Frankenstein - Der Schöpfer - Dean Koontz - E-Book

Frankenstein - Der Schöpfer E-Book

Dean Koontz

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Beschreibung

Der Krieg gegen die Menschheit hat begonnen

Zwei Jahre ist es her, dass Victor Frankenstein gestorben ist. Und dennoch setzt jemand namens »Victor Leben« sein Zerstörungswerk fort: In einem Städtchen in Montana werden Schritt für Schritt alle Menschen durch Angehörige der Neuen Rasse er setzt. Ein Probelauf für die ganze Welt. Wird es dem Polizisten duo Carson O’Connor und Michael Maddison mit ihren wenigen Verbündeten gelingen, den Wahnsinn zu stoppen?

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Dean Koontz

FRANKENSTEIN

Der Schöpfer

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Ursula Gnade

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

DEANKOONTZ’ FRANKENSTEINBOOKFOUR, LOSTSOULS

by Bantam Dell, a Division of Random House Inc., New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 04/2012

Copyright © 2010 by Dean Koontz

Copyright © 2012 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Satz: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-06903-2V002

www.heyne.de

Für Tracy Devine und Fletcher Buckley,

die sich in einer verrückt gewordenen Welt

gegenseitig erfrischend zurechnungsfähig halten.

Möge euer beider Leben voller guter Bücher,

guter Musik, guter Freunde und – angesichts eurer

leichtsinnigen Urlaubszielwahl –

nur voller guter Bären sein.

Die Menschen unterscheiden sich nicht allzu sehr darin,

welche Dinge sie als Übel bezeichnen;

wohl aber unterscheiden sie sich darin,

welche Übel sie als entschuldbar ansehen.

G. K. Chesterton

1.

Der Oktoberwind kam von den Sternen herab. Mit dem Zischen einer Airbrush-Pistole schien er den bleichen Mondschein wie einen Farbnebel über die Schieferdächer der Kirche und der Abtei zu wehen, über die hohen Fenster und an den Kalksteinmauern hinunter. Dort, wo der Rasen stellenweise durch die jüngste Kälte ausgeblichen war, ähnelte das tote Gras im frostigen Mondlicht Eis.

Um zwei Uhr morgens machte Deucalion einen Spaziergang um das knapp drei Hektar große Grundstück herum, dem Rande des Waldes folgend, von dem es umgeben war. Er brauchte kein Laternenlicht, das ihm den Weg wies, und er hätte es nicht einmal in der tiefsten Schwärze der Bergwälder gebraucht.

Von Zeit zu Zeit hörte er Geräusche unbekannten Ursprungs zwischen den hoch aufragenden Kiefern. Er trug keine Waffe bei sich, denn er fürchtete nichts im Wald, nichts in der Nacht, nichts auf Erden.

Obwohl er ungewöhnlich groß, muskulös und kräftig war, entsprangen sein Selbstvertrauen und seine Seelenstärke nicht seiner Körperkraft.

Er lief bergab, an der Schule von St. Bartholomew vorbei, in der Waisenkinder mit körperlichen Behinderungen und Entwicklungsstörungen im Schlaf flogen, während die Benediktinernonnen über sie wachten. Nach Angaben von Schwester Angela, der Mutter Oberin, ging es in dem häufigsten Traum ihrer jungen Schützlinge darum, aus eigener Kraft zu fliegen, sich hoch über die Schule, die Abtei, die Kirche und den Wald aufzuschwingen.

Die meisten Fenster waren dunkel, doch in Schwester Angelas Büro im Erdgeschoss schimmerte Licht. Deucalion spielte mit dem Gedanken, sie um Rat zu fragen, aber sie kannte nicht die volle Wahrheit über ihn, die sie hätte erfahren müssen, um sein Problem zu verstehen.

Jahrhundertealt, aber geistig jung, nicht von Mann und Frau gezeugt, sondern stattdessen aus den Leichen toter Schwerverbrecher zusammengesetzt und durch seltsame Blitze zum Leben erweckt, fühlte sich Deucalion nirgendwo sonst so wohl wie in Klöstern. Als das erste und, so glaubte er, einzige überlebende Geschöpf Victor Frankensteins gehörte er auf dieser Welt nirgendwohin, und doch fühlte er sich in der St. Bartholomew’s Abbey nicht als Außenseiter. Schon früher hatte er sich als Besucher französischer, italienischer, spanischer, peruanischer und tibetanischer Klöster wohlgefühlt.

Er hatte seine Unterkunft im Gästeflügel verlassen, weil ihn ein Verdacht plagte, der ihm irrational erschien, den er aber trotzdem nicht abschütteln konnte. Er hoffte, ein Spaziergang in der kühlen Bergluft würde sein bedrücktes Gemüt aufhellen.

Als Deucalion das Grundstück umrundet hatte und den Eingang zur Abteikirche erreichte, war ihm klar geworden, dass sich sein Verdacht nicht etwa auf logisches Denken gründete, sondern auf Intuition. Er war weise genug und besaß ausreichend Erfahrung, um zu wissen, dass die Intuition die höchste Form des Wissens war und niemals ignoriert werden sollte.

Ohne die Tür zu benutzen, trat er aus der Nacht in die innere Vorhalle der Kirche.

Er wagte es, zwei Finger in das Weihwasserbecken zu tauchen, das Kreuzzeichen zu machen und den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist anzurufen. Seine Existenz war eine Blasphemie, eine Kampfansage an die Heilige Ordnung, da sein Schöpfer gegen das Göttliche und gegen sämtliche Naturgesetze aufbegehrt hatte. Und doch hatte Deucalion Grund zu hoffen, er sei nicht nur ein Ding aus Fleisch und Knochen und sein endgültiges Schicksal könnte vielleicht doch nicht darin bestehen, der Vergessenheit anheimzufallen.

Ohne das lange Hauptschiff zu durchqueren, begab er sich vom Eingang direkt zum Chorgitter.

Die Kirche lag größtenteils im Dunkeln und wurde nur von einem Licht, das auf das große Kruzifix über dem Altar gerichtet war, und flackernden Votivkerzen in dunkelroten Gläsern erhellt.

Sowie Deucalion an dem Gitter auftauchte, merkte er, dass außer ihm noch jemand in der Kirche war. Als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, drehte er sich um und sah einen Mönch, der sich von der vordersten Kirchenbank erhob.

Mit seinen eins siebzig und seinen neunzig Kilo war Bruder Salvatore weniger fett als vielmehr in dem Sinne kompakt, in dem man den Würfel, zu dem eine hydraulische Presse ein Auto zusammenstaucht, als kompakt bezeichnen würde. Er sah aus, als würden selbst Gewehr- und Pistolenkugeln einfach von ihm abprallen.

Es mochte sein, dass die harten Kanten und der grobe Schnitt seines Gesichts Salvatore in seiner Jugend, als er außerhalb des Gesetzes gelebt hatte, einen bedrohlichen Aspekt verliehen hatten. Aber sechzehn Jahre im Kloster, Jahre der Reue und der Zerknirschung, hatten seinen einst kalten grauen Augen einen Ausdruck von Güte verliehen und sein vormals bestialisches Lächeln in ein glückseliges verwandelt.

In dem Kloster war er Deucalions engster Freund.

Seine großen Hände, die einen Rosenkranz hielten, schienen nur aus Knöcheln zu bestehen, und das hatte ihm in seinem früheren Leben seinen Spitznamen eingetragen. Hier in der Abtei wurde er liebevoll Bruder Knuckles genannt.

»Wer war das noch mal, dem sie nachgesagt haben, er habe den Schlaf ermordet?«, fragte Knuckles.

»Macbeth.«

»Ich dachte mir, dass du das weißt.«

Vielleicht fehlte Deucalion, weil er aus Leichenteilen erschaffen worden war, das tägliche Schlafbedürfnis, das all jene charakterisierte, die von den Lebenden abstammten. In den seltenen Nächten, in denen er schlief, träumte er immer.

Bruder Knuckles kannte die Wahrheit über Deucalion: seine Ursprünge in einem Laboratorium, seine Belebung durch Blitze, seine frühen Verbrechen und sein Streben nach Erlösung. Der Mönch wusste auch, dass sich Deucalion in seinen schlaflosen Nächten im Allgemeinen mit Büchern beschäftigte. Im Laufe von zwei Jahrhunderten hatte er mehr Bücher gelesen, als in den größten Bibliotheken der Welt zu finden waren, viele davon mehrfach.

»Bei mir ist es nicht Macbeth. Es ist die Erinnerung«, sagte der Mönch. »Die Erinnerung ist pures Koffein.«

»Du hast die Absolution für deine Vergangenheit empfangen.«

»Das bedeutet nicht, dass sich die Vergangenheit nie abgespielt hat.«

»Erinnerungen sind keine alten Kleidungsstücke, die sauber werden, wenn man sie nur oft genug auswringt.«

»Vermutlich werde ich den Rest meines Lebens damit verbringen, sie trotzdem auszuwringen. Was führt dich hierher?«

Deucalion hob eine Hand, um die Konturen der zerstörten Hälfte seines einst attraktiven Gesichts nachzuzeichnen, und murmelte: »Er ist auferstanden.«

Der Mönch sah das Kruzifix an und sagte: »Das würde ich nicht gerade als eine Neuigkeit bezeichnen, mein Freund.«

»Ich spreche von meinem Schöpfer, nicht von deinem.«

»Victor Frankenstein?«

Der Name schien im Deckengewölbe zu hallen wie keine anderen Worte je zuvor.

»Victor Helios, wie er sich zuletzt genannt hat. Ich habe ihn sterben sehen. Aber er lebt wieder. Irgendwie … lebt er.«

»Woher weißt du das?«

»Woher weißt du das Wichtigste, was du weißt?«, erwiderte Deucalion.

Der Mönch warf wieder einen Blick auf das Kruzifix und sagte: »Durch das Licht der Offenbarung.«

»Meine Offenbarung ist frei von Licht. Es ist eine finstere Strömung in meinem Blut, dunkel, kalt, zäh und beharrlich, die mir sagt: Er ist am Leben.«

2.

Erskine Potter, der zukünftige Bürgermeister von Rainbow Falls, Montana, lief langsam durch die dunkle Küche, geleitet von der grünen Leuchtanzeige der Digitaluhren an den beiden Öfen.

Die Uhr am oberen Ofen zeigte 2:14 an, die Uhr am unteren 2:11, als flösse die Zeit in Bodennähe träger als unter der Decke.

Da er ein Perfektionist war, wollte Potter beide Uhren auf 2:16 umstellen, denn das war die korrekte Uhrzeit. Der Zeit musste man Respekt entgegenbringen. Die Zeit war das Schmiermittel, das es den Mechanismen des Universums gestattete, reibungslos zu funktionieren.

Von nun an würde er die Uhren zweimal täglich überprüfen, um festzustellen, ob sie Zeit verloren. Wenn das Problem nicht auf menschlichem Versagen beruhte, würde Potter die Uhren auseinandernehmen und sie wieder zusammenbauen.

Während er in der Küche umherlief, ließ er seine Hand über die kühlen Granitarbeitsflächen gleiten – und blickte finster, als sie auf ein paar knusprige Krümel traf. Sie blieben an seiner Handfläche kleben.

Er hielt sich die Handfläche unter die Nase und roch an den Krümeln. Weizenmehl, Sojaöl, Palmöl, Käse aus entrahmter Milch, Salz, Paprika, Hefe, Sojalezithin.

Als er die schmackhaften Krümel von seiner Handfläche leckte, wurde seine Analyse bestätigt: Die Krümel stammten von Cheez-Its.

Er mochte Cracker, und Cheez-Its mochte er ganz besonders gern. Aber er mochte es nicht, wenn Krümel auf den Arbeitsflächen in der Küche zurückblieben. Das war vollkommen indiskutabel.

Am Gasherd hob er den Rost über einem der Brenner hoch, legte ihn zur Seite, zögerte und fuhr dann mit den Fingerspitzen über die Edelstahloberfläche. Sie war fettig.

Erskine Potter war der Überzeugung, der Herd sollte nach jedem Gebrauch gesäubert werden, nicht nur ein- oder zweimal in der Woche. Werkzeuge, Geräte und Maschinen funktionierten besser und hielten länger, wenn man sie sauber hielt und sie entsprechend pflegte.

Im Spülbecken fand er Geschirr, das auf den Abwasch wartete: Teller, Schalen, Besteck, das in Trinkgläsern stand. Wenigstens schien alles vorgespült zu sein.

Er schreckte davor zurück, in den Kühlschrank zu schauen, da er sich Sorgen machte, das, was er vorfinden würde, könnte ihn in Wut versetzen. Wenn er in Wut geriet, würde das seiner Konzentration und seiner Effizienz Abbruch tun.

Konzentration und Effizienz waren wichtige Prinzipien. Es gab nur wenige Menschen auf der Welt, die konzentriert und effizient waren. Zum Wohle des Planeten mussten die Unkonzentrierten und die Ineffizienten getötet werden.

Als Bürgermeister von Rainbow Falls, Montana, würde er nie in einer Position sein, die ihm genügend Macht verlieh, um Millionen von Menschen auszurotten, aber er würde seinen Teil dazu beitragen. Unabhängig von der Bandbreite seiner Vollmachten und der Größenordnung seines Aufgabenbereichs war jedes Mitglied der Gemeinschaft so wertvoll wie jedes andere.

Absolute Gleichheit war ein wichtiges Prinzip.

Aufgeschlossenheit gegenüber kühler Vernunft und Ablehnung von Sentimentalität waren zwei weitere wichtige Prinzipien.

Unermüdliche Zusammenarbeit mit anderen in der Gemeinschaft war ebenfalls ein wichtiges Prinzip, ebenso die Geheimhaltung ihrer Existenz vor gewöhnlichen Männern und Frauen.

Es gab noch andere wichtige Prinzipien, aber keines war wichtiger als eines der anderen. Wenn es keine Wertehierarchie gab, fiel es sehr leicht, Entscheidungen zu treffen. Wenn er vor einem Problem stand oder sich in einer schwierigen Situation wiederfand, tat Erskine Potter – wie jedes andere Mitglied der Gemeinschaft – einfach das, was am effizientesten war, ergriff die direktesten Maßnahmen und war zuversichtlich, das Richtige getan zu haben.

Die einzige Moral war die Effizienz. Die einzige Unmoral war die Ineffizienz.

Bürgermeister Potter stellte seine Selbstbeherrschung auf die Probe und riskierte einen Wutausbruch. Er öffnete die Kühlschranktür. Was für ein heilloses Durcheinander.

Gläser mit Oliven und sauren Gurken standen im selben Türeinsatz wie eine Dosierflasche mit Schokoladensirup. Kapern, Senf, Ketchup und mexikanische Soße, die logischerweise bei den Oliven und den Gurken stehen sollten, standen stattdessen im selben Türeinsatz wie eine Dose Sprühsahne und ein Glas Maraschino-Kirschen, die doch ganz offensichtlich zum Schokoladensirup gehörten. Die Lebensmittel auf den eigentlichen Ablagen wurden in einem unsäglichen Durcheinander aufbewahrt.

Ein entsetztes Zischen drang durch Potters zusammengebissene Zähne. Trotz seines Missfallens und seiner Empörung würde er es sich nicht erlauben, in Wut zu geraten.

Da er entschlossen war, die dringlichste Aufgabe forsch in Angriff zu nehmen, schloss er die Kühlschranktür.

Schwach wahrnehmbare Schritte erklangen aus dem Raum über ihm. Potter hörte, dass jemand die Treppe hinunterkam.

Im Flur zur Küche wurde es hell. Eine Deckenlampe aus Kristallglas warf geometrische Lichtmuster auf die Wände und den Boden, als bekäme die Realität Sprünge.

Erskine Potter floh nicht. Er versteckte sich nicht. Er blieb am Kühlschrank stehen und wartete.

Eine Silhouette erschien in der Tür. Plötzlich durchflutete kaltes Licht von den Neonröhren an der Decke die Küche.

Mit einem Schlafanzug und Pantoffeln bekleidet, kam der derzeitige Bürgermeister von Rainbow Falls, Montana, in den Raum, offenbar auf der Suche nach einem spätnächtlichen Snack. Er war knapp einen Meter achtzig groß, wog achtzig Kilo, war zweiundfünfzig Jahre alt und hatte braunes Haar und ein freundliches rundes Gesicht. Er war der Sohn von Loretta und Gavin Potter und hieß Erskine.

Der derzeitige Bürgermeister Potter blieb fassungslos stehen und sah sein Duplikat ungläubig an.

Der zukünftige Bürgermeister Potter sagte: »Erskine. Mein geliebter Bruder, ich habe dich mein halbes Leben lang gesucht.«

Das war eine Lüge. Loretta und Gavin Potter waren nicht die Eltern des Eindringlings. Er war auch nie geboren worden. Stattdessen hatte er binnen weniger Monate sein reifes Alter erlangt und war programmiert und ausgeworfen worden.

Er gab sich nur deshalb als der Zwillingsbruder des derzeitigen Bürgermeisters aus, weil diese Behauptung sein Opfer vorübergehend verwirren und entwaffnen würde.

Während er mit ihm sprach, breitete er die Arme aus, als wollte er seinen lange verlorenen Bruder an sich drücken. Dann packte er den Bürgermeister, rammte ihm bösartig ein Knie in die Weichteile und stieß ihn in die Ecke neben den beiden Öfen mit den ungenau eingestellten Uhren.

Unter seiner Jacke zog er etwas heraus, was wie eine Pistole aussah. Er presste die Mündung an die linke Schläfe des Bürgermeisters und betätigte den Abzug.

Anstelle einer Kugel feuerte die Waffe eine Nadel ab, die den Schädel durchbohrte und bis zu einer bestimmten Tiefe ins Gehirn eindrang.

Augenblicklich hörte der Bürgermeister auf, sich wegen seiner zerquetschten Hoden zusammenzukrümmen, und er hörte auf, nach Luft zu schnappen. Seine Augen waren so weit aufgerissen wie die eines Kindes, das maßlos verwundert ist.

Da die Nadel das Gewebe, das sie durchstach, verätzte, blutete das Opfer nicht.

Wie ein Nagel hatte auch die Nadel einen Kopf. Er war nicht flach, sondern abgerundet und ähnelte einem dekorativen Polsterknopf.

Er sah aus wie ein silberner Käfer, der sich an die Schläfe des Bürgermeisters klammerte. Die Nadel war eine Sonde, und in ihrem Kopf waren Unmengen von Elektronik enthalten, verzwickte Nanoschaltkreise.

Der Eindringling führte den fügsamen Bürgermeister zum Küchentisch, zog einen Stuhl hervor und sagte: »Sitz.«

Als sich der Bürgermeister auf den Stuhl setzte und die Hände mit den Handflächen nach oben auf seinen Schoß legte, ging der Eindringling zur Hintertür und öffnete sie.

Die Frau und das Mädchen kamen von der Veranda ins Haus. Nancy Potter war vierundvierzig, attraktiv und hatte struppiges blondes Haar. Ariel, die Tochter, war vierzehn. Tatsächlich handelte es sich jedoch um Replikanten der echten Nancy und der echten Ariel: gezüchtet, programmiert und neun Tage zuvor ausgeworfen.

Nancy schloss leise die Hintertür. Ariel ließ ihren Blick durch die Küche schweifen und starrte dann die Decke an. Auch Nancy konzentrierte sich auf die Decke, und dann tauschten sie und Ariel einen Blick.

Während der Replikant von Erskine Potter zusah, verließen die Frau und das Mädchen leise die Küche und liefen durch die Diele zur Treppe. Ihm gefielen ihre Art, sich zu bewegen, ihre Anmut, ihre Schnelligkeit und ihre enorme Effizienz. Die beiden waren ganz nach seinem Geschmack.

Er setzte sich dem echten Erskine Potter am Tisch gegenüber, richtete die Pistole, die damit ihre Aufgabe erfüllt haben würde, auf ihn und betätigte den Abzug. Der zweite »Schuss« war ein telemetrischer Befehl, der die in der Nadel enthaltene Elektronik einschaltete und die Datenübertragung auf ein Verarbeitungs- und Speichermodul im Gehirn des Replikanten in Gang setzte.

Der Eindringling nahm die Küche um sich herum zwar immer noch wahr, doch gleichzeitig rasten Bilder durch seinen Kopf, die aus den grauen Zellen des Bürgermeisters stammten, Ströme von Bildern, die meisten miteinander verbunden und seriell. Daneben aber auch zusammenhangslose Eindrücke, Momente eines Lebens.

Mit den Bildern gingen Daten einher: Namen, Orte, Erlebnisse, Dialogfetzen, Befürchtungen und Hoffnungen. Er nahm einen Download der Erinnerungen des Bürgermeisters mit all den Verzerrungen und Brüchen vor, die Teil dieser Erinnerungen waren.

Am Ende dieser Sitzung würde der Eindringling in der Lage sein, selbst bei den engsten Freunden des Bürgermeisters als der echte Erskine Potter durchzugehen. Er würde jeden in Potters Leben wiedererkennen und bezüglich jeder Person auf einen reichen Erinnerungsschatz zurückgreifen können.

Der Download nahm neunzig Minuten in Anspruch und hinterließ bei ihm das Bedürfnis, pinkeln zu gehen. Er wusste nicht, wieso das der Fall sein sollte, aber es war so dringend, dass er es kaum bis zur Gästetoilette neben der Haustür schaffte, ohne sich in die Hose zu machen.

Als der neue – und enorm erleichterte – Bürgermeister in die Küche zurückkehrte, saß der frühere Bürgermeister natürlich noch am Tisch, hatte die Hände mit den Handflächen nach oben auf dem Schoß liegen, wirkte verblüfft und rührte sich nicht, wenn man davon absah, dass seine Lippen ständig Wörter zu bilden schienen, die er nicht aussprach.

Der neue Bürgermeister spülte das Geschirr, das im Spülbecken stand, und räumte es weg. Er organisierte den Inhalt des Kühlschranks neu. Er warf einen verschimmelten Käse und einen großen Becher Sahne weg, der sein Haltbarkeitsdatum um zehn Tage überschritten hatte.

Es war jetzt 4:08:24 Uhr morgens. Sein Programm umfasste ein sekundengenaues Zeitbewusstsein, eine tausendjährige innere Uhr, die Uhren und Kalender überflüssig machte.

Ehe er die Uhren der Öfen korrigieren konnte, kehrten die neue Nancy und die neue Ariel aus dem oberen Stockwerk des Hauses zurück. Die echte Nancy und die echte Ariel torkelten hinter ihnen her, barfuß und in Schlafanzügen und mit kleinen silbernen Skarabäen, die an ihrer linken Schläfe glänzten.

Draußen war ein näher kommender Lieferwagen zu hören, nicht mehr als eine Minute vor der vereinbarten Zeit.

Zum echten Bürgermeister Potter sagte sein Replikant: »Erskine, steh auf und komm auf die hintere Veranda hinaus.«

Als der Bürgermeister von seinem Stuhl aufstand, war sein Blick nicht mehr geistesabwesend oder verblüfft, und er wirkte auch nicht mehr wie hypnotisiert, sondern wie vom Entsetzen gepackt. Dennoch gehorchte er, und das galt auch für seine Frau und seine Tochter, als sie von ihren Replikanten ähnliche Aufforderungen erhielten.

Auf der Veranda hob Erskine, als der große fensterlose Lieferwagen bremste und auf der Auffahrt anhielt, eine Hand an seine Schläfe und berührte zaghaft den abgerundeten Kopf der Nadel, der im Licht der Scheinwerfer wie ein Edelstein funkelte. Aber wie sich herausstellen sollte, stand es nicht in seiner Macht, die Nadel herauszuziehen.

In der kalten Nacht dampfte der warme Atem aller. Die Dampfwolken wurden von den echten Potters kräftiger und in kürzeren Abständen ausgestoßen als der Atem derer, die sich ihr Leben widerrechtlich angeeignet hatten.

Das Haus stand auf gut achttausend bewaldeten Quadratmetern am Stadtrand. Keine Nachbarn wohnten nah genug, um zu sehen, wie die drei früheren Bewohner des Hauses ihrem Schicksal zugeführt wurden.

Zwei Mitglieder der Gemeinschaft stiegen aus der Fahrerkabine des neutralen, nicht näher gekennzeichneten Lieferwagens und öffneten die Hintertür.

Während die neue Nancy und die neue Ariel auf der Veranda warteten, führte der neue Bürgermeister die bisherige Potter-Familie zur hinteren Tür des Lieferwagens. »Einsteigen.«

An beiden Seiten des Laderaums waren Bänke an die Wände geschraubt. Fünf Personen in Schlafanzügen und Nachthemden saßen auf der rechten, zwei auf der linken Seite. Die Potters schlossen sich den beiden auf der linken Seite an.

Wie Tiere, die vor Furcht gelähmt waren, starrten die zehn den neuen Bürgermeister an. Keiner von ihnen konnte aufschreien oder sich rühren, es sei denn, er oder sie wurde dazu aufgefordert.

Der Lieferwagen war groß genug, um zehn weitere Personen zu befördern. Der Fahrer und sein Arbeitskollege hatten noch andere Stationen auf ihrem Fahrplan stehen.

Sowie die Familie Potter eingestiegen war, schloss der Fahrer die Türen und verriegelte sie. Er sagte: »Für die Gemeinschaft.«

»Für die Gemeinschaft«, antwortete der neue Erskine Potter.

Er hatte keine Ahnung, wohin man die Individuen in dem Lieferwagen bringen oder wann man sie töten würde. Er war nicht neugierig. Ihm war es egal. Sie waren die Plünderer der Welt, diejenigen, die die Welt verdarben. Sie würden bekommen, was sie verdient hatten.

3.

Für Carson O’Connor-Maddison und ihren Ehemann Michael Maddison – sie die Tochter eines Bullen bei der Mordkommission, er der Sohn von Ingenieuren für Betriebssicherheit – waren die beiden letzten Jahre die hektischsten ihres Lebens gewesen, mit enorm vielen Morden und wenig Sicherheit. Als Kriminalbeamte in New Orleans hatten sie herausgefunden, dass ein hochmütiger Biotech-Milliardär namens Victor Helios in Wirklichkeit Victor Frankenstein war, der auch im Alter von 240 Jahren noch reichlich umtriebig war. Sie hatten gemeinsame Sache mit dem zweihundert Jahre alten Deucalion gemacht, der es darauf abgesehen hatte, seinen Schöpfer zu vernichten. In dem Zusammenhang hatten Carson und Michael zahlreiche gewalttätige Begegnungen mit Angehörigen von Victors Neuer Rasse überlebt und Gräuel gesehen, die über alles hinausgingen, was Poe im Opiumrausch hätte halluzinieren können, sie hatten Jagd auf Gott weiß wen gemacht und waren von Gott weiß wem gejagt worden, sie hatten eine Menge lauter Schusswaffen abgefeuert und in Lokalen wie Wondermous Eats Berge von leckerem Cajun-Essen verdrückt. Carson hatte zahlreiche Fahrzeuge mit viel zu hoher Geschwindigkeit gefahren, und Michael hatte nie sein Versprechen gehalten, sich zu übergeben, wenn sie nicht langsamer fuhr. Sie hatten Victors Labor zerstört, ihn zur Flucht gezwungen, noch bessere Cajun-Gerichte im Acadiana geholt und sie im Wagen verschlungen, waren bei Victors Tod zugegen gewesen und Zeugen der Zerstörung seiner gesamten Neuen Rasse geworden. Sie hatten sich einen Deutschen Schäferhund namens Duke zugelegt, nachdem sie ihn vor Monstern gerettet hatten, und sie waren dabei gewesen, als der geheimnisumwitterte Deucalion mit seinen seltsamen Gaben Carsons damals zwölf Jahre alten Bruder Arnie vom Autismus geheilt hatte. Da sie anschließend einen Neuanfang hatten machen wollen, waren sie aus dem Polizeidienst ausgeschieden, hatten geheiratet, waren nach San Francisco gezogen und hatten mit dem Gedanken gespielt, einen Donut-Shop zu eröffnen. Aber sie hatten eine Arbeit gewollt, die es ihnen gestattete, ganz legal verborgene Schusswaffen bei sich zu tragen, und daher war nichts aus dem Donut-Laden geworden. Sie hatten stattdessen Lizenzen als private Ermittler erworben und bald darauf das Detektivbüro O’Connor-Maddison ins Leben gerufen. Sie hatten ein paar miese Typen hopsgenommen, gelernt, mit Essstäbchen umzugehen, eine Menge hervorragendes chinesisches Essen gegessen, wehmütig von dem Donut-Laden gesprochen, aus dem nichts geworden war, und ein Baby bekommen, das Carson Mattie nennen wollte, nach dem mutigen Mädchen in dem Film Der Marshal. Aber Michael hatte sie stattdessen Rooster oder wenigstens Reuben nennen wollen, zu Ehren von Reuben »Rooster« Cogburn, dem Marshal, den John Wayne in diesem Film gespielt hatte, und schließlich hatten sie ihre Tochter Scout genannt, nach dem wunderbar mutigen Mädchen in Wer die Nachtigall stört.

Eine Stunde vor dem Morgengrauen, etwas mehr als vier Wochen vor Halloween und weniger als zwei Jahre vor dem Ende der Welt – sofern man der neuesten Weltuntergangs-Panikmache glaubte, die von den Medien betrieben wurde – saßen Carson und Michael nun in der Fahrerkabine eines Lieferwagens in einer Reihe von vierzehn identischen Lieferwagen auf einem dunklen Parkplatz zwischen zwei riesigen Lagerhäusern in Hafennähe. Sie führten in einem Fall von Wirtschaftsspionage eine Überwachung durch und redeten unter anderem über Feuchttücher für Babypopos.

»Sie sind nicht zu ätzend«, widersprach Carson. »Sie sind überhaupt nicht ätzend.«

»Ich habe die Liste der Inhaltsstoffe gelesen.«

»Ich auch. Aloe vera, Lanolin, Kräuterextrakt …«

»Und welchen Kräutern haben sie die Extrakte entnommen?«, fragte Michael.

»Kräuter sind Kräuter. Sie sind alle natürlich. Kräuterextrakte reinigen, ohne schädliche Rückstände zu hinterlassen.«

»Das behaupten die. Aber sie geben die einzelnen Kräuter nicht an. Wenn sie die einzelnen Kräuter nicht aufzählen, wittert der Bulle in mir, dass da etwas faul ist.«

»Um Himmels willen, Michael, keine Firma hat die Absicht, gesundheitsgefährdende ätzende Feuchttücher für Babys herzustellen.«

»Woher willst du das wissen? Die Firma könnte jedem gehören. Weißt du, wem die Firma gehört?«

»Ich bin ziemlich sicher, dass sie nicht im Besitz von Al-Qaida ist.«

»Ziemlich sicher ist nicht gut genug, wenn es um den Popo unserer Kleinen geht.«

Carson seufzte. Michael war immer noch hinreißend, aber manchmal brachte die Vaterschaft bei ihm eine Paranoia zum Vorschein, die sie vorher nicht an ihm bemerkt hatte. »Hör mal, mein Goldschatz, mir liegt Scouts Popo ebenso sehr am Herzen wie dir, und ich benutze ohne Bedenken Babyfeuchttücher.«

»Sie enthalten Treibmittel.«

»Sie enthalten reines Natron. Das beseitigt Gerüche.«

»Treibmittel ist in Feuerlöschern«, sagte er.

»Gut. Dann brauchen wir uns wenigstens keine Sorgen zu machen, dass Scouts Po Feuer fangen könnte.«

»Treibmittel«, wiederholte Michael, als sei das ein Synonym für Klapperschlangengift. »Ich finde, wir sollten Baumwollwaschlappen, Wasser und Seife benutzen.«

Sie gab sich entsetzt. »Seife? Weißt du, was in Seife alles drin ist?«

»In Seife ist nur Seife drin.«

»Lies das Etikett, bevor du mit mir über Seife redest.«

»Was ist denn in Seife so Schreckliches drin?«

Carson wusste nicht, was in Seife so drin sein könnte, aber sie ging davon aus, dass es mindestens ein halbes Dutzend Inhaltsstoffe sein mussten, die Michael mehr alarmieren würden als die von Babyfeuchttüchern.

»Du brauchst nur zu lesen, was draufsteht – aber rechne nicht damit, dass du nach dieser Lektüre jemals wieder schlafen kannst.«

Draußen auf dem unbeleuchteten Parkplatz bewegte sich eine dunkle Gestalt.

Michael beugte sich zur Windschutzscheibe vor und sagte: »Ich wusste doch, dass dies der richtige Ort ist.«

Carson hob eine Kamera mit Nachtsicht-Technologie, die zwischen ihnen auf dem Sitz lag, ans Auge.

»Was siehst du?«, fragte Michael.

Mit dem Auge am Sucher sagte sie: »Es ist Brockman. Er hat einen Aktenkoffer. Jetzt findet die Übergabe statt, das ist richtig.«

»Da kommt noch jemand«, sagte Michael. »Mach einen Schwenk nach links.«

Carson schwenkte die Kamera nach links und sah einen zweiten Mann, der hinter einem Lagerhaus hervorkam und sich Brockman näherte. »Das ist Chang. Er hat eine Einkaufstüte in der Hand.«

»Trägt die Einkaufstüte einen Firmenaufdruck?«

»Was spielt das für eine Rolle? Sie ist einfach nur dazu da, das Geld zu transportieren.«

»Chang trägt coole Klamotten«, sagte Michael. »Ich frage mich schon länger, wo er die kauft.«

Carson zoomte die beiden näher heran und machte eine Reihe von Aufnahmen, ehe sie sagte: »Er spricht mit Brockman. Brockman stellt den Aktenkoffer ab. Chang nimmt etwas aus der Tüte.«

»Achte darauf, dass du eine scharfe Aufnahme von der Einkaufstüte bekommst. Wir können sie vergrößern, bis der Name des Ladens lesbar wird. He – ist gerade was passiert?«

»Ja. Chang hat eine Waffe aus der Tüte gezogen und Brockman erschossen.«

»Das habe ich nicht kommen sehen.«

»Er hat noch einen Schuss auf ihn abgegeben. Brockman liegt am Boden.«

»Ich höre keine Schüsse.«

»Schalldämpfer«, erwiderte Carson.

»Das sind doch keine Manieren.«

»Chang hat sich gerade hingekniet und ihm eine dritte Kugel in den Hinterkopf geschossen.«

»Und was nun?«

Carson legte die Kamera hin und sagte: »Das weißt du ganz genau.«

»Für so was bin ich jetzt viel zu sehr Dad.«

Während sie die Pistole aus ihrem Schulterhalfter zog, sagte Carson: »Und ich bin viel zu sehr Mom dafür. Aber unser Baby braucht neue Schuhe.«

4.

Der Lieferwagen fuhr ab und beförderte den echten Erskine, die echte Nancy und die echte Ariel in ihr Verderben. Der neue Bürgermeister Potter, seine effiziente Frau und seine zielstrebige Tochter kehrten in das Haus zurück. Dynamisch, fleißig und mit klarem Kopf machten sich die drei daran, die Küche gründlich zu säubern. Sie ordneten den Inhalt der Küchenschränke, des Kühlschranks und der Speisekammer so an, dass in Zukunft jede Mahlzeit so rasch wie möglich zubereitet werden konnte.

Bei der Arbeit wechselten sie kein einziges Wort miteinander. Dennoch tat keiner von ihnen etwas, was einer der beiden anderen bereits getan hatte, und sie waren einander bei ihren Bemühungen zu keinem Zeitpunkt im Weg.

Als in der Küche alles seine Ordnung hatte, bereiteten sie das Frühstück zu. Erskine schlug ein Dutzend Eier schaumig und briet Rührei, während Nancy in einer anderen Pfanne ein Pfund Speck brutzeln ließ.

Von dem Brot hoben sich grüne Schimmelflecken ab. Wie jedem anderen Mitglied der Gemeinschaft widerstrebte auch Ariel jede Form von Vergeudung. In dem Toaster mit vier Schlitzen bereitete sie zwölf gebräunte Brotscheiben zu.

Die Quetschflasche mit flüssiger Butter – eigentlich handelte es sich um Butterersatz – war von faszinierender Effizienz.

Erskine verteilte das Rührei auf drei Teller, Nancy fügte den Speck hinzu. Ariel schenkte drei Gläser Orangensaft ein.

Erskine stellte die Teller auf den Tisch, Nancy platzierte das Besteck daneben, und Ariel legte eine Papierserviette neben jedes Gedeck.

Draußen vor den Fenstern war es immer noch dunkel, als sie sich an den Tisch setzten und aßen.

Da Gespräche dem effizienten Verzehr einer Mahlzeit hinderlich sind, aßen sie die meiste Zeit schweigend.

Schließlich sagte Erskine: »Als Bürgermeister hatte ich die Angewohnheit, meine Familie mindestens zweimal pro Woche in Restaurants auszuführen, die dem einen oder anderen meiner Wähler gehörten.«

»Zu Hause zu essen kostet weniger Zeit«, sagte Nancy.

»Richtig. Aber bis die Gemeinschaft die derzeitige Bevölkerung von Rainbow Falls ersetzt hat, müssen wir uns nach den Gewohnheiten und Bräuchen der Familie Potter richten, um zu vermeiden, dass wir Argwohn erregen.«

»Wenn wir zu Hause essen«, sagte Ariel, »sollten wir jeden Morgen zum Frühstück dasselbe essen.« Ihre öffentliche Rolle war die der Tochter von Erskine und Nancy, aber sie war weder deren Tochter noch jünger als die beiden; der Utopie der klassenlosen Gemeinschaft gemäß war sie den beiden gleichgestellt. »Wir sollten für jede Mahlzeit des Tages eine Speisenfolge zusammenstellen und nur diese Menüs und nichts anderes kochen. Die Wiederholung wird dafür sorgen, dass die Effizienz der Zubereitung von Mal zu Mal zunimmt.«

»Ja«, sagte Erskine.

»Einverstanden«, sagte Nancy. »Und es vereinfacht den Lebensmitteleinkauf.«

Nachdem sie gefrühstückt hatten, räumten sie den Tisch ab und spülten das Porzellan vor. Das Geschirr, die Bratpfannen und die Küchenutensilien wurden in die Spülmaschine geräumt.

Bald mussten sie die anderen Räume umorganisieren und an der Garage und dem Rest des Anwesens ähnliche Verbesserungen vornehmen, wie sie sie in der Küche bereits vorgenommen hatten. Sie sahen keine Notwendigkeit, eine Liste zu erstellen. Als Erstes mussten sie die Scheune erkunden.

Die Auffahrt gabelte sich. Ein Weg führte zur Garage, der andere zu der roten Scheune am hinteren Ende des Grundstücks.

Die Potters waren nie Farmer gewesen. Nancy und Ariel waren in Pferde vernarrt, und die Scheune hatte ihnen zur Unterbringung der Pferde gedient.

Das Gebäude hatte eine Grundfläche von knapp hundertfünfzig Quadratmetern und bestand zum größten Teil aus einem einzigen Raum mit einer angrenzenden Sattelkammer dahinter. An der Südwand waren drei Boxen, denen auf der anderen Seite des Raums drei weitere Boxen gegenüberlagen.

In den Boxen an der Nordwand standen ein Hengst namens Commander und zwei Stuten, die Queenie und Valentine hießen. Die Boxen an der Südwand waren unbelegt.

»Die Wände sind isoliert, und es gibt einen Ölofen, der verhindert, dass die Temperatur zu weit absinkt«, sagte Erskine.

»Die Isolierung wird auch schalldämmend sein«, sagte Nancy. »Es könnte sich durchaus als nützlich erweisen, wenn kein Laut hinausdringt.«

Die Pferde beobachteten sie mit Interesse.

Ariel drehte sich im Kreis und sah sich in dem Raum um. »Die Fensternischen müssen mit schalldämmendem Material gefüllt und von innen mit Brettern vernagelt werden. Von außen sollten sie unverändert wirken.«

Erskine verkündete: »Hier wird es geschehen.«

»Ideal«, sagte Nancy.

Ariels finstere Miene wich einem dünnen Lächeln der Vorfreude. In ihren graublauen Augen leuchtete ein stählern schimmerndes Licht.

»Ja«, sagte sie. »Ja. Hier werde ich sein, was ich bin.«

Nancy sagte: »Bring Schlösser an den Türen der Scheune an. Sehr gute Schlösser.«

Als sie sich ein zweites Mal in der Scheune umzusehen begann, sagte Ariel: »Und mach die Boxen stabiler, sowohl die Wände als auch die Türen. Sie müssen sehr robust sein.«

Die drei standen einen Moment lang schweigend da. Erskine wusste, dass sie alle dasselbe empfanden: eine Zielstrebigkeit, die sie drängte, ihre Vorhaben schleunigst in die Tat umzusetzen; den Nervenkitzel eines Krieges, der begonnen hatte; eine Form von Ehrfurcht, weil sie die Bringer der Veränderung waren, die die Welt vollständig umgestalten würde, und ein fast fieberhaftes Verlangen, den Pöbel, das Ungeziefer, die Plage auszurotten, diesen Schmutz, der sich Menschheit nannte.

5.

Changs Gespür für Gefahr erwies sich als nicht weniger beeindruckend als sein Gespür für Stil in Sachen Herrenmode.

Nachdem sie den Lieferwagen als ihren Beobachtungsposten ausgewählt hatten, hatten Carson und Michael die Deckenlampe in der Fahrerkabine außer Betrieb gesetzt und sowohl die Fahrertür als auch die Beifahrertür nur angelehnt. Wenn sie ausstiegen, würden die Türen keine Geräusche verursachen, und kein plötzlich aufleuchtendes Licht würde sie verraten.

Dennoch sprang der Killer, der sich hingekniet hatte, um eine dritte Kugel, den Gnadenschuss, in Brockmanns Hinterkopf zu jagen, sofort auf. Er wirbelte zu dem sechsten Lieferwagen in der Reihe von vierzehn identischen Fahrzeugen herum – zu ihrem Lieferwagen – und gab zwei weitere Schüsse ab.

Die erste Kugel entlockte dem Chassis den Klang einer Eisenglocke und prallte von ihm ab. Die zweite durchbohrte die Windschutzscheibe.

In ihren Jahren als Bulle war Carson nie angeschossen worden, und das nicht so sehr, weil sie vorsichtig, als vielmehr, weil sie kühn war. Sie hielt sich oft an die Vorschriften – aber nur bis zu dem Punkt, an dem sie intuitiv erkannte, dass es sie das Leben kosten konnte, sich an die Vorschriften zu halten.

Chang war der Angestellte eines chinesischen Konzerns. Er war der Chef der Abteilung für Strategische Wettbewerbsanalyse, was – plump gesagt – hieß, dass er entweder durch Diebstahl oder durch Bestechung technologische Geschäftsgeheimnisse anderer Konzerne an sich brachte. Er war früher nicht beim Militär und auch kein Agent eines Geheimdienstes der Regierung gewesen. Bisher hatte Gewalttätigkeit nicht zu seinem kriminellen Repertoire gezählt.

Sicher hatte er Carson und Michael durch reinen Zufall bemerkt und nicht etwa, weil seine Wahrnehmungsfähigkeit die eines bestens geschulten Agenten war. Da er sich zwar auf irgendeine Weise ihrer Anwesenheit, aber nicht ihres exakten Standorts bewusst war, hatte er die zwei Schüsse nur grob in ihre Richtung abgegeben, und das war sowohl eine Vergeudung von Munition als auch eine Panikreaktion, da er bei dem Mord erwischt worden war.

Dieser Schreibtischhengst, dieser Amateur, konnte es nicht mit zwei ehemaligen Bullen von der Mordkommission in New Orleans aufnehmen, die jetzt äußerst motivierte private Schnüffler waren, da sie die Unkosten für ihre Geschäftsräume zu tragen und gerade Familienzuwachs bekommen hatten. Carson sah im ersten Moment keine Notwendigkeit, den Rückzug vor einem Firmenbürokraten anzutreten, selbst dann nicht, wenn er mordete.

Da sie zuversichtlich war, dass der unbeleuchtete Parkplatz hinter ihr dem Schützen keine Silhouette lieferte, auf die er zielen konnte, rannte sie auf ihn zu. Die Sicherheitslampen auf dem Lagerhaus im Hintergrund strahlten ihr Zielobjekt von hinten an, und sie konnte ihn selbst ohne die Nachtsichtkamera weitaus besser sehen als er sie.

Carsons anfängliche Kühnheit erwies sich als gerechtfertigt, da Chang, statt wieder blindlings Schüsse abzugeben, die Einkaufstüte, mit der er hier eingetroffen war, und den Aktenkoffer an sich riss, den Brockman hatte fallen lassen, als er erschossen worden war. Er rannte auf das nächstgelegene Lagerhaus zu.

Im Laufen wurde Carson bewusst, dass Chang den Abstand zwischen ihr und ihm vergrößerte, obwohl er schwer zu tragen hatte, und dass Michael irgendwo rechts neben ihr war. Sie war sich auch dessen bewusst, dass Scout, ihre sieben Monate alte Tochter, zu Hause war, und das nicht, weil sie dank paranormaler Begabung die Fähigkeit besaß, sie auch aus der Ferne zu überwachen – was nicht der Fall war –, sondern weil sie jetzt Mutter war, was eine Verantwortung mit sich brachte, deren Last sie nicht mit sich herumgetragen hatte, als sie noch im Big Easy den toughen Bullen hatte raushängen lassen.

Sie war schon häufig als »Mother« beschimpft worden, ehe sie eine gewesen war, vorwiegend von Verbrechern, Rauschgiftsüchtigen und korrupten Bullen, die auf die grundanständigen Leute bei der Polizei sehr schlecht zu sprechen waren, aber das war kein Lob ihrer Hingabe an die Kindererziehung gewesen, sondern »Mother« als Abkürzung für »Motherfucker«, die sich im Lauf der Jahre immer mehr durchgesetzt hatte.

In jenen Zeiten hätte sie sich nie träumen lassen, sie könnte eines Tages ein Kind haben wollen, ganz zu schweigen davon, dass sie heiraten und tatsächlich ein Kind zur Welt bringen würde. Sie hatte zu viel beweisen müssen und keine Zeit für Romanzen, einen Ehemann und eine Familie gehabt. Sie hatte unbedingt herausfinden müssen, wer ihre Mom und ihren Dad nicht nur ermordet, sondern regelrecht hingerichtet hatte, mit Kugeln in den Hinterkopf.

Das Wort Mother in Verbindung mit sechs weiteren Buchstaben, mit einem gehässigen Zischen und sprühender Spucke ausgestoßen, hatte sie nie beleidigt, weil die miesen Ärsche, die sie so nannten, es in Wirklichkeit als Synonym für unbestechlich, engagiert und unnachgiebig benutzten.

Als ihr hektischer Herzschlag bei der Verfolgung des entwischenden Schattens, bei dem es sich um Chang handelte, mit dem Trommeln ihrer Füße auf dem Teer synchron war und sie ihren Rhythmus gefunden hatte, begann sie sich zu fragen, ob sie jetzt noch so engagiert und unnachgiebig war wie zu jenen Zeiten. Vielleicht stimmte ihre kleine Scout sie nachdenklich und gab ihr einen Grund zu zögern. Vielleicht vergrößerte Chang den Abstand zwischen ihnen nicht nur deshalb, weil er jünger und schneller war als Carson, sondern weil sie unterbewusst nicht riskieren wollte, ihm zu nahe zu kommen und Scout ohne Mutter aufwachsen zu lassen.

Auch wenn sie danach lechzte, es zu leugnen, bestand die Möglichkeit, dass sie nicht das Zeug dazu hatte, gleichzeitig Mutter und Privatdetektiv zu sein. Vielleicht eignete sie sich, nachdem sie das hübscheste Baby auf dem Planeten zur Welt gebracht hatte, in Zukunft besser dafür, Hintern in Windeln zu packen, als ihnen Tritte zu verpassen.

Michael, der immer noch rechts neben ihr war, sprintete jetzt los, hängte sie ab und hielt mit Chang Schritt. Als sie Partner bei der Mordkommission des NOPD gewesen waren, war sie immer schneller als Michael gewesen, ob im Auto oder zu Fuß, und sie war zuversichtlich gewesen, jeden Täter, der jemals geboren worden war, zur Strecke bringen zu können.

Jetzt trottete sie lahmarschig vor sich hin, ihr Herz raste schneller als ihre Füße, und ihre Beine waren schwer. Die bleierne Schwere in ihrem Unterleib und der beengende Druck nach oben auf die Lunge indes waren vielleicht nicht einmal akute Symptome, sondern nur eine Erinnerung an ein fortgeschrittenes Stadium der Schwangerschaft und eine Ermahnung, an ihre mütterlichen Pflichten zu denken.

Sie war klaglos häuslich geworden, eines dieser kleinen Weibchen, die hoffnungslos in ihr Baby vernarrt waren und weniger mit ihrem Gehirn als mit ihrem Herzen dachten, und sie war vorsichtig, wo sie früher furchtlos gewesen war. Die Erkenntnis, dass das Schicksal ihre Tochter als Geisel festhielt und sie niemals herausgeben würde, hatte sie unterwürfig werden lassen; es forderte ein Lösegeld in Form von Sorgen und Besonnenheit, zahlbar bis ans Ende aller Zeiten in täglichen, wenn nicht gar stündlichen Raten. Am Ende würde sie, wenn sie zu zaghaft und kleinmütig war, noch feige werden.

»Scheiß drauf«, sagte sie, und als Chang um die Ecke des nächstgelegenen Lagerhauses bog, rannte Carson auf das Gebäude zu und hängte Michael mit einem forschen Sprint ab.

Mit dem Rücken an der Wellblechwand und der Pistole, deren Mündung auf den Himmel gerichtet war, in beiden Händen, zögerte Carson, aber nicht etwa wegen ihres kleinen Mädchens, sondern weil es ihr – ob Mutter oder nicht – widerstrebte, sich aus geringer Entfernung eine Kugel ins Gesicht schießen zu lassen. Sie konnte hören, dass Michael sich ihr von hinten näherte, aber die Schritte des fliehenden Chang konnte sie nicht hören.

Carson kam jetzt nicht mehr in den Genuss des Vorteils, in Dunkelheit gehüllt zu sein. Die Sicherheitslampen warfen breite Lichtkegel auf den Teer in der unmittelbaren Umgebung der Halle.

Sie ließ die Mündung sinken und hielt die durchgedrückten Arme gerade vor sich. Geduckt bog sie schnell um die Ecke der Halle. Ihre Augen und ihre Waffe bewegten sich im Einklang, vollkommen aufeinander abgestimmt, als sie von rechts nach links die Gegend absuchte, vom offenen Gelände bis hin zur Wand der Lagerhalle.

Knapp zwanzig Meter vor ihr rannte Chang im Schatten am Rande der Lichtkegel entlang, wo die Dunkelheit der Nacht ihn erwartete.

Carson konnte ihm nicht in den Rücken schießen. Sie musste ihn schnappen, ihm eins überziehen – oder ihm nachsetzen, bis er sich umdrehte, einen Schuss abgab und ihr ein legales Ziel bot.

Michael erreichte sie, aber sie war nicht mehr dazu aufgelegt, ihm als reine Rückendeckung zu dienen.

Obwohl er durch die Einkaufstüte, die höchstwahrscheinlich voller Geld war, und den Aktenkoffer mit den Geschäftsgeheimnissen behindert wurde, die Brockman ihm hatte verkaufen wollen, drohte ihnen Chang zu entkommen. Das durfte Carson nicht zulassen. Er hatte Schüsse auf Michael und sie abgegeben. Er hatte auf sie geschossen. Zweimal. Er hatte versucht, Scout zur Vollwaise zu machen. Dieser Dreckskerl.

Mit der Zuversicht eines Panthers auf der Fährte einer ermatteten Gazelle nahm Carson die Verfolgung auf.

6.

Rafael Jesus Jarmillo, der gewählte und beliebte Polizeichef von Rainbow Falls, war nicht für die Nachtschicht eingeteilt worden, da er schon vor mehr als zwanzig Jahren bei der Polizei angefangen hatte. An jenem Oktobermorgen erschien er vor Tagesanbruch zur Arbeit, weil er vor zwölf Uhr mittags viel zu erledigen hatte.

Obwohl keine Krise ausgebrochen war, überraschte es den wachhabenden Beamten Sergeant Seth Rapp und die Einsatzleiterin Valerie Corsair nicht, den Chef zu sehen. Ohne ein Wort verließ Rapp seinen Posten am Empfangsschalter und folgte Jarmillo durch den menschenleeren Untersuchungsraum und einen Flur, an dem diverse Büros im Dunkeln lagen, zu der Garage, in der sechs Streifenwagen, die derzeit nicht in Benutzung waren, für die Patrouillen der Tagschicht bereitstanden.

Ein rundum geschlossener, fensterloser Lieferwagen stand auf dem Platz, der für die vier Wagen reserviert war, die derzeit durch die Stadt fuhren. Weder die mitternachtsblaue Fahrerkabine noch der weiße Laderaum trugen den Namen einer Firma oder irgendein anderes Erkennungsmerkmal.

Der Lieferwagen war gerade eingetroffen. Sein Fahrer stand da und sah zu, wie sich das große unterteilte Garagentor zwischen seinem Fahrzeug und der dunklen Gasse hinter dem Polizeirevier herabsenkte.

Der Arbeitspartner des Fahrers stand am hinteren Ende des Lieferwagens. Er öffnete die Tür des Laderaums und sagte zu Rafael Jarmillo und Seth Rapp: »Für die Gemeinschaft.«

»Für die Gemeinschaft«, erwiderten der Polizeichef und der Sergeant.

Zu den neunzehn Personen im Laderaum sagte der Mann: »Aussteigen.«

Unter denen, die aus dem Fahrzeug stiegen, waren Bürgermeister Erskine Potter und seine Familie. Die letzten vier waren der echte Rafael Jarmillo, seine Frau und seine beiden Söhne.

Da man sie mitten in der Nacht geweckt hatte, trugen die neunzehn Personen Schlafanzüge oder Bademäntel oder einfach nur Unterwäsche. Und jede der Personen hatte einen schimmernden silbernen Nagelkopf in der linken Schläfe.

Jessica Wanhaus, die Bibliothekarin der Stadt, trug nur einen blassblauen Slip. Sie war zweiunddreißig Jahre alt, hübsch im Vergleich zu ihresgleichen und hatte üppige Brüste.

Weder der Polizeichef noch der Sergeant – und ebenso wenig die beiden Männer, die für den Lieferwagen verantwortlich waren – ließen ihren Blick auf ihren körperlichen Reizen verweilen. Angehörige der Gemeinschaft hatten keinen Bedarf an Sex und demzufolge nicht das geringste Interesse daran.

»Kommt mit, ihr alle. Hier geht es lang«, sagte Jarmillo und kehrte zu der Tür zwischen der Garage und dem Flur zurück, an dem die Büros lagen.

In ihren Augen stand rasendes Entsetzen, und ihre Gesichter zeigten Trostlosigkeit, doch die neunzehn gehorchten dem Polizeichef ohne jedes Zögern.

Hinter einer der Türen, die von dem Flur abgingen, lag eine Treppe, die in den Keller führte. Obwohl die Gefangenen weder Handschellen noch Fesseln trugen, kehrte ihnen der Polizeichef furchtlos den Rücken zu und ging voran, als er sie an den letzten Ort führte, den sie jemals zu sehen bekommen würden.

Ein breiter Korridor teilte das fensterlose unterirdische Reich. Links davon befanden sich Lagerräume, der Heizkeller und ein Waschraum mit Toiletten. Rechts davon drei große vergitterte Zellen, jeweils mit einem empfohlenen Fassungsvermögen von zehn Personen.

Im Erdgeschoss gab es sechs kleine Zellen, in denen jeweils zwei Gefangene untergebracht werden konnten. Sie waren nur selten alle gleichzeitig belegt.

Die größeren Zellen im Keller waren nur für den Notfall gedacht, wenn die oberen Zellen nicht reichten. Sie waren speziell für den Gebrauch im Falle von Bürgerunruhen angelegt worden.

Rainbow Falls und die nähere Umgebung waren keine Brutstätten für politischen Aktivismus, und dort waren auch keine utopistischen Bewegungen beheimatet, mit dem üblichen Hang zur Gewalttätigkeit derer, die der Überzeugung sind, einen besseren Plan im Hinblick auf die Gesellschaftsordnung zu haben. Kneipenschlägereien, tätliche Angriffe auf Lebensgefährten und Fälle von Trunkenheit am Steuer waren die Verbrechen, mit denen es Rafael Jarmillo und seine Beamten in erster Linie zu tun hatten.

Da jedoch ein Zuschuss der amerikanischen Bundesregierung für mehr als die Hälfte der Baukosten des Polizeireviers aufgekommen war, umfasste das Gebäude zusätzliche Zellen, um den staatlichen Anforderungen zu genügen. Der echte Polizeichef Jarmillo hatte sich manchmal gefragt, warum die Bundesregierung darauf bestand, dass sogar die kleinstädtischen Regionen Amerikas überdimensionale Gefängnisse bauten. Ihm war es so vorgekommen, als seien diese Beamten nicht nur umsichtig, sondern als bereiteten sie ein Ereignis vor, das sie selbst vorsätzlich in die Wege leiten würden.

Dem neuen Polizeichef Jarmillo bereiteten die Absichten der Bundesregierung keine Sorgen. Die Tage der menschlichen Rasse – und somit der Bundesregierung – waren gezählt. Die Pläne von Politikern würden bald keinerlei Bedeutung mehr haben.

Die neunzehn Personen aus dem Lieferwagen wurden in zwei der großen Zellen im Keller gescheucht. Sie befolgten die Anweisungen und nahmen auf den Pritschen an der Wand und auf dem Fußboden Platz, von Angst, Grauen und Seelenqualen erfüllt und doch gefügig.

Es war unnötig, die Zellentüren abzuschließen. Sergeant Rapp schloss sie trotzdem ab.

Nachdem sie ins Erdgeschoss zurückgekehrt waren, begaben sich der Polizeichef und der Sergeant in den Flügel, der die sechs kleinen Zellen enthielt. Dort waren derzeit zwei Gefangene untergebracht. Der Polizeichef weckte beide.

Der erste, ein Landstreicher namens Conway Lyss, war in einem geschlossenen Güterwaggon in die Stadt gekommen und dort geblieben, um in Häuser einzubrechen. Bei seinem dritten Einbruch war er geschnappt worden.

Mit seinen fünfundvierzig Jahren sah Lyss aus wie sechzig – wenn man davon ausging, dass Siebzigjährige heute wie Sechzigjährige aussahen. Er war so mager, dass er fast schon ausgemergelt wirkte, und hatte sprödes graues Haar, Haut wie Leder, das mit der Zeit Risse bekommen hatte, große Ohren, die so unförmig waren wie gründlich durchgekaute Rohlederknabbereien für Hunde, graue Zähne und brüchige gelbe Fingernägel. Er sah aus wie ein Gebilde aus Knorpel, Horn und Dörrfleisch, das bis zur völligen Austrocknung dehydriert war. Aber seine Augen waren meerblau und wässrig, und in ihnen lagen Verschlagenheit und Berechnung und ein niemals schlafender Wille zum Betrug.

Der zweite Gefangene war Norman O’Bannon, den die Einheimischen aus Gründen, die mit der Zeit in Vergessenheit geraten waren, Nummy nannten. Nummy war dreißig Jahre alt und hatte einen IQ unter achtzig. Er war eine Frohnatur, ein bisschen pummelig und hatte ein rundes sommersprossiges Gesicht, und er war nicht etwa infolge eines Verbrechens, das er begangen hatte, über Nacht hier festgehalten worden, sondern, ganz im Gegenteil, zu seinem Schutz.

Der neue Polizeichef Jarmillo hatte nichts für Nummy O’Bannon übrig, und er hatte auch nicht die Absicht, ihn vor irgendetwas zu beschützen. Ganz im Gegenteil.

Sergeant Rapp schloss beide Zellen auf und begleitete die beiden Gefangenen gemeinsam mit dem Polizeichef in den Keller.

Conway Lyss meckerte auf dem Weg ins untere Geschoss unablässig und murrte eine Frage nach der anderen. Weder der Polizeichef noch der Sergeant ging auf eine seiner Fragen ein.

Nummy lächelte auf dem kurzen Weg vom ersten bis zum letzten Moment und sagte nichts. Für ihn war jede Veränderung potenziell der Beginn eines Abenteuers. Und er vertraute Polizeichef Jarmillo.

Lyss trug einen orangefarbenen Gefängnisoverall. Nummy trug Jeans und ein Sweatshirt. Beide Männer schlurften, einer, weil er restlos ausgebrannt war und seine begrenzten Energien darauf verwendete, Ränke zu schmieden und sich zu beschweren, der andere, weil sich seine geistige Beschränktheit beeinträchtigend auf seine Motorik auswirkte.

Auf dem Weg zu der dritten unterirdischen Zelle zeigte Lyss wenig Interesse an den Personen, die in den beiden ersten vergitterten Zellen saßen. Seine Konzentration richtete sich voll und ganz auf den Polizeichef, dessen Weigerung, seine Fragen zu beantworten, ihn in Wut versetzte.

Der Polizeichef kannte Leute von der Sorte, zu der der Landstreicher gehörte: ein Misanthrop, ein Menschenverächter, der sich nur dann für andere Leute interessierte, wenn er sich etwas von ihnen versprach. Lyss konnte einen ganzen Tag in einer betriebsamen Stadt verbringen und nur fünf oder sechs Leute wirklich wahrnehmen, nämlich diejenigen, die am leichtesten zu übertölpeln waren, die anfälligsten Opfer, die Dummköpfe, die ihm zwanzig Dollar geben würden, obwohl er nur einen einzigen Dollar von ihnen zu schnorren versuchte, die Ahnungslosen, denen er unbemerkt das Portemonnaie aus der Tasche ziehen konnte, obwohl er nur ein zweitklassiger Taschendieb war.

Nummy interessierte sich für die neunzehn stillen Personen, bis sein Blick auf die barbusige Bibliothekarin fiel, woraufhin sein Gesicht so rot anlief, als sei von einem Ohr bis zum anderen ein ganzes Geflecht von Gefäßen geplatzt. Danach hielt er den Blick auf den Boden gesenkt.

Als der Sergeant den Landstreicher und Nummy in der dritten Zelle einschloss, umklammerte Conway Lyss zwei Gitterstäbe mit seinen Händen und erhob die Stimme. »Ich verlange einen Anwalt.«

»Sie kriegen keinen«, sagte Polizeichef Jarmillo.

»Ich habe ein Anrecht auf einen Anwalt!«, behauptete Lyss. »Ich bin amerikanischer Staatsbürger!«

»Nicht mehr.«

»Was? Was soll das heißen – nicht mehr?«

»Sie alle sind jetzt nichts anderes mehr«, sagte Jarmillo, »als Viehbestand.«

7.

Hinter den Lagerhäusern befand sich ein steinerner Hafendamm, der in eine hölzerne Pier überging, von der eine Reihe von Molen in die Bucht von San Francisco hinausragten. Die Anlage ging auf die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zurück, war nicht so gut erhalten wie die anderen Hafenanlagen der Stadt und ungeeignet für die neueren Generationen von Containerschiffen. Daher stand sie auf der Abrissliste, falls der derzeitige wirtschaftliche Rückgang jemals von einer Hochkonjunktur abgelöst werden sollte, die die Ausgaben für eine neue Hafenanlage rechtfertigte. Und tatsächlich wirkte die ganze Anlage im Moment wie ausgestorben, und nirgends schien ein Frachtschiff angelegt zu haben.

Rostende Laternen mit gesprungenen, schmutzigen Scheiben verströmten ein kaltes bläuliches Licht, das überall auf dem Hafendamm die Nacht durchbrach, und der Schatten, der von einem Lichtkegel in den anderen glitt, war Chang mit seinem Geld und seinen Geheimnissen.

Carson O’Connor schloss bis auf weniger als sechs Meter zu ihm auf und sah Chang wanken, atemlos und angreifbar. Er bog von der Pier ab und folgte einer der Molen in die Bucht und einen plötzlich aufziehenden Nebel hinaus.

Die kühle Nacht am Ufer war nicht wärmer als die Kälte über dem Wasser. In den Stunden der Flaute vor dem Morgengrauen wurde der Nebel folglich nicht durch eine Temperaturdifferenz landeinwärts gezogen, sondern blieb über der Bucht hängen und beschränkte sich auf sie, wie ein Umhang mit Kapuze, Ärmeln und vielen Falten. Chang verschwand in einer der Taschen.

Das Licht der Laternen, die in großen Abständen dastanden, wurde durch die dichten Nebelschwaden nicht ganz geschluckt, doch ihr Schein wurde beträchtlich vermindert. Der Nebel brach das Licht auf eine seltsame Weise, die den inneren Kompass, auf den sich Carson verließ, zusätzlich irritierte.

Die Sichtweite nahm abrupt ab, ging auf drei Meter zurück und verringerte sich dann noch mehr. Die Mole war fast zehn Meter breit.

Wenn sich Carson dicht an dem Geländer auf der rechten oder auf der linken Seite hielt, konnte Chang am Geländer auf der gegenüberliegenden Seite zur Küste zurückkehren, sechs oder sieben Meter außerhalb ihrer Sichtweite.

Sie konnte versuchen, sich in der Mitte der Mole zu halten, und hoffen, dass ihr eine Gestalt, die entlang des Geländers auf einer der beiden Seiten in Bewegung war, auffallen würde. Aber der dichte Nebel raubte ihr die Orientierung, und sie hatte keinen Anhaltspunkt, der sie auf einem geradlinigen Kurs halten würde.

Im Übrigen war mit ziemlich großer Sicherheit anzunehmen, dass Chang sich auf genau dieser Mole eilig von der Küste entfernt hatte, weil er mit einem Boot hier eingetroffen war und die Absicht hatte, mit demselben Transportmittel von hier zu verschwinden. Er würde ebenso wenig einen Haken schlagen, wie er über eines der Geländer klettern und ins Wasser springen würde.

Tief in der Düsternis blieb Carson stehen, hielt den Atem an und lauschte. Anfangs hörte sie nichts, dann nur das Glucksen sanfter Wellen, die durch die Pfähle rollten, auf denen die Mole ruhte.

Zweifellos näherte Michael sich ihr von hinten, aber leise und nicht mehr im schnellen Laufschritt. Sie blickte zurück, sah aber weder die Gestalt eines Mannes noch einen Schatten in dem dichten Weiß, das alles verbarg.

Sie stieß den angehaltenen Atem aus und bewegte sich vorsichtig vorwärts. Nach vielleicht sechs Metern blieb sie wieder stehen und hörte immer noch nichts anderes als das anscheinend belustigte Wasser in der ruhigen Bucht.

Die Luft roch nach Salz und Seetang und Teeröl, und der Nebel fühlte sich kühl in ihrem Mund an, als sie einatmete.

Als sie weiter draußen auf der breiten Mole ein drittes Mal stehen blieb, hörte sie einen schwachen Aufprall und ein verstohlenes Knirschen. Im ersten Moment schienen die Geräusche unter den Bohlen, auf denen sie stand, hervorzukommen.

Das Klirren von Metall, das auf Metall traf, lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die rechte Seite der Mole. Sie suchte sich einen Weg durch den Nebel, erreichte das Geländer und folgte ihm in die Bucht hinaus, bis sie die Stelle fand, an der sie auf einen Landungssteg traf. Die abwärts geneigten Planken waren nass und glitschig, nicht nur vom Nebel, sondern auch von Schwämmen und Flechten, die sich auf dem lange Zeit unbenutzten Steg angesiedelt hatten. Ihre Hände waren ebenfalls feucht, und die Pistole war von der hohen Luftfeuchtigkeit so stark beschlagen, dass sie ihr aus den Fingern zu gleiten drohte.

Wenn sie hinfiel oder auch bloß ausrutschte, konnte es sein, dass Chang bereits auf das Geräusch wartete. Wenn er es riskierte, im Nebel blindlings eine Salve von Schüssen abzufeuern, konnte das Glück ebenso gut auf seiner Seite wie auf ihrer Seite sein. Von allen Kugeln dieses Sperrfeuers konnte eine einzige Scout zu einer mutterlosen Halbwaise machen.

Carson bewegte sich vorsichtig voran, erreichte das untere Ende des Landungsstegs und trat auf die Gangway des Boots. Die Motorjacht tauchte aus dem Nebel auf, als würde sie sich materialisieren, als sei sie ein Geisterschiff, das in der Bucht herumspukte.

Das Doppeldeckboot hatte ein geschlossenes Ruderhaus über den Kabinen auf dem Hauptdeck. Keine Motorengeräusche waren zu vernehmen, keine Begrenzungsleuchten waren zu sehen, und keine Kabinenlichter schimmerten. Carson war näher am Bug, und der Steven verschwand im Nebel, doch aufgrund der Proportionen dessen, was sie sehen konnte, musste das Boot eine Länge von etwa sechzig Fuß haben, groß genug, um ein Küstenkreuzer zu sein, der problemlos die Bucht gegen das offene Meer eintauschen konnte.