Fräulein Engel - Maryanne Becker - E-Book

Fräulein Engel E-Book

Maryanne Becker

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Beschreibung

Eine Dienstreise führt Thresje nach vielen Jahrzehnten in die Nähe ihres Heimatdorfs. In Erinnerung an Fräulein Engel, ihre Nachbarin aus Kindertagen, und deren rosaroter Villa beschließt sie, ihr einen Besuch abzustatten. Die beiden Frauen vertrauen einander ihre Lebensgeschichte an: Denunziation, Gestapohaft, Zwangseinsatz als Krankenschwester an der Ostfront und schließlich lange Jahre im sibirischen Gulag bestimmen Fräulein Engels Schicksal. Thresje, die während des Militärputschs in Chile ihren Geliebten verlor, leidet unter Flashbacks, deren Ursache sie in ihrer Kindheit vermutet.

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Fräulein Engel

Fräulein EngelImpressum

Fräulein Engel Schicksal einer Außenseiterin

Roman

Maryanne Becker

Fräulein Engel

Schicksal einer Außenseiterin

Roman

1

Das Tagungshotel Rose mutete seltsam exotisch an zwischen den Fachwerkhäusern des Eifelstädtchens nahe der belgischen Grenze. Ein schmucker Neubau, in freundlichem Rosa gestrichen inmitten eines von Zypressen gesäumten Gartens. Hier sollte ich ein Seminar für ehemalige Kriegskinder, lauter Damen und Herren zwischen sechzig und siebzig, durchführen. Seit einigen Jahren widmete sich die psychologische Forschung dieser Personengruppe, von der bisher angenommen wurde, dass sie von den Auswirkungen des Krieges in der frühen Kindheit nicht beeinflusst worden waren. Nachdem einige Bücher zu diesem Thema veröffentlicht worden waren, meldeten sich Betroffene mit dem Anliegen, ihre Kindheitserlebnisse während der Kriegs- und Nachkriegszeit aufarbeiten zu wollen. Ich hatte bereits derartige Seminare in Hamburg, Berlin und Dresden durchgeführt und nun war der Köln-Aachener Raum an der Reihe.

»Herzlich willkommen im Hotel Rose«, begrüßte mich die Dame an der Rezeption. Mir stockte der Atem, als ich ihren Singsang, diesen typischen Tonfall aus der Aachener Gegend, vernahm, die Sprachmelodie meiner Kindheit. Seit vierzig Jahren war ich nicht mehr in dieser Gegend gewesen, meinen Geburtsort hatte ich zuletzt zur Beerdigung meiner Großmutter aufgesucht. Ich starrte die Rezeptionistin an, als käme sie von einem fremden Stern, während vor meinem geistigen Auge mein Elternhaus, die saftigen Wiesen des belgischen Butterländchens, und meine kleine, altersgebeugte Oma erschienen.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte die Dame.

»Bitte entschuldigen Sie, es ist alles in Ordnung, ich bin ein wenig müde«, beeilte ich mich zu antworten und zwang mich, diese Bilder aus meinem Kopf zu verscheuchen und mich auf meine Aufgaben zu konzentrieren.

Schon beim Betreten des Gartens hatte ich ein diffuses Unbehagen verspürt. Toskana in der Eifel, war mein erster Gedanke gewesen. Üblicherweise gab ich mich damit zufrieden, wenn die für meine Seminare ausgewählten Häuser eine behagliche Atmosphäre verströmten. In diesem Punkt ließ das Tagungshotel Rose nichts zu wünschen übrig.

DieCasa Rosada, schoss es mir in den Kopf. Ja, an dieCasa Rosadaerinnerte mich das Haus. Wie ein Mosaiksteinchen passte diese optische Wahrnehmung zum Tonfall der Dame an der Rezeption. Beides zusammen katapultierte mich mehr als fünfzig Jahre zurück in die Vergangenheit. Während ich mechanisch meine Seminarunterlagen ordnete, führten mich meine Gedanken in den Ort meiner Kindheit. ZurCasa Rosada, die ebenso wenig diesen Namen trug wie das damit untrennbar verbundene Fräulein Engel.

Das erste Flashback erlebte ich, als ich Anfang der siebziger Jahre vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires stand. Blitzartig erschien die rosa gestrichene Villa von Fräulein Engel vor meinem Auge, die mir in der Erinnerung prächtiger erschien als Perons Amtssitz. Seither bezeichnete ich die Villa alsCasa Rosada. Während meiner Lehranalyse Anfang der Achtziger war sie mir wieder in den Sinn gekommen. Ich erinnerte mich an ein unerklärliches Unbehagen, dem meine Analytikerin aber keinen besonderen Stellenwert beimaß, da es sich nicht mehr als um ein Haus in der Nachbarschaft handelte.

Fräulein Engelwar die von mir aus dem Plattdeutschen eingedeutschte Form von ›et Ingelsche‹ – das Engelchen. Alle weiblichen Vornamen wurden in der Region mit einem sächlichen Artikel belegt, so wie auch alle unverheirateten Frauen, unabhängig von ihrem Alter, als Mädchen bezeichnet und mit Fräulein angeredet wurden. ›Et Ingelsche‹ hieß in Wirklichkeit Angèle oder Angela, doch niemand nannte sie so und ich bezweifle, dass jemand ihren richtigen Namen kannte.

DieCasa Rosada, Fräulein Engel, meine Großmutter, die gesichtslosen alten Frauen und die wenigen Männer aus unserem Dorf, und der Singsang schwirrten wie farblose Schmetterlinge im Nebel in meinem Kopf umher. Nur mühsam gelang es mir, mich gegen diesen falschen Film zur Wehr zu setzen. Ich schluckte zwei Kopfschmerztabletten und beschloss, mich nach Abschluss des Seminars mit diesem Thema zu beschäftigen.

Das Seminarwochenende nahm meine ganze Energie in Anspruch. Die Teilnehmer trauten sich endlich, nach Jahrzehnten, ihre Kindheitserinnerungen zu thematisieren und zu überlegen, welche unbewussten Auswirkungen die Nächte in den Bunkern, der Hunger, die Abwesenheit der Väter und der kriegsbedingte Mangel an elterlicher Obhut auf ihr Leben hatten.

Natürlich hatte ich mich vorher mit meinen eigenen Erfahrungen als Kriegskind auseinandergesetzt. Das einzige, was mich mit den Seminarteilnehmern verband, war die Tatsache, dass ich während des Krieges, im Sommer 1944, geboren wurde und mein Vater als deutscher Soldat sein Leben lassen musste. Im Gegensatz zu den anderen war ich selbst kaum mit Kriegsereignissen in Berührung gekommen. In unserem Teil Belgiens hatte es keine Kampfhandlungen gegeben und trotz aller Lebensmittelknappheit hatten wir nicht wirklich hungern müssen. Mein Vater, Jahrgang 1921, war als Belgier geboren und erst aufgrund der Annexion Ostbelgiens im Jahr 1940 zwangsweise Deutscher geworden. Zwangsweise wurde er auch als deutscher Soldat an die Front geschickt. Niemand in unserer Familie war je Nazi gewesen, alle waren brave Katholiken.

Mein Vater war im Herbst 1943 verwundet worden und nach Sachsen ins Lazarett gekommen, wo Mutter ihn besuchte. Ganz offensichtlich ging es ihm zu diesem Zeitpunkt wieder recht gut, denn neun Monate nach diesem Treffen wurde ich geboren. Ob mein Vater je von Mutters Schwangerschaft erfuhr, konnte mir niemand sagen, denn kurze Zeit später blieb die Feldpost aus. Dass Vater in russische Gefangenschaft geraten war, wurde Mutter erst 1948 mitgeteilt: Eine lapidare Nachricht des Suchdienstes des Roten Kreuzes: »… 1946 in russischer Gefangenschaft an Entkräftung verstorben.«

Mit diesem Schicksal war unsere Familie nicht allein, vielen anderen ging es ähnlich. Nach dem Einmarsch der Amerikaner im September 44 war für uns der Krieg vorbei. Vor uns lagen friedliche Zeiten und die Vergangenheit wurde mitsamt ihren Relikten wie ein lästiges Insekt, das sich später als Gespenst entpuppen sollte, aus dem Gedächtnis verbannt.

Ich beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, und meinem Geburtsort einen Besuch abzustatten, denn so bald würde ich sicher nicht wieder in diese Gegend kommen. Vielleicht lebte Fräulein Engel noch? Sie würde sich sicherlich freuen, mich wiederzusehen – wenn sie sich überhaupt noch an mich erinnerte, schließlich war sie schon weit über achtzig.

Ich wollte mich meiner alten Heimat langsam nähern und fuhr einen Umweg über die ›Himmelsleiter‹. Diese magische Bezeichnung hatte mich in frühester Kindheit in den Erzählungen der Erwachsenen fasziniert. Lange Jahre, bis zur Grenzöffnung, war diese Straße, von der ich annahm, sie führe geradewegs in den Himmel, für mich nicht zugänglich gewesen, was meine Fantasie noch weiter beflügelte. Nun sollte es die Himmelsleiter hinab bis zur letzten Autobahnauffahrt nach Belgien gehen.

Fünfzig Jahre dürfte es her gewesen sein, dass ich mit Mutter im Postbus in die Eifel, wo eine ihrer Cousinen wohnte, gefahren war. Der Geruch der abgewetzten braunen Kunstledersitze stieg mir in die Nase und die Vorstellung, bei Tante Trude wieder ekelhafte Kalbsleber serviert zu bekommen, ließ meinen Magen vor Ekel zusammenziehen. Ich steuerte einen Parkplatz an, stieg aus dem Auto und übergab mich am Rande eines Abhangs oberhalb der jungen Fichten. Die frische Luft half, meine Gedanken zu ordnen. Nein, ich war nicht mehr die Zehnjährige, der das Verbot jeglicher Grenzüberschreitung über Jahre eingeimpft worden war, die dankbar und höflich alles essen musste, was ihr aufgetan wurde und die nicht wagte, nach dem Warum zu fragen. Geistesabwesend schaute ich den heimkehrenden Sonntagsausflüglern nach, die Wagen an Wagen vorbeirauschten. Doch ich hatte ein Verbot übertreten, immer und immer wieder: DieCasaRosadawar, wie man heute sagen würde, eine absolute ›No go Area‹. Als ich zum ersten Mal dort gewesen war, angelockt durch die Schafsherde, die vom Straßenrand aus im Park der Villa zu sehen war, und meiner Großmutter begeistert von der Bewohnerin und ihren Tieren erzählt hatte, erhielt ich eine schallende Ohrfeige. ›Da hast du nichts verloren, wehe, du gehst da noch einmal hin.‹

Meine erschrockene Frage nach dem Warum quittierte sie mit weiteren Ohrfeigen und der Drohung, mich ins Waisenhaus zu stecken, sollte ich es wagen, gegen das Verbot zu verstoßen. Wie Schuppen fiel mir von den Augen, dass diese Ohrfeigen die einzigen Schläge in meinem Leben waren. Das hatte ich vollkommen verdrängt. Ich fragte mich, was wohl der Grund gewesen sein mochte, dass Großmutter mir nicht nur verboten hatte, Fräulein Engel zu besuchen, sondern ihr derart die Contenance geraubt hatte, dass sie handgreiflich wurde.

Auf einer Anhöhe, kurz vor meinem Geburtsort, hielt ich kurz noch einmal an. Der Kirchturm überragte noch immer das ganze Dorf, aber wo früher ein dichter Wald Schatten über die wenigen Häuser geworfen hatte, standen nun in Reih und Glied rote Backsteinhäuser, die aus der Ferne alle gleich aussahen. Was wollte ich hier überhaupt? Was hoffte ich zu finden? In mir regten sich leise Zweifel. Diese spontane Idee war in jeder Hinsicht unvernünftig gewesen und entsprach absolut nicht meiner Art.

Üblicherweise plante ich meine Unternehmungen bis ins kleinste Detail, wägte das Für und Wider ab und handelte zielgerichtet. Nun stand ich hier am Ortsrand, ohne zu wissen, wo ich die nächste Nacht verbringen würde und mit der vagen Vorstellung, eine alte Dame zu besuchen, die, wenn sie überhaupt noch lebte, sich vermutlich nicht an mich würde erinnern können. Offenbar hatte ich mich jenseits aller Vernunft von den Eindrücken im Hotel Rose verleiten lassen, diffuse Gefühle aus der Vergangenheit herauf zu beschwören. Ich hätte umkehren können, noch war es nicht zu spät, in der nächsten Stadt ein Hotelzimmer zu finden.

Ich lenkte mein Auto auf die Durchgangsstraße. Nach wenigen Minuten lag dieCasa Rosadavor mir. Der gepflegte Park mit englischem Rasen und die fachmännisch geschnittenen, in Rot- und Blautönen blühenden Rhododendrenbüsche enttäuschten mich. Einzig der rosa Anstrich des Hauses erschien mir vertraut. Diese Klingel aus edlem Messing und den Briefkasten an der schmiedeeisernen Pforte hatte es früher auch nicht gegeben. Ein Namensschild konnte ich nirgends entdecken. Mein Herz pochte bis zum Hals, als ich, wie von Geisterhand geführt, den Klingelknopf drückte. Es dauerte eine Weile, bis ein Summen signalisierte, dass der Türöffner betätigt worden war und ich den Park betreten konnte. Diese moderne Technologie kannte ich aus Großstädten. Bei uns im Dorf waren die Haustüren früher immer unverschlossen, höchstens ein völlig Fremder hätte vor dem Eintreten angeklopft. An diesen Nebensächlichkeiten verschwendete ich meine Gedanken, anstatt mir zu überlegen, mit welchen Worten ich mein Eindringen hier begründen würde.

Kerzengerade, die linke Hand auf einem Stock gestützt, stand sie wie ein Gemälde im Türrahmen. Ich erkannte sie sofort, die Mittdreißigerin von damals. »Fräulein Engel?«, rief ich, und fürchtete, einer Fata Morgana erlegen zu sein.

»Thresje! Komm näher mein Kind, komm rein. Wie schön, dass du mich besuchst«, rief sie, und winkte mich mit ihrer Rechten zu sich heran.

›Thresje‹ hatte sie mich genannt, und ›mein Kind‹! Mit diesem Kindernamen hatte mich außer Großmutter niemand mehr angesprochen, seit wir an die französische Grenze gezogen waren. Und das lag schon fast fünfzig Jahre zurück. Seither wurde ich sogar von Mutter nur noch Thérèse genannt. Ich war fassungslos und mich überkam ein bisher nie gekanntes Gefühl des Angekommen-seins.

»Fräulein Engel! Wie konnten Sie mich nur erkennen, nach all den Jahren?«, fragte ich und vermutete, die in einem eleganten silbergrauen Seidenanzug gekleidete und perfekt geschminkte alte Dame erwarte Gäste.

»Ach, Kind, niemand außer dir hat mich jemals mit ›Fräulein Engel‹ angesprochen. Ich bekomme selten Besuch, sehr selten«, flüsterte sie, während sie mit dem Stock mehrfach auf die Bodenfliesen klopfte und mich ins Haus zog.

»Was führt dich denn hierher? Das Grab deiner Großmutter ist doch schon seit Jahren eingeebnet. Komm, ich koche dir einen heißen Kakao.«

Sie führte mich in die Küche, und begann, ohne zu fragen, ob ich hungrig sei, das Abendbrot zu richten. Ihren Krückstock hatte sie in der Diele abgestellt, nun bemerkte ich, dass ihr das Gehen offensichtlich große Mühe und Schmerzen bereitete.

»Lass uns erst einmal etwas essen, du wirst hungrig sein«, lud sie mich ein. Wo ich denn herkomme, wo ich wohne, was ich mache, ob ich verheiratet sei, Kinder habe, wollte sie wissen. Sofort fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Schon damals nahm sie voller Interesse an meinen Erlebnissen teil, ohne im Geringsten aufdringlich oder gar neugierig zu wirken. Dass sie jemals etwas über sich selbst erzählt hätte, war mir nicht in Erinnerung. Es fiel mir nicht schwer, zu gestehen, dass ich diesen Besuch gar nicht geplant hatte, dass mir beim Anblick des Hotels Rose dieCasa Rosadain den Sinn gekommen war und mich nicht mehr losgelassen hatte. Fräulein Engel horchte auf, als sieCasa Rosadahörte.

»Casa Rosada, hm, das passt ja. Wie bist du denn darauf gekommen?«

Bisher hatte ich nie das Bedürfnis verspürt, mit anderen über meine Flashbacks zu sprechen und ich wunderte mich über mich selbst, wie die längst verschütteten und mir sinnlos erschienen Ereignisse der Vergangenheit aus meinem Mund sprudelten. Ich erzählte ihr von meinem Aufenthalt in Buenos Aires, wie sich plötzlich ihre Villa vor den Präsidentenpalast schob, und dass ich sie seither alsCasa Rosadabezeichnete. Ohne Scham, aber mit aufkeimender Wehmut räumte ich ein, nur sehr selten an sie gedacht zu haben. Damals in einem Kaffeehaus in Wien, als mir der Duft von heißem Kakao mit Sahne vom Nebentisch her in die Nase gestiegen war, war mir Fräulein Engel beim Melken der Schafe in den Sinn gekommen und ich hatte zu hören geglaubt, wie sie zu mir sagte: »Warte nur, Thresje, gleich koche ich dir einen heißen Kakao mit frischer Schafsmilch.« Mein Freund und ich saßen nach einem Besuch der Albertina beisammen und unterhielten uns angeregt über die Kunstausstellung, als ich unvermittelt dem Gespräch eine Wendung gab und begann, über Denunzianten zu reden. Andere zu denunzieren, sei das Schlimmste, was ein Mensch tun könne. Ich konnte mir nicht erklären, was mich dazu bewogen hatte, dieses Thema anzuschneiden. Immer wieder waren Bruchteile von Erinnerungen wie Halluzinationen aufgetreten, denen ich jedoch keinen großen Stellenwert eingeräumt hatte oder hatte einräumen wollen. Schließlich hat ja jeder Mensch Kindheitserinnerungen. Erst jetzt wurde mir klar, dass all diese blitzartig erschienenen Episoden mitFräulein Engelzusammenhingen.

Ich sah mich als kleines Mädchen beiFräulein Engelam Küchentisch sitzen, in der alten Küche der fünfziger Jahre. Vor mir, genau wie heute, eine Tasse mit heißem Kakao. »Einen Menschen zu denunzieren, ist ein schlimmes Verbrechen«, hörte ichFräulein Engelsagen.

»Was ist denn mit dir los, Thresje?«, fragte sie, nachdem ihr mein abwesender Gesichtsausdruck aufgefallen war, und holte mich zurück in die Gegenwart. Verwirrt versuchte ich, mir den Zusammenhang von Kakao und Denunziation zu erklären.

»Habe ich als Kind jemanden verraten?«, fragte ich verzweifelt.

»Aber Kind, wie kommst du denn darauf? Du warst ein gutes Kind, du warst mein Sonnenschein. Du bist hergekommen, obwohl es dir verboten war, hast Licht in mein Dunkel gebracht und mir zugehört. Nein, du hast nichts Böses getan.«

Ich hoffte, die passenden Worte zu finden, um ihr meine aus heiteren Himmel wiederkehrenden Erinnerungsfragmente zu schildern. Würde sie mich für verrückt halten?

»Ich erinnere mich genau daran, dass Sie von Denunziation sprachen, sie als schlimmstes Verbrechen bezeichneten. Immer wieder tauchen diese Erinnerungen auf, und ich frage mich, ob ich oder jemand aus meiner Familie Schuld auf sich geladen habe.«

»Du warst damals die Einzige, die mich besucht, überhaupt mit mir geredet hat. Ich war völlig isoliert, und bin es heute noch. Was mich bewogen hat, mit dir über Verrat und Verbrechen zu sprechen, weiß ich heute nicht mehr. Vielleicht glaubte ich, künftig Denunziationen verhindern zu können, wenn junge Menschen sich über deren Tragweite bewusst wären. Es tut mir so leid, niemals hätte ich dir diese Bürde mit auf den Weg geben dürfen.«

Mir fiel ein, dass Fräulein Engel sonntags nie in der Kirche war, dass sie höchst selten ins Dorf ging und ihre Einkäufe meist in der Stadt erledigte. Manchmal sprachen die Leute hinter vorgehaltener Hand überet Ingelscheund zogen dabei bedeutungsschwanger die Mundwinkel herab. Man wechselte die Straßenseite, um ihr nicht direkt zu begegnen. Es gab Wahrnehmungen, die nicht hinterfragt wurden. Die Kinder taten es ihren Eltern und Großeltern gleich. Vermutlich hatte ich es in anderen Lebensbereichen genauso gemacht und war lediglich der Anziehungskraft derCasa Rosadaund Fräulein Engels Schafherde erlegen.

»Ich habe den Eindruck, dass Denunziation eine wichtige Rolle in Ihrem Leben gespielt hat. Möchten Sie mit mir darüber sprechen?«, wagte ich mit professioneller Sicherheit zu fragen.

»Mein Kind, nun sprich nicht so gestelzt!«

Unwillkürlich lachte ich auf. Das war wirklich komisch. Das kleine ›Thresje‹ – in Fräulein Engels Augen war ich natürlich zumindest ein Stück weit immer noch das kleine ›Thresje‹ – redete in überkandideltem Psychologendeutsch auf eine alte Dorfbewohnerin ein.

»Hol dein Gepäck herein, das Auto kannst du auf der Einfahrt zur Garage parken. Bleib ein paar Tage hier. Es ist eine lange Geschichte.«

»Möchtest du wirklich wissen, was geschehen ist«, fragte mich Fräulein Engel am nächsten Morgen beim Frühstück. »Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis ich dir die ganze Geschichte erzählt habe. Vielleicht wirst du mir nicht glauben. Niemand hat bisher davon erfahren. Über sechzig Jahren habe ich kaum mehr als ein paar belanglose Worte mit anderen Menschen gewechselt.«

»Bitte, erzählen Sie. Erzählen Sie mir alles. Ich bleibe so lange hier, bis alles gesagt ist.«

»Du wirst Geduld brauchen, ich ermüde rasch, ich brauche Pausen, die starken Schmerzmittel fordern ihren Tribut. Wie du siehst, habe ich große Schwierigkeiten beim Laufen. Meine Hüften sind verschlissen, aber eine Operation in diesem Alter möchte ich nicht mehr wagen.«

Ohne zu ahnen, was ich erfahren würde, versprach ich ihr, zuzuhören, Pausen einzuhalten und nicht an der Wahrheit ihrer Aussagen zu zweifeln. Ich war felsenfest überzeugt, dass die Offenlegung ihrer Geschichte nicht nur für sie, sondern auch für mich wichtig war. Und ich spürte, dass diesmal keine professionelle Empathie die Triebfeder war, sondern dass ich etwas erfahren sollte, was mich und meine frühe Kindheit betraf.

»Komm, lass uns ins Wohnzimmer gehen, dort ist es behaglicher als hier in der Küche. Von dort aus können wir auf den Park und die blühenden Frühlingsblumen schauen«, schlug sie vor.

Wie schon die Küche war auch das Wohnzimmer mit hellen, modernen Möbeln ausgestattet. Lediglich der Drehaschenbecher aus Messing war ein Relikt aus den fünfziger Jahren. Auf dem Couchtisch entdeckte ich neben einem silbernen Feuerzeug eine Packung ›Belga‹. Dass es diese Zigarettenmarke noch gab! Gebannt schaute ich zu, wie sich Fräulein Engel eine Filterzigarette ansteckte. Während sie das Feuerzeug auf den Tisch zurücklegte, hörte ich die Stimme meiner Großmutter, die plötzlich in ihrer geblümten Kittelschürze vor mir stand: »Warum Belga? Ich hatte dir doch gesagt, du sollst eine Packung Darcy holen.« Meine Mutter und ihre Schwester rauchten Belga, aber die Großmutter bestand auf Darcy, beide Marken damals noch ohne Filter.

»Weißt du noch, wie du zum ersten Mal hier bei mir warst?«, fragte Fräulein Engel und holte mich aus dem Tagtraum in die Wirklichkeit zurück.

»Es waren die Schafe, ich wollte sehen, wer hier eingezogen war, kein Mensch im Dorf hielt Schafe.«

»Das war im Sommer 53, kurz vor den großen Ferien. Ich sehe dich heute noch vor der Tür stehen, mit deinen langen, dunkelblonden Zöpfen. Ich war erst ein paar Wochen zuvor hier eingezogen. Dumm und naiv wie ich war, glaubte ich, nun, wo der Krieg längst vorbei war, wieder hier heimisch und aufgenommen zu werden.«

»Dumm und naiv?« In meiner Erinnerung war Fräulein Engel die einzige gewesen, die mir relevante Lebensweisheiten mit auf den Weg gegeben hatte. Mutter hatte mich angehalten, zu lernen und zu gehorchen, Großmutter hatte mich in die Messe und zur Beichte geschickt. Aber Fräulein Engel war es gewesen, die mich auf die schlimmen Folgen von Verrat und Verleumdung aufmerksam gemacht, mir eindringlich die Bedeutung von Vertrauen und Vertrauensbruch erklärt hatte.

»Wo kamen Sie denn her, als Sie hier einzogen?«, nahm ich den Faden wieder auf.

»Aus der Schweiz, aber das ist dann auch schon das Ende der Geschichte, lass uns vorne anfangen, damit du alles verstehst.«

Ich wagte nicht, meinem Bedürfnis, mich entspannt zurückzulehnen nachzugeben, als ich sah, wie Fräulein Engel ein wenig vorrückte, beide Füße flach auf den Boden stellte, den Rücken durchstreckte und zu erzählen begann.

2

»Ich muss weit ausholen, hoffentlich langweile ich dich nicht. Mein Vater kam aus der Wallonie, er war Arzt genau wie mein Großvater, und arbeitete in einem Krankenhaus in seinem Heimatort. Wann und wo er meine Mutter kennenlernte, die hier aus dem Dorf stammte, weiß ich nicht. Geheiratet haben sie 1915. Dieses Haus, dieCasaRosada, wie du es so schön bezeichnest, hatte Vater schon kurz nach der Hochzeit gekauft, denn Mutter wollte nicht wegziehen. Du weißt ja, wie die Leute im Dorf waren, sie wollten nicht in die Fremde. So kam es, dass Vater nur die Wochenenden hier verbrachte, unter der Woche bewohnte er ein gemietetes Zimmer in der Nähe der Klinik. Hier im Haus hatte er sich eine kleine Praxis eingerichtet, wo er manchmal samstags oder sonntags Leute aus dem Dorf behandelte.

Die ersten Schuljahre verbrachte ich hier in der Dorfschule, wo mich alleIngelscheriefen. Für Mutter war ich Angela, für Vater Angèle. Später kam ich ins Internat in der Wallonie, wo ich 1935 mein Abitur ablegte.«

»Sie haben damals schon Abitur gemacht? Ich dachte immer, das wäre nur Jungen möglich gewesen.«

»Ich wollte Ärztin werden, wie mein Vater. Leider erkrankte Mutter an Multipler Sklerose, so dass beschlossen wurde, dass ich zunächst Krankenschwester in einer Klinik hier in der Nähe lernen sollte, damit ich mich nach Feierabend um meine Mutter kümmern konnte. Meine freie Zeit war knapp und den Kontakt zu den früheren Schulkameraden im Dorf hatte ich nicht aufrechterhalten können. Du kannst mir glauben, ich wäre gerne mal zum Ball gegangen, aber es gab niemanden, der mich mitgenommen hätte. Die Mädchen waren entweder irgendwo in Stellung oder hatten einen festen Freund, und für die Jungen war ich als anscheinend nicht interessant.«

»Hatten Sie denn keine Freundin hier?«

»Ich kannte ein paar Mädchen meines Alters, aber da ich weder Zeit für den Kirchenchor noch für die Landjugend und Landfrauen aufbringen konnte, gab es wenig Gemeinsamkeiten. Und, ehrlich gesagt, ich konnte nicht singen. Zur Enttäuschung meiner Mutter, die mit ihrem glockenhellen Sopran unsere Gäste erfreute. Jede freie Minute verbrachte ich mit Fachliteratur. Was mich interessierte, war das Medizinstudium, auf das ich zumindest gut vorbereitet sein wollte, wenn ich schon so viel Zeit, in meinen Augen nutzlose Zeit, als Krankenschwester vergeuden musste. So lange Mutter pflegebedürftig war, kam ein Studium nicht in Frage. Ich hätte ja nach Löwen ziehen müssen, und das war einfach nicht möglich.«

»Hätte man denn nicht eine Pflegerin für Ihre Mutter einzustellen können?«, wollte ich wissen.

»Tagsüber, wenn ich in der Klinik meinen Dienst versah, kam eine Frau, die Mutter versorgte, aber abends und an den Wochenenden musste ich halt da sein. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, was möglich gewesen wäre und was unterlassen wurde. Ich kann nur schildern, wie es wirklich war.

Nach Ende der Ausbildung war ich auf der Frauenstation eingesetzt. Ich assistierte bei Entbindungen, Operationen und pflegte auch Frauen, die eine Fehlgeburt erlitten hatten. Innerhalb kurzer Zeitsammelte ich Erfahrungen in allen Bereichen der Frauenheilkunde.

In Deutschland verbreiteten die Nazis Angst und Schrecken. Seit Jahren schon wurde Druck auf die jüdische Bevölkerung ausgeübt, und wer es irgendwie schaffte, verließ das Land. Ich weiß, das ist allgemein bekannt. Die ganze Menschheit wurde von dem Naziterror heimgesucht …«

»Ja, mein Vater war als Soldat von den Deutschen zwangsverpflichtet worden und ist in der Gefangenschaft umgekommen. Es gibt wohl keine Familie hier, die nicht in irgendeiner Weise betroffen war«, unterbrach ich sie und vergaß mein Versprechen, geduldig zuzuhören.

»Das stimmt, mein Kind. Ohne die Nazis wäre ich vermutlich nie in diese schreckliche Lage gekommen, die meine ganze Zukunft ruiniert hat. Ich wurde gezwungen, Entscheidungen zu treffen, deren Auswirkungen ein so junger Mensch, wie ich es damals war, gar nicht abschätzen konnte.«

Diese Andeutungen ließen mich Furchtbares erahnen und ich nahm mir vor, dort zu bleiben, bis sie sich alles von der Seele geredet haben würde.

»Eines Tages stand eine junge Frau aus der Nähe von Köln an der Haustür, eine Jüdin. Über Bekannte meines Vaters hatte sie meine Adresse erfahren. Vater hatte Kontakte zu vielen, auch jüdischen, Kollegen im In- und Ausland, und seit etwa Mitte der dreißiger Jahre half er Flüchtlingen auf dem Weg über Belgien in die Emigration. Er war eine ›Adresse‹, das heißt, dass Leute, die Deutschland verlassen mussten, was meist illegal geschah, bei uns eine Nacht verbrachten, Medikamente oder Nahrungsmittel erhielten oder auch einige ihrer Wertgegenstände bei uns deponierten. Erinnerst du dich noch an das Törchen, das vom Wald her in unseren Park führte? Als Kind bist du oft durch dieses Törchen, den Hintereingang, hereingekommen. Um Aufsehen zu vermeiden, hatte Vater seine Kontaktpersonen angewiesen, die Flüchtlinge durch das Törchen zu schicken. Von der grünen Grenze her konnten sie den Park betreten, ohne von der Dorfbevölkerung oder gar der Gendarmerie gesehen zu werden.«

»Ja, ich erinnere mich an das Törchen. Ist der Park von dort aus immer noch zugänglich?«

»Nein, nein«, antwortete Fräulein Engel und versprach mir für den nächsten Tag einen Rundgang durch den Park.

»Nun stand diese junge Frau vor der Haustür, sie war also von der Straße hergekommen. Lediglich das braune Lederköfferchen ließ vermuten, dass sie auf Reisen war, denn in ihrem schicken blauen Kostüm und mit den hochhackigen Schuhen erweckte sie eher den Eindruck, als sei sie zu einem Kaffeeklatsch unterwegs. Nichts ahnend bat ich sie herein und hörte mir ihr Anliegen an.

In letzter Minute habe sie eine Schiffspassage nach Amerika erhalten, während ihr Verlobter die Ausreise nach Palästina angetreten habe. Zwei Mal sei ihre Periode ausgeblieben, nun habe sie, das Ticket schon in der Tasche, einen Arzt aufgesucht, der die Schwangerschaft festgestellt habe, erzählte sie. In diesem Zustand die Reise anzutreten hielt sie für unmöglich, ganz davon abgesehen, dass es ihr unvorstellbar erschien, allein in einem fremden Land ein Kind aufzuziehen. Mein Vater sei doch Arzt, er könne ihr bestimmt helfen. Offensichtlich war sie davon ausgegangen, dass mein Vater hier praktizierte – und sie aus der delikaten Situation befreien würde. Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, dass Vater so etwas tun würde. Abtreibung stand unter Strafe. Dass Schwangerschaftsabbrüche bei Jüdinnen in Nazideutschland erlaubt waren, wusste ich damals nicht.

Die junge Frau beschwor die schrecklichsten Visionen herauf. Im Nachhinein erscheint es mir, als habe sie hellseherische Fähigkeiten gehabt, denn sie befürchtete schon damals, all diejenigen Juden, die nicht rechtzeitig ausreisten, würden umgebracht oder auf eine einsame Insel verbannt.

›Du musst mir helfen! Als Krankenschwester könntest du doch …‹, flehte sie mich an.

Kannst du dir vorstellen, wie ich mich fühlte? Tausend Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Ich war ausgebildet zum Helfen, Leben zu erhalten war meine Berufung, nicht zu zerstören. Neben den moralischen Bedenken stand die Angst, ohne ärztliche Hilfe einen derartigen Eingriff vorzunehmen. Dass Frauen bei Abtreibungen starben, hörte man ja immer wieder. Während Mutter im Nebenzimmer schlief, rief ich Vater in der Klinik an. Ich erzählte ihm von dem Besuch der jungen Frau und hoffte, er würde meine Worte richtig interpretieren. Ja, ich hoffte, er würde mir raten, die Frau wegzuschicken.

›Du wirst die richtige Entscheidung treffen‹, sagte Vater und ergänzte: ›Das Richtige kommt mitunter in der Maske des Falschen daher, denn die Menschen neigen dazu, dem Bösen ihre Aufmerksamkeit zu widmen.‹

Der Schlüssel zum Medikamentenschrank, wo ich Äther, Schmerzmittel und Instrumente vorfände, liege unter der Schreibtischauflage. Vater ging also davon aus, dass ich den Eingriff vornehmen würde.

Ich musste die Frau aus ihrer Lage befreien, das Falsche wäre in diesem Fall richtig. So hatte ich Vater verstanden. Und es musste schnell gehen, denn am nächsten Morgen hatte ich Dienst im Krankenhaus.

Bevor ich ihr die Äthermaske überstülpte, fragte ich sie nach ihrem vollständigen Namen und der Adresse der Eltern. Sie schüttelte den Kopf und sagte: ›Nein! Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß.‹ Dieselbe Antwort bekam ich auf meine Frage, wer ihr meine Adresse genannt habe.

Komm, lass uns eine Pause einlegen, ich bin müde.«

Meine professionelle Souveränität aus der langjährigen Tätigkeit als Psychotherapeutin war einem Gefühl der Beklemmung gewichen. Ich hätte sie am liebsten aufgefordert, weiter zu sprechen, auf die Pause zu verzichten. Mir wurde klar, dass sie damals gerade einundzwanzig Jahre jung war, ein unerfahrenes Mädchen, allein gelassen mit einer Entscheidung, die zu treffen ebenso unmöglich wie unerlässlich war. Hatte die junge Frau den Eingriff überlebt? War es zu Komplikationen gekommen? Ich wollte nachfragen, aber Fräulein Engel war eingeschlafen.

Mit 21 lebte ich als Studentin ein sorgenfreies Leben. Nach dem Studienabschluss wollte ich Roberto heiraten und mit ihm in seine argentinische Heimat ziehen. Eine Schwangerschaft musste ich nicht befürchten, denn es gab ja die Pille. Alles verlief in vorgezeichneten Bahnen, mir wurde keine schwere Entscheidung abverlangt, erinnerte ich mich.

Fräulein Engel mochte etwa eine halbe Stunde geschlafen haben, als sie sich ruckartig aufrichtete, um einen Kaffee bat und verkündete: »Nun musst du wieder zuhören, es ist eine lange Geschichte, wir werden noch Tage brauchen, bis alles gesagt ist.«

Das geduldige Zuhören gehörte zu meinem Beruf, doch hier war alles anders. Ich brannte förmlich darauf, den Fortgang der Geschichte zu erfahren, ich musste mich zur Gelassenheit zwingen. »Wir haben Zeit, bitte überanstrengen Sie sich nicht. Ich bleibe bestimmt so lange bei Ihnen, bis Sie alles erzählt haben«, versicherte ich ihr. Meine Termine für die nächsten beiden Wochen hatte ich bereits am Tag nach meiner Ankunft abgesagt.

»Als die junge Frau sich weigerte, ihren Namen zu nennen, konnte ich nicht ahnen, dass ich eines Tages dafür dankbar sein würde. Inzwischen hatte ich keine Zweifel mehr an der Richtigkeit meines Tuns, Vaters Worte hatten mir den Weg gewiesen. Allerdings war ich mir der gesundheitlichen Gefährdung meiner Patientin durchaus bewusst. Sorgsam dosierte ich den Äther, um die Narkose optimal einzustellen. Die Instrumente hatte ich bereitgelegt und sterilisiert. Ich zwang mich, nicht zu zittern, obwohl ich eine wahnsinnige Angst verspürte. Ich biss meine Zähne in die Unterlippe, bis sie blutete und machte ich mich an die Arbeit. Bis zu jenem Tag hatte ich zwar bei Ausschabungen nach Fehlgeburten assistiert, aber niemals selbst Hand an eine Patientin gelegt. Ich rief mir den Ablauf ins Gedächtnis, führte Handgriff für Handgriff aus und stellte verwundert fest, dass alles ganz einfach ging. Ich funktionierte wie eine Maschine, empfand keinerlei emotionale Regung. Später, als die Frau aufwachte, schämte ich mich, denn ich empfand keinerlei Mitgefühl oder Unrechtempfinden dem getöteten Baby gegenüber. Glaubst du mir das? Ich frage mich noch heute, wie ich so kaltblütig sein konnte. Oder war es der Widerspruch, mit dem ich in jungen Jahren nicht fertig wurde?

Ich bot ihr mein Bett an und verbrachte die Nacht neben ihr im Sessel, denn ich hatte solche Angst, es könnten sich Komplikationen einstellen.

Beim Frühstück fragte ich nach ihren Eltern. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass eine junge Frau in meinem Alter sich allein auf den Weg in die Fremde macht und alles Vertraute zurücklässt.

›Meine Eltern bleiben in Deutschland. Vater als Träger des Eisernen Kreuzes aus dem Weltkrieg ist überzeugt, dass alten Kämpfern nichts geschehen wird. Mehr musst du nicht wissen.‹

Als ich sie am nächsten Morgen am Bahnhof verabschiedete, öffnete sie ihre Handtasche und hielt mir ein Bündel Geldscheine entgegen. Erschrocken wehrte ich ab. Fest entschlossen, die letzten vierundzwanzig Stunden aus meinem Gedächtnis zu streichen, fuhr ich zur Arbeit, als wäre nichts geschehen.«

Erleichtert stellte ich fest, dass die Geschichte gut ausgegangen war. Oder war der Frau unterwegs etwas zugestoßen?

»Wie ging es dann weiter?«, fragte ich. »Sie erwähnten, dass Sie eines Tages dankbar waren, dass diese Frau ihren Namen verschwiegen hatte?«

»Eines Tages, ja, aber es ist eine lange Geschichte.«

»Wissen Sie, was aus der Frau geworden ist?«

»Auch diese Antwort gehört ans Ende der Geschichte, aber ich will sie mal vorwegnehmen. Etwa zwanzig Jahre später bekam ich einen Brief aus Amerika. Sarah, ich nenne sie jetzt einfach mal Sarah, gelangte auf Umwegen nach Boston, wo sie einen Jugendfreund, den es ebenfalls dorthin verschlagen hatte, geheiratet hat. In den sechziger Jahren war sie hier und hat mich besucht. Die Zuversicht ihres Vaters hatte sich als Trugschluss erwiesen. Sarahs Eltern waren nach Theresienstadt deportiert worden. Sie haben nicht überlebt.«

Dass Menschen in Extremsituationen weder sich selbst noch ihre Gefühle wahrnehmen, ist in der Stressforschung dokumentiert. Etliche meiner Patienten hatten erst in der Psychoanalyse, während des Wiederlebens traumatischer Ereignisse die Fähigkeit erlangt, ihre damaligen Ängste zu spüren. Insofern konnte ich Fräulein Engels Aussagen gut nachvollziehen.

»Es war mir wirklich gelungen, diesen Unglückstag vollständig aus meinem Gedächtnis zu verbannen. Diesen Tag, diese Frau, die Abtreibung hatte es nie gegeben. Doch es sollte anders kommen«, fuhr Fräulein Engel fort.

»Ende September 1938 klopfte es abends am Hintereingang, es war schon dunkel. Vor mir stand ein junges Paar mit zwei kleinen Kindern, das behauptete, aus Böhmen zu kommen und auf der Flucht vor den Nazis zu sein. Die Frau sei von SA-Männern vergewaltigt und dabei geschwängert worden. Das Kind könne sie auf keinen Fall austragen. Ich fragte erst gar nicht, woher sie meine Adresse hatte und machte mich an die ›Arbeit‹, nachdem ich den Mann mit den Kindern fortgeschickt hatte. Zeugen wollte ich nicht dabeihaben. Auch diesmal war es so, dass ich mechanisch vorging, sorgfältig auf Hygiene achtete und sämtliche Gefühle auszublenden versuchte. Doch meine Patientin machte es mir schwer: Bevor ich ihr die Äthermaske überstülpte, weinte und jammerte sie, bat das Kind, das nie zu Welt kommen sollte, um Verzeihung. Während ich den Abbruch vornahm, fühlte ich mich wie eine Mörderin. Die Tatsache, dass ich nicht nur der jungen Frau, sondern der ganzen Familie und schließlich auch dem ungeborenen Kind half, hätte ich beinahe aus den Augen verloren. Schließlich fragte ich mich, welche Chancen denn dieses Kind, dessen Existenz aus einer Vergewaltigung rührte, hätte und kam zu dem Schluss, dass ich tun musste, was von mir erwartet wurde.«

»Und Ihre Mutter schlief derweil im Nebenzimmer? Befürchteten Sie nicht, sie könnte etwas bemerken?«

»Die Multiple Sklerose meiner Mutter war damals schon stark fortgeschritten. Es waren nicht nur die Lähmungen und Schmerzen, die ihr das Leben zur Hölle machten, sondern auch die Depressionen. Abends verabreichte ich ihr eine Spritze mit Schmerz- und Schlafmittel. Daher konnte ich sicher sein, dass sie die Besucher nicht bemerkte. Am Morgen brachte ich Mutter das Frühstück ans Bett und fuhr anschließend zur Arbeit.«

»Der Weg in die Stadt war ja ziemlich weit, wie sind Sie denn überhaupt ins Krankenhaus gekommen? Fuhr damals eine Straßenbahn?« Mir wurde bewusst, dass ich über den Alltag der dreißiger Jahre keinerlei Informationen besaß. Weder Mutter noch Großmutter hatten davon erzählt.

»Ich fuhr mit dem Auto.«

»Sie hatten damals schon ein Auto? War das nicht ungewöhnlich?«

»Mein Vater war in Autos vernarrt. Ich war gerade achtzehn, als er mir das erste ›Automobil‹ schenkte, einen Peugeot mit dem ich vor allem im Krankenhaus Aufsehen erregte. Stell‘ dir vor, da fuhr ich als Schwester mit einem Auto vor, während die Ärzte mit dem Fahrrad angeradelt kamen.«

»Was geschah dann mit der Frau und ihrer Familie?«, fragte ich, um das Thema wieder aufzugreifen.

»Am folgenden Tag, nach einer grauenvollen, durchwachten Nacht, brachte ich sie mit dem Auto zum Bahnhof, wo sie ihre Familie traf. Sie wollten nach Antwerpen. Dort hofften sie, das Affidavit für ihre Einreise in die USA vorzufinden. Ich weiß nicht mehr, ob es purer Leichtsinn war, die Frau in meinem Wagen – man fiel ja auf als Frau mit einem Auto – zu fahren, oder ob mich der Wunsch, sie möge endlich verschwinden, dazu getrieben hatte. Diese Nacht konnte ich nicht mehr verdrängen. Wir hatten beide kein Auge zugemacht, die Frau weinte unentwegt und ich fürchtete Komplikationen. Jede Stunde maß ich ihre Temperatur, aber sie fieberte nicht. Ein Schlafmittel konnte ich ihr nicht verabreichen, denn wir mussten das Haus verlassen, bevor unsere Haushaltshilfe eintraf. Ich schwor mir, nie wieder einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen.«

»Aber zu der Zeit gehörte das Gebiet ja noch zu Belgien, wieso galt es denn als leichtsinnig, diese Frau zum Bahnhof zu bringen? Was ist geschehen?«

»Leichtsinnig war es, mich mit fremden Menschen in der Öffentlichkeit zu zeigen. Hier wurde alles registriert, was außerhalb des Üblichen passierte, die Leute waren neugierig, sie erlebten ja nichts. Immer der gleiche Trott, von Montag bis Samstag gingen sie zur Arbeit, sonntags in die Kirche. Alles was außer der Reihe geschah, bot Anlass zu Klatsch und Tratsch.

Mir war damals noch nicht bewusst, dass es auch hier Leute gab, die geradezu darauf warteten, ›heim ins Reich‹ geholt zu werden, oder Neider, denen berufstätige und Auto fahrende Frauen ein Dorn im Auge waren. Ich wurde erst hellhörig, als mich die Frau des Bäckers beim Einkaufen fragte: ›Wen hast du denn vorige Woche zum Bahnhof gebracht?‹ Ich musste mir schnell eine Ausrede ausdenken und gab an, es sei meine Cousine aus Lüttich gewesen.«