9,99 €
Heinrich Bölls letztes Werk – in dem die Frauen der Politiker aus der Bonner Regierungszeit im Mittelpunkt stehen Ihre Villen stehen zwischen Bonn und Bad Godesberg, auf dem politischen Parkett dürfen sie nur als dekorative Statistinnen auftreten: die Frauen der Politiker. Sie hat Heinrich Böll in seinem letzten Werk in den Vordergrund gerückt. In einer Welt der Ränke und Intrigen, des Strebens nach Macht und Einfluss, in der sich ihre Männer fast ausnahmslos bewegen, sind sie das heimliche menschliche Korrektiv. Böll porträtiert nicht, legt keine Spuren zur Identifikation bekannter Politiker. Seine Figuren sind überzeichnet, aber so, dass sie im Unkenntlichen als Modelle der Bonner Szene erkennbar werden. »Ich kenne eigentlich keinen Text, der die Zustände der Menschen und wie sie leben, wie leblos sie leben, besser beschreibt.« Volker Schlöndorff Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1 - 27 Kölner Ausgabe
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 296
Heinrich Böll
Roman in Dialogen und Selbstgesprächen
Buch lesen
Titelseite
Über Heinrich Böll
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Heinrich Böll, 1917 in Köln geboren, nach dem Abitur 1937 Lehrling im Buchhandel und Student der Germanistik. Mit Kriegsausbruch wurde er zur Wehrmacht eingezogen und war sechs Jahre lang Soldat. Seit 1947 veröffentlichte er Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele, Theaterstücke und zahlreiche Essays. Zusammen mit seiner Frau Annemarie war er auch als Übersetzer englischsprachiger Literatur tätig. Heinrich Böll erhielt 1972 den Nobelpreis für Literatur. Er starb im Juli 1985 in Langen-broich/Eifel.
zur Kurzübersicht
Heinrich Bölls letztes Werk – in dem die Frauen der Politiker aus der Bonner Regierungszeit im Mittelpunkt stehen
Ihre Villen stehen zwischen Bonn und Bad Godesberg, auf dem politischen Parkett dürfen sie nur als dekorative Statistinnen auftreten: die Frauen der Politiker. Sie hat Heinrich Böll in seinem letzten Werk in den Vordergrund gerückt.
In einer Welt der Ränke und Intrigen, des Strebens nach Macht und Einfluss, in der sich ihre Männer fast ausnahmslos bewegen, sind sie das heimliche menschliche Korrektiv. Böll porträtiert nicht, legt keine Spuren zur Identifikation bekannter Politiker. Seine Figuren sind überzeichnet, aber so, dass sie im Unkenntlichen als Modelle der Bonner Szene erkennbar werden. »Ich kenne eigentlich keinen Text, der die Zustände der Menschen und wie sie leben, wie leblos sie leben, besser beschreibt.« Volker Schlöndorff
Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1-27 Kölner Ausgabe
Wanderers Gemütsruhe
Widmung
Motto
Vorbemerkung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Übers Niederträchtige
Niemand sich beklage;
Denn es ist das Mächtige,
Was man dir auch sage.
In dem Schlechten waltet es
Sich zu Hochgewinne,
Und mit Rechtem schaltet es
Ganz nach seinem Sinne.
Goethe, West-östlicher Divan
Den Meinen an allen Orten, wo immer sie sein mögen
Da alles in diesem Roman fiktiv ist, nur nicht der Ort, an den die Fiktion gestellt ist, bedarf es keiner der üblichen Schutzformeln. Der Ort ist unschuldig, kann sich nicht betroffen fühlen.
H. B.
Die innere Beschaffenheit der auftretenden Personen, ihre Gedanken, Lebensläufe, Aktionen ergeben sich aus den Gesprächen und Selbstgesprächen, die sie führen. Über ihre äußere Beschaffenheit könnten irrige Vorstellungen entstehen; es erscheint notwendig, einige Details darüber vorweg mitzuteilen. Die beiden in ihrer inneren Beschaffenheit so verschiedenen Personen wie Paul Chundt und der Graf Heinrich von Kreyl sind gleichaltrig, beide 70, sind auch gleich groß, etwa 1,73–1,74 m. Beide sind weißhaarig ohne auch nur den Ansatz einer Glatze; beide sind exklusiv herrenausgestattet, mit Weste etc.; beide sind das, was man »gepflegte Erscheinungen« nennt. Sähe man sie beide zusammen, von weitem oder gar von hinten, wären sie zum Verwechseln ähnlich, fast austauschbar. Wenn man dagegen beide näher betrachtet, wäre man erstaunt, wie wenig sie sich gleichen: Kreyl ist hager, leidend, aber nicht krank nach irgendwelchen medizinischen Kategorien, auch nicht nach psychiatrischen. Chundt dagegen hat ein volles Gesicht, ein Typ, den man gewöhnlich »vital« nennt; er strotzt sozusagen von Gesundheit, und doch entdeckt man bei ihm bei näherem Zusehen eine überraschende Sensibilität.
Eine Erscheinung wie der »Schwamm«, der nur einmal kurz in Erscheinung tritt, im übrigen im Hintergrund wirkt, hat seinen Spitznamen nicht etwa, weil er schwammig wäre. Er ist groß, etwas über 1,80 m, ausgestattet wie Chundt und Kreyl, nicht einmal »korpulent«, trotz seines Alters (68) fast noch sportlich. Seine Herkunft ist unklar; noch nie hat irgend jemand so etwas wie seine »Papiere« gesehen. Er kann Schweizer, Deutscher, Österreicher oder ein deutschsprachiger Ungar oder Böhme sein. Den Namen »Schwamm« verdankt er der Tatsache, daß er Geld auf- und ansaugt. Beharrlich streut er das Gerücht aus, er sei von hohem Adel. Das Alter des Ehepaars Wubler ergibt sich aus ihrem Lebenslauf. Die um sie und Chundt gruppierten Männer: Halberkamm, Blaukrämer, Bingerle, sind zwischen 54 und 59 Jahre alt. Der Literaturwissenschaftler Tucheler, der nur indirekt auftritt, ist 57. Gekleidet sind sie alle ordentlich, mit Weste, Krawatte etc., doch nicht ganz so herrenmäßig wie Chundt, Kreyl und der Schwamm. Gewisse Ansätze von »Unkorrektheiten« – Sitz der Krawatte, Schuhe usw. – zeigen sich bei Wubler und Bingerle. Auf eine gänzlich unauffällige Weise elegant ist der 66jährige Bankier Krengel, seine Eleganz ist selbstverständlicher als die von Chundt, dem Schwamm und sogar Kreyl, deren Ausstattung eine Spur zu demonstrativ ist. Bei Krengel wirkt alles wie »angegossen«, noch besser wäre zu sagen: wie angeboren. Er ist der einzige, der wie ein »Adeliger« wirkt, obwohl er keiner ist. Zwischen dieser Altersgruppe der Mittfünfziger bis Siebziger steht Ernst Grobsch, er ist 44, trägt Konfektion mittlerer Qualität, ist nicht gerade ungepflegt, aber man sieht, daß Kleidung ihm gleichgültig ist. Karl Kreyl ist 38, von ganz anderer Art als Grobsch. Die sechs Jahre Altersunterschied zwischen den beiden wirken fast wie ein Generationsunterschied. Auch für Karl v. Kreyl ist Kleidung sekundär, aber auf eine saloppere, souveränere Weise. Auf Partys, wenn er nicht mit Pullover und Cordhose auftritt, ist er lässig-konventionell angezogen, wirkt irgendwie »verkleidet«. Der jüngste der Herren, der Animateur Eberhard Kolde, ist 30; er versucht, sich einen ärztlichen Habitus zu geben, was ihm nicht gelingt. Er ist ein hübscher, sympathischer Kerl, der vergebens versucht, seriös zu wirken.
Über die Kleidung der Damen Wubler und Kreyl-Plint wird im Text ausreichend informiert. Erika Wubler ist 62, Eva Kreyl-Plint 36, Elisabeth Blaukrämer (»Blaukrämers erste« genannt) ist 55; sie ist ziemlich groß, blond, wirkt nicht ungepflegt, aber irgendwie nicht »ganz angezogen«, mehr als nur lässig, sie vergißt immer, den einen oder anderen Knopf zuzuknöpfen oder den einen oder anderen Reißverschluß ganz zuzuziehen. Sie ist korpulenter als ihr Auftritt vermuten läßt, es kann vorkommen, daß sie verschiedene Schuhe anzieht, den linken von dem einen, den rechten von dem anderen Paar. Die Ärztin Dr. Dumpler ist Ende 30, eine unauffällige Erscheinung. Adelheid Kapspeter, so alt wie Eva Kreyl-Plint, ist betont bieder gekleidet. Katharina Richter ist 30, arbeitet im Haushalt ohne Schürze, hat einen undefinierbaren Schick, der ihr Ähnlichkeit mit Eva Kreyl-Plint verleiht. Beide könnten Fernsehansagerinnen sein. Trude, »Blaukrämers zweite«, gehört zu den Frauen, die sich über ihre Jugendlichkeit täuschen (oder von ihren Beratern täuschen lassen): Sie ist 42, kleidet sich aber wie eine Frau von knapp 30, die jedem, aber auch jedem Trend erliegt, und wirkt so auf eine unechte Weise vulgär. Sie hat den Unterschied zwischen Dekolleté und »oben ohne« nicht begriffen, und so tritt sie, vollbusig, wie sie ist, auf eine Weise auf, die mit deplaziert richtig bezeichnet ist. Die jüngste der Damen, Lore Schmitz, ist 20, keineswegs punkisch, sondern adrett-modisch, auch in ihrer Haartracht. Sie könnte eine Studentin, eine Bankangestellte, eine Verkäuferin sein. In keiner gesellschaftlichen oder beruflichen Umgebung würde sie deplaziert wirken, nicht einmal bei Empfängen kirchlicher Würdenträger.
Geräumige, überdachte Terrasse einer großbürgerlichen Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende zwischen Bonn und Bad Godesberg, früh an einem Spätsommermorgen, Blick aufs gegenüberliegende Rheinufer, wo man hinter Auwäldchen und Gebüsch größere Villen sieht. Der Frühstückstisch ist für zwei Personen gedeckt, Erika Wubler sitzt im Morgenrock am Frühstückstisch, neben sich die Zeitung, in der Hand ein Manuskript, in dem sie liest, als Katharina mit dem Kaffee kommt. Katharina stellt die Kaffeekanne hin.
ERIKA WUBLERblickt auf: Danke. Kein Ei für mich. Was macht mein Mann? Ist er auf?
KATHARINA RICHTER Er sitzt in der Badewanne und trinkt Kaffee. Herr … Ihr Mann meint, ich sollte für Sie das graue Jackenkleid aus dem Schrank nehmen, es noch einmal aufbügeln … Er meint, Sie könnten dazu Korallen tragen.
ERIKA WUBLERlacht: Geschmack hat er und etwas mehr. Wenn Sie je Rat brauchen, ich meine, in Kleiderfragen … Da Katharina gehen will. Warten Sie bitte einen Augenblick. Lassen Sie das Kleid im Schrank; ich brauche heute kein Kleid.
KATHARINA RICHTERzögernd: Das Hochamt im Münster. Ich meine, die Feier zu Erftler-Blums Todestag …
ERIKAfaltet das Manuskript zusammen: Ich gehe nicht ins Hochamt. Sagen Sie’s meinem Mann nicht. Legt das Manuskript hin. Ich habe gerade Ihren Lebenslauf gelesen, Ihr Dossier – es gehört nicht in meine Hände, ich weiß, aber ich hab’s mir besorgt … Ich will wissen, wer um mich ist. Sie verstehen, daß Sie sicherheitsüberprüft werden müssen, wenn Sie bei uns arbeiten?
KATHARINA Natürlich – in diesem Haus, wo … Stockt.
ERIKA Wo so viele Leute verkehren und wo so vieles besprochen wird. Sie wissen wohl auch, daß die Sicherheitsleute uns von Ihnen abgeraten haben?
KATHARINA Ja. Kann ich mir denken. Ich – Zögert – ich möchte mich bei Ihnen bedanken, daß Sie mich trotzdem genommen haben. Auch in Karls Namen. Ihm verdanke ich’s wohl? Oder?
ERIKAblickt sie genau an: Ja, ihm auch. Aber auch anderen – meinem Mann.
KATHARINA Und Ihnen?
ERIKAnickt: Ja, ein wenig. Ich kann mir nicht denken, daß Karl schon jahrelang mit jemandem zusammenlebt, dem ich nicht trauen könnte. Im übrigen Nimmt das Manuskript auf und legt es wieder hin finde ich nichts in Ihrem Dossier, das mich mißtrauisch machen könnte. Sie sind gelernte Kellnerin, haben auch als Zimmermädchen in Hotels gearbeitet … in Abendkursen Abitur gemacht, studiert, haben ein Kind – von Karl?
KATHARINA Ja, von Karl. Er ist vier Jahre, wir haben ihn nach Karls Vater Heinrich genannt.
ERIKAlacht: Ja, das habe ich hier gelesen – altmodisch, wer nennt schon einen Jungen noch Heinrich. Schnippt an dem Manuskript herum. Die paar Demonstrationen, an denen Sie teilgenommen haben.
KATHARINA Und der Diebstahl, den ich begangen habe.
ERIKAlässig: Ja, habe ich gelesen. Es war Geld, von dem Sie glaubten, daß es Ihnen zustünde. Vielleicht stand es Ihnen wirklich zu.
KATHARINA Es stand mir zu. Überstunden. Gepfuschte Abrechnungen.
ERIKA Gestohlen habe ich früher auch. Im Krieg, wo immer ich konnte. Als gelernte Schuhverkäuferin war ich später dienstverpflichtet bei der Wehrmacht. Schuhe, Stiefel, Lederzeug – erwischt worden bin ich nie, es hätte schiefgehen können: Sabotage, Diebstahl von Heeresgut. Ich hatte Hunger und mein Mann auch, wenn er in Urlaub war. Gestohlen hat er auch. Leise, lächelnd. Sagen Sie’s nur nicht weiter. Auch nach dem Krieg habe ich gestohlen, bei den Amis im Kasino. Ich fand auch, daß mir das zustand – Zigaretten und Schokolade – für meinen Mann, der studierte und hungrig war – und süchtig nach Zigaretten. Nein, etwas anderes ist wichtig. Lauschen Sie?
KATHARINA Nein, aber ich habe Ohren, mit denen ich höre.
ERIKA Und plaudern?
KATHARINAzögert, sehr verlegen: Ich habe vor Karl keine Geheimnisse … Katharina schüttelt den Kopf. Erika sieht sie sehr erschrocken an. Nein, nichts – nichts Politisches. Nur, er hängt sehr an Ihnen und Herrn Wubler, er will nur wissen, wie es Ihnen ergeht.
ERIKAseufzt: Und wie ergeht es uns?
KATHARINAlächelt: Gut, denke ich – und Zeigt auf die Zeitung was in der Zeitung steht, liest er natürlich, und wir sprechen über das, was in der Zeitung steht.
ERIKA In der Zeitung steht, daß meinem Mann in dieser Bingerle-Sache nichts vorzuwerfen ist. Es steht aber auch etwas drin, was Karl betreffen könnte. Da Katharina schweigt. Sie verstehen nicht, was ich meine?
KATHARINA Nein.
ERIKA Zum dritten Mal ist in dieser Nacht ein kostbarer Flügel, auf dem Beethoven gespielt haben soll, säuberlich zerlegt und wie Brennholz vor dem Kamin gestapelt worden. Diesmal bei Kapspeter. Sie wissen …
KATHARINA Ja, ich hab’s gelesen – bei Kapspeter hab’ ich oft serviert. Gestern noch.
ERIKAfaßt sich an den Kopf: Ja – daher müssen Sie mir so bekannt vorgekommen sein. Auch bei Kilian, nicht wahr?
KATHARINA Auch bei Heulbuck hab’ ich schon bedient – und hab’ Sie gesehen.
ERIKA Und Sie wissen, daß Karl ein Spezialist im Zerhacken von Flügeln ist?
KATHARINA Ja, er hat’s mir erzählt, vor sieben Jahren hat er seinen eigenen Flügel zerhackt und im Kamin verbrannt. Seine Frau ging von ihm weg – und Sie verkehrten nicht mehr mit ihm.
ERIKA Er verlor nicht nur einige Freundschaften, auch viel Sympathien. Ich bekam Angst vor ihm – er machte das so kalt, vollkommen kalt: exakt, konsequent – und es roch nach verbranntem Lack. Nur die Rädchen hat er merkwürdigerweise behalten.
KATHARINA Sie haben immer noch Angst vor ihm?
ERIKA Nein, nicht vor ihm – Angst um ihn immer. Ich liebe ihn wie den Sohn, den ich nie gehabt habe. Bewegt. Ich vertraue ihm sogar – dann aber wurde vor fünf Jahren Bransens Flügel zerlegt, vor vier Jahren Florians Flügel, jetzt Kapspeters.
KATHARINA Ich weiß, jedesmal geriet er in den Verdacht, und jedesmal erwies er sich als unschuldig.
ERIKA Hat er Ihnen von dieser Sache in Rio erzählt?
KATHARINA Ja, er hat mir alles erzählt, und ich weiß auch, daß er es Ihnen verdankt, wenn seine Strafe so gering ausfiel und zur Bewährung ausgesetzt wurde. Mit Deutet auf die Zeitung damit hat er nichts zu tun, auch nicht mit der Sache bei Bransens.
ERIKA Ich hoffe es für ihn. Ich liebe ihn immer noch, auch wenn Schüttelt den Kopf … nicht einmal seine Frau hat ihn damals verstanden. Wissen Sie denn, was er so alles tut, womit er sein bißchen Geld verdient?
KATHARINA Nein, manchmal ist er länger unterwegs, dann hat er Geld, und ich weiß nicht, womit er’s verdient hat. Er sagt immer, es ist geheim – und lächerlich. Lächerlich geheim. Wir leben sehr sparsam.
ERIKAdeutet auf das Dossier: Und Sie wollen weg von hier?
KATHARINA Ja, ich schon, er nicht. Blickt ins Ungewisse. Ja, weg hier, wenn ich nur wüßte, wohin. Aber ohne ihn – nein, vielleicht kann ich ihn rumkriegen. Horcht ins Haus. Ihr Mann kommt, ich hole sein Ei.
Geht ab.
Wubler tritt auf. Er ist festlich gekleidet, schwarzer Anzug und so. Er umarmt seine Frau, küßt sie auf die Wange, hängt seinen Rock über den Stuhl, setzt sich.
WUBLER Wohl schlecht geschlafen?
ERIKA Wie du – kein Auge hab’ ich zugetan. Katharina bringt das Ei, setzt es vor Wubler hin, geht wieder ab.
WUBLER Du hast wohl wieder gelauscht, Angst, Ärger, Wut haben dich aufgewühlt. Lausch nicht mehr, Erika …
ERIKA Natürlich hab’ ich gelauscht, wie immer, wenn ihr euch bei uns trefft, und du weißt, daß ich immer gelauscht habe – seit sechsunddreißig Jahren. In Dirwangen hab’ ich gelauscht, da ging das Ofenrohr noch von der Küche aus ins kleine Wohnzimmer, und ich brauchte nur die kleine Rußklappe aufzumachen; in Huhlsbolzenheim stand ich auf dem Balkon wie hier. Deutet wieder nach oben. Du weißt es und willst auch, daß ich weiß – heute nacht saß hier Deutet auf ihren Stuhl jemand …
WUBLERängstlich: Keine Namen, keine Namen, Erika.
ERIKAlacht: Jetzt sind’s schon drei, deren Namen nicht genannt werden dürfen. Wollen wir sie nicht besser numerieren? Nummer 1 – das ist der, du weißt schon – Nummer 2 – das ist der, du weißt schon – und der hier saß: Nummer 3.
WUBLER Du hast gelernt, daß Politik ein schmutziges Geschäft ist.
ERIKA Was nicht bedeutet, daß Schmutz schon Politik ist.
WUBLERblickt sie überrascht an: Bisher warst du klug genug, nicht zu plaudern, nicht zu klatschen, schon gar nicht vor Journalisten – wie Elisabeth Blaukrämer es getan hat –, und bist auch nicht durch alle Cafés und Restaurants gezogen und hast Unruhe gestiftet, wie sie es gemacht hat.
ERIKA Die hat nicht nur gelauscht, die hat Akten und Notizbücher gelesen und sich Notizen gemacht. Und der, der diese Nacht hier war, den hat auch sie gesehen – Nummer 3 –. Gesehen habe ich ihn nur verschwommen, erkannt hab’ ich ihn an der Stimme. Es war die Stimme, vor der wir alle zitterten – die Stimme, die euch alle, euch Soldaten, in den Tod treiben wollte – und uns alle. Auf meiner Terrasse diese Stimme – und sein Lachen …
WUBLERläßt sein eben geköpftes Ei stehen, steht auf, geht zu Erika hinüber, umfaßt sie, spricht leise: Ich flehe dich an, hör auf, du hast dich geirrt.
ERIKAbefreit sich von seinen Armen: Eine mörderische Stimme. Die Stimme eines Mörders – seine Schergen hätten dich baumeln lassen, wenn ich nicht in der Besenkammer rasch einen Sack über dich geworfen hätte, als sie dich suchten.
WUBLERnoch ängstlicher: Leise, nicht so laut. Unsicher. Du täuschst dich. Mit drohendem Unterton. Es ist derselbe, den Elisabeth Blaukrämer auch gesehen und gehört haben will, und sie konnte nichts beweisen, hat nur Unruhe gestiftet.
ERIKA Bis er sie in die Klapsmühle gesteckt hat. Nein, beweisen konnte sie nichts – und hatte doch recht. Du weißt doch besser als ich: Nicht alles, was man nicht beweisen kann, ist unwahr. Auch Plottgers Frau konnte nichts beweisen, bis sie an der Wahrheit, die sie nicht beweisen konnte, verrückt wurde, sich umbrachte. Keine Sorge, ich werde nicht verrückt, ich werde auch nicht plaudern, eben weil ich nichts beweisen kann. Man weiß doch zu genau, was hysterische Weiber sich so alles einbilden, unbefriedigt, wie sie sind, frustriert, trinken ein bißchen, haben dann Halluzinationen. Nein, plaudern werde ich nicht, aber ich weiß, was ich weiß, habe gehört, was ich gehört habe. Und du weißt genau, daß Elisabeth Blaukrämer nicht gelogen hat.
WUBLER Sie hat keinen Funken Phantasie, sonst wäre sie nicht dauernd mit ihren Wahrheiten gekommen. Und du, du konntest nicht schlafen, nachdem du gehört hast?
ERIKA Ich weiß genau, daß meine Ohren keine Beweiskraft haben. In hartem Ton. Du solltest deine Finger davon lassen, Hermann. Sehr hart. Es ist genug, Hermann, genug. Was habt ihr mit dem Bingerle vor? Den Namen darf ich ja wohl aussprechen, der steht ja sogar in der Zeitung, oder soll ich sagen Nummer 4 – nein, Nummer 4, das bewahr’ ich mir für den lieben Gott auf, von dem ihr so gern sprecht: Nummer 4, das ist der liebe Herrgott – daß der auch noch ein paar andere Namen hat, habt ihr vergessen.
WUBLER So habe ich dich noch nie gehört, Erika, in vierzig Jahren nicht.
ERIKA Doch, einmal schon, Hermann, vor fast vierzig Jahren, als du von der großdeutschen Wehrmacht desertiert warst und in der Besenkammer gehockt hast und ich einen leeren Kartoffelsack über dich warf – da hast du doch gehört, wie ich mit den Kettenhunden sprach, drei Tage nach Hitlers Selbstmord. Die Kettenhunde waren die Abgesandten von Nummer 3 – den sie den Bluthund nannten. Und du hast mich gehört, wenn ich mit Chundt sprach, Blaukrämer ohrfeigte und Halberkamm aus dem Haus warf – so neu kann dir meine Stimme nicht sein. Auch als ich dem Schwamm eine langte, hast du diese neue Stimme gehört.
WUBLER Das ist lange her, und ich hoffe, du erzählst es nicht, meine Desertion, meine ich.
ERIKAlacht: Nein, ich erzähle das nicht dem Verteidigungsausschuß und auch nicht den Generälen, zu denen wir manchmal eingeladen sind – aber dir, dir sag’ ich’s. Und es gibt auch noch andere Gelegenheiten, wo du diese, meine Stimme gehört haben mußt – als – oder besser: wenn ich dich bat, in der Gegenwart meines Vaters Chundt nicht zu erwähnen – erinnerst du dich?
WUBLER Dein Vater war ein Fanatiker – er …
ERIKA Ja, er war fanatisch – er haßte Chundt, und wenn ich ihn zum Kaffee einlud, mußte ich ihm schwören, daß Kaffee und Kuchen nicht von Chundts Geld bezahlt waren, sondern von deinen Anwaltshonoraren – er wäre lieber verhungert, als aus Chundts Hand ein Stück Brot anzunehmen –, und gehungert hat er wahrscheinlich genug. Und jetzt wiederhole ich: Genug, Hermann, es ist genug.
WUBLER Seit wann diese Sympathie für den Bingerle oder, wie wir sagen: das Bingerle?
ERIKA Ich mag ihn nicht, habe ihn nie gemocht, und ich wie jeder einzelne von euch hätte voraussehen können, daß er versuchen würde, euch reinzulegen. Nein, keine Sympathie für Blaukrämers Lachen, als er von ihm sprach – und das, das Lachen von – du weißt schon, Nummer 3. Ich habe einen Schüttelfrost gekriegt, wie immer, wenn Blaukrämer lacht – und dann noch der andere …
WUBLERerregt und flehend: Lausch nicht mehr, Erika, ich bitte dich – nie mehr, denk an Elisabeth Blaukrämer.
ERIKAlegt den Arm um ihn: Fröstelnd habe ich dagestanden, bis sie weggingen – Halberkamm, Blaukrämer, Chundt und – Nummer 3 –, besoffen, torkelnd, lachend zogen sie ab. Und du hast allein dagesessen, still, hast in dich reingetrunken.
WUBLER Du hättest zu mir kommen sollen, ich dachte, du schliefst, und ich wollte dich nicht wecken.
ERIKA Wecken! Ich habe wach gelegen, bis ich Katharina ins Haus kommen hörte – und von der Küche aus der Kaffeegeruch nach oben stieg: endlich eine, die Kaffee machen kann – meinetwegen könnte sie eine veritable Kommunistin sein: Kaffee kann sie machen.
WUBLER Eine Kommunistin ist sie wohl nicht – aber auch nicht ganz geheuer … immerhin hat sie eine Zeitlang versucht, nach Kuba auszuwandern. Das hat Karl verhindert.
ERIKA Sie ist Karls Frau – und das genügt mir. Du sprichst mir zu oft von Elisabeth Blaukrämer. Die habe ich zweimal besucht, ein drittes Mal geh’ ich nicht. Diese Sorte Klapsmühle ist mir ein bißchen zu fein – diese elegante Mischung aus Luxushotel und Sanatorium. Und nur Frauen dort, sehr reiche Frauen mit Klunkern und Kinkerlitzchen. Dort werden einem, wie sagt man doch – die Erinnerungen korrigiert. Damit also drohst du mir – willst du mich dort hinbringen?
WUBLERsehr in Angst: Nie werde ich dich dort hinbringen – nie – ich nicht …
ERIKA Du nicht? Vielleicht ein anderer? Chundt vielleicht, oder Blaukrämer oder der andere? Gesehen hab’ ich ihn kaum, nur mal ’nen Schimmer, als er sich die Pfeife ansteckte: weißhaarig, edel, mit altem Charme, wie die meisten überlebenden Mörder. Ich kann nun mal hören, kann auch sehen, und ich sitze oben auf meinem Balkon in einer lauen Sommernacht, trinke ein bißchen Wein und schau’ auf den Rhein, der manchmal wirklich silbern glänzt. Warum kommt ihr denn her? Warum geht ihr nicht in eins eurer Heime oder in eine eurer Akademien. Ins Johanneshaus oder ins Edelweiß? Ich weiß, Hermann, was du nicht weißt: Chundt, Blaukrämer und Halberkamm wollen, daß ich lausche. Es ist eine versuchte Vergewaltigung – ich soll den Dreck fressen, über den ich dann nicht sprechen darf. Immerhin bin ich die einzige Frau, die Chundt nicht bekommen konnte, die Blaukrämer ihm – wie sagt man doch – ihm nicht zuführen konnte, und ich bin nicht einmal eine Bankierstochter, bin nicht einmal eine Adelige, nur die Tochter eines fanatischen Dorfkrämers, der als Lebensmittelhändler selbst von der Zuteilung lebte, nicht ein Gramm Butter mehr nahm, als ihm zustand; wie nennt man das doch – Halberkamm würde sich vor Lachen schütteln: einen Gerechtigkeitsfanatiker, der auch noch das Pech hatte, ein frommer Katholik zu sein. Weißt du, warum mein Bruder freiwillig zum Kommiß ging? Weil er hoffte, dort satt zu essen zu bekommen … ein Kind noch, ein Junge, den der Vater ein paarmal beim Stehlen erwischte, wenn er sich Wurst abschnitt, Butter nahm und Brot – den er praktisch aus dem Haus ekelte –, und dann schossen sie ihn tot, da in der Normandie. Ich denke jeden Tag an ihn, habe diese Nacht viel an ihn gedacht, als der Bluthund hier unten saß: silberhaarig, edel, alt, mit hoher Pension, und lachte wie zwei Dutzend Messer, wenn ihr von Bingerle spracht. Wubler blickt sie gequält an. Du hast doch gewußt, daß Chundt hinter mir her war, von Anfang an, noch in Dirwangen? Hast du’s gewußt?
WUBLERnickt und seufzt: Ja, aber ich hatte immer Vertrauen zu dir – sonst – ich hätte …
ERIKA Was?
WUBLER Ich hätte ihn erwürgt.
ERIKA Vielleicht hättest du das früh genug tun sollen. Nicht meinetwegen. Er hat’s immer wieder versucht. Zuletzt vor fünfzehn Jahren, da unten im Johanneshaus am See – da war ich wohl noch eine, mit der er mal schlafen wollte. Leiser. Es war neblig. Ende September, kühl, sehr früh am Morgen, ich wurde wach, als du aufstandest, ging in die Küche, hab’ mir Kaffee gemacht und mich wieder ins Bett gelegt, hab’ bei offenem Fenster da gelegen und nachgedacht, auch gedacht an meinen Vater, meinen Bruder, die Nonnen, bei denen ich auf der Schule war und die ich liebte und immer noch liebe, an meine Mutter, ach, an uns beide natürlich – und dann habe ich euch gesehen. Ich hab’ ja auch Augen, Hermann, nicht nur Ohren. Gesehen habe ich, wie ihr rausgefahren seid, um die Klossow-Akten zu versenken. Wubler starrt sie an. Du wußtest also nicht, daß ich’s wußte? Gesehen habe ich, wie ihr rausgefahren seid, wie zum Angeln, mit viel Angelzeug – aber auch Taucherkram, viele Bleigürtel, und ich dachte: wollen die in dieser kühlen Morgenfrühe tauchen? Aber dann sah ich zwei Seesäcke, darin waren wohl die Klossow-Akten, denn seitdem sind sie spurlos verschwunden, und sogar die Polizei hat vergebens danach gesucht. Ihr seid zurückgekommen ohne Seesäcke, ohne Bleigürtel, und geangelt hattet ihr nichts. Nicht einen einzigen Fisch. Nur die Akten, die lagen 280 Meter tief. Ein schöner Morgen, Nebel über dem See, die Vögel im Schilf. Langsam lichtete sich der Nebel, ein schöner Tag brach an – die Sonne kam durch –, und im Kasino hab’ ich gehört, wie ihr gelacht habt, getrunken und gelacht. Und der große Herr Chundt, zu dessen Vorteil die große Versenkung stattfand, der war für diese Versenkungsarbeit zu schade, die war für ihn zu schmutzig, er blieb im Bett liegen und versuchte, bevor ihr zurück wart, zu mir ins Bett zu kommen. Beruhige dich, Hermann, beruhige dich über deinen besten Freund, bevor du ihn erwürgst. Ich habe ihn nicht reingelassen, hab’ nie einen reingelassen, Hermann. Übrigens hab’ ich den Charme, den er haben soll, nie gespürt, hab’s nicht begriffen, fand ihn immer plump. Blaukrämer und Halberkamm haben ihm ja ihre Frauen immer frei zur Verfügung gestellt – Elisabeth hat’s mir erzählt, im Johanneshaus oder im Petrusheim. Du hast wohl gewußt, daß er von Anfang an hinter mir her war, schon in Dirwangen, als ihr gerade anfingt und du dich für ihn halbtot gearbeitet hast – Bingerle war ja auch von Anfang an dabei – jung, eifrig wie ein Ministrant –, und hungrig, mein Gott, wart ihr alle, waren wir alle – hungrig.
WUBLERverstört, schüttelt den Kopf: Gedacht hab’ ich’s mir manchmal – aber gewußt – nein. Warum hast du mir nie erzählt – von Chundt?
ERIKAkonsterniert: Ja, warum nicht? Warum? Es wäre wohl alles anders gekommen. Beweisen hätte ich nichts können – und du weißt, was man von Frauen denkt, die so was erzählen, aber nicht beweisen können. Er hätte mich als hysterisch hingestellt, und du hättest vielleicht gezweifelt – merkwürdig, daß Frauen solche Dinge fast nie erzählen. Es gibt noch einen anderen Grund Leiser – schwer auszusprechen, aber es ist wahr: du mußt nicht lachen, wenn ich’s sage, aber es trifft zu: deine Unschuld – es gibt nichts Rührenderes als unschuldige Männer, und du bist einer …
WUBLER Trotz der Sache mit der Golpen?
ERIKA Die Sache mit der Golpen ist ja gerade ein Beweis für deine Unschuld. Fünf Tage Klausur in der Akademie – und dann eine Frau mit diesem Busen – die haben sie dir auf die Bude geschickt, um dich in Konflikt zu bringen, und sie, sie wollte durch dich Karriere machen – ach, Hermann, das ist ja ein Beweis für deine Unschuld. Die hat Halberkamm präpariert und dir auf die Bude geschickt.
WUBLER Und Karl, der kleine Graf, der mit unserer neuen Stütze zusammenlebt? Wie ist es mit ihm?
ERIKA Er ist mir wie ein Sohn, den ich nie gehabt habe, oder wie ein jüngerer Bruder, den ich hatte und den sie erschossen haben. Als wir Karl kennenlernten, war ich achtundvierzig und er vierundzwanzig – im übrigen ist er alles mögliche, nur kein Weiberheld. Aber Charme hat er, und er, er – ach, Hermann, heimlich – das hätte ich nie getan.
WUBLER Dem Alter nach ist er wohl eher Bruder als Sohn.
ERIKA Als er geboren wurde, war ich vierundzwanzig. Das Merkwürdige ist: du liebst seine erste Frau nicht wie eine Tochter oder Schwester.
WUBLER Ich liebe sie, wie ein Mann eine Frau liebt.
ERIKA Du hast heute abend ein Rendezvous mit ihr. Hat sie den Flügelschock überwunden und will wieder vierhändig mit dir spielen? Die Chopin-Bearbeitungen?
WUBLER Sie hat seitdem keinen Flügel mehr berührt – nein, ich muß sie warnen, sie ist dabei, eine große Dummheit zu begehen …
ERIKA Will sie weg von ihrem Grobsch? Zu dir? Mit dir?
WUBLER Ach, Erika, weißt du: ich weiß gar nicht, ob ich sie liebe, weil ich keine Chance bei ihr habe oder ob ich Angst habe, ich könnte eine Chance bei ihr haben. Sie ist dreißig Jahre jünger als ich. Nein, sie hat sich in einen Kubaner verliebt und will mit ihm weggehen – nach Kuba.
ERIKA Eva Plint nach Kuba! Merkwürdig: auch Katharina wollte nach Kuba – was wollen sie dort?
WUBLER Sie wollen weg von hier und wissen nicht, wohin. Bei Katharina kann ich’s verstehen: sie hat zehn Jahre hier gekellnert, in allen Häusern, bei allen Gelegenheiten. So zu leben ist zum Kotzen. Willst du nicht auch weg von hier?
ERIKAnickt, müde: Ja, aber ich weiß, daß es kein Wohin gibt – also muß ich wohl bleiben. Es ist nicht meine Heimat, aber mein Zuhause. Es gibt viele hier, die ich mag und nicht missen möchte: Ich könnte anderswo nicht leben und möchte doch hier weg – und bei dir möchte ich auch bleiben – du hast noch so viel von dem netten, schüchternen Jungen, den ich damals mit auf mein Zimmer nahm. Aber um Karl, um Karl mache ich mir zu meiner eigenen Überraschung keine Sorgen: ob ich in seiner Nähe bin oder nicht, ist nicht wichtig.
WUBLERnimmt die Zeitung auf: Du hast gelesen, was heute nacht bei Kapspeter passiert ist?
ERIKA Ja. Hab’ ich gelesen. Schweigt kurze Zeit. Seltsam: ich kann’s heute so schlimm nicht mehr finden, was er damals mit seinem Flügel gemacht hat. Ist Karl im Fall Kapspeter in Verdacht?
WUBLER Der Verdacht fällt automatisch auf ihn. Ich hoffe, er hat ein Alibi.
ERIKAlacht: Das hat er bestimmt. Ich mach’ mir keine Sorgen. Vor zehn Minuten hab’ ich ihn noch durchs Fernglas gesehen: er saß auf den Stufen seines Wohnwagens, mit dem Kaffeebecher in der Hand, und las Zeitung. Er schien ganz munter zu sein. Leise. Den kriegt ihr nicht, auch wenn ihr ihn habt, ihr habt ihn auch nicht gekriegt, als ihr ihn hattet und er ins Gefängnis sollte.
WUBLER Chundt haßt ihn, ohne ihn zu kennen – und Chundt kennst du ja. Übrigens täuschst du dich, wenn du meinst, Chundt wäre so hungrig gewesen wie wir. Er hat nie Hunger gelitten, und das war sein Vorteil uns allen gegenüber – uns lief das Wasser im Mund zusammen, ihm nie. Er hat den Unterschied zwischen Appetit und Hunger nie gekannt. Bis heute weiß niemand genau, wie und wo er durch den Krieg gekommen ist. Nur ein paar Andeutungen – Italien.
ERIKA Ja, ich kenne ihn, und nicht nur von der Seite, die ich dir geschildert habe. Unvergessen der Augenblick, als er zum ersten Mal in unsere Mansardenwohnung in Dirwangen kam, nach dieser Diskussion im Pfarrheim. Er sagte dir, das einzig Wahre sei jetzt die Politik, besser als Juristerei und besser als jede Art von Geschäft. Die alten Nazis zitterten vor Angst, ihr wärt völlig unbelastet und jung. Die Macht liege auf der Straße, die Politik wäre wie eine verlassene, aber völlig intakte Fabrik, der die Chefs davongelaufen seien. Nun müsse die Produktion wiederaufgenommen werden. Er sagte auch, die Angst der alten Nazis sei Gold wert. Du hast ›ja‹ gesagt, und von da an lief’s, besonders, als dieser Amerikaner dazukam, Bradley. Es gab Eier zum Frühstück, echten Kaffee, eine größere, dann eine große Wohnung, es ging rasch mit deinem Examen, noch rascher mit deinem Doktor, es gab ein Haus und ein Landratsamt in Huhlsbolzenheim – noch ein Haus, die Fabrik Politik lief und produzierte, produzierte. Ja, und dann tauchte Blaukrämer auf, der war ein Nazi gewesen, und Halberkamm, der war kein Nazi gewesen – das hat Chundt geschickt gemacht. Und das Bingerle, wie ihr ihn jetzt nennt, der war weder das eine noch das andere, nur ein gieriger junger Hund. Und jetzt, Hermann, ist’s genug. Hab’ ich recht gehört heut’ nacht? Blaukrämer soll Minister werden? Blaukrämer?
WUBLER Plukanski ist nicht mehr tragbar – es laufen Enthüllungen über ihn, die nicht mehr zu verheimlichen sind. Aus dem Polenkrieg. Er ist nicht mehr zu halten.
ERIKA Wieviel Juden und Polen hat er umgebracht?
WUBLER Umgebracht hat er keinen. Er hat ziemlich finstere Geschäfte mit den Partisanen gemacht. Nicht wir wollen ihn stürzen, die Polen – es ist eine abenteuerliche Geschichte.
ERIKA Und da müßt ihr Blaukrämer zum Minister machen? Blaukrämer?
WUBLER Es ist beschlossen, Plukanski ist nicht mehr zu halten.
ERIKA Aber Blaukrämer, das könnt ihr doch nicht machen. Es gibt doch Dinge, die einfach nicht gehen. Ihr wißt doch, was er mit seiner ersten, mit Elisabeth, gemacht hat – was er mit seiner zweiten, dieser Trude, macht – er ist doch, er gehört in die Kategorie der Triebtäter – für mich jedenfalls.
WUBLER Hat er versucht – bei dir …?
ERIKA Nein, hat er nicht. Angeschaut hat er mich manchmal, als wolle er – aber ein Blick von mir, wirklich nur ein Blick – da zitterten ihm die Hände. Das war noch in Huhlsbolzenheim – seitdem – nein, er gehört zu der Sorte, die ich erwürgen würde. Mein Gott, Hermann – warum muß der Minister werden?
WUBLER Chundt nennt das: die Grenzen der Zumutbarkeit erweitern – immer weiter ausdehnen. Wenn Blaukrämer Minister wird und die Öffentlichkeit das hinnimmt, dann …
ERIKA Dann kann man der Öffentlichkeit eines Tages auch Chundt zumuten, meinst du. Und du?
WUBLER Keine Angst, ich bin nicht der Typ – ich will’s auch nicht werden. Ich bin die Spinne, die das Netz spinnt – ich bin nicht das Netz. Und Plukanski ist wirklich nicht mehr zu halten. Wir nannten ihn immer Apfelwange – der Apfel ist durch und durch faul …
ERIKA Ja, Apfelwange ist also fällig – dann also einen Apfel wie Blaukrämer, von dem jeder weiß, daß er faul ist. Das hat Chundt mal wieder gut gesagt: die Grenzen der Zumutbarkeit erweitern.
WUBLERmüde: Ich konnte nichts dagegen tun, nichts …
ERIKA Und das Bingerle, was soll mit dem geschehen? Ihr Lachen klang, als wenn eine Guillotine runterrasselt – alle drei lachten gemeinsam. Du warst so still, ich nehme an, das schlaue Bingerle hat ein paar Akten beiseite geschafft, bevor sie versenkt oder verbrannt wurden.
WUBLER Er hat’s übertrieben. Er hat von uns Geld genommen, Geld von den anderen, und als er Geld von Dritten kassieren wollte, haben sie ihn geschnappt und ins Kittchen gesteckt. Sie konnten ihm nichts beweisen, er wird heute aus der Haft entlassen – wir wollen die Akten, nicht ihn.
ERIKA Und wenn er im Gefängnis bliebe? Wubler sieht sie bedeutungsvoll und fragend an. Du hast recht, auch da wäre er nicht sicher, so viele begehen Selbstmord im Gefängnis. Immerhin könntest du ihn warnen, der Gefängnisdirektor in Ploringen ist Stützling, ein alter Studienkollege von dir. Auch er war immer hungrig und hat als Student so manches gute Süppchen bei uns gelöffelt, und wenn du ihm ein paar Zigaretten geschenkt hast, fühlte er sich wie ein Millionär.
WUBLER Gewarnt ist das Bingerle genug. Er weiß, worum’s geht.
ERIKA Weiß er auch, daß es um sein Leben gehen könnte?
WUBLER Auch das muß er wissen. Er ist ein Spieler und spielt hoch.
ERIKA Eins habe ich diese Nacht nicht verstanden. Da war was mit einem Grafen.
WUBLER Den alten Trick von Chundt solltest du doch kennen. Bei heiklen Geschäften bedient er sich möglichst eines Grafen, eines jungen, edel wirkenden, dynamischen Grafen, möglichst eines, der ein flottes Auto oder besser noch ein Flugzeug hat.
ERIKA Warum nicht mal ein Fürst oder eine Königliche Hoheit?
WUBLERlacht: Graf klingt überraschenderweise besser als Fürst oder Königliche Hoheit. Es muß am A liegen. Graf klingt besser, fast möchte ich sagen, seriöser – Königliche Hoheit, das klingt nach Operette und Kitsch …
ERIKA Ja, ich erinnere mich, da war der Graf Praunheim …
WUBLERfast wütend: Und der Graf Treutz zu Stumm.
ERIKA Die waren nett, auch der Graf Klohren.
WUBLERwütend: Ja, die waren furchtbar nett.
ERIKA Und jetzt habt ihr einen neuen Grafen.
WUBLER Graf Erle zu Berben, jung, dynamisch, und ein flottes Auto hat er auch.
ERIKA Du solltest jetzt endlich dein Ei und ein Brötchen essen.
Wubler nippt an seinem Kaffee, zündet sich eine Zigarette an, schiebt das aufgeschlagene Ei zur Seite.
ERIKA