäten wogen seine sonstigen Defizite auf.
Christine klappte die Sternkarte auseinander, auf der mit einem weißen Permanentmarker ihr programmierter Kurs eingezeichnet war. Nach all den Jahren im Dienst von Handelsflotte und Fluggesellschaften grenzte es für sie immer noch an ein Wunder, eine solch große Entfernung von über hundert Lichtjahren im Bruchteil einer Sekunde zurückzulegen. Als sie sich mit sechzehn für die Raumfahrt zu begeistern begann, stellten Flüge über einige wenige Lichtjahre zu Nachbarsternsystemen noch eine technische Herausforderung dar. Die Menschheit war in den letzten fünfzig Jahren weit gekommen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass vor achtzig Jahren noch nicht einmal bemannte Flüge zum Mars machbar gewesen waren.
Ihre Begeisterung für die Raumfahrt hatte angehalten, und sie war tatsächlich von der Raumpilotenakademie aufgenommen worden.
Es hatte sie damals genervt, ihre Ausbildung in der Flotte zu machen, aber weder sie noch ihre Eltern hätten sich einen Pilotenschein mit STPL an einer kommerziellen Flugschule leisten können. Einen Kredit hätte ihr keine Bank des Sonnensystems gewährt.
Allerdings hatte sie ihre Militärkarriere bereits bei der erstbesten Gelegenheit beendet, denn über die Vorträge zu Raumkampftaktik und Bombentechnik hatte sie ihre pazifistische Ader entdeckt.
Schließlich war Christine lange als Kommandantin verschiedener Frachter in der Handelsflotte tätig gewesen, bevor sie ihre Lizenz auf Passagierraumschiffe umschreiben ließ, in der Hoffnung, mehr Zeit bei ihrer Familie verbringen zu können, was sich im Nachhinein als Trugschluss erwiesen hatte.
Christine seufzte und widmete sich wieder der Sternkarte. Der Kurs führte dicht an einigen anderen Systemen vorbei, was sich als nützlich erweisen konnte, wenn der Antrieb vorzeitig abschaltete, was hin und wieder bei Schiffen dieses Typs infolge von Fehlkalkulationen des anfälligen Bordcomputers vorgekommen war. Aber im Grunde rechnete sie nicht mit Problemen.
Sie steckte die Sternkarte in eine Schublade. Auf der Brücke war diese grobe zweidimensionale Projektion sowieso nicht hilfreich. Im Fall eines Systemversagens waren sie auf die dreidimensionalen Hologramme des Bordcomputers angewiesen.
Christine holte die Passagierliste aus der Mappe und überflog sie. Nur siebzehn Gäste gab es auf diesem Flug. Und das bei einer Kapazität von dreißig. Die Gesellschaft würde nicht viel Gewinn machen. Aber es war ihr ganz recht. Weniger Passagiere bedeutete weniger Ärger. Es kam auf jedem Flug vor, dass sich erboste Fluggäste beim Captain meldeten und sich über den mangelnden Luxus ihrer Kabinen oder die erbärmliche Auswahl der Robotküche ausließen. Die Challenger war nun einmal ein altes Linienschiff, dessen Hauptverwendungszweck der Frachtverkehr war.
Christine grunzte. Die Leute machten heute einfach zu viele Kreuzfahrten auf Luxusschiffen mit Bespaßung von morgens bis abends und konnten keine zwei Wochen mehr in einer minimalistischen Umgebung ertragen, obwohl Ruhe und Einsamkeit dem Geist auch mal ganz guttaten.
Auf einmal erregte ein Detail auf der Liste ihre Aufmerksamkeit.
Warnock. Mike Warnock.
Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört.
Aber wo nur?
Jemand betätigte den Türsummer, und sie zuckte zusammen.
Dieses Scheißding ist definitiv zu laut.
»Wer stört?«, rief sie, streckte aber gleich die Hand aus, um den Öffner zu drücken. Die Tür fuhr zischend in die Wand.