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Beschreibung

Antisemitismus ist in Deutschland ein beständiges Problem. Von der Öffentlichkeit verpönt, bestehen Ressentiments gegen Juden etwa in verkürzter Kapitalismuskritik oder in der radikalen Ablehnung des Staates Israel. Mit der zunehmenden Einwanderung nach Deutschland verschärft sich diese Konstellation: In der migrationsfeindlichen Abwehr gegen fremd gemachte Andere wird der Antisemitismus derer, die sich zu einer national definierten Mehrheitsgesellschaft zählen, oft den angeblich Fremden zugeschrieben. Der Band fragt, wie Bildungsarbeit auf diese Entwicklung reagieren kann.

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Meron Mendel, Astrid Messerschmidt (Hg.)

Fragiler Konsens

Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft

Unter Mitarbeit von Tom David Uhlig

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Antisemitismus ist in Deutschland ein beständiges Problem. Von der Öffentlichkeit verpönt, bestehen Ressentiments gegen Juden etwa in verkürzter Kapitalismuskritik oder in der radikalen Ablehnung des Staates Israel. Mit der zunehmenden Einwanderung nach Deutschland verschärft sich diese Konstellation: In der migrationsfeindlichen Abwehr gegen fremd gemachte Andere wird der Antisemitismus derer, die sich zu einer national definierten Mehrheitsgesellschaft zählen, oft den angeblich Fremden zugeschrieben. Der Band fragt, wie Bildungsarbeit auf diese Entwicklung reagieren kann.

Vita

Dr. Meron Mendel ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Dr. Astrid Messerschmidt ist Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Wuppertal.

Inhalt

Andreas Eberhardt: Grußwort

Meron Mendel und Astrid Messerschmidt: Einleitung

Kommunikationsbezogene Antisemitismuskritik

Antisemitismuskritik im Kontext von Rassismus

Antisemitismuskritik im Kontext von Erinnern, Gedenken und Religion

Psychosoziale und gesellschaftstheoretische Antisemitismuskritik

Literatur

I. Kommunikationsbezogene Antisemitismuskritik

Sebastian Winter: (Un-)Ausgesprochen: Antisemitische Artikulationen in der Alltagskommunikation

Latenz und Manifestation

Wahnhafter Habitus

Hassende Gemeinschaft

Erlösung durch Erinnerung?

Literatur

Heike Radvan: Die Bedeutung von Kommunikation im Umgang mit Antisemitismus am Beispiel der offenen Jugendarbeit

1. Kommunikatives Handeln im pädagogischen Umgang mit Antisemitismus

1.1 Zum Begriff Antisemitismus

1.2 Zum pädagogischen Gespräch in der offenen Jugendarbeit

2. Wahrnehmungshaltungen und Wege der Kommunikation

2.1 Stereotypisierende Wahrnehmungshaltung und strategische Kommunikation

2.2 Immanente Wahrnehmungshaltung und symmetrische Kommunikation

2.3 Rekonstruktive Wahrnehmungshaltung und dialogische Kommunikation

3. Handlungsoptionen im Kontext eines rekonstruktiven Blicks und einer dialogischen Kommunikation

Literatur

II. Antisemitismuskritik im Kontext von Rassismus

Saba-Nur Cheema: Gleichzeitigkeiten: Antimuslimischer Rassismus und islamisierter Antisemitismus – Anforderungen an die Bildungsarbeit

»Die Muslime sind …«

Der Antisemitismusverdacht

Muslimisierende Wahrnehmung

Bildungsarbeit in Verdachtsfällen

Gleichwertigkeitsprinzip

Gleichzeitigkeiten: Antisemitismuskritik und Rassismuskritik

Literatur

Anke Schu: Inter-generationelle Narrative muslimischer Jugendlicher

Gegenwartsnarrative junger Muslime

Familiäre Erinnerungsbilder

Narrative über Juden, Israel und Antisemitismus

Hybride Narrative

Peer-Narrative

Individuelle Merkmale

Literatur

Jihan Jasmin Dean: Verzwickte Verbindungen: Eine postkoloniale Perspektive auf Bündnispolitik nach 1989 und heute

(Un-)Möglichkeit von Bündnissen heute

Multidirektionale Kritik

Ein Ausflug in die Vergangenheit

Die Guten ins Töpfchen … – Gesamtdeutsche Migrationspolitik

Strukturelle Diskriminierung?

Wer ist »die Migrationsgesellschaft«?

Sichtbare und unsichtbare Minderheiten?

Zwischen Konkurrenz und Kooperation

Feministische Bündniskonferenzen

Der Golfkrieg – ein kleiner Vorgeschmack

Schluss

Literatur

III. Antisemitismuskritik im Kontext von Erinnern, Gedenken und Religion

Matthias Heyl: Die nationalsozialistischen Massenverbrechen sind bei den Deutschen gut aufgehoben – Selbstbilder erfolgreich geleisteter Aufarbeitung in der Bundesrepublik nach 1990 und das Unbehagen an der Erinnerungskultur

Erster Exkurs – Eine Rede (1985)

Erinnerungspolitische Wende und das Unbehagen an der Erinnerungskultur

Erfolge

… über die Bande gespielt …

Zweiter Exkurs – Eine Rede (2016)

Aufgehoben

Literatur

Verena Haug: Antisemitismuskritische Bildungsarbeit in Gedenkstätten?

Antisemitismuskritische Bildungsarbeit

Gedenkstättenpädagogik: Primat der Geschichtsvermittlung

Kommunikationsräume in Gedenkstätten

Ausblick: Gedenkstättenpädagogik als Interaktion

Literatur

Christian Staffa: Antisemitismuskritik in Kirche und Theologie heute

Gottesmord

Verrat

Nicht Ablösung, sondern Mutter-Tochter oder gar Geschwisterbild – fragliche Ursprünge

Ergebnisse kirchlicher Reflexionsprozesse

Bleibend offene Fragen

Säkularisierte Glaubensfiguren

Opferstilisierungen

Geld

Kindermordvorwurf

Partikularität und Universalität

Literatur

Elke Gryglewski: Erinnerung und Geschichtsbewusstsein in der Migrationsgesellschaft: Eine Momentaufnahme

Ein fragmentarischer Rückblick auf den deutschen Erinnerungsdiskurs

Der Erinnerungsdiskurs und die Migrationsgesellschaft

Die Bedeutung von Bildung für die Erinnerung und das Geschichtsbewusstsein in der Migrationsgesellschaft

Tragfähige Bildungskonzepte für die Migrationsgesellschaft

Literatur

IV. Psychosoziale und gesellschaftstheoretische Antisemitismuskritik

Olaf Kistenmacher: Schuldabwehr-Antisemitismus als Herausforderung für die Pädagogik gegen Judenfeindschaft

Judenfeindschaft nach 1945 und codierter Antisemitismus

Lernen aus der Vergangenheit und aus der Gegenwart

Die Fähigkeit zur Scham und zur Reflexion

Schuldabwehr und Israelfeindschaft

Die Motive der »Palästina-Solidarität«

Schuldabwehr-Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft

Literatur

Eva Berendsen, János Erkens und Tom David Uhlig: Natürliche Feind*innen: Über die Verschränkungen von Sexismus und Antisemitismus

Von Gender-Dings bis Gender-Wahn

Verschränkung von Antisemitismus und Sexismus

Opfermythos und der »verhausschweinte« Mann

Zwei-felhafte Einheit in ein-deutiger Zweiheit

Pathische Projektion und Massenpsychologie

Falsche Mimesis an und das Wüten wider die Natur

Leider kein Schluss

Literatur

Meron Mendel und Tom David Uhlig: Challenging Postcolonial: Antisemitismuskritische Perspektiven auf postkoloniale Theorie

Postkoloniale Studien

Re-Essentialisierungen postkolonialer Kritik

Die deutschsprachige Antisemitismusforschung

2.1 Postkoloniale Irritationen

Challenging Postcolonial

Pädagogische Implikationen

Literatur

Marina Chernivsky: Biografisch geprägte Perspektiven auf Antisemitismus

Ressentiments – eine Begriffsakzentuierung

Antisemitismusdynamiken einer Post-Holocaust-Gesellschaft

Sekundäre Dynamiken des Antisemitismus

Pädagogische Implikationen

Fazit

Literatur

Jan Lohl: »Ein total besiegtes Volk«: Tiefenhermeneutische Überlegungen zum Komplex »Geschichte, völkischer Nationalismus und Antisemitismus« im Rechtspopulismus

Tiefenhermeneutische Analyse rechtspopulistischer Propaganda

Schuldneutrale Selbstthematisierung: Die Deutschen als Volk von Opfern oder die großartigen Leistungen unserer Vorfahren

Rekonstruktion 1: Deutsche als Opfer eines Verbrechens

Irritation 1: Die Feuersturm-Szene – »Bedeutsame militärische Infrastruktur gab es in Dresden nicht, das wissen wir nicht«

Rekonstruktion 2: Vernichtung – Schande – großartige Leistung

Irritation 2: Die Tote-Riten-Szene – »Wir haben keine Zeit mehr, tote Riten zu exekutieren«

Sekundärer Antisemitismus und Deckidentität

Die sekundär-antisemitische Funktion des antimuslimischen Rassismus: Der »Vernichtungsfeldzug« des Islam

Literatur

Anhang

Autorinnen und Autoren

Grußwort

Andreas Eberhardt

Wir leben in herausfordernden Zeiten. In gesellschaftlichen Debatten, in Talkshows, auf Schulhöfen, selbst in politischen Diskursen sind wieder Töne zu hören, die wir längst überwunden glaubten. Antisemitismus, in der Bundesrepublik lange Zeit nur verdeckt zutage getreten, äußert sich in alten und neuen Formen. Die Tagungsreihe Blickwinkel und der daraus hervorgegangene vorliegende Sammelband »Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft« zeigt Beispiele zum Aufbau kluger Gegenstrategien auf: Durch die Tagungsreihe werden Räume für Austausch und Vernetzung geboten, hier können Bildungsansätze diskutiert und Ideen weiterentwickelt werden. Die Tagungsreihe stellte von 2011 bis 2017, bei den bisherigen acht Tagungen in Berlin, Frankfurt/Main, Jena, Kassel, Köln und Nürnberg, sowohl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Bildungsexpertinnen und -experten als auch Pädagoginnen und Pädagogen, Akteurinnen und Akteuren aus Stadtteilarbeit, Mediation und Beratung einen kontinuierlichen Rahmen für fachlichen und kollegialen Austausch bereit. Die praxisgesättigte Multiperspektivität wurde stetig erweitert durch einen Blick über die deutschen Debatten hinaus auf internationale Diskurse und Entwicklungen. Die Blickwinkel von Wissenschaft und Praxis trafen aufeinander: Einsichten aus der Wissenschaft wurden in ihrer Bedeutung für die Praxis diskutiert und umgekehrt der Beitrag der bildungspraktischen Arbeit für die akademische Forschung erörtert. Alle Tagungsberichte und mehr stehen auf der Webseite der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ) zur Verfügung.

