Lea Rose - Maryanne Becker - E-Book

Lea Rose E-Book

Maryanne Becker

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Beschreibung

Lea Rose, Tochter der ostbelgischen Flickschneiderin Anna und des früh verstorbenen Berliner Juden Leo Rosenzweig erfährt erst spät von ihrer halbjüdischen Herkunft, die während des Nationalsozialismus verheimlicht wurde. In der Oberschule lernt sie Danielle kennen, eine in Belgien geborene Jüdin, deren Mutter und Großmutter den Holocaust nicht überlebten. Vorn ihr erfährt sie viele, was sie zu Hause bestenfalls als Andeutungen erfuhr. Der Adoptivvater Arthur, Bruder ihres verstorbenen Vaters fordert die Herausgabe jüdischen Eigentums in der Eifel ein. Ein Jahr darf Lea Rose in Texas, der Heimat ihrer Großtante verbringen, wo sie auf ihre große Liebe trifft. Statt sich dem Willen des Adoptivvaters zu beugen und das Familienunternehmen in Amerika zu leiten, wählt sie die Unabhängigkeit und einen für damalige Zeiten unüblichen Beruf.

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Maryanne Becker, Jahrgang 1952, ist in Belgien geboren und aufgewachsen. Seit vielen Jahren lebt sie in Berlin, wo sie Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaften studiert hat. Sie schreibt Romane, Sachbücher und Kurzgeschichten.

www.maryanne-becker.de

Für Melon

Inhaltsverzeichnis

Ein Dorf in Ostbelgien im Jahr 2000

Ostbelgien 1946

Ostbelgien 1950

Backfischjahre

Amerika: New York 1954

Amerika: Texas 1954–1955

Cotton Fields, Galveston, Bolivar Island

Austin

Wieder zu Hause in Ostbelgien – 1955

Marlene

Mein besonderer Weg

Narben der Geschichte

Ein Dorf in Ostbelgien im Jahr 2000

Marlene: Lea Roses Geburtstag

Die Damen saßen rings um den mit weißem Damast gedeckten Kaffeetisch, hielten die Tässchen vornehm zwischen Daumen und Zeigefinger, nippten an den Champagnerkelchen und führten erlesene Petits-Fours zum Mund.

»Ach, früher …«, vernahm ich einen Gesprächsfetzen in der Küche, wo ich die dritte Kanne Kaffee aufbrühte. Leider übertönte das Blubbern des kochenden Wassers die Unterhaltung im Salon.

Lea Rose, meine Mutter, hatte mich gebeten, die kleine Feier zu ihrem vierundsechzigsten Wiegenfest auszurichten. Sie liebte das Besondere, das Bewährte hatte sie schon immer abgelehnt. Ihren ersten Geburtstag im neuen Jahrtausend galt es, besonders zu feiern. Sie hatte ein paar Jugendfreundinnen eingeladen, die sie, bis auf Danielle, seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte. Einige von ihnen kannte ich genauso gut oder schlecht, wie ich meine Mutter kannte. Die Damen hielten mit ihrem Geplauder inne, wenn ich den Salon betrat, um Kaffee oder ein Glas des eigens aus Frankreich herangeschafften Champagners nachzuschenken. Ich hätte mich wie ein Dienstmädchen in meinem eigenen Haus fühlen können, stattdessen beobachtete ich fasziniert das scheinbar vornehm-zurückhaltende Gebaren der kleinen Gesellschaft und bemühte mich, mit gleichgültigem Gesichtsausdruck jedes Wort zu verstehen.

Ich war mir unsicher, ob ich Mutters Bitte, ihre Feier im intimen Kreis – wie sie die Runde bezeichnete – in meinem Haus auszurichten, als Ehre empfinden sollte, oder ob sie einfach ihrer Gewohnheit geschuldet war, andere für sich einzuspannen. Sie hätte ihre Gäste genauso gut in eine noble Konditorei einladen können. Möglicherweise waren die kleinen Cafés im Dorf jedoch nicht fein genug.

Sobald ich keinen Vorwand mehr fand, mich um die Gäste zu kümmern, achtete ich darauf, die Tür einen Spalt breit offen zu lassen, damit ich von der Küche aus dem Gespräch folgen konnte. Mich interessierte das Getuschel der Frauen brennend! Wären es keine Geheimnisse gewesen, die sie da austauschten, hätten sie nicht jedes Mal die Stimme senken müssen, wenn ich das Esszimmer betrat. Zu gerne wollte ich erfahren, was für ein Mensch meine Mutter war, was sich hinter dieser eleganten, weltläufigen und dominanten Fassade verbarg.

Meine Großeltern, Anna und Arthur, hatten mich hingebungsvoll aufgezogen, während Lea Rose mir zwar gelegentlich ihre abgöttische Mutterliebe versicherte, aber auswärts arbeiten musste, wie sie ihre Abwesenheit begründete.

»Reden oder schweigen? Wie war das bei euren Müttern?« Ich wusste nicht, wer diese Frage gestellt hatte, und war enttäuscht, als nur ein unverständliches Gemurmel zu mir herüberdrang.

»Und ihr? Wie habt ihr euch entschieden?«, vernahm ich Lea Roses hektische Stimme. Niemand schien zu antworten, vor meinem geistigen Auge sah ich ein kollektives Schulterzucken.

Ohne mich weiter um das Geschirr zu kümmern, machte ich es mir auf einem Küchenstuhl bequem, goss mir ein Glas Champagner ein und lauschte dem Hörspiel aus dem Salon. Es ging um Liebe, Enttäuschungen, Affären. Es ging um die Weltkriege und ihre Folgen, um Täter und Opfer. Puzzleteile von Familiengeschichten und Geheimnissen.

Ich saß mit halbgeschlossenen Augen neben der offenen Küchentür, als meine Mutter hereinstürmte: »Wo bleibt der Champagner? Was ist denn mit dir? Du wirst doch heute nicht krank werden!«

Ich wies auf die geöffnete Flasche. »Willst du nicht den Champagner einschenken und auf mein Wohl anstoßen?«, fragte Mama.

Mit vierundvierzig Jahren war ich immer noch das brave Mädchen, das tat, wie ihm geheißen wurde. Wie in Trance erhob ich mich, nahm die Flasche und stammelte: »Es gibt so vieles, was mir unter den Nägeln brennt, ich möchte gern wissen, was früher war.«

Meine Furcht, Mutter könnte verärgert sein, erwies sich als unbegründet. Sie war bester Laune und bot mir einen Platz an ihrer Seite an. Ich blieb auf der Hut. »Bei Lea Rose weiß man nie …« Großmutters Worte, ihr Bemühen, mich zu trösten, wenn meine Mutter wieder einmal ihr Versprechen nicht gehalten hatte. Ein Warnsignal, das sich wie ein Werbespot blitzartig in mein Hirn keilte und jede aufkommende Freude im Keim erstickte.

Das benutzte Geschirr hatte Mutter auf der Anrichte gestapelt und saubere Champagnergläser eigenhändig aus der Vitrine genommen und auf den Tisch gestellt. Niemals hätte ein Glas ein zweites Mal benutzt werden dürfen.

Nach einer Weile ebbte die Unterhaltung ab, Mutters Freundinnen erschienen mir ein wenig erschöpft, möglicherweise hatten sie über das Maß hinaus dem Champagner zugesprochen und leichtsinnigerweise zu viele Familiengeheimnisse preisgegeben.

»Trinken wir zum Abschluss auf unser aller Wohl, habt Dank für die langjährige Verbundenheit und für euren Besuch. Den Rest des Abends möchte ich mich Marlene, meiner hübschen Tochter, widmen, es gibt vieles zu erzählen.«

Die Sonne stand tief am Horizont, Mutter und ich hatten uns ins Wohnzimmer zurückgezogen und uns auf der gemütlichen Couch niedergelassen. Sie hatte die dicken roten Samtvorhänge zugