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Wer war Franziskus – und was hat der Mann aus Assisi uns heute noch zu sagen?
Die katholische Kirche hat Franz von Assisi und seinen »Traum vom einfachen Leben« stets für sich vereinnahmt, seine Lebensgeschichte zur Hagiographie umgeschrieben. Dabei hat die Lehre Franz von Assisis eine Strahlkraft, die über konfessionelle Grenzen hinweg wirkt, gerade heute. Gunnar Decker enthüllt den klerikalen Mythos, der sich hinter der Gestalt des Mönchs verbirgt. Und er zeigt, auf welche Weise uns seine Lehre noch immer bewegt.
In Erinnerung an Franz von Assisi hat sich der Jesuit Jorge Mario Bergoglio den Namen Franziskus gegeben – eine richtungsweisende Wahl, zumal keiner seiner Vorgänger im Vatikan diesen Namen trug. Es ist die »Rückkehr zu den Ursprüngen«, mit der der Begründer des Franziskanerordens und »Anwalt der Armen« nicht nur das 13. Jahrhundert prägte. Sein Ideal machte ein modernes Menschenbild überhaupt erst möglich und bietet in diesen Zeiten, angesichts von Turbokapitalismus und digitalem Überdruss, mehr denn je Halt und Zuflucht. In seiner klugen und kenntnisreichen Biographie zeichnet Gunnar Decker das Wirken Franz von Assisis nach und führt seine Ideale in unser Denken zurück: Oftmals liefert dessen Botschaft Antworten auf die Fragen, die wir heute an das Leben stellen.
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Seitenzahl: 602
Wer war Franziskus – und was hat der Mann aus Assisi uns heute noch zu sagen?
Die katholische Kirche hat Franz von Assisi und seinen »Traum vom einfachen Leben« stets für sich vereinnahmt, seine Lebensgeschichte zur Hagiographie umgeschrieben. Dabei hat die Lehre Franz von Assisis eine Strahlkraft über alle konfessionellen Grenzen hinweg, gerade heute. Gunnar Decker enthüllt den klerikalen Mythos, der sich hinter der Gestalt des Mönchs verbirgt. Und er zeigt, auf welche Weise uns seine Lehre noch immer bewegt.
Autor
Gunnar Decker, 1965 in Kühlungsborn geboren, wurde in Religionsphilosophie promoviert. Er lebt als Autor in Berlin, veröffentlichte vielfach gelobte Biographien unter anderem zu Hermann Hesse, Gottfried Benn und Franz Fühmann, zuletzt das Geschichtsbuch »1965. Der kurze Sommer der DDR«. Weiter ist er Filmkritiker und Redakteur der Zeitschrift Theater der Zeit. 2016 wurde er mit dem von der Berliner Akademie der Künste verliehenen Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet.
»Von großer Sorgfalt, hoher analytischer Kraft sowie, last but not least, von beachtlichem erzählerischem Vermögen.«
Tilman Krause, Die Welt, über Gunnar Deckers Hesse-Biographie
GUNNAR DECKER
FRANZ VON ASSISI
DER TRAUM VOM EINFACHEN LEBEN
Siedler
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Erste Auflage
September 2016
Copyright © 2016 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg, unter Verwendung eines Motivs von akg-images/Gerhard Ruf
Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
Karte: Peter Palm, Berlin
Reproduktionen: Aigner, Berlin
ISBN 978-3-641-16123-1V001
www.siedler-verlag.de
»Diesen franziskanischen Kontrapunkt braucht auch die moderne Welt.«
JACQUES LE GOFF
Inhalt
PROLOG Der Sohn des Tuchhändlers als Stürmer und Dränger – sowie als Idiot der Familie
TEIL IVom Anfangen
Der Spielmann Gottes
Ein Simplicissimus?
Nacktheit als Form des reinen Protests und der Apotheose
Bildnis mit Mängeln
Der unscheinbare Mensch aus Assisi als welthistorisches Ereignis
Der Vogelprediger. Franz von Assisi und die Natur
Erste Vorverständigung über die Frage: Bruderschaft oder Orden?
Wer nicht sucht, weiß nicht, wann er findet. Umwege zu Franz von Assisi über Hermann Hesse
Umbrische Landschaft. La terra trema
Ein Erdbeben für die Kirche. Das Neue in Gestalt eines Verrückten?
Die Quellen. Zwischen Dokument und Legende
Kindheit und Jugend eines Zauberers
Vorgeschichte eines Heiligen
Traumgesicht. Ein Weltenwechsel
Wallfahrt nach Rom. Ausstieg auf Probe
Jesus am Kreuz beginnt zu sprechen. Der Auftrag von San Damiano
Der Mantel des Bischofs
Die ersten Gefährten
Die neue Religiosität der Städte – Reformkirche und Ketzerbewegungen
Wer sind die Ketzer, und was wollen sie?
Der »Ketzervater« Joachim von Fiore, Fixstern in der Geschichte der Sozialutopien
Die mächtige Gegenkirche der Katharer
Warum werden die Waldenser verketzert und die Franziskaner nicht?
Exkurs: Lob der Ketzer oder der Orthodoxie?
TEIL IIDie Krise des gelebten Ideals
Franz und die Seinen gehen nach Rom – Der Eintritt der Fraternitas in die katholische Kirche?
Zwiegespräch der Träume. Franz trifft Innozenz III.
Rückkehr aus Rom. Aufbruch in die Illusion
Die erste Regel. Noch freie Assoziation oder schon Orden?
Von Rivotorto zur Portiunkula-Kapelle
Schicksal einer Frau: Klara von Assisi
Was ist ein Minderbruder? Die Feier der Armut, der Fluch des Geldes und die wiederkehrende Geschichte vom Mantel
Abschied vom Anfang. Die Mattenkapitel
Der Einbruch der Realität in den Traum
Zeit der Kreuzzüge. Märtyrerträume und der letztliche Wille zum Frieden
Rückzug oder Vertreibung von der Ordensspitze?
Bruder Elias, Freund oder Verräter Franz’ von Assisi?
Die verlorene Regel – der gestürzte Franz von Assisi zu Füßen von Bruder Elias. Die Franziskaner-Mission in Deutschland und England
Der Sonnengesang
Bologna als Ärgernis
Brüder im Geiste? Dominikus und Franz von Assisi
Das nahende Ende. Rückzug, Intrige, Erscheinung des Engels und Tod
Das Jahr 1226. Schwere Prüfungen
Bruder Feuer
Das Testament
Die Neu-Erfindung von Weihnachten. Der heilige Stall von Greccio
Monte Alverno als Zauberberg und Ort der Versuchung
Erscheinung des Engels
Bruder Tod
TEIL IIIDer utopische Rest
Der Streit ums Erbe. Die drohende Austreibung des Ursprungsgeistes
Heiligsprechung und Kampf um die Deutungshoheit
Der Stein gewordene Traum. Wo ist der Leichnam von Franz von Assisi geblieben?
Immer neuer Ärger mit Elias. Zweiter Versuch als Ordensgeneral
Die Franziskuskirche
Die Versöhnung von Religion und Natur bei Giotto
Gregor IX. als Franz’ Schutzpatron und Begründer der Inquisition. Der Geist der Spiritualen aber weht überall
Papst Cölestin V. als Hoffnungsschimmer für die Spiritualen und Bonifaz VIII. als Ende aller Hoffnung
Der Armutsstreit eskaliert
Ketzer und Spiritualen. Die Apostelbrüder Gerhard Segarelli und Fra Dolcino
Bonaventura wird Ordensgeneral und unternimmt die Befriedung eines nicht befriedbaren Gegensatzes. Ein fauler Kompromiss?
Die mörderische Frage, wie eng und wie kurz eine Kutte sein darf. Und vor allem: Wem gehört sie?
Der Engel des sechsten Siegels. Die Apokalypse im Selbstverständnis der Spiritualen um Petrus Olivi
Besaß Jesus Eigentum?
König Ludwig von Bayern als Schutzpatron der Franziskaner gegen den Papst
Franziskanische Denker als Empiriker: Wilhelm von Occam, Marsilius von Padua, Duns Scotus und Roger Bacon
Der lang andauernde Streit zwischen Konventualen und Observanten mündet 1517 in einer Spaltung des Ordens. Wer sind die Kapuziner?
Johannes Capistranus. Der Inquisitor als Heiliger?
EPILOGEin Jesuitenpapst namens Franziskus. Der späte Schulterschluss mit der Befreiungstheologie?
Anmerkungen
Bibliographie
Zeittafel
Register
PROLOGDer Sohn des Tuchhändlers als Stürmer und Dränger – sowie als Idiot der Familie
»… ward einst der Welt geboren eine Sonne«
DANTE im 11. Gesang der Göttlichen Komödie über Franz von Assisi
Franz von Assisi war kein Fanatiker. Er zügelte den Rebellen in sich, weil er wusste, ungerechte Verhältnisse ändern sich nur, wenn sich die Menschen ändern, die diese Verhältnisse als ungerecht erkannt haben. Das ist es, was auch Papst Franziskus, schon als er noch als Bischof in Argentinien war, an ihm faszinierte. Er spürte: Franz von Assisi war kein Sektenführer, der eine Gegenkirche gründen wollte wie die Katharer, ihn trieb nicht der Hass, sondern es trug ihn die Liebe auch durch jene Zeiten, da er sein Lebenswerk bedroht sah. Franz von Assisi selbst geriet in seinen letzten Lebensjahren in einen schweren inneren Konflikt zwischen dem Ideal und der realen Geschichte, nicht nur der seines Ordens. Doch er hielt diesen Widerspruch aus, erduldete ihn nicht nur, sondern bejahte ihn schließlich. Nietzsche würde sechseinhalb Jahrhunderte später für diese Bejahung die Worte amor fati, das Schicksal lieben, finden.
In seiner 2015 erschienenen Umweltenzyklika Laudato si’ beruft sich Papst Franziskus nicht nur ausdrücklich auf Franz von Assisi, er zitiert auch seinen Sonnengesang. Das Credo eines alt gewordenen Mannes, der den Tod als natürlichen Teil des Lebens einerseits freudig bejaht und andererseits diesen Kreislauf des Lebens durch menschliche Fortschrittshybris bedroht sieht? Aber trotz Elend und Müll, die eine Welt grenzenlosen Konsums unaufhaltsam produziert: Bruder Feuer erleuchtet die dunkle Nacht.
Da lebt einer sichtlich gern, besitzt das entscheidende Quäntchen Übermut, das ihn jeden neuen Tag wie ein Geschenk begrüßen lässt. Darum nennen alle frühen Lebensbeschreibungen den jungen Franz von Assisi »lustig«. Er besitzt die Gabe, sein Leben mit angeborener Anmut leicht zu nehmen – und andere zu animieren, es ebenfalls zu tun. Warum darum herumreden: Der junge Francesco offenbart bereits ein gehöriges Maß an Exzentrik. So trifft für ihn bereits der Slogan einer späteren Zeit zu: »Lebe lieber ungewöhnlich!«
Wo Giovanni – zu Deutsch Johannes – Bernadone auftaucht, der den vom Vater nachträglich erhaltenen Namen Francesco – zu Deutsch Franz – bereitwillig trägt, da bekommen alle Dinge wie von selbst ein freundliches Gesicht. Kein Wunder, denn Francesco stammt aus einer der reichsten Familien Assisis, für seine Zukunft ist gesorgt.
Thomas von Celano, der 1228 die erste Lebensbeschreibung verfasste, mag in Francescos Leben vor der Bekehrung nicht mehr als einen fortgesetzten Sündenfall sehen. Assisi ist darin nichts anderes als ein Name für »Babylon« und die jugendlichen Freunde Francescos sind ihm gar ein »Schwarm von Bösewichtern«. Er führt ein bürgerliches Leben als Tuchhändlersohn, der schließlich selbst in des Vaters Laden steht und die Kunden auf überaus einnehmende Weise bedient. Mit seinem Charme verführt er sie zum Kaufen der keineswegs billigen Stoffe. Alle sehen in ihm bereits den geborenen Verkäufer. Er macht diese Arbeit gern, sein Wesen hat etwas Gewinnendes. Es fällt ihm leicht, seine Kunden zu etwas zu bringen, woran sie beim Betreten des Ladens noch gar nicht dachten. In der Mode, der Kunst sich zu schmücken, spiegelt sich der neue Reichtum der Stadtbewohner. Eine flüchtige Kunst gewiss, aber sie hat etwas mit dem Stolz der Bürger zu tun, bestärkt sie in ihrem für das Mittelalter bislang unbekannten Gefühl, es durch eigenen Fleiß und Tüchtigkeit zu etwas gebracht zu haben.
Dieser neue Reichtum besitzt jedoch einen Januskopf, denn er weckt Begehrlichkeiten. So ist Italien um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert ein von erbitterten politischen Verteilungskämpfen überzogenes Land. Vor allem das Papsttum und die deutschen Kaiser führen in Italien Krieg um Einflusssphären. Schon bevor Francesco Ende 1181 oder Anfang 1182 geboren wird, hat der Städtebund der Lombardischen Liga sich eine beträchtliche Unabhängigkeit erkämpft.
Noch ist man in der neben Perugia eher kleinen Stadt Assisi vom Krieg verschont geblieben. Es herrscht die Atmosphäre eines gefährdeten Friedens. Man ahnt, er wird nicht mehr von langer Dauer sein. Ist es da ein Wunder, dass die Stadtjugend die ihr verbleibende Zeit nutzt, um sich zu amüsieren – so intensiv, so laut, so ausschweifend es geht? Und Francesco ist immer mittendrin, mehr noch: der Ideengeber. Er bezahlt – mit dem Geld des Vaters natürlich – die Zeche für alle. So wird er schnell zum Anführer der wohlhabenden Stadtjugend, dem sie alle gern folgen.
Ob sie ihm tatsächlich überall hinfolgen werden, das wird sich noch zeigen, aber selbst Celano in seiner Verdammungsrede des sündhaften Lebens, will Francesco nicht den Vorwurf machen, dass er seine privilegierte Stellung missbrauche, wenn er schreibt: »Alle bewunderten ihn, und alle wollte er übertrumpfen in Prunk und eitler Ruhmgier, in Scherzen, Späßen und Schnurren, in Wortgeplänkel und Liedern, in weichlichen und wallenden Kleidern, weil er sehr reich war; doch nicht geizig, sondern verschwenderisch, kein Anhäufer von Geld, sondern ein Verschleuderer des Reichtums, ein umsichtiger Kaufmann, aber ein leichtfertiger Verteiler; dabei war er jedoch ein sehr freundlicher, gewandter und leutseliger Mensch, wenn auch zu seinem Schaden; denn viele liefen ihm gerade nach, die Beifallsklatscher bei bösen Streichen und Anstifter von Verbrechen.«1
Bei Celano findet sich kein Wort über Politik und jene Kriege, die Assisi erschüttern. Als ob dies keinerlei Einfluss auf Francescos Art in der Welt zu sein gehabt hätte! Denn erst im Schatten von Gewalt und Leiden erwächst – langsam, sehr langsam – jenes unglückliche Bewusstsein, das den Boden für eine neue Spiritualität in ihm bereitet.
In der sogenannten Dreigefährtenlegende, über deren Entstehung noch zu reden sein wird, findet sich immerhin ein einziger dürftiger Verweis auf jene für Francesco so folgenreiche Konstellation: »Als wieder einmal zwischen Perugia und Assisi Krieg herrschte, wurde Franziskus mit vielen seiner Mitbürger gefangen genommen und zu Perugia in Gewahrsam verbracht: doch wegen seiner vornehmen Sitten tat man ihn zu den gefangenen Rittern.«2 Hier ist der Krieg zwischen Perugia und Assisi von 1202 gemeint, der in einem Massaker an den Kämpfern aus Assisi mündet – Francesco mitten unter ihnen.
Die Fußtruppen schlachtet man regelrecht ab, Gefangene werden nicht gemacht. Mit unvorstellbarer Grausamkeit erschlägt, zerhackt und spießt man alles auf, was aus Assisi kommt, die Feinde waten im Blut der Toten. Nur die Adligen tötet man nicht sofort, sondern nimmt sie gefangen. Dass Francesco wegen seiner vornehmen Sitten für einen Adligen gehalten wird, ist natürlich pure Legende: Allein sein Pferd, auf dem er – für einen Bürger höchst ungewöhnlich – in den Krieg zieht, bewahrt ihn vor dem sofortigen Tod. Wer ein Pferd hat, für den kann man auch ein Lösegeld bekommen, so die Kriegslogik!
Also schützt ihn sein reiches Elternhaus, das ihm seine adlige Lebensweise ermöglicht, vor dem sicheren Tod. So sieht Francesco seine fröhlichen Zechkumpane als verstümmelte Leichen – während er selbst das Glück hat, zu überleben. Aber um Gefangenschaft im 13. Jahrhundert wenigstens eine gewisse Zeit zu überleben, dafür braucht es eine eiserne Konstitution. Und die hat Francesco nicht, er ist eher schwächlich. Und doch sagt man, seine Lebensfreude habe ihn auch in den tiefen und feuchten Verliesen der Festung von Perugia, in denen die Gefangenen von Assisi zusammengepfercht wurden, nie verlassen. Nein, er singt auch hier Lieder und preist das Leben, so dass seine Schicksalsgenossen meinen, er sei verrückt geworden. Kein Wunder bei den Umständen!
Es stimmt streng genommen auch nicht, die Zeit vor dem Krieg gegen Perugia als Vorkriegszeit zu bezeichnen, denn es war nur eine Zwischenkriegszeit. Der Streit zwischen Papst und Kaiser hatte sich zu dieser Zeit verhängnisvoll zugespitzt. Was mit dem Machtvakuum nach dem Tod des deutschen Kaisers Heinrich VI. zu tun hatte, der in Süditalien plötzlich an der Malaria gestorben war; vielleicht – so gab es Gerüchte – war er auch vergiftet worden, als er bei einer Jagd in den Sümpfen Kampaniens Wasser aus einem Brunnen trank.
Nach dem Tod des verhassten Besatzers gab es 1198 plötzlich zwei deutsche Kaiser, erst wurde Philipp von Schwaben auf dem Reichstag in Mainz zum Kaiser gekrönt, dann kurze Zeit später, auf dem Fürstentag in Aachen, Otto von Braunschweig. Während des nun folgenden Streits beider um die rechtmäßige Kaiserkrone wagten immer mehr Städte der Lombardischen Liga den Aufstand gegen die deutschen Besatzer. Zumal der dreiundneunzigjährige Papst Cölestin III. mit der unübersichtlichen politischen Situation überfordert war.
Nach seinem Tod wird dann jener siebenunddreißigjährige Graf von Segni zum Papst gewählt, der als Innozenz III. für Furore sorgen würde. Er versucht sofort, die verlorene Macht des Papsttums zurückzuerlangen.
Das alles geschieht in nur einem Jahr.
Francesco ist 1198 sechzehn oder siebzehn Jahre alt, und bereits in diesem Jahr spürt er die Gewalt der geschichtlichen Dynamik. Er beteiligt sich an der Erstürmung der Rocca, jener Festung, die über Assisi thront, von der aus die Deutschen die Stadt kontrollieren. In einem Moment der Schwäche, da der Gouverneur Konrad von Urslingen mit einem Teil der Truppen abwesend ist (er versucht beim neuen Papst diplomatisch Boden gutzumachen, doch der zwingt ihn zur völligen Unterwerfung), hatten die Stadtbewohner den Angriff gewagt – und gewonnen.
Francesco, so heißt es, sei als Bewaffneter an der Spitze der Aufständischen zur Zitadelle gestürmt. Im Siegestaumel macht man keine Gefangenen. Deutsche, die sich ergeben, werden aus dem Fenster geworfen. So einfach kann das Leben sein, wenn man denn zu den Siegern gehört. Dann wird die Festung geschleift und die Steine zum sofortigen Ausbau der Stadtmauer verwandt – Francesco mittendrin in all seiner Begeisterung.
Als die päpstlichen Gesandten kommen, die Stadt zu übernehmen, ist sie bereits in den Händen ihrer wehrhaften Bevölkerung.
Assisi gerät daraufhin unter Kirchenbann, die Eingänge zu den Kirchen werden vernagelt und die Altäre mit Tüchern verhängt. Der neu gewählte Bürgermeister Assisis heißt nun Gerardo di Gilberti und ist ein Katharer, ein Angehöriger dieser so mächtigen ketzerischen Bewegung, die ein radikaler Feind des Papsttums ist, dessen moralischem Verfall sie ein Ideal evangelischer Reinheit entgegensetzt.
So hat Franz von Assisi bereits sehr jung viel von der schrecklichen Natur des Krieges kennengelernt und als eifriger Ritter, den er in sich spürt, gewiss auch selbst Menschen getötet, auf welche Weise genau, wissen wir nicht. Jedenfalls fühlt sich Francesco als Kämpfer berufen, er muss also entsprechende Erfahrungen gemacht haben. Die Erhebung von 1198 bereitet den Boden für den Krieg mit Perugia, denn die Aufständischen beginnen den Besitz der adligen Oberschicht niederzubrennen und die Adligen zu ermorden. Es herrscht Revolution in Assisi. Ein Teil der adligen Familien aber kann sich nach Perugia retten und betreibt von dort aus die Rückeroberung, die 1202 auch gelingt.
Wie sehen jene Jahre zwischen 1198 und 1202 aus, die für Francesco so prägend waren? Julien Green hat es unternommen, eine Art Sittengemälde Assisis zu dieser Zeit zu malen. Der väterliche Laden, so schreibt er, sei für Francesco gleichsam die Bühne gewesen, auf der er zwischen seinem sechzehnten und zwanzigsten Lebensjahr versucht, die Aufmerksamkeit seiner Mitbürger zu erlangen. Die Stadt sei »wie ein großes Theater« gewesen. Francesco will von Anfang an nur eines darin: eine Hauptrolle spielen. Paul Sabatier schreibt über die besondere Rolle der Tuchhändler im 13. Jahrhundert, sie seien die wahren Herren der Städte gewesen. Zugleich Bankiers, denn wertvolle Stoffe sind eine verlässliche Währung, kommen sie als Geschäftsreisende durch ganz Europa. Sie bringen Nachrichten aus der Ferne nach Hause mit, sie machen aber auch unterwegs, bei ihren Reisen durch unsicheres Land, die oft nur unter dem Schutz von Waffen möglich sind und gefährlichen Expeditionen gleichen, selbst dadurch Politik, dass sie Nachrichten von einem Ort zum anderen transportieren.
Sie sind also nicht nur die Banker, sondern auch die Zeitungen des 13. Jahrhunderts. Durch sie verbreiten sich die häretischen Ideale, wie sie aus der erstarkenden Volksfrömmigkeit erwachsen. So erklärt sich auch Pietro Bernadones, des Vaters, Selbstbewusstsein. Er ist sich der Macht, die er verkörpert, jederzeit bewusst – und er weiß, dass ihm und seinesgleichen die Zukunft gehört.
Wie viel Land er genau besitzt, weiß man nicht. Mindestens fünf Häuser in der Stadt gehören ihm – und der Besitz wächst, weil Bernadone auch geschickt zu spekulieren versteht, etwa indem er Immobilien der nach Perugia geflüchteten Adligen an sich bringt. Über den Vater ist damit bereits einiges gesagt – Franz selbst aber wird sich nie über seine Familie äußern. Und die Mutter? Ihr kommt in den Lebensbeschreibungen eine wechselnde Rolle zu. Anfangs gehört auch sie für Celano ganz zum verkommenen, bloß auf Geld fixierten Bernadone-Sumpf. Aber in seiner zweiten Lebensbeschreibung, zwanzig Jahre später verfasst, steigt sie auf zur sanften Heiligenmutter. Wahrscheinlich ist sie die ganz normale Frau eines reichen Bürgers, der selten zu Hause ist. Selbstständig, aber unauffällig.
Über die Herkunft ihres Namens »Pica« ist von den Interpreten gestritten worden, denn Pica bedeutet im Wortsinne Elster. Ist sie also besonders schwatzhaft oder gar raffsüchtig gewesen, wie die Symbolik des Vogels es suggeriert? Wahrscheinlicher ist, dass der Name auf die südfranzösische Herkunft der Mutter verweist – Französisch ist die Sprache, die bei den Bernadones besonders häufig gesprochen wird, was auch erklärt, warum Franz sein Leben lang bevorzugt Französisch predigt und singt. Er hat mindestens noch einen jüngeren Bruder, Angelo, der ihn überleben wird. Auch über ihn gibt Francesco niemals irgendwelche Auskunft, obwohl die beiden Brüder ihr weiteres Leben hauptsächlich in Assisi verbringen werden.
Am Anfang deutet nichts auf die Rolle Francescos als »Idiot der Familie« hin. In dieses Bild hatte Jean-Paul Sartre die Kindheit und Jugend von Gustave Flaubert gebracht. Dieser war der Sohn eines berühmten Chirurgen in Rouen, der in den Schriftstellerambitionen seines Sohnes nichts anderes als Faulheit und Tölpelei entdecken konnte. Und wie lange braucht so ein Kind, sich gegen die Übermacht des Vaters zu behaupten! Flaubert etwa sprach als Kind erst spät und schien dann in allem, was er tat, für den praktischen Wirklichkeitsmenschen, der der in seinem Beruf so erfolgreiche Vater war, aufreizend langsam. Ein lebensuntüchtiger Träumer!
Ist es ein Zufall, dass sich Franz in seinem Testament als »idiota et ignorans« bezeichnet – als einfältig und ungebildet? Hier ist der Dissens zur Umwelt, besonders zu seiner engsten, der Familie, berührt. Denn deren Maßstäbe sind nicht seine Maßstäbe, seine Zeit wird anders gemessen. Niklaus Kuster hat die musische Seite Francescos hervorgehoben. Der Traum, der ihn leitet, erwächst nicht aus der Heiligen Schrift, überhaupt nicht aus einem Studium, er kommt ganz unmittelbar über ihn, mit unwiderstehlicher Kraft, einer poetischen Sendung gleich: »Sein ganzes Leben wird er ein Tänzer, Dichter und Gaukler bleiben, der wie ein ›Troubadour‹ auftritt, seine Botschaft leidenschaftlich gern inszeniert und schließlich auch zu seine Predigten tanzt.«3
Er ist »idiota et ignorans«, denn ihm fehlen die Voraussetzungen, eine jener üblichen Predigten zu halten, die zumeist Auslegungen von Bibelstellen sind. Aber dieses Nicht-Können im konventionellen Sinne macht ihn frei für Außergewöhnliches! Er spricht aus, was er erblickt, um sich herum und tief in sich. Heraus kommt eine Art magischer Realismus, Visionen von dokumentarischer Kraft. Francesco sucht nach einer eigenen Ausdrucksform und findet diese schließlich in einer Art religiöser Performance. So ist überliefert, dass er einmal einer auf seine Predigt wartenden Versammlung entgegentrat und sich, statt zu sprechen, Asche über den Kopf schüttete und dann still im Gebet verharrte. Mehr nicht? Das ist viel für eine Zeit, in der sämtliche christlichen Symbole so vernutzt und missbraucht scheinen, dass man ihnen nichts anderes mehr zutraut, als bloß die Lügen zu vermehren.
Franz wird gerade durch seine gelegentlich stammelnde Sprachlosigkeit, die den Mystiker zeigt, und seine damit einhergehende kindliche Lust am Spiel mit tieferer Bedeutung zum Erneuerer der christlichen Symbolik werden. Diese Natürlichkeit des Glaubens scheint aus Übermut zu erwachsen. Denn was schließlich zur Emanzipation der Natur werden wird, setzt den Mut voraus, die eigenen Grenzen zu überwinden.
Der Gründungsheilige dieser Familie der Träumer, der im bürgerlichen Sinne tatsächlich »Verrückten«, weil gegen ihre naheliegenden Interessen Handelnden, dieser Bewahrer einer demütigen Klugheit, die eine andere ist als die Geschäftsklugheit erfolgreicher Macher, trägt von Anfang an den Namen Franz von Assisi. Von Anfang an? Ja und nein. Denn das, was seine Bekehrung genannt wird, ist kein plötzliches Ereignis, es bereitet sich lange in ihm vor – und wer will hier mit Gewissheit sagen, dass das Spätere nicht von Anfang an in ihm angelegt gewesen sei?
Als Francesco nach einem Jahr Kerkerhaft vom Vater freigekauft wird, nimmt er sein bisheriges Leben in Assisi wieder auf. Tagsüber steht er im Geschäft des Vaters und bezaubert die gehobene Kundschaft mit seinem Charme, der im dunklen Kerker offenbar keine Kratzer bekommen hat. Nachts zieht er mit den anderen Söhnen Besserverdienender durch die Stadt. Nach üppigem Essen und Trinken, das Francesco bezahlt, hält man laut singend und johlend Ausschau nach schneller Liebe für den Nachhauseweg. Es sind Freuden der Besitzenden, die sich auf diese hastig konsumierende Weise ihrer Vitalität versichern. Ja, Francesco ist nach Krieg und Gefängnis immer noch jung, gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt. Und äußerlich ist alles bei ihm wie immer – jedenfalls fast. Denn seit dem Gefängnis ist er krank, hat es auf der Lunge, vermutlich eine Tuberkulose.
Auch sein scheinbar intaktes Selbstbild bekommt erste Risse – er hat bereits zu viel gesehen und erlitten, um sich mit dem zu begnügen, was man für Geld haben kann. Das ganze oberflächliche Leben ist ihm – noch bevor er bereit ist, es sich einzugestehen – fremd geworden. Seine Seele hungert nach echter Nahrung.
Das zeigt sich in kleinen, zufälligen Begebenheiten. Die erste, die uns überliefert wurde, ist die Begegnung mit einem Bettler, der unbotmäßigerweise plötzlich im Laden steht und um eine Gabe bittet. Francesco ist empört, dieser schmutzige und stinkende Kerl vertreibt ihm noch seine gut situierten Kunden! Wütend weist er ihn hinaus. Dann vergisst er diese in einer mittelalterlichen Stadt alltägliche Begebenheit. So wie er auch die Erinnerung an den kurzen mörderischen Krieg mit Perugia und das Jahr im Kerker vergisst.
Doch die verdrängten Bilder kehren wieder – zur Unzeit, dann, wenn er besonders wehrlos gegen sie ist.
Hätte dieser elende Mensch, der nichts besitzt und sich als Bettler von seinen Mitmenschen wie ein Stück Dreck behandeln lassen muss, doch bloß nicht im Namen Gottes um Hilfe gebeten – und nicht irgendwen, nicht allgemein, sondern ihn persönlich, Francesco Bernadone! Und er hatte sich hartherzig gezeigt. War er innerlich bereits derart abgestumpft?
Die Legende berichtet allerdings, er sei dem Bettler, kurz nachdem dieser den Laden verlassen habe, hinterhergelaufen, um ihm so viele Goldstücke in die Hand zu drücken, wie er in der Eile greifen konnte. Ob dies stimmt, wissen wir nicht – aber der Gestus des Gebens hat etwas Zweideutiges. Zum einen ist da echte Scham über das eigene Verhalten, der Versuch, etwas wiedergutzumachen. Denn Gott sprach aus dem Bettler, der Bettler war Gott. Ihm soll schnell und überreich geholfen werden. Zum anderen bleibt etwas Abwehrendes in seiner Handlung. Hier nimm, es ist mehr, als du jemals bekommen hast, aber lass mich in Ruhe!
Francesco handelt in dieser Situation wie ein echter Bernadone, wenn auch milde gestimmt. Er gibt Almosen, will ihm da noch jemand wegen seines Lebens, das sich immer nur um Geld und noch mehr Geld dreht, Vorwürfe machen? Ist er etwa nicht tüchtig, und ist Erfolg denn etwas, dessen man sich schämen muss? Es ist dieselbe selbstgerechte Logik wie bisher, die ihn immer noch gefangen hält. Er ist ein Reicher, und er gibt den Armen. Reichlich durchaus, aber die Rollen sind klar verteilt.
Doch warum ist er reich und die anderen arm? Ist es Schicksal, oder sind sie so faul und dumm wie er fleißig und klug? Diese Welt, beginnt Francesco zu ahnen, ist nicht gerecht eingerichtet und brüderlich schon gar nicht. Aber was kann man tun? Soll er etwa sein ganzes bisheriges Leben fortwerfen, es ablegen wie ein Kleid, das nicht mehr passt?
Noch versucht er beides, sein Leben als vornehmer, freundlicher und großzügiger reicher Bürgersohn fortzuführen und trotzdem mit seinem Geld denen zu helfen, die es zum nackten Überleben brauchen. Aber immer wieder, regelmäßig nun sogar, greift er in die Geschäftskasse, nicht mehr nur, um das Geld mit Freunden auszugeben, das auch noch, aber immer häufiger bringt er es jenen Armen, um die er bislang einen großen Bogen machte.
Diese Ärmsten der Armen vegetieren ganz am Rande der Gesellschaft. Aus Sicht der neureichen Bürger sind sie mehr als bloß lästig, sie sind bedrohlich. Denn aus diesem Elend resultiert Verwahrlosung, und diese wiederum wird zum Nährboden für zahlreiche Krankheiten. Eine Zumutung sind vor allem die Leprösen, die am lebendigen Leibe verfaulen, dass es zum Himmel stinkt. Und es gibt immer mehr von diesen sich selbst überlassenen Aussätzigen. Wo man sie trifft, da bewirft man sie mit Steinen. Oft ziehen sie sich dann in den Wald zurück, daher der Name »Waldmenschen«, der in unserem kollektiven Unterbewusstsein immer noch Ängste auslöst. Sie ernähren sich von dem, was sie finden, auch von verfaulten Früchten und von Getreide, das von Mutterkorn befallen ist – was schlimme Folgen hat wie jene Veitstanz genannte Nervenkrankheit oder schwarze Geschwüre, die den ganzen Körper bedecken.
Die neue städtische Kultur forciert die Desintegration ganzer Gruppen, die in der traditionell ländlich verfassten Kultur noch dazugehörten. Und im 13. Jahrhundert werden es immer mehr von diesen aus der Gemeinschaft Ausgestoßenen, nicht nur die Aussätzigen ziehen hungernd und bettelnd über Land.
Die Freiheit der Städte, zweifellos ein Fortschritt, wirft lange Schatten. Aber was Francesco hier sieht, das sind mehr als bloße Schatten, es scheint ihm wie eine finstere Nacht.
Rilke schreibt es in einem Gedicht, und es ist nicht einmal fromm gemeint, eher wie eine zufällige Begegnung, ein Zusammentreffen, mit dem man nicht rechnete: »Da stürzte Gott aus seinem Hinterhalt.«
Wie gesagt, in dieser Zeile steckt keine christliche Botschaft, dem Dichter liegt es fern, zu bekehren oder sein Innerstes vor Publikum vorzuzeigen. Er vermeldet einen Fakt. Den Einbruch einer anderen Dimension, das Aufsprengen eines Lebenskreises, den man zu lange für intakt gehalten hatte.
TEIL IVom Anfangen
Der Spielmann Gottes
Ein Simplicissimus?
Ein einfacher Mensch, der weise ist, weil er im wenigen viel, vielleicht sogar alles findet. Ein Simplicissimus! Aber man kann dies Wort so oder so gebrauchen: voller Bewunderung angesichts eines mit wenig äußerem Aufwand gelingenden Lebens, oder aber auch eher wegwerfend, geradezu verachtungsvoll.
Ausgerechnet einer der mächtigsten Männer seiner Zeit, der von sich behauptete, er sei ein Freund Franz’ von Assisi, der aber diesen immer nur gründlich missverstand, wenig achtete und für seine Machtpolitik benutzte, Kardinal Hugolin (auch Hugo oder Ugolino), der dann Papst Gregor IX. wurde und die Heiligsprechung von Franz betrieb, gebrauchte der Legenda Perusina zufolge ebenfalls den Vergleich mit einem Simplicissimus. Dieser ist dem Wortsinne nach ja nicht nur ein schlichter Mensch, sondern geradezu ein Idiot, aber Kardinal Hugolins Verständnis nach eben kein heiliger Idiot, der mehr und anderes weiß als all die klug taktierenden Vielwisser, die ihre Interessen zu wahren verstehen. Nein, Franz von Assisi, der Simplicissimus und heilige Idiot im Sinne jenes Fürsten Myschkin, den Dostojewski in Anlehnung an Franz von Assisi schuf – ein Genie des Leidens ebenso wie der Lebensfreude! –, blieb jemandem wie dem ehrgeizigen Kardinal Hugolin in seinem Wesen verborgen.
Auch dieser nennt ihn einen Idioten, aber die folgende Szene zeigt, dass er damit einen ärgerlichen Störfall meint. Franz ist für ihn ein Außenseiter, der das immer gleiche Spiel um Macht und Reichtum auf gefährliche Weise durcheinanderbringt.
Die von Thomas von Celano in seiner zweiten Lebensbeschreibung des Franz berichtete Episode bezieht sich auf ein Gastmahl im Hause des Kardinals, zu dem er auch Franz einlud. Dieser erscheint, aber er bringt erbettelte Brotreste mit, die er auf den üppig gedeckten Tisch des Kardinals legt.
Man kann sich vorstellen, wie indigniert die versammelten kirchlichen Würdenträger auf diese hochsymbolische urchristliche Geste reagierten. Und der Kardinal, der nichts oder aber das Falsche versteht, nimmt den Störenfried beiseite und spricht: »Mein Bruder Einfaltspinsel (frater mi simplizone), warum hast du mich blamiert, indem du in meinem Haus, das doch deinen Brüdern gehört, um Almosen betteln gegangen bist?«4
Hier prallen zwei Welten aufeinander, die sich offenkundig nicht verstehen können. Aber sollen sie das denn? Der hier aufscheinende Riss in der einen Welt, in der diese beiden Christen leben, wird vor allem in den kommenden beiden Jahrhunderten noch zu viel Streit und Leid führen.
Doch ist Franz wirklich ein Simplicissimus? Das Einfache ist ihm zweifellos ein hohes Gut, das er sehr bewusst gegen die Buchstabengelehrsamkeit der Scholastiker stellt. Aber im Wort »simpel« schwingt eben auch ein Unterton mit: beschränkt, zurückgeblieben. Und das ist er keineswegs, genauso wenig, wie es Rousseau war, als er sein »Zurück zur Natur!« zum Programm erhob. Romano Guardini hat die inneren Gegensätze, die Franz in sich austrug, die große Not, aus der heraus er lebte, so formuliert: »Kein schaffender Mensch ist einfach, denn er ist gespannt zwischen dem, was ist und dem, was noch nicht ist.«5
Der utopische Raum seines Handelns ist damit bemerkt. Aber noch etwas anderes – und das eben zeigt bereits das Paradox seiner Sendung – wird damit berührt: Franz von Assisi ist keine in sein Geheimnis versenkte Gestalt wie etwa Meister Eckhart oder Theresa von Ávila. Seine Wirkung ist von großer Klarheit – und auch die immense Zahl von Legenden, die sich dann in den Fioretti um sein Leben ranken werden, hat seine schlichte, menschenfreundliche, mit Vorbild und Witz belehrende Art, die sich niemals über andere erhebt, eher noch bestärkt. Im Bewusstsein des Volkes ist er einer der Ihren, der ernst macht mit der Botschaft des Evangeliums, nicht der Wundertäter, zu dem die Kirche ihren Heiligen machen will. Genügt es dem Volk, dass er Jesus auf so selbstverständlich-originelle Weise folgt? Oder muss er dazu der »zweite Jesus« (samt Ausbildung der Wundmale) sein, jemand, der Tote auferweckt und Kranke heilt?
Romano Guardini hat den – tief widersprüchlichen – Rahmen abgesteckt, in dem das Leben des Franz von Assisi im Folgenden zu behandeln sein wird: »Immerfort tönte ihm in die umschriebene Gegenwart der Klang des Unendlichen. Und sein Leben ist eine ewige Wanderung gewesen. Grund genug, ihn unter die Romantiker zu rechnen, unter die dem ewig Flutenden, Grenzenlosen, Unwirklichen, Verfallenen … Und doch ist es nicht so. Denn Franz gehört auch wieder zu den klaren Kanten und den ummauerten Blöcken der umbrischen Häuser. Er steht in der brennenden Klarheit der assisischen Sonne.«6
Nacktheit als Form des reinen Protests und der Apotheose
Mehrfach in seinem Leben steht er vollkommen nackt da. Das erste Mal, als er 1206 seinem Vater Pietro Bernadone öffentlich all seine Kleidung vor die Füße wirft und bekundet, fortan nur einen Vater, den im Himmel, zu haben. Das ist eine Abkehr nicht von der Welt, aber von ihren falschen Maßstäben, vor allem von Eitelkeit, Macht, Ruhmsucht und Geld.
Franz von Assisi wird so zum Erfinder von Nacktheit als Form des Protests. Er demonstriert damit zugleich die Unbedingtheit des eigenen Anliegens wie auch den Verzicht auf jeglichen äußeren Schutz. Fast nackt soll er gewesen sein, als er in San Rufino predigte. Erst gab es Gelächter und empörtes Raunen, dann verstand man die Botschaft: Die arme Kirche benötigt weder prachtvolle Bauten noch sonstigen repräsentativen Prunk und Schmuck. Was sie dagegen unbedingt braucht, ist die Bereitschaft, Jesus beim Wort zu nehmen. Franz stellt der Macht des Geldes eine solidarische Vision entgegen, die den Wert des einfachen Lebens anerkennt. Werdet endlich bescheidener!, so mahnt Franz von Assisi nicht nur die Mächtigen dieser Welt, sondern auch sich selbst immer wieder.
So geht es dann auch über den Protest hinaus, ist ureigenster Antrieb und Vision zugleich, wenn Franz von Assisi fordert, »man müsse dem nackten Jesus am Kreuz nackt folgen«.7 Nackt, das heißt hier vor allem: nicht mit dem Schlachtruf »Bekehrung oder Tod!« auf den Lippen, sondern waffenlos die Botschaft des Friedens bringend. Diese »Nacktheit des Geistes«8 steht vehement gegen die Rede vom »heiligen Krieg«, wie sie Gregor VII., der 1073 Papst geworden war, geführt hatte. Mit ihm billigte sich erstmals ein Papst »Unfehlbarkeit« zu. Damit begann eine neue Ära der Kirche: ein machtpolitisch-imperialer Aufschwung. Gregor VII. rief zum Kreuzzug gegen die Ungläubigen (die Moslems vor allem) auf, verlangte von den Kreuzfahrern, sie sollten Jerusalem für die Christenheit zurückerobern. Dabei berief er sich auf Jeremias 48,10: »Verflucht sei der Mensch, der sein Schwert daran hindert, Blut zu vergießen.«
Als Franz von Assisi am 3. Oktober 1226 stirbt, besteht er darauf, nackt auf dem kargen Boden der Portiunkula-Kapelle zu liegen. Wie der Mensch geboren wird, so schutzlos stirbt er auch wieder. Noch mit seinem Tod hat Franz von Assisi, dieser begnadete Performer, wie man heute sagen würde, Spielmann und Troubadour, wie man im Mittelalter sagte, ein Symbol des wahren Menschseins hinterlassen. Es ist ein in seiner Natürlichkeit berührendes Bild.
Der sterbende Franz singt Loblieder auf Gott, so dass ihn der »Manager« des sich institutionalisierenden Ordens, Bruder Elias, dessen Charakter dem des Franz völlig konträr ist, zurechtweist; das gehöre sich nicht für einen angehenden Heiligen, von dem erwarte man, dass er würdevoll zu Gott hinübergehe. Um eine derartige Würde in den Augen kleiner Geister aber schert sich Franz von Assisi nicht, obwohl er allzu gut weiß, dass sie es sind, die ihn nun beerben werden.
Das erste erhaltene Porträt: Franz von Assisi im Kloster Subiaco
© AKG-Images, Berlin: Gerhard Ruf
Zur gleichen Zeit wie Franz von Assisi die Natur, auch die eigene, als beseelt entdeckt, entstand auch das erste Porträt von ihm, das im Kloster Subiaco erhalten ist. Es zeigt nicht den byzantinisch verklärten Heiligen vor einem Goldgrund, der mehr dem Himmel als der Erde anzugehören scheint, sondern das individuelle Bild eines Italieners aus dem umbrischen Assisi, der offenkundig jener Bruder Franz ist, dem Menschen zu folgen bereit sind, eben weil er nicht Sieg und Ruhm verheißt, sondern der Armut ihre Würde verleiht.
Das ist natürlich ein scharfer Protest gegen eine Kirche, die sich mehr Macht- und Eigentumsfragen verpflichtet fühlte als der Nachfolge Jesu. Aber es wird auch zum Beginn einer neuen Sensibilität jenen Dingen gegenüber, die bislang kaum eine Rolle in der mittelalterlichen Gesellschaft spielten, den Armen und Kranken, der Natur, den Tieren und Pflanzen und sogar den unbelebten Elementen: Licht, Wasser, Erde und Luft!
Aber auch sich selbst gegenüber, denn das Bild Franz’ von Assisi im Kloster Subiaco zeigt einen Menschen, der offensichtlich mit einem Schmerz kämpft, aber dies andere nicht merken lassen will. In ihm widerstreiten gegensätzliche Gefühle. Auf einen Begriff zu bringen ist dieses Porträt jedenfalls nicht – und gerade darum erlangt es eine für die Malerei des 13. Jahrhunderts neue Ausdruckskraft.
So steht er dann vor uns wie der Schutzpatron jenes einfachen Lebens, das nicht ohne höchsten Anspruch ist. Aber er zielt nicht auf Erfolg, Status, Macht, Ruhm oder Reichtum. Worauf dann? Auf himmlischen Lohn für irdische Entsagung? Auch nicht. Es ist jene minoritische Haltung zum Leben, deren Ähnlichkeit zum Buddhismus zu entdecken wäre: Noch im Kleinsten und Schwächsten das Abbild Gottes zu sehen. In der Achtsamkeit allen Dingen gegenüber ohne jeden Rangunterschied vollzieht sich hier bereits die religio, die Rückwendung zu jenem Ursprung, der nicht allein den historischen Anfang meint, an dem alles einmal begann, sondern ebenso die Gegenwärtigkeit des lebenserhaltend-fruchtbaren Prinzips.
Bildnis mit Mängeln
Wie also sieht er aus, jener Franz von Assisi, dessen Beispiel nach achthundert Jahren nichts von seiner Kraft verloren hat? Wie ein Jedermann wirkt er, eher noch unansehnlicher als der Durchschnittsitaliener seiner Zeit. Seine Körpergröße hat die Wissenschaft anhand der Gebeine ermittelt: 1,58 Meter, das war auch im Mittelalter nicht das, was man imposant nennt. Auch schön ist er nicht. Der Heilige der katholischen Kirche wird von seinem ersten Biographen Thomas von Celano seiner äußeren Erscheinung nach als ein Allerweltstyp beschrieben. Neu ist an dieser ersten Biographie aus dem Jahre 1228 die Genauigkeit in der Beschreibung. Hier soll nicht der Wundertäter verklärt, sondern ein Mensch, den man sich zum Vorbild gewählt hat, in größtmöglicher Präzision charakterisiert werden.
Dadurch bekommen wir heute immer noch ein genaues Bild von Franz. Celano schreibt: »Von nicht gerade großer Gestalt, eher klein als groß, hatte er einen nicht sonderlich großen, runden Kopf, ein etwas längliches und gedehntes Gesicht, eine ebene und niedrige Stirne, nicht sonderlich große, schwarze, unverdorbene Augen, dunkles Haar, gerade Augenbrauen, eine gleichmäßige, feine und gerade Nase, aufwärts gerichtete, aber kleine Ohren, flache Schläfen, eine gewinnende, feurige und scharfe Sprache, eine mächtige, liebliche, klare und wohlklingende Stimme, dichte, gleichmäßige und weiße Zähne, schmale und zarte Lippen, einen schwarzen, nicht vollen Bart, einen schlanken Hals, gerade Schultern, kurze Arme, lange Finger, etwas vorstehende Nägel, dünne Beine, sehr kleine Füße, eine zarte Haut, war sehr mager, trug ein raues Gewand, gönnte sich nur sehr kurzen Schlaf …«9
Ein Volkstribun sieht anders aus, sollte man meinen, steht nicht auf dünnen Beinen und mit schlecht entwickeltem Bartwuchs vor den Massen – und was heißt »unverdorbene Augen«? Hier ist wohl der beseelte Blick gemeint, denn in den letzten Lebensjahren leidet Franz von Assisi unter kranken, ständig eitrigen Augen, erblindet schließlich. Er besitzt jedoch genug Selbstironie, die eigene Erscheinung mit der einer »kleinen schwarzen Henne« zu vergleichen.
Die steckbriefartige Präzision in der Charakteristik durch Celano frappiert. Es ist, das wird in der Schilderung schnell klar, kein übernatürlicher spätplatonischer Scheinleib, den wir bei Franz von Assisi vor uns haben, sondern der, den Francesco Bernadone aus Assisi von Natur aus besitzt. Daran hat auch seine Berufung zum Bußprediger nichts geändert. Vor allem: Seine Stimme klingt voll und kräftig. Das ist in Zeiten, wo, wer zur Menge spricht, sich nicht auf technische Verstärkermöglichkeiten verlassen kann, eine entscheidende Voraussetzung, um überhaupt auftreten zu können. Franz, der gelernte Tuchverkäufer, kann sehr beredt sein. Aber da er die Bibel kaum kennt (und auch niemals vorgibt, ein eifriger Bibelleser zu sein), sich auch nicht gern auf Texte bezieht (es sei denn auf wenige ausgewählte Stellen in den Evangelien zur Armut der wahren Christen), lehnt er das Interpretieren von Texten überhaupt ab. Das ist gegen die Scholastik gerichtet, die sich für Franz nicht nur vom wahren Glauben, auch vom simplen Leben entfernt hat. Seine Predigten sind darum höchst ungewöhnlich.
Das in Celanos Beschreibung auffallende Wort ist »klein«, aber dabei auch anmutig. Und seltsamerweise scheinen es seine – später dann so kranken – Augen zu sein, die andere an ihm bezaubern. Sie hätten, so wird berichtet, ständig ihren Ausdruck gewechselt.
Sowohl Luise Rinser als auch Julien Green werden in ihren Charakterisierungen das Wort »verhexen« gebrauchen. Aber eine derartige Form von augenblicklicher Überrumplung liegt Franz fern. Sein Beispiel auf sich zu nehmen heißt nicht, das eigene Urteilsvermögen abzugeben – im Gegenteil, blinde Gefolgschaft ist schon darum in den Anfängen nicht möglich, weil die Brüder oft allein oder zu zweit gehen. Ohne ein starkes Selbstbewusstsein ist das kaum denkbar. Was aber heißt, seine Augen hätten ständig den Ausdruck gewechselt? Unterlag er starken Stimmungsschwankungen, wusste man nie recht, woran man bei ihm war? Vor allem ist damit gesagt, dass hier ein innerer Kampf geführt wurde, der nie endete.
Üblicherweise wurde zu Beginn des 13. Jahrhunderts der Gottesdienst in lateinischer Sprache abgehalten, und da das Volk dies nicht verstand, gab es eine Predigt im eigentlichen Sinne, das Ansprechen der Gemeinde also, auch so gut wie nicht. Franz aber spricht Italienisch und noch lieber Französisch. Ja, er singt und spielt. Er wendet sich nicht allein an den Intellekt, er fordert alle Sinne. Celano stellt die Beschreibung Franz’ von Assisi im Kapitel XXIX seiner ersten Lebensbeschreibung unter die Überschrift »Seine große Liebe zu allen Geschöpfen um des Schöpfers willen; seine äußere und innere Erscheinung«. Die »innere Erscheinung« meint seinen Charakter, dasjenige an ihm, das er nicht von Natur aus ist, sondern eben zweite, selbst geschaffene Natur: die Kultur. Denn sein Verhalten anderen Menschen gegenüber resultiert nicht aus einem einzigen Offenbarungserlebnis, sondern aus vielen Erfahrungen, die ihm die Natur des Menschen – auch seine eigene – offenbaren.
Es sind soziale Eigenschaften, von denen wir hier lesen: »Er war ein außerordentlich redegewandter Mann mit fröhlichem Antlitz und gütigem Gesichtsausdruck, frei von Feigheit, ohne jede Überheblichkeit.«10 Freigebig sei er gewesen, so der Grundzug seines Charakters. Und noch etwas erfahren wir über ihn, das ein allzu eindimensionales Bild von Heiligkeit sofort dementiert: »Und da er der Demütigste war, erwies er allen Menschen jegliche Sanftmut und glich sich in passender Weise dem Charakter aller an. Unter Heiligen war er noch heiliger, unter Sündern wie einer von ihnen.«11 Die Frage aber bleibt: Wie konnte dieser unscheinbare Mensch, der keine besonderen körperlichen oder geistigen Vorzüge besaß, solch eine Anziehungskraft auf andere Menschen ausüben? Darüber wird noch zu reden sein; aber wer eine bündige Antwort erwartet, wird enttäuscht werden. Das Geheimnis seiner Person bleibt, verbirgt sich in der überlieferten Legende.
Über die vollkommene Seelenfreude spricht Franz von Assisi, sie bestünde nicht darin, »Wunder zu wirken oder Kranke zu heilen oder Teufel auszutreiben oder Tote aufzuwecken; auch nicht darin, alle Dinge zu lernen und zu wissen, oder durch seine Beredsamkeit die ganze Welt zu bekehren, sondern darin, alle Leiden und Kränkungen und Ungerechtigkeiten und Demütigungen mit Geduld und Gleichmut zu ertragen«.12
Der unscheinbare Mensch aus Assisi als welthistorisches Ereignis
Wann wird aus dem vagen geistigen Anreiz ein lebensbestimmender Anstoß? Vielleicht müssen dafür verschiedene altbekannte Dinge so zusammentreffen, dass etwas Neues vor uns steht. Die Lebensreise des Tuchhändlersohnes aus Assisi, Giovanni Bernadone, den der Vater Pietro im frankophil-patriarchalen Affekt 1181 oder 1182 nach seiner Rückkehr von einer Geschäftsreise kurzerhand in Francesco (der Franzose) »umtaufte«, dauerte bis zu seiner zweiten Geburt im Jahre 1206 knappe fünfundzwanzig Jahre. Ab jetzt ist er jener Franz von Assisi, der in seiner Heimatstadt jedem verkündet, er habe nur noch einen Vater, und der wohne im Himmel.
Sein Auftritt in seiner Heimatstadt Assisi gleicht dem eines Simplicissimus. Was hatte Franz von Assisi, was andere Bußprediger – etwa Petrus Waldus – nicht hatten? Sagen wir zuerst, was ihm fehlte: theologische Bildung, gründliche Bibelkenntnis. Auch die Institution Kirche kannte er in ihrer Funktionsweise nicht von innen. Das scheinen auf den ersten Blick erhebliche Nachteile für einen, der auszieht, der Kirche das evangelische Ideal nahezubringen. Wie also gelingt es ihm, diese Schwäche in eine Stärke zu verwandeln? Indem er – darin ist er in all seiner Naivität überaus instinktsicher – die Schwäche zu einer Tugend erklärt, die die Kirche erst wieder lernen muss. Dann kann sie, die kranke, auch wieder gesunden.
Er will nicht, wie die Katharer und andere Ketzer, eine Gegenkirche gründen, für ihn sind die Bischöfe und der Papst keine Feinde. Wie sollten sie auch, hatte ihm Guido, der Bischof von Assisi, nicht schützend den Mantel umgelegt, als er nackt vor ihm und seinem Vater stand, der ihn misshandelt, bedroht und schließlich verstoßen hatte? Die Kirche war dem obdachlos gewordenen Francesco zur rettenden Zuflucht geworden, als er sich vom Vater – und damit von der Welt des Handels und des Geldes – für immer abwandte, aber erst nachdem dieser sich von ihm abgewandt hatte.
Und noch einen Vorzug hat Franz von Assisi gegenüber den anderen Bußpredigern und Glaubenserneuerern seiner Zeit: Er ist ein die Menschen, so wie sie sind und nicht wie sie idealerweise sein sollten, ehrfürchtig behandelnder Gefährte. Niemand, der von sich sagt, er liebe alle Menschen, sondern jemand, der immer den Einzelnen in seiner Unvollkommenheit und Bedürftigkeit, seinen Verirrungen wie Beschädigungen und unabhängig von seinem Stand vor sich sieht und zu lieben vermag.
Die Magie Franz’ von Assisi, die die Menschen in seiner Umgebung – dieselben, die ihn zuvor als »Verrückten« verlacht und mit Kot beworfen hatten – nun so verzaubert, erwächst aus einer Wurzel: Treue zu sich selbst und seiner Mission. Dies ist ein Mensch, um mit Nietzsche zu sprechen, der ein Beispiel gibt. Eines zumal, nach dem seine Zeit immer drängender verlangt. Seine Heiterkeit verliert er selbst in prekären Situationen nicht, wie etwa, als man ihn in Perugia einkerkerte und erst sein Vater ihn mit viel Geld freikaufte.
Nein, dieser Franz von Assisi ist kein Heiliger des zu Boden gesenkten Blicks, kein Meister der Selbstabtötung. Da spürt einer, dass er Sinne hat, die ihn das göttliche Wunder des Lebens erleben lassen – in seinem Wachstum und Blühen ebenso wie im Welken und Absterben. Mit Franz von Assisi bekommt die vita activa, wie sie bereits sein ruhlos Handel treibender Vater verkörpert, eine Seele. Sie hört darum nicht auf, vita activa zu sein, aber sie beginnt nach innen zu lauschen, Inseln der Stille zu bilden. Peter Sloterdijk hat in Du musst dein Leben ändern (ein Satz Rilkes, der den ganzen Franz von Assisi in sich trägt!) über jene mittelalterliche vita contemplativa geschrieben, wie sie sich in der Ordensregel der Benediktiner im 6. Jahrhundert zeigt: »Während die Modernen durch Kuren und Ferien ihre Arbeitskrankheiten kompensieren, setzen die Mönche das Arbeiten ein, um Abhilfe gegen ihre Kontemplationskrankheiten zu schaffen.«13
Julien Green erinnert daran, dass es im Mittelalter in Italien etwa hundertfünfzig (!) Feiertage gegeben habe – hier also steht das Leben tatsächlich im Dienste Gottes und nicht im Dienste der Arbeit. Aber zu Beginn des 13. Jahrhunderts ändert sich das. Zeit ist auf einmal Geld! Franz von Assisi ist ganz ein Kind dieser neuen Ära, aber seine kontemplative Weltabwendung, die es gibt, ist nie ohne erneute aktive Weltzuwendung. Dass sich damit in seiner Person vita activa und vita contemplativa auf eine so noch nie da gewesene spirituelle Weise verbinden, offenbart den modernen Grundzug seiner Religiosität, die zum Zeugnis eines veränderten kulturellen Weltverständnisses des Einzelnen wird. Oder, wie es Jacques Le Goff prophetisch formuliert: »Dieser arme, kleine und äußerlich hässliche Franziskus (Poverello) ist nicht nur eine der wichtigsten historischen Persönlichkeiten, sondern einer der Führer der Menschheit überhaupt.«14
Es bleiben Franz von Assisi 1206 noch genau zwanzig Lebensjahre, der zu werden, der er sein will. Nur zwei weitere Jahre nach seinem Tod vergehen, bis er offiziell zum Heiligen der katholischen Kirche erklärt wird. Eine erstaunliche Erfolgsgeschichte, die misstrauisch machen muss, denn wie jeder übergroße Erfolg lässt auch dieser nach dem Preis dafür fragen. Welche Opfer mussten gebracht werden, damit die Franziskaner überhaupt ein so machtvoller Orden innerhalb der katholischen Kirche werden konnten? Wie viel vom Ursprungsideal wurde aufgegeben? Mitte des 13. Jahrhunderts zählte der Franziskanerorden bereits über zweihunderttausend Angehörige! Heute gibt es weltweit noch etwa vierzehntausend Brüder der drei franziskanischen Ordenszweige, die sich im Streit um das Ideal schließlich herausbildeten, den Ordo Fratrum Minorum (OFM), als Orden der Minderen Brüder, die Abspaltung der Konventualen (OFMConv) und die Kapuziner (OFMCap). Die Franziskaner im deutschsprachigen Raum zählen insgesamt weniger als tausend Brüder.
Das ist augenscheinlich – trotz eines aus dem Jesuitenorden kommenden Papstes, der sich Franziskus nennt – nur noch eine verschwindende Minderheit innerhalb der säkularen Welt, in der »neue Religionen« wie die Selbstoptimierungs-Psychosekte Scientology, die das Prinzip Profitmaximierung auf die menschliche Seele anwendet, ein Vielfaches an Anhängern besitzen. Ist die Utopie vom solidarischen Leben dem Prinzip Egoismus damit für immer unterlegen und Franz von Assisi und sein Erbe also nicht mehr als eine ferne Erinnerung, die mit unserer Gegenwart nichts mehr zu tun hat? Oder ist der franziskanische Mensch vielleicht längst ein über die Grenzen des Katholizismus hinausgehendes Symbol für einen künftigen Menschen geworden, einen Menschen, der den Anspruch nichtentfremdeten Lebens inmitten eines krisenhaft-selbstzerstörerischen Endzeitkapitalismus in sich trägt? Eine nicht nur religiöse, mehr noch: eine kulturelle Zukunftsvision?
Um das herauszufinden, müssen wir die Widersprüche und Kämpfe bei der Herausbildung des franziskanischen Ideals aufzeigen, ebenso die Verluste und Entstellungen im Versuch, es zu realisieren. Kann, soll man Ideale überhaupt realisieren? Der heikle Punkt der Institutionalisierung ist damit berührt, die immer stärkere »Einpassung« der franziskanischen Bewegung in die Strukturen der katholischen Kirche. War der franziskanische Impuls ursprünglich nicht genau gegen solcherart Art von Strukturen gerichtet gewesen? Gewiss. Doch hätte diese Bewegung ohne feste Strukturen überhaupt eine Chance gehabt, sich dauerhaft zu begründen? Kaum. Aber bis zu welchem Punkt bewahrt der Kompromiss das Ursprungsideal selbst noch in seiner reduzierten Form, ab wann verrät er es?
Geschieht dies bereits unter jenem ominösen Bruder Elias von Cortona, einem machtpolitischen Stehaufmännchen, der sich seit 1215 im Gefolge von Franz von Assisi findet, ab 1217 Kustode in Syrien ist und seit 1221 de facto den Orden leitet, der 1227 abgesetzt wird – aber nur, um 1232 wieder an der Spitze des Ordens zu stehen, ehe er 1239 endgültig entmachtet wird?
Sein Drang zu Luxus und glamourösem Auftreten irritierten viele der Franziskaner. Auch dass unter ihm bereits der Terror gegen die Verteidiger eines strengen Armutsideals, gegen Kritiker seiner Amtsführung überhaupt einsetzte, empörte viele Brüder. Wie stark sich der Orden in nur wenigen Jahren veränderte, zeigt die Verfolgung von Cäsarius von Speyer, der in Paris Theologie studiert hatte und dem wenig bibelkundigen Franz ein enger Vertrauter gewesen war. Er half ihm bei der Abfassung seiner sich anfangs fast ausschließlich auf Bibelstellen stützenden ersten Fassung der Ordensregel. 1221 führt Cäsarius die Missionsreise nach Deutschland (Teutonia) an und wird zum ersten Provinzial der Franziskaner auf deutschem Boden. Nach Franz’ Tod erweist er sich als einer der wichtigsten Kritiker des Kurses von Elias, der immer mehr Grundsätze der Franziskaner aus machtpolitischen Motiven missachtet, und wird daraufhin in Klosterhaft genommen und – angeblich während eines Fluchtversuchs – von einem Mitbruder ermordet.
Oder wird der Verrat, jenseits dieser frühen blutigen Richtungsstreitigkeiten im Orden, erst offenkundig, als der erste Franziskaner, der Ordensminister Hieronymus von Ascoli, 1288 zum Papst Nikolaus IV. gewählt wird – und nun seinerseits die Apostoliker, eine Bußbewegung unter Gerhard Segarelli in Parma, mit aller grausamen Härte als Ketzer verfolgen lässt? Auch macht er zahlreiche Franziskaner zu Inquisitoren – und diese suchen sich ihre Opfer nicht nur außerhalb des eigenen Ordens, sondern auch, fast möchte man sagen: bevorzugt, unter den eigenen Brüdern. Natürlich geschieht das immer unter Berufung nicht nur auf Jesus Christus, sondern auch auf den Heiligen Franziskus. Die Franziskaner, eine Kriminalgeschichte?
ENDE DER LESEPROBE