Der vorliegende Band vereint ausgewählte Beiträge der Blickwinkeltagungen 2014 bis 2016. Diverse Themenfelder aus den Tagungen »Antisemitismus und Rassismus: Verflechtungen?« (2014), »Religion: Diskurse – Reflexionen – Bildungsansätze« (2015) und »Kommunikation: Latenzen – Projektionen – Handlungsfelder« (2016) werden hier miteinander in Beziehung gesetzt. So wird ein adäquates Problemverständnis von Antisemitismus als eigenständiges Phänomen in Bildung und Intervention darzustellen versucht, dessen Entwicklung gleichwohl in verschiedenen diskriminierenden und exkludierenden Kontexten geschieht. Das Buch reagiert auf eine tagespolitisch aktuelle Problemkonstellation: die Vermittlung antisemitismuskritischer Werte in der Migrationsgesellschaft. Es werden Fragen nach der Dynamik zwischen dem öffentlichen antisemitismuskritischen Konsens im postnationalistischen Deutschland und dem Weiterbestehen von privaten oder strukturellen antisemitischen Ressentiments erörtert. Ebenso wird den Wechselwirkungen, die heute zwischen Antisemitismus und Rassismus in Deutschland bestehen, und der Gefahr der Projektion des fortwährenden Antisemitismus in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft auf die Minderheit der nach Deutschland Migrierten nachgegangen.

Ein wichtiges Element von gesamtgesellschaftlichem Zusammenhalt ist ein verbindendes historisches Narrativ als einer gemeinsamen Erzählung, die Raum für individuelle Geschichten und Erfahrungen lässt. Eine Erzählung, die integrativ ist, die die Möglichkeit des Einwebens individueller Erfahrungen und ethnischer, religiöser, geschlechtsbasierter und weiterer Identitäten ermöglicht. Daher fragt dieser Sammelband auch, wie sich die erinnerungspolitische Debatte und das Gedenken an den Holocaust in der Migrationsgesellschaft weiter stärken lässt. Eine zeitgemäße Erinnerungskultur in einer immer diverser werdenden Gesellschaft bedeutet die Befassung mit einem Hauptnarrativ, das für die bundesdeutsche Gesellschaft nicht nur wesentlicher Teil ihrer kollektiven Identität ist, sondern vielfach ihre heutige Ausformung sehr direkt bestimmt hat und auch weiter bestimmen wird. Es braucht zudem den Austausch vielfältiger kollektiver Erzählungen und Erinnerungen ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Diese Erzählungen und Erinnerungen sind manchmal harmonisch, oftmals aber auch konkurrierend und nicht selten konflikthaft. Aber aus ihrer Kenntnis und der Auseinandersetzung mit ihnen wächst ein gemeinsames Ganzes.

Den Herausgeberinnen und Herausgebern, allen beteiligten Autorinnen und Autoren, den ehemaligen wie aktuellen Kooperationspartnerinnen und Kooperationspartnern, der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, der Bildungsstätte Anne Frank, dem Zentrum für Antisemitismusforschung sowie dem Fritz Bauer Institut gilt ein herzlicher Dank. Die vorliegende Publikation soll eine Quelle der Inspiration und ein Türöffner in neue Denkräume sein. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

Andreas Eberhardt

Vorstandsvorsitzender der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« (EVZ)

Einleitung

Meron Mendel und Astrid Messerschmidt

Fast jede Auseinandersetzung mit Antisemitismus geht den Umweg einer Ausschließung. Antisemitismus gilt in der deutschen Gegenwart als unmöglich, seine Artikulation als abwegig, weil sie einen gesellschaftlichen Konsens verletzt. Antisemitismus transportiert die Aura des Verbots, das gar nicht ausgesprochen werden muss, um den Konsens der Distanzierung zu reproduzieren. Theodor W. Adorno (1977 [1962]) bezeichnete es als einen »wesentlichen Trick von Antisemiten heute: sich als Verfolgte darzustellen« (ebd.: 363), sich zu gebärden, als würde die öffentliche Meinung antisemitische Äußerungen unmöglich machen. Das Gerücht, das indirekte Adressieren, »die nicht ganz offen zutage liegende Meinung war von jeher das Medium, in dem soziale Unzufriedenheiten der verschiedensten Art, die in einer gesellschaftlichen Ordnung sich nicht ans Licht trauen, sich regen« (ebd.). Die gegenwärtige Reserviertheit gegenüber der Demokratie und ihren Medien, wie sie in rechtspopulistischen Bewegungen geäußert wird, die sich selbst »das Volk« nennen, basiert auf einer Selbststilisierung als Opfer einer übermächtigen Instanz, die »Wahrheiten« unterdrückt. Dabei ist die Selbstbezeichnung als »Volk« nationalistisch repräsentiert – sie wurde in der deutschen Geschichte im Herbst 1989 nur sehr kurz von einer basisdemokratischen Bewegung für sich reklamiert, bevor sie sehr schnell wieder als nationale Gemeinschaft beansprucht worden ist. Die imaginierte Macht, die dieses stilisierte Volk unterdrückt, kann verschieden identifiziert werden. Zur Verfügung steht vor dem Hintergrund einer langen Geschichte der Abgrenzung und Ausgrenzung, des Fremdmachens und des Vernichtungswunsches die projektive Figur des Juden.

Als Merkmale des modernen Antisemitismus fasst Klaus Holz die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft sowie eine Personifikation von Macht in den Juden. Nach wie vor bildet ein nationalistisches Weltbild die Leitideologie des Antisemitismus, weshalb Holz (2001) vom »nationalen Antisemitismus« spricht. Jede national-identitäre Besetzung des gesellschaftlichen Innenraums erinnert an die politische Grundierung des Antisemitismus und sollte entsprechend ernst genommen und eingeordnet werden. Adorno plädiert 1962 für eine radikale Argumentation gegen Antisemitismus, indem er sich gegen jede abstammungsbezogene, identifizierende Betrachtung von »Bevölkerungsgruppen« wendet, weil das in der Demokratie »das Prinzip der Gleichheit verletzt« (Adorno 1977 [1962]: 363). Antisemitismusanalyse bietet den systematischen Rahmen, um die Struktur dieser Verletzung nachzuzeichnen, zu ergründen und ihre Aktualität in der Gegenwart zu erkennen.

Im Kontext der Migrationsgesellschaft wird das von Adorno postulierte und von jeder Demokratie beanspruchte Prinzip der Gleichheit verletzt, wenn aus der Gesellschaft der Gleichen Gruppen identifizierend ausgesondert werden, um sie als Nichtzugehörige zu positionieren. So impliziert etwa die bis heute geläufige Dichotomisierung zwischen »Juden« und »Deutschen«, dass erstere aus der Gruppe der letzteren ausgeschlossen werden und als nicht-deutsch gelten. Zu beobachten sind derartige Verletzungen des Gleichheitsprinzips gegenwärtig auch in den ausgrenzenden Sichtweisen auf Bevölkerungsteile, die als muslimisch oder arabisch adressiert werden. Sie werden vor allem in zwei Hinsichten erkennbar gemacht: Zum einen erscheinen sie als unmodern und erziehungsbedürftig für die Ansprüche des demokratischen Staates. Zum anderen wirken sie gefährlich, kriminell und nicht auf der Höhe des Geschichtsaufarbeitungskonsenses. Die kulturelle Leistung der sich als national zugehörig betrachtenden Mehrheitsgesellschaft scheint erfolgreich erbracht worden und in die Zielgerade eines demokratischen Selbstverständnisses eingelaufen zu sein. Deren eigene negative Geschichte von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von der Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden, wird in einer Geste der Umkehrung zu einer Erfolgsgeschichte geleisteter Aufarbeitung und angemessenen Gedenkens umgedeutet und mit positiven Vorzeichen angeeignet. In diesem Selbstbild einer erfolgreichen Demokratie ist kein Platz für Antisemitismus, was in der politischen Öffentlichkeit auch immer wieder betont wird. Doch wissen alle, die das zu Recht fordern und geradezu beschwören, dass dieser Platz sehr wohl vorhanden ist und auf unterschiedliche Weise eingenommen wird. Es genügt, den Verlauf öffentlicher Diskussionen etwa um das Gedicht von Günther Grass »Was gesagt werden muss« von 2012 oder um Äußerungen Jakob Augsteins über Israel zur Kenntnis zu nehmen, um eine Kluft festzustellen zwischen der ostentativ beanspruchten nicht antisemitischen Haltung von Öffentlichkeit und Politik auf der einen und weit verbreiteten Ressentiments auf der anderen Seite, die mit besonderer Vehemenz in Leser_innenkommentaren und den sozialen Medien kursieren. Der Konsens, Antisemitismus aus der Öffentlichkeit auszuschließen, ist fragil – eine Fassade, die vieles durchlässt, wovon eher weniges als gegenwärtiger Antisemitismus erkannt und benannt wird.

Unter anderem haben die Verbreitung von Verschwörungstheorien nach 09/11, die gewalttätigen Demonstrationen in deutschen Großstädten während der Gazakriege sowie die steigende Beliebtheit von verkürzter Kapitalismuskritik nach der Finanzkrise dazu geführt, dass etwa seit Mitte der 2000er Jahre das Thema Antisemitismus wieder stärker als eigenständiger Gegenstand in der außerschulischen Bildungsarbeit vorkommt (vgl. Rabinovici u. a. 2004; Schäuble 2013: 12).

Die Thematisierung von Antisemitismus in der Bildungsarbeit steht im Zusammenhang mit einer kritischen Bearbeitung ausgrenzender und abwertender Unterscheidungspraktiken, die gesellschaftliche Zugehörigkeitsordnungen regulieren (vgl. Chernivsky 2011). In den letzten Jahren sind zunehmend selbstreflexive und multiperspektivische Ansätze entstanden. Zum einen wird damit die Auseinandersetzung der professionellen Akteur_innen1 mit ihren Perspektiven auf Antisemitismus verstärkt. Zum anderen wird versucht, die sozial heterogenen Beziehungen der Teilnehmenden zur Thematik aufzugreifen. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft verankert ist und aus ganz unterschiedlichen sozialen Positionierungen heraus benutzt und artikuliert wird. Neben der Wissensvermittlung über Geschichte, Ideologie und Ausdrucksformen geht es für eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit um die Funktionen des Antisemitismus, die seine Langlebigkeit und Flexibilität ausmachen. So erfüllen diverse Ausdrucksformen des sekundären Antisemitismus eine Funktion der moralischen Selbstentlastung in der postnationalsozialistischen Gesellschaft über den Weg der Entlarvung eines übermächtigen Gegners. Die Reduktion von Komplexität mittels Identifizierung einer Verursacherfigur und Personalisierung durch die Benennung einer konkreten Träger_innengruppe für globale Probleme bietet einfache Erklärungen für die komplexe Wirklichkeit der globalisierten, postindustriellen Gesellschaft.

Eine antisemitismuskritische Pädagogik will spezifische Ausdrucksformen von Antisemitismus, ihre Funktion und Argumentationslinien benennen, um ihnen entgegenzuwirken. Zugleich beansprucht sie, nicht zuschreibend oder kulturalisierend zu arbeiten. Unter diesen beiden Prämissen stellt sie die Thematisierung und der Umgang mit Antisemitismus unter Muslim_innen gegenwärtig vor ein Dilemma. Zum einen wird aus der oben beschriebenen Entlastungsstrategie der Mehrheitsgesellschaft deutlich, dass eine zielgruppenspezifische pädagogische Arbeit gegen Antisemitismus mit und für Muslim_innen die Gefahr birgt, die gesamte Gruppe unter Generalverdacht zu stellen. Zum anderen scheint Antisemitismus unter Muslim_innen eigenständige und differenzierte Eigenschaften entwickelt zu haben, die eigener Formen der pädagogischen Intervention bedürfen. Die Vehemenz der antisemitischen Artikulationen im öffentlichen Raum besonders während des zweiten Gazakrieges im Sommer 2014, die offen ausgetragenen Konflikte zwischen Vertreter_innen von Islam und Judentum – wie im Fall des Austritts der Jüdischen Gemeinde aus dem Frankfurter Rat der Religionen – und die wachsende Sorge von Jüdinnen und Juden in Deutschland, die hierzulande eine Entwicklung »französischer Verhältnisse« befürchten, machen dies deutlich.

Eine der vornehmlichen Aufgaben intersektional informierter Bildungsarbeit besteht vor diesem Hintergrund darin, die Gleichzeitigkeit von (antimuslimischem) Rassismus und Antisemitismus zu beachten, das heißt auch, den Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen und Erwachsenen in den Eigenheiten seiner Artikulationsformen zu erkennen und auf diesen aufmerksam zu machen und dabei gleichzeitig zu berücksichtigen, dass diese sozialkonstruierte Gruppe von Rassismen betroffen ist.

Der Wunsch, nicht antisemitisch zu sein, wird von Teilnehmenden wie pädagogisch Handelnden in diesem Bildungsfeld gemeinsam getragen. Er ist in erster Linie von einem Distanzierungsbedürfnis gegenüber der nationalsozialistischen Verbrechensgeschichte motiviert (vgl. Messerschmidt 2010). Um dieses Bedürfnis ernst zu nehmen und reflektieren zu können, bedarf es eines Zugangs, der das Problem nicht personalisierend angeht, sondern auf die Funktionen zu sprechen kommt, die Antisemitismus in der Gegenwart erfüllt. Mit einem Ansatz, der antisemitische Artikulationen in die Landschaft von Nationalismus, Geschichtsrevisionismus, Erinnerungsabwehr und populistischen Welterklärungen einordnet, kann die gesellschaftliche Relevanz jenseits persönlicher Befindlichkeiten vermittelt werden.

Die Beiträge des Bandes verstehen sich im Kontext der Migrationsgesellschaft, die kein neues Phänomen ist, auf die jedoch aufgrund jahrzehntelanger Verleugnung in der deutschen Öffentlichkeit ausdrücklich hinzuweisen ist. Eine migrationsgesellschaftliche Perspektive in der Bildungsarbeit orientiert sich an der Wirklichkeit der Migration als strukturierendes Phänomen der gegenwärtigen Gesellschaft und der globalen Verhältnisse. Gleichzeitig beinhaltet diese Perspektive eine Auseinandersetzung mit diskriminierenden Praktiken und Strukturen und geht von einem Alltagsrassismus aus, mit dem diejenigen konfrontiert sind, die zu anderen gemacht werden, weil ihr Aussehen, ihr sprachlicher Akzent oder ihre kulturellen Praktiken nicht als zugehörig zur deutschen Gesellschaft anerkannt werden. Eine grundsätzliche Anerkennung von Ausgrenzungserfahrungen und von Kämpfen um Zugehörigkeit charakterisiert eine migrationsgesellschaftliche Bildungsarbeit.

Das Bestreben, sich angesichts der Geschichte und Wirkung des Nationalsozialismus von nationalistischen, abstammungsbezogenen Unterscheidungen und Abwertungen zu verabschieden, ist in der Pädagogik teilweise paradox angeeignet worden in Form der »multikulturalistische[n] Aufwertung von ›Differenz‹« (Fava 2015: 268). Immer wieder tauchen in der pädagogischen Praxis wie in der Forschung national-identitäre Problematisierungen von Defiziten der Migrant_innen auf, denen der biografische Bezug zur »Täternachfolgeschaft« (ebd.: 234) fehle. Der nicht aufgearbeitete Rassismus holt die deutsche Migrationsgesellschaft gerade an den Stellen ein, wo sie besonders selbstkritisch zu sein beansprucht, nämlich im Umgang mit Auschwitz. Auf diese Problemlage antworten die vorliegenden Beiträge mit der Reflexion der Prozesse des Fremd- und Andersmachens, durch die erst jene Gruppen hergestellt werden, deren Eigenarten der Geschichtsbeziehungen dann untersucht werden. Die Autor_innen versuchen, von vielfältigen Zugehörigkeiten auszugehen und aus der Tatsache der Migration keine Zielgruppenspezifik abzuleiten, sondern darin eine Gesellschaftsstruktur zu sehen, die alle angeht.

Die Reserviertheit gegenüber Eingewanderten und ihren Nachkommen, die auch noch zwei Generationen nach dem Eintreffen keine fraglose Akzeptanz als Gesellschaftsmitglieder erreichen, ist sichtbares Zeichen der Abwehr jeder inneren gesellschaftlichen Diversität. Es spiegelt sich darin jene Unerträglichkeit der Ambivalenz, die für Zygmunt Bauman (1995) ein grundlegendes Problem der Moderne ausmacht. National-kulturelle Regulierungen von gesellschaftlichen Selbstbildern wirken als »fundamentale Differenzordnungen« (Mecheril 2009: 205) und sind Ausdruck einer »exklusiven Logik« (ebd.), die nur reine Identitäten zulässt und Uneindeutigkeiten ausschließt. In diese Ordnungsmuster sind pädagogische Akteur_innen und Institutionen involviert und können ihren institutionalisierten Rassismus nur von innen und mit der Bereitschaft zur Selbstkritik angreifen.

Ein antisemitismuskritischer Ansatz nimmt den Begriff der Kritik für sich selbst in Anspruch und fragt danach, wie Antisemitismus auch dort reproduziert wird, wo er bekämpft werden soll. Motiviert ist dieser Ansatz aus der rassismuskritischen Bildungsarbeit, die Rassismus als allgemeines gesellschaftliches Problem und nicht als persönliches Vorurteil betrachtet und detailliert beschreibt, wie unterschiedlich positionierte Individuen und Gruppen anderen Zugehörigkeit, Gleichberechtigung und Partizipation verweigern und hierarchische Abgrenzungen von Wir und Nicht-Wir vornehmen (vgl. Mecheril/Melter 2010). Rassismuskritik untersucht Ordnungen der Nichtzugehörigkeit. Im Antisemitismus erscheinen diese Ordnungen in spezifischen Formen, die an eine lange Geschichte von Gerüchten und an eine jüngere Geschichte der Umdeutungen von Verbrechensgeschichte, Nationenbildung und globalen Konflikten anschließen.

Der Band knüpft an die Diskussionen und Erkenntnisse aus der Tagungsreihe »Blickwinkel. Antisemitismuskritisches Forum für Bildung und Wissenschaft« der Bildungsstätte Anne Frank, des Pädagogischen Zentrums des Fritz Bauer Instituts und des Jüdischen Museums Frankfurt, der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« und des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin an. Die interdisziplinäre Tagungsreihe beleuchtet aktuelle Analysen, diskutiert innovative Bildungsansätze und setzt diskurskritische Akzente. Die Blickwinkeltagungen in den Jahren 2014 bis 2016 beschäftigten sich mit den Themen Religion, Kommunikation und mit den Wechselwirkungen von Rassismus und Antisemitismus. Diese Themen sind auch in dem vorliegenden Band von zentraler Bedeutung, obwohl dieser sich nicht als Tagungsdokumentation versteht.

Kommunikationsbezogene Antisemitismuskritik

Anknüpfend an die psychoanalytische Sozialpsychologie fragt Sebastian Winter nach dem Fortleben des Antisemitismus in seinen aktuellen Erscheinungsformen. Der sekundäre Antisemitismus und die Israelfeindschaft bieten verbindende Elemente innerhalb von Gruppen, die ansonsten entlang von Herkunftszuschreibungen viele Trennlinien zwischen sich ziehen. Die als »Kommunikationslatenz« gefasste Zurückhaltung im Äußern antisemitischer Ressentiments findet Wege, die weniger latent und weniger zurückhaltend sein müssen, weil sie mit Zustimmung rechnen können. Mit Bezug auf Kants Forderung nach dem Mut, sich seines Verstandes zu bedienen, fasst Winter das Festhalten am Antisemitismus als einen Mangel an Mut und als Leidenschaft in der Verehrung der nationalen Eigengruppe. Angstabwehr und Angstlust sind darin miteinander verwoben. Nicht von ungefähr ist die Behauptung einer legitimen Angst zum Vehikel des Verständnisgewinns im aktuellen Rechtspopulismus geworden.

Mit der Kommunikationsstruktur pädagogischer Interaktionen in der offenen Jugendarbeit setzt sich Heike Radvan auseinander und stellt Ergebnisse einer rekonstruktiven Studie zu pädagogischem Handeln im Umgang mit Antisemitismus vor. Durch die interpretative Auswertung der leitfadengestützten Interviews mit Fachkräften arbeitet sie drei Typen des kommunikativen pädagogischen Umgangs mit Antisemitismus heraus. Sie diskutiert dabei die Bedeutung symmetrischer oder asymmetrischer Kommunikation und die relative Wirkungsmacht des Rationalen. Es stellt sich in der Praxis als kompliziert dar, judenfeindliche Äußerungen ausschließlich inhaltlich zu widerlegen. Pädagog_innen erreichen die Jugendlichen nicht, wenn sie sich auf Faktenwissen beschränken, lebensgeschichtliche und alltagspraktische Erfahrungen ihrer Zielgruppen jedoch unberücksichtigt lassen. Dies schließt einen soziogenetischen Blick auf die Mehrfachzugehörigkeiten mit ein. Erst damit wird es möglich, Aussagen infrage zu stellen und alternative Deutungen anzubieten.

Antisemitismuskritik im Kontext von Rassismus

Ausgehend von der faktischen, gesellschaftlichen Gleichzeitigkeit von antimuslimischem Rassismus und islamisiertem Antisemitismus diskutiert Saba-Nur Cheema, wie in der Bildungsarbeit damit umzugehen ist. Sie schließt sich den Kulturanalysen an, die im islamisierten Antisemitismus Analogien zum europäischen Antisemitismus feststellen. Beide Muster gehen von einem exklusiven Wir und von einer statischen binären Gesellschaftsordnung aus, die Juden systematisch ausschließt. Der Begriff des islamisierten Antisemitismus macht deutlich, dass dem ein Prozess der Politisierung von Religion vorausgeht und die antisemitischen Positionen nicht als islamisch aufzufassen und zu bezeichnen sind. Der pauschale Antisemitismusverdacht gegenüber Muslimen als religiös identifizierter Gruppe folgt einer »rassifizierenden Logik«. Pädagog_innen benötigen ein reflektiertes Wissen über Erfahrungen von Rassismus und Stigmatisierung muslimischer Jugendlicher und gleichzeitig ein Bewusstsein für das Vorhandensein islamisierter antisemitischer Einstellungen. Cheema plädiert für eine anerkennungspädagogische, reflexive Haltung mit der doppelten Perspektive von Antisemitismus- und Rassismuskritik.

Anschließend beschreibt Anke Schu in der Diskussion empirischer Ergebnisse, wie muslimisch markierte Jugendliche, die von verschiedenen strukturell-rassistischen und sozioökonomischen Ausschlussmechanismen betroffen sind, Gefahr laufen, die ihnen zugeschriebenen Strukturkategorien zu übernehmen und dabei antisemitische Weltdeutungsmuster zu reproduzieren. Entlang von Interviews bespricht die Autorin die Bedeutung familiärer Erinnerungsbilder für die Selbstbehauptung gegen gesellschaftlich vermittelte Gefühle von Versagen und für die Konstitution einer Identität. Gegenstand der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit wird dieses familiäre Gedächtnis, wenn in ihm tradierte pejorative Darstellungen von Juden und insbesondere Israel als vermeintlich einziger Aggressor im Nahen Osten auftreten.

Unter dem Eindruck einer Wiederbelebung des deutschen nationalen Selbstbewusstseins nach 1989 rekonstruiert Jihan Jasmin Dean die Bündnispraktiken rassifizierter Anderer und geht den spezifischen Schwierigkeiten nach, sich innerhalb dieser Bündnisse gegen Antisemitismus zu positionieren und den Schulterschluss mit Juden und Jüdinnen zu suchen. Aus einer Perspektive der Teilhabe an People-of-Color-Räumen stellt sie sich die Frage, »wie wir gleichzeitig und gleichermaßen antisemitismus- und rassismuskritisch sein können«. Sie problematisiert die spezifischen Aufnahmeregelungen für postsowjetische Juden und Jüdinnen als eine Form exkludierender Vereinnahmung. Erschwerend für die Bündnispolitik zwischen allen, die von Rassismus und Antisemitismus getroffen werden, ist zudem die im politischen Bewusstsein verbreitete Trennung von Migration und Jüdischsein. Obwohl jüdische Communities die Erfahrungen von Migration und Exil prägen, sind sie in der Regel nicht gemeint, wenn von Migrant_innen gesprochen wird. Die Anrufungspraktiken spalten. Die Ausblendung jüdischer Präsenz stellt Dean sowohl in der deutschen etablierten Gesellschaft wie in den rassifizierten Communities fest. Das Integrationsparadigma und Ausländergesetze haben diese Kluft vertieft. Dean erinnert an die Tradition feministischer Bündniskonferenzen, die versucht haben, sich sowohl gegen Rassismus als auch gegen Antisemitismus auszusprechen, und aus deren Umwegen und Sackgassen heutige Bündnispartner_innen lernen können.

Antisemitismuskritik im Kontext von Erinnern, Gedenken und Religion

Die Ambivalenzen zwischen Selbstbestätigung und Selbstkritik in erinnerungspolitischen Positionen arbeitet Matthias Heyl heraus und bezieht sich dafür auf Stellungnahmen aus Kulturpolitik und Gedenkstättenverwaltung. Exemplarisch zeichnet er Linien der Aufarbeitung und Erinnerung nach und geht auf das immer wieder bekundete »Unbehagen an der Erinnerungskultur« ein. Dieses macht sich an der nationalen Etablierung des Erinnerns fest und an der Funktionalisierung des Gedenkens für das Ansehen Deutschlands im Ausland. Der Konsens ist zum Topos des Dissenses geworden. Heyl zeigt sich besorgt, dass mit der notwendigen Kritik am Umgang mit der Erinnerung zugleich eine Distanzierung von derselben einhergeht, die den alten und neuen Tendenzen in Richtung eines Schlussstriches indirekt zuarbeitet. Aus den unterschiedlichen Verlautbarungen werden insbesondere die Passagen reflektiert, die das Verhältnis zu den jüdischen Opfern ansprechen und sich dabei zwischen Abgrenzungs- und Verschmelzungswünschen bewegen, bis hin zu den religiösen Vorstellungen einer Erlösung, in denen sich auf bizarre Weise die Sehnsucht nach einem Ende der Geschichtsaufarbeitung ausdrückt.

In welcher Form Antisemitismus in Gedenkstätten angesprochen wird, reflektiert Verena Haug anhand einer Gesprächssequenz aus einer mehrtägigen Bildungsveranstaltung in einer KZ-Gedenkstätte. Haug macht deutlich, dass Antisemitismus thematisch nicht im Fokus der Gedenkstättenpädagogik steht, sondern eher indirekt vermittelt wird, weil die Gedenkstätten als Institutionen ein Staatsverständnis ausdrücken, das sich vom Antisemitismus abgrenzt. Wie dieser oberflächliche Konsens einen selbstreflexiven Zugang in der Auseinandersetzung mit dem historischen Ort eher blockiert als befördert, zeigt sie exemplarisch und problematisiert die Tendenz zur »Belehrungskommunikation«.

Die Wirkungen christlicher Judenfeindschaft auf den säkularen Antisemitismus erläutert Christian Staffa anhand theologischer Interpretationen, die aus dem religiösen Judentum ein Gegenbild zum Christentum gemacht haben. Die Motive lassen sich in den Entgegensetzungen von »Alt gegen Neu, Fleisch gegen Geist, Gesetz gegen Gnade, Rache gegen Liebe« zusammenfassen. Im christlichen Antijudaismus, der in den modernen Antisemitismus eingeschrieben ist, sieht Staffa die eigene Unsicherheit des Christentums verarbeitet und die Angewiesenheit auf das Judentum abgewehrt. Erst nach der Shoah haben sich die christlichen Kirchen mit ihren judenfeindlichen Traditionen auseinandergesetzt, was bis in die Gegenwart andauert. Doch die Erklärungen beider christlicher Kirchen reichen nicht aus, um die gewaltförmige Negativsicht auf das Judentum an der kirchlichen Basis aufzuarbeiten. Bekannte Motive aus dem modernen säkularen Antisemitismus wie die Selbststilisierung als Opfer, die Projektion eigener Aggressivität und die Abwehr eines Unterlegenheitsgefühls haben im Christentum zur Verfestigung antisemitischer Überzeugungen beigetragen. Theologie und Kirche haben bisher in der antisemitismuskritischen Bildung keine Rolle gespielt, wodurch ein wesentlicher Teil der Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus ausgeblendet wird.

Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Bildungspraxis in der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin setzt sich Elke Gryglewski mit den Diskrepanzen zwischen medialer Aufmerksamkeit, politischem Diskurs und subjektiver Wahrnehmung der NS-Geschichte auseinander. Sie kritisiert eine lineare Fortschrittserzählung über die deutsche Aufarbeitungsgeschichte. Diese Darstellung ungebrochener Aufklärung über die eigene Verbrechensgeschichte trägt mit dazu bei, Eingewanderte als defizitär zu betrachten, wenn es um den Umgang mit dem Holocaust geht. Die reale Vielfalt von Migrationserfahrungen und die daraus sich ergebenden pluralen Geschichtsbeziehungen werden in der Folge eines Selbstbildes gelungener Aufarbeitung vernachlässigt. Gryglewski unterstreicht deshalb die Bedeutung der Selbstreflexion von Pädagog_innen im Feld historisch-politischer Bildung. Sie berichtet von einem Mangel an Anerkennungserfahrungen bei vielen Jugendlichen und betont die große Wirkung einer respektierenden, die jeweils individuellen Erlebnisse ernst nehmenden Bildungsarbeit.

Psychosoziale und gesellschaftstheoretische Antisemitismuskritik

Nach den Funktionen eines von Schuldabwehr motivierten Antisemitismus fragt Olaf Kistenmacher und geht auf der Grundlage von Adornos Analysen auf dessen Ausprägungen in Formen des codierten Antisemitismus und der Täter-Opfer-Umkehr ein. Die Diskrepanz zwischen öffentlicher Tabuisierung antisemitischer Äußerungen und dennoch artikuliertem Antisemitismus an weniger öffentlichen Orten führt in einen psychischen Konflikt, der Schamgefühle hervorruft. In der Bildungsarbeit eröffnet sich die Chance, diese zu reflektieren und damit den Neigungen zum Selbstmitleid zu entkommen. Dabei bietet Kistenmacher Perspektiven an, die Arbeit an der Schuldabwehr migrationsgesellschaftlich zu kontextualisieren. Anhand der Ausprägungen linker Militanz und Solidaritätsbewegungen erläutert der Verfasser, welche Formen die Schuldabwehr in Zusammenhängen eines linken und eines antiisraelischen Antisemitismus annimmt.

Den Verschränkungen von sexistisch-antifeministischen und antisemitischen Deutungsmustern gehen Eva Berendsen, János Erkens und Tom David Uhlig nach und setzen sich dafür mit aktuellen Anfeindungen von Feminismus und Genderforschung auseinander. Sie arbeiten Elemente der Vergeschlechtlichung des antisemitischen Ressentiments heraus und zeigen, wie Frauen und Juden zu personifizierten Trägern einer abgewehrten Moderne gemacht worden sind. Sexismus und Antifeminismus sehen sie in einem regressiven Naturverhältnis mit Antisemitismus verbunden.

Mit der Frage, was postkoloniale Theorie und Antirassismus anfällig für das antisemitische Ressentiment macht, befassen sich Meron Mendel und Tom David Uhlig. Entgegen dem mangelnden Austausch zwischen postkolonialer Forschung und Antisemitismusforschung erörtern sie, warum postkoloniale Theroretiker_innen oftmals aktuelle Formen von Antisemitismus ausklammern und sogar in ihrer Argumentation reproduzieren. Dabei differenzieren die Autoren verschiedene Facetten der Rassismusforschung und der postkolonialen Theoriebildung und problematisieren die dominant gewordene Orientalismus-These, die dazu neigt, in der sprachlichen Wissensproduktion des Westens die Hauptursache für soziale und wirtschaftliche Probleme in den arabischen Ländern zu sehen. Den damit einhergehenden dichotomen Denkmustern von Gut und Böse, Opfern und Tätern gilt ihre Kritik. Wenn Emanzipation und Aufklärung nicht mehr dialektisch reflektiert, sondern als westlich denunziert werden, dann droht auch der Abbruch einer Kritik des Antisemitismus.

Ausgehend vom Begriff des Ressentiments, der die Affekt- und Bedürfnisimmanenz des Antisemitismus betont, fragt Marina Chernivsky nach biografischen Verstrickungen, die die beiläufige Reproduktion von Antisemitismus begünstigen. Da dieser öffentlich geächtet ist, kommt es zu innerpsychischen Spannungen, wenn er im eigenen Bewusstseinshaushalt entdeckt wird. Juden werden als Subjekte derealisiert, weil sie eine unliebsame Erinnerung verkörpern und zu einer äußeren moralischen Instanz gemacht werden, die einen von den eigenen Verwandten trennt. Die Abspaltung von Gefühlen führt zur »überzogenen Rationalisierung eigener Ressentiments«. Deshalb plädiert Chernivsky für eine explizite Auseinandersetzung mit den »Abwehr- und Distanzierungswünschen« in der Bildungsarbeit, die nur unter der Voraussetzung der »dialogischen Anerkennung« gelingen kann.

Eine tiefenhermeneutische Analyse rechtspopulistischer Reden der jüngsten Zeit nimmt Jan Lohl vor. Dabei arbeitet er als durchgängiges Element die Positionierung des deutschen Volkes als Opfer heraus sowie die ideologische Verflechtung von völkischem Nationalismus, antimuslimischem Rassismus und Antisemitismus. Einer entsubjektivierenden Sprache, die keine handelnden Akteure kennt, kommt die Funktion zu, Verbrechen und Schuld außerhalb des moralisch reinen Binnenraums zu verorten. Mit der reinen Selbstreferenzialität auf das deutsche Volk wird jede intersubjektive Bezugnahme auf andere ausgeschlossen. Schuld und die dieser zugrunde liegende Verbrechen werden neutralisiert. Den sich in den Reden ausdrückenden sekundären Antisemitismus deutet Lohl als eine Abwehraggression. Als Akteure der Gewalt tauchen in den Reden die zu Fremden gemachten und als muslimisch identifizierten Migrant_innen auf. Sie werden projektiv zu Täter_innen nach nationalsozialistischem Vorbild, zielen sie doch darauf, das deutsche Volk zum Verschwinden zu bringen.

Dieser Band ist dank der großzügigen finanziellen Unterstützung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« entstanden.

Unser Dank gilt ebenfalls der Steuerungsgruppe der Tagungsreihe Blickwinkel – Juliane Wetzel, Gottfried Kößler, Sonja Böhme, Christa Meyer und Céline Wendelgaß – für die Ideen und Anregungen sowie Isabell Trommer vom Campus Verlag, die uns mit viel Geduld und Nachsicht tatkräftig unterstützt hat. Zuletzt danken wir ganz besonders unserem Kollegen Tom David Uhlig für die Mitarbeit an der Buchredaktion. Ohne seine Mitwirkung wäre das Buch nicht in dieser Form zustande gekommen.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1977 [1962]), Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: Gesammelte Schriften, Bd. 20.1, S. 360–383.

Bauman, Zygmunt (1995), Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/M.

Chernivsky, Marina (2011), Die Abwertung der Anderen. Theorien, Praxis, Reflexionen, Hg.: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V., Frankfurt/M.; IDA e.V. und DGB Bildungswerk: Vielfalt-Mediathek, 5.5.2017, http://www.vielfalt-mediathek.de/

Fava, Rosa (2015), Die Neuausrichtung der ›Erziehung nach Auschwitz‹ in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse, Berlin.

Holz, Klaus (2001), Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg.

Mecheril, Paul/Claus Melter (2010), Rassismuskritik als pädagogische Querschnittsaufgabe, in: Paul Mecheril/Maria do Mar Castro Varela/İnci Dirim/Annita Kalpaka/Claus Melter (Hg.), Migrationspädagogik, Weinheim/Basel, S. 168–178.

Mecheril, Paul (2009), Diversity Mainstreaming, in: Dirk Lange/Ayҁa Polat (Hg.), Unsere Wirklichkeit ist anders. Migration und Alltag, Bonn, S. 202–210.

Messerschmidt, Astrid (2010), Distanzierungsmuster. Vier Praktiken im Umgang mit Rassismus, in: Anne Broden/Paul Mecheril (Hg.), Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft, Bielefeld, S. 41–56.

Rabinovici, Doron/Speck, Ulrich/Sznaider, Nathan (Hg.) (2004), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt/M.

Schäuble, Barbara (2013), Was haben wir damit zu tun? Zum pädagogischen Umgang mit Antisemitismus, in: Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (Hg.), Widerspruchstoleranz. Ein Theorie-Praxis-Handbuch zu Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit, Berlin, S. 10–14.

I. Kommunikationsbezogene Antisemitismuskritik

(Un-)Ausgesprochen: Antisemitische Artikulationen in der Alltagskommunikation

Sebastian Winter

Latenz und Manifestation

Drei in den letzten Jahren an deutschen Schulen durchgeführte empirische Studien, die noch viel zu wenig beachtet und diskutiert worden sind, bilden den Startpunkt dieses Artikels. Von der dort gemachten Beobachtung einer virulenten, aber auf spezifische Weise versteckten Judenfeindschaft ausgehend widmet er sich theoretischen Überlegungen der psychoanalytischen Sozialpsychologie zum Fortleben des Antisemitismus und den neuen Erscheinungsformen, die das Ressentiment in der heutigen Migrationsgesellschaft und im Kontext des aktuellen Rechtsrutsches trotz seiner offiziellen Verpönung findet. Abschließend wird die Frage aufgeworfen, inwiefern gerade die besondere Form dieser Verpönung und des Erinnerns an die Verbrechen des Nationalsozialismus zu dieser Persistenz beitragen.

1) Antisemitismus unterliegt in der Öffentlichkeit einer Kommunikationslatenz, die auch in Einstellungsuntersuchungen sein Ausmaß verschleiert.

Für ihre 2010 veröffentlichte experimentelle Untersuchung gingen Heiko Beyer und Ivar Krumpal von der unter Statistiker_innen wohlbekannten Tatsache aus, dass heikle Fragen in Einstellungsuntersuchungen oft so beantwortet werden, wie es sozial erwünscht ist. Was heißt dies nun, so fragten sie sich, für die Erhebung des offiziell verpönten Antisemitismus? Beyer und Krumpal machten Folgendes: Einer Gruppe von Neunt- und Zehntklässler_innen legten sie zunächst die üblichen Fragen vor (z. B. »Juden haben in der Welt zu viel Einfluss«), anschließend baten sie die Schüler_innen einzuschätzen, wie wohl ihre Freundinnen und Freunde geantwortet haben. Bei einer zweiten Gruppe wurde das Vorgehen umgedreht, also zuerst nach der Einstellung der Peers gefragt und erst dann nach der eigenen Meinung. Das Ergebnis: Allein dass die Schüler_innen sich vorher vergegenwärtigten, was in ihrem Umfeld so gedacht wird, das heißt, dass sie sich gedanklich in eine private Kommunikationssituation jenseits der offiziell-wissenschaftlichen Befragung versetzten, reichte aus, um die Zustimmungswerte zu antisemitischen Aussagen deutlich steigen zu lassen.

Eine Umfrage von 2002 hat dementsprechend ergeben, dass 71 Prozent der Deutschen die Aussage bejahen »Viele trauen sich nicht, ihre wirkliche Meinung über Juden zu sagen« (Der Spiegel 2002: 26). Offensichtlich herrscht eine Stimmung gegenüber Jüdinnen und Juden in der Bevölkerung, die von der üblichen Einstellungsforschung nur schwer erfasst werden kann. Resultat ist dann etwa die Prognose in der aktuellen Mitte-Studie, die Judenfeindschaft befinde sich im Rückgang (Decker u. a. 2016: 44f.; vgl. zur Kritik Anchuelo 2016).

Die anderen beiden Untersuchungen, die ich hier zum Auftakt kurz vorstellen will, sind qualitativer Art und beschäftigen sich mit der Frage, wo und wie das in der Öffentlichkeit versteckte antisemitische Ressentiment doch sichtbar wird.

2) Israelfeindlicher Antisemitismus kann in der Migrationsgesellschaft eine quer zu rassistischen Abgrenzungen liegende Integrationsfunktion ausüben.

Katharina Meyer hat im Rahmen ihrer Masterarbeit aus dem Jahr 2014 eine Gruppendiskussion mit Schüler_innen eines Geschichtsleistungskurses der 12. Klasse einer Privatschule durchgeführt. Sie fand deutliche Hinweise darauf, dass die Israelfeindschaft und das Gefühl, von Juden ungerechtfertigterweise wegen der Ereignisse in der Vergangenheit angegriffen zu werden, in Schulklassen als ein verbindendes Element erlebt werden kann, das »Ausländer« und »Deutsche« miteinander teilen. Sie berichtet über den Umgang mit einem griechischstämmigen Schüler – die Herkunft seiner Eltern war in der Gruppe zuvor spöttisch mit Bezug auf die dortige Wirtschaftskrise thematisiert worden:

»Dem Ausschluss Griechenlands als die von einem Wir, begegnet er mit einem einschließenden Uns, indem er die Juden ausgrenzt. […] Juden fungieren hier als Abgrenzung. Dies kann als Versuch gelesen werden, der drohenden Aufspaltung der Wir-Gruppe und seinem Ausschluss aus dieser etwas entgegenzusetzen.« (Meyer 2014: 73)

Die Jugendlichen erzählen, dass ein jüdischer Mitschüler einmal angemerkt hätte, dass viele der deutschen Schüler_innen wahrscheinlich Nazi-Großeltern hätten:

»In der Gruppe wird der Vorfall so rezipiert, dass der Jude die Deutschen beleidigt. Die Wir-Gruppe konstruiert sich durch den Angriff von außen, durch die Abgrenzung von diesem. Dadurch, dass sich der [griechischstämmige] Teilnehmer einnimmt, obwohl er auch anders könnte, solidarisiert er sich mit der Gruppe. Dies ermöglicht ihm, seine Zugehörigkeit zu beweisen.« (Meyer 2014: 72)

An die Verteidigung gegen diese Aggression von außen kann sich der aufgrund seiner griechischen Eltern ausgegrenzte Schüler als Teil der Gemeinschaft anschließen.

3) Antisemitismus wird projektiv entsorgt, indem er exklusiv den muslimischen Schüler_innen vorgeworfen wird.

In der dritten Studie, hier wurden nicht Schüler_innen, sondern Lehrkräfte interviewt, hat ein Team um Wolfram Stender, Professor an der Hochschule Hannover (HSH), eine zunächst vielleicht irritierende Beobachtung gemacht:

Es »lassen sich bei den von uns interviewten Lehrern und Schulsozialarbeitern zwei Darstellungsstrategien unterscheiden. Entweder bestritten sie, dass es antisemitische Äußerungen bei Schülerinnen und Schülern überhaupt gibt, und verneinten auch, dass das Schimpfwort ›Du Jude!‹ im Sprachgebrauch der Schüler vorkommt […]. Oder sie reagierten in spezifischer Weise alarmistisch, indem sie den Antisemitismus als ausschließliches, allerdings hoch virulentes Problem der ›muslimischen Schüler‹ darstellten.« (Follert/Stender 2010: 200f.)

Interpretiert wird dieser Befund als Abwehr und Othering des verpönten Antisemitismus. Die eigene antisemitische Haltung wird unsichtbar gemacht und anderen zugeschoben: »Die dort sind Antisemiten – aber wir doch nicht!« Katharina Meyer hat diese Haltung auch bei den Schüler_innen angetroffen. Eine Teilnehmerin der Gruppendiskussion etwa sagt: »Ich hab noch kei-, ganz ehrlich ich hab noch keinen Türken kennengelernt, der nicht gesagt hat: Die Juden sind alle .. dran, jeder. […] Aber das sagt jeder Moslem, wirklich. Jeder.« (Meyer 2014: 85)

Diese Struktur findet sich auch bei Pegida-Anhänger_innen, was erklärt, warum vereinzelt auf deren Aufmärschen die Flagge Israels neben derjenigen der Bundesrepublik Deutschland und der Wirmer-Flagge getragen wurden (vgl. z. B. das Foto in Anchuelo 2015). Auch Teile der AfD versuchen, sich als anti-antisemitisch und israelsolidarisch zu inszenieren – zugleich aber fallen Anhänger_innen und Funktionär_innen gerade dieser Partei immer wieder durch offen judenfeindliche Ausfälle auf.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Aufmerksamkeit für diese Verschränkung von Muslimenfeindschaft und Antisemitismus darf selbstverständlich nicht dazu führen, die weite Verbreitung und die reale terroristische Gefahr des islamistischen Antisemitismus auszublenden. Sie betont lediglich die Funktionalisierbarkeit der wohlfeilen Empörung über ihn für die Verdeckung der Schuldabwehr und der eigenen Feindbildungen, ohne welche die affektive Einfügung in die deutsche Gemeinschaft nicht zu haben ist.

Niemand (oder zumindest kaum jemand) sagt heute »Ich bin antisemitisch«, wie dies in der völkischen Bewegung der »Antisemitenparteien« um die vorletzte Jahrhundertwende bis hin zur nationalsozialistischen Herrschaft ganz offen und ohne schlechtes Gewissen der Fall gewesen war. Die heutige Zurückhaltung wurde in der Forschung als eine »Kommunikationslatenz« gefasst, die nach der vollständigen Niederlage des nationalsozialistischen Reiches einsetzte (Bergmann/Erb 1986). Im öffentlichen Raum wurden antisemitische Einstellungen verpönt und von der Kommunikation ausgenommen. Der Antisemitismus war damit aber nicht aus den Gedanken und Affekten verschwunden. Die entsprechenden Haltungen blieben bestehen, nicht trotz, sondern auch gerade weil sie nicht öffentlich thematisiert, sondern als abwesend behandelt wurden. Sie waren dabei noch nicht einmal im psychoanalytischen Sinn unbewusst: Im Privatraum, unter Freund_innen, in der Familie, am sprichwörtlichen »Stammtisch« waren sie durchaus bewusstseins- und kommunikationsfähig. Und immer wieder äußerten »mutige Tabubrecher« das antisemitische Ressentiment auch im falschen Rahmen, z. B. in Wahlkämpfen, und waren dann über die offizielle Missbilligung, die sie auf sich zogen, überrascht: Sie würden doch nur aussprechen, was alle im Bekanntenkreis denken würden. Zur Beschreibung dieser Struktur wurden in der Kritischen Theorie um Theodor W. Adorno die Begriffe des »Sekundären Antisemitismus« und des »Krypto-Antisemitismus« (Schönbach 1961; Adorno 1997 [1962]) geprägt.

Insbesondere in der israelfeindlichen Variante, in der islamistischer und sekundärer Antisemitismus vielfältige Verbindungen miteinander eingehen können, tritt das Verschlüsselte dann wieder deutlich und unkaschiert zutage. Bei den eskalierenden antiisraelischen Demonstrationen im Sommer 2014 war das Resultat auf den Straßen deutscher Städte zu sehen. Die daraufhin vom Zentralrat der Juden in Deutschland initiierte Berliner Demonstration im September 2014 unter dem Motto »Steh auf! Nie wieder Judenhass!« war eine merkwürdig unwirkliche Veranstaltung: Die offizielle Politik war sehr prominent und demonstrativ vertreten (Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Joachim Gauck, der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und viele weitere), die nicht-jüdische deutsche Zivilgesellschaft dagegen war bei wenigen Tausend Teilnehmer_innen nur schwach präsent.

Die Bekämpfung des Antisemitismus gehört seit der Gründung der BRD und bis auf Weiteres zur Staatsraison. Alle halbwegs Gebildeten wissen, wie man reden soll. Aber was gärt dort an Nicht-Gesagtem?

Wahnhafter Habitus

Immanuel Kants programmatische Ausführungen über die Aufklärung, welche die Menschen aus Aberglauben und religiöser Borniertheit befreien sollte, sind auch für die Analyse des Antisemitismus von Bedeutung.

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht aus Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. ›Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‹ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« (Kant 1968 [1784]: 35)

Die Vermittlung aufklärenden Wissens bleibt wichtig zur Bekämpfung von Vorurteilen und fake news, aber das Problem der über einzelne Vorurteile weit hinausgehenden Ressentiment-Mentalität ist leider nicht ein Mangel an Verstand, sondern Mangel an Mut. Judenfeind_innen sind nicht (immer) dumm und ungebildet, sondern benutzen ihren Verstand auf eine spezifische Weise – als schein-individuelle Meinung, als empathieverweigernden, lustvoll-gemeinschaftsbildenden, deduktiven Selbstbetrug ohne Rücksicht auf eine Wahrheit, die nicht dem eigenen Gutdünken anheimgestellt ist (vgl. Ranc 2016: 238ff.). Es ist eine Art des Denkens, das angstvoll vor den Konflikten mit sich und der Außenwelt ausweicht, die das Dasein als modernes Subjekt »ohne Leitung eines andern« mit sich bringt. Das antisemitische Denken zeichnet sich, wie Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung gezeigt haben, durch den Umschlag des von allem außerhalb des Subjekts unanrührbar gewordenen Verstandes in eine neue Barbarei aus, der in ihrem Lichte abgewehrte Affekte das verhasste Ziel vorgeben (Adorno/Horkheimer 1997 [1947]). Die selbstverschuldete Unmündigkeit ist trotz und wegen ihres Verstandesvermögens von den Unmündigen gewollt, sie bringt ihnen einen psychischen Gewinn und ist tief in ihren Habitus eingesenkt. Kant schreibt einige Absätze weiter: »Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.« (Kant 1968 [1784]: 36) Und Jean-Paul Sartre hat formuliert, der Antisemitismus sei »etwas ganz anderes als eine Denkweise. Er ist vor allem eine Leidenschaft« (Sartre 1986 [1946]: 109). Die Judenfeindschaft ist ein Hass gegen das imaginierte zersetzende Weltübel und eine inbrünstige Verehrung der angeblich heilen und kameradschaftlichen Eigengruppe. Welche psychische Genese hat diese Leidenschaft? Und was macht ihre psychische Sogwirkung aus, ihre affektive Attraktivität?

Ernst Simmel interpretierte den Antisemitismus schon 1946 als ein kollektives Wahnsystem, als »Massen-Psychopathologie«. Ein Wahn ist eine durch Projektionen massiv verzerrte, realitätswidrige Wahrnehmung. Innere, unerträgliche Objekte werden nach außen verlagert und erscheinen dort dann halluzinatorisch als verfolgende Objekte: Monster, Geheimagenten, strafende Stimmen. Der projektionsgesteuerte Bezug auf die Welt im paranoiden Wahn verhindert die Wahrnehmung eines echten Gegenübers. Kommunikation wird unmöglich und der Versuch, Kontakt aufzunehmen, zum verstörenden Erlebnis. Statt der Dialektik einer Ich-Du-Interaktion entstehen eine undurchdringliche Glaswand, hinter der Gespenster hausen, und zugleich gottgleiche Einheitsgefühle.

Auch der Antisemitismus funktioniert, so Simmel, über projektive Prozesse, und die Vorstellung von der jüdischen Weltverschwörung, die im Geheimen Regierungen, Wirtschaft und Massenmedien lenkt, hat zweifellos etwas Paranoides (Simmel 2002 [1946]). Aber: Antisemit_innen sind keine Wahnkranken. Ein Gespräch mit ihnen ist problemlos möglich. Sie wirken und sind »normal« – bis man unvorsichtigerweise auf das Judentum oder Israel zu sprechen kommt (vgl. Pohl 2010). Adorno und Horkheimer prägten für den psychischen Mechanismus, der den Antisemitismus trägt, den Begriff »pathische Projektion«. Mit dem Wort pathisch, im Gegensatz zu pathologisch, versuchen sie eine gesellschaftliche Normalität zu fassen, die zwar mit Begriffen beschrieben werden kann, die dem Studium von Wahnerkrankungen entstammen, deren Resultat hier aber gerade nicht als dysfunktional und asozialisierend in Erscheinung tritt, sondern als gesunder Menschenverstand anerkannt wird und sogar Gruppenidentität und -zusammenhalt zu stiften vermag. In Minima Moralia spricht Adorno in diesem Sinne auch von »pathischer Gesundheit« (Adorno 1997 [1951b]: 23; vgl. Ihnen 2011: 130ff.).

Simmel beschreibt das Spezifische der Antisemit_innen gegenüber Paranoiker_innen:

1. Der psychische Konflikt und die Projektion werden gesellschaftskonform erledigt (vorausgesetzt die Gesellschaft, in der man lebt, ist eine antisemitische).

2. Das Projektionsobjekt wird angegriffen. Statt paranoischer Ohnmacht entsteht ein Gefühl realitätsgerechter Macht. Antisemit_innen haben, anders als die Paranoiker_innen vor dem sie Verfolgenden, keine Angst vor Juden und Jüdinnen (Simmel 2002 [1946]; Sartre 1986 [1946]: 134).

Verworfene Anteile des Selbst werden im Anderen deponiert und dort dann stellvertretend und kulturell erlaubt und unterstützt verfolgt. Antisemitismus ist als Putativnotwehr zu begreifen, als Notwehr gegen eine eingebildete Verfolgung. Was genau aber wird projiziert und mit den Jüdinnen und Juden angegriffen? Und was sind das für Gemeinschaften, die diesen Wahn für eine akzeptable Realitätswahrnehmung halten? Wie ist ihre affektive Bindungskraft, ihr Zusammenhalt strukturiert?

Hassende Gemeinschaft

Antisemitische Gemeinschaften funktionieren massenpsychologisch. Freud hat wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg in seinem Text Massenpsychologie und Ich-Analyse das psychische Geschehen in identitären Organisationen beschrieben, die sich um »Ideen des Vaterlandes, des nationalen Ruhmes« und Ähnliches oder aber um einen Führer, der die Gemeinschaft verkörpert, scharen. Freud wählte als Beispiele hierfür die katholische Kirche und das Heer der KuK-Monarchie (Freud 2000 [1921]). Adorno hat das Konzept dann später auf die nationalsozialistische Volksgemeinschaft übertragen (Adorno 1997 [1951a]). »Meine ganze Libido gehört Österreich-Ungarn« hatte Freud kurz nach Kriegsbeginn im Rausch patriotischer Begeisterung formuliert (Jones 1969 [1961]: 438), um allerdings schnell wieder zu ernüchtern und sich zu fragen, was das für ein merkwürdiger Taumel gewesen war, der ihn da ergriffen hatte. Er führt dann in seiner Massenpsychologie aus, dass das Nationalgefühl als Idealisierung des Vaterlandes einer gemeinsamen Verliebtheit in dieses Ideal, verkörpert in seinen Symbolen (Fahne) und personalen Repräsentanten (Kaiser), gleiche, deren Geteiltheit es den Massenmitgliedern erlaubt, sich miteinander zu identifizieren, sich eins zu fühlen in der gemeinsamen Liebe. Anstelle des individuellen Über-Ichs wird in dieser Schwärmerei ein kollektives Ich-Ideal errichtet, welches letztlich das gewissenlose Überschreiten aller Moralgrenzen ermöglicht, wenn es dem Kollektiv dient: »Du bist nichts, dein Volk ist alles!« und »Gut ist, was für Deutschland gut ist!« waren neben der Feindbestimmung – »Die Juden sind unser Unglück!« – die Wahlsprüche der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, in der diese sozialpsychologische Dynamik auf die Spitze getrieben wurde. Das affektive Geschehen in solchen massenpsychologisch konstituierten Kollektiven zeichnet sich durch erlebte Gefühle der Einheit und der gemeinsamen Stärke aus. Man fühlt sich Anderen, Außenstehenden überlegen und mit sich und dem großen Ganzen im Reinen. George Herbert Mead hat das »Hochgefühl beim Patriotismus« als eines absoluter, bruchloser Identität beschrieben: Das spontane »I« und das kulturelle »me« verschmelzen miteinander (Mead 1973 [1934]: 320ff.). Adorno nannte dieses Erleben treffend »kollektiven Narzissmus«: Als Individuum verschwindet man, der individuelle Narzissmus wird zutiefst gekränkt, im Kollektiv aber wieder repariert: Als Teil der Gemeinschaft ist man großartig (Adorno 1997 [1959]: 114).

Die Einheit würde sich nun allerdings schnell wieder zersetzen durch die Wut auf die verlangte Unterordnung – »Du bist nichts« ist kränkend – sowie durch all die Ambivalenzen individueller Begegnungen: Begehren, Eifersucht, Lust, Zweifel, Gewissensbisse und Angst. Dies alles muss unter dem Vorzeichen des kollektiven Narzissmus unbewusst gehalten werden, um die Kompensation der völkischen Großartigkeit genießen zu können. Für die mentale Hygiene des Kollektivs ist die Auslagerung all dieses Störenden zwingend notwendig, um es nicht als Teil des eigenen Fühlens bewusst erleben zu müssen. Massenpsychologische Kollektive benötigen daher notwendigerweise äußere Feinde. Schon Freud hat dies genau erkannt: »Das Gemeinschaftsgefühl der Massen braucht zu seiner Ergänzung die Feindseligkeit gegen eine außenstehende Minderzahl« (Freud 2000 [1939]: 538). In dieser Funktion habe »das überallhin versprengte Volk der Juden« sich – wie Freud bitter-sarkastisch schreibt – »anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen seiner Wirtsvölker erworben« (Freud 2000 [1930]: 243).

Diese projektive Dynamik kennzeichnet auch den Rassismus und Antisemitismus von Pegida und AfD, die eine erneuerte völkische Gemeinschaft anstreben. Wenn immer wieder gefordert wird, man müsse die Ängste dieser Leute vor »den Fremden« ernst nehmen, dann ist dem zu erwidern: Nein, denn ihre Ängste sind ganz andere, gegen die sie sich mit einer starken nationalen Identität und ihrer Fremdenfeindlichkeit wappnen. »Wir haben Angst vor den vielen Flüchtlingen, die uns überfremden« oder auch »Wir haben Angst vor der (jüdischen) Weltverschwörung« ist keine Angstäußerung, sondern das Resultat einer Angstabwehr. Die grölenden Pegidist_innen wirken daher bei ihren Aufmärschen nicht gerade verängstigt und sind es auch nicht. Die von ihnen zelebrierte Angstlust (vgl. Balint 1972 [1959]), das Ausmalen der Gefahren die ihnen und ihrem Volk drohten, ist eine aggressive Lust an der Überwindung der Angst vor dem Dasein als autonomem Subjekt, der Angst davor, sich als solches seines Verstandes bedienen zu müssen. Nicht ausgedrückt, sondern abgewehrt und scheinbar überwunden werden diese bedrohlichen, in Zeiten sozialer Erosionen, die die äußeren Korsetts der Existenz schwanken lassen, noch verschärften Ängste, von deren Stärke das Ressentiment zehrt:

Der Antisemit »ist ein Mensch, der Angst hat. Nicht vor den Juden, vor sich selbst, vor seiner Willensfreiheit, seinen Instinkten, seiner Verantwortung, vor der Einsamkeit und vor jedweder Veränderung, vor der Welt und den Menschen, vor allem – außer vor den Juden. Er ist ein uneingestandener Feigling; ein Mörder, der seine Mordsucht verdrängt und kennt, ohne sie zügeln zu können, und der es doch nur wagt, bildlich oder im Anonymat der großen Masse zu töten; ein Unzufriedener, der aus Angst vor den Folgen seiner Auflehnung es nicht wagt, sich aufzulehnen.« (Sartre 1986 [1946]: 134)

Die Ängste werden überwunden durch Verschiebung (Angst vor Verlust der gesellschaftlichen Einbettung: Abstieg oder Unruhen – je nach sozialer Position) und Projektion (Angst vor den eigenen Über-Ich- und Triebwünschen). Als Vereinzelte hätten die Juden- und Fremdenfeind_innen vor vielem Angst, als Kollektiv aber gehen sie zum Angriff über gegen das, wovor sie nun glauben, »Angst« gehabt zu haben. Und sie genießen den Thrill.

Das Gemeinschaftsmitglied bleibt aber – wider Willen – immer ein in Konflikte und Ambivalenzen verwickeltes Subjekt und wird nicht tatsächlich zur aindividuellen »Volkszelle«. Das davon abweichende Empfinden, das man nicht loswird, muss pausenlos und mit fanatischer Konsequenz abgewehrt und projiziert werden. Der »Erlösungsantisemitismus« (Saul Friedländer) soll die Welt von dem zersetzenden Menschsein heilen und zum völkisch-ganzheitlichen Paradies führen. Er soll erlösen von dem »geistigen Giftpilz der Gemeinschaftszersetzung«, wie ein sächsischer NPD-Abgeordneter die Kritische Theorie genannt hat. Was er verabscheut, ist:

»die grundfalsche Prämisse der Aufklärung vom autonomen Individuum. Das, was Adorno gerne als Medizin gegen die neuerliche Entfremdung und Entmündigung des Menschen verschreiben würde, ist das eigentliche Gift. Wer sich wie Adorno und seine Mitstreiter vom Institut für Sozialforschung die Zerstörung der Identität, Halt und Zusammengehörigkeit stiftenden Volksgemeinschaft aufs Panier geschrieben hat, darf sich doch nicht verwundert die Augen reiben, wenn die entwurzelten Einzelnen plötzlich zum manipulierbaren Spielball anonymer Machtstrukturen und eines Verblödungsregimes werden. Denn wo das Volk zerstört wird, stirbt die Gemeinschaft, wo die Gemeinschaft zerstört wird, stirbt die Kultur und wo die Kultur zerstört wird, stirbt der Einzelne.« (Gansel 2004)

Statt der in sich widersprüchlichen Dialektik von Aufklärung und Individualität soll die Harmonie der Volksgemeinschaft, die weder Hingabe ans Andere noch Selbstbehauptung gegen das Ganze kennt, herrschen. Adorno hat einmal geschrieben, dass solch verbissenes und angstabwehrendes Festhalten an der völkischen Identität und ihren individualistischen Feind_innen geradezu einer vor sich selbst aufgeführten »Show« ähnele (Adorno 1997 [1946]: 402). Würden die Volkszellen nur einen Moment innehalten und zur Besinnung kommen, würde der ganze idyllisch-hassende Selbstbetrug zusammenbrechen und sie dessen gewahr werden, dass sie doch noch Menschen sind. Daher tun sie alles, um eben nicht zur Besinnung zu kommen.

Anders als im Rassismus ist das Projizierte im Antisemitismus umfassender. Während in ersterem Es-Impulse ausgelagert werden, betrifft dies im Antisemitismus auch Ich- und Über-Ich-Anteile: »Der Jude« des Klischees ist nicht nur lüstern, dreckig und »weibisch«, sondern auch verkopft, patriarchal und Anhänger einer Gesetzesreligion (vgl. Winter 2013b: 325ff.). Er vertritt sowohl das Gesetz als auch die Lüste und steht damit letztlich für die dialektische Existenzweise als Subjekt zwischen Natur und Kultur, Trieb und Geist und all den damit verbundenen Ambivalenzen und Konflikten, für den Mangel an Sein als Nicht-Kern moderner Subjektivität, der Identität zersetzt und unmöglich macht (vgl. Sartre 1991 [1943]; Winter 2013a).

Im Antisemitismus wird auch die Ambivalenz der Autorität und des Widerstandes gegen sie, in der sich diese Subjektivität bildet, aufgelöst in Klarheiten: blinde, absolute Unterwerfung einerseits, ebenso blinder und absoluter Hass auf vermeintliche Herrscher andererseits. Die innere Figur der Autorität wird gespalten. Sie wird auf »die Juden« projiziert, aber auch als Führer verehrt. Die von Kant beschriebene autoritätshörige Liebe zur eigenen Unmündigkeit fühlt sich an wie eine Befreiung und Selbstverwirklichung. In Form einer konformistischen Rebellion ermöglicht der Antisemitismus eine Auflehnung gegen die Zwänge und Zumutungen des Kollektivs und seiner Hierarchien, die diese aber eben nicht infrage stellt. Auf diese Weise kann sowohl gegen oben als auch gegen unten rebelliert werden, gegen das Verbietende und das Verbotene zugleich (Fenichel 2002 [1946]). Im »Bündnis von Mob und Elite« (Eike Geisel) sollen die gesellschaftlichen und normativen Grundstrukturen bewahrt und gefestigt werden (Familie, Marktwirtschaft, Nationalstaaten) und zugleich fühlt man sich mutig und frech gegen »die da oben«. Dies macht den Antisemitismus auch für intentionale politische Instrumentalisierungen durch herrschende Regimes attraktiv: Wenn die Hamas von der eigenen Korrumpiertheit ablenkt, indem sie Israel zum gemeinsamen Feind erklärt, macht sie nichts anderes als der Fürst im Mittelalter, der seine Jüdinnen und Juden zum Pogrom freigab.

Der Antisemitismus besteht psychodynamisch aus drei Schritten: 1) Eine massenpsychologische Begeisterung und 2) ein projektiver Hass werden enthemmt agiert ohne Rücksicht auf ethische Grenzen, und 3) diese Euphorie und dieser Gewaltimpuls werden nachträglich rationalisiert als politisch und moralisch gerechtfertigt oder gar naturgesetzlich notwendig. Auf jeden Fall hätten sie nichts mit blinden Leidenschaften zu tun. Hier entfalten sich dann die Feinheiten der Diskurse des »seriösen Antisemitismus« im Gegensatz zum verachteten »Radau-Antisemitismus«. Letzterer Schritt, in welchem der Ressentiment-Verstand seine Rolle spielt und der allein die gebildeten von den dummen Antisemit_innen unterscheidet, ist wichtig, um die unbewussten Leidenschaften zugedeckt zu lassen und die durch sie bedingten Handlungsimpulse zugleich erklären zu können. Der_die Hassende erscheint vor sich und anderen als überlegt und von »gesundem Menschenverstand« geleitet. Glaubt man den Rationalisierungen in der Analyse zu sehr, entsteht so das Bild des leidenschaftslosen, bürokratisch-wissenschaftlich vorgehenden Täters – oder, im aktuellen Kontext, man zeigt Verständnis für die »Sorgen der Menschen angesichts so vieler Flüchtlinge« und für die »berechtigte Kritik am Staat Israel«.

Erlösung durch Erinnerung?

Nach 1945 ist ein neues Motiv für den Judenhass hinzugekommen, das zu dem sekundären und Krypto-Antisemitismus führt, dem mehr oder weniger versteckten Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz: die mentale Abwehr gegen die Erinnerung an die Grenzüberschreitungen in der völkisch-antisemitischen Euphorie und dem gläubigen Endkampf der deutschen Schicksalsgemeinschaft – und deren vollständiges Scheitern. Um die ungeheure Kränkung des kollektiven Narzissmus zu vermeiden, die mit dem Erkennen dieses Versagens hätte einhergehen müssen, wurde der Verlust der sakralisierten Gemeinschaft zusammen mit der Erinnerung, dass es da überhaupt einmal etwas gegeben hatte, das man hätte verlieren können, innerlich »kryptisiert« – abgespalten und aufbewahrt (Lohl 2010; Brunner 2011): Manifest wollte nach Kriegsende kaum jemand mehr ein Nationalsozialist oder eine Nationalsozialistin gewesen sein, latent aber wurde der damals erlebte massenpsychologische Narzissmus oft gerade dann festgehalten, wenn manifest die Distanzierung von »den Nazis« betont und scharf ausfiel: Ein entsprechendes Diskursmuster war dann »Die Nazis haben die deutsche Volksgemeinschaft verraten. Die waren doch selbst verjudet!« (vgl. Winter 2010). Ein klarer Schlussstrich sollte unter diese anrüchige Vergangenheit gezogen werden.

Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus konstituiert sich seit der deutschen »Wiedervereinigung« in einem veränderten Rahmen: Die Verleugnung und das Wegsehen, welche die Nachkriegszeit bis weit in die 1980er Jahre hinein geprägt hatten, gelten als überholt. Mittlerweile habe gerade das genaue Hinsehen und Aufarbeiten endlich den Zustand der Schande überwunden und niemand müsse sich mehr ihrer oder seiner deutschen Nationalgefühle schämen. Die Gedenkkultur ist im Zuge dieser Entwicklung professionalisiert, musealisiert und staatstragend geworden. Man ist stolz auf Deutschland als »Weltmeister der Aufarbeitung« und die Vergangenheit ist vom höchstens schamvoll eingestandenen nationalen Schandfleck qua »Aufarbeitung« zur Quelle moralischer Strahlkraft und Selbstgefälligkeit geworden. »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung« – hatte Bundespräsident Weizsäcker bereits 1985 in seiner viel gerühmten Rede zum 40. Jahrestag der »Befreiung« der Deutschen vom Nationalsozialismus erkannt. Mittlerweile sei diese Aufgabe erledigt, Deutschland bunt, fröhlich und weltoffen.

In den letzten Jahren ist aber zunehmend die Kehrseite dieser scheinbaren Erfolgsgeschichte der Erinnerungskultur unübersehbar geworden. Die demonstrative Schuldanerkennung ist verbunden mit dem Bild einer moralisch wieder reinen deutschen Nation und trägt bei zu – so Wolfram Stender – einer »Restitution des beschädigten kollektiven Narzissmus. Schuldbekenntnis und Erlösungserwartung gehen Hand in Hand« (Stender 2015: 8; vgl. Quindeau 1997; Messerschmidt 2010).

Unter dem Vorzeichen dieser Form der Aufarbeitung von jedem Verdacht reingewaschen darf man nun auch endlich wieder als »erwachsene Nation« aufrechtgehen, die anderen kritisieren, das eigene Deutschsein verteidigen und die eigenen Opfer beklagen. Die von Katharina Meyer beobachteten Jugendlichen sind in genau dieser Weise ausgesprochen stolz darauf, deutsch zu sein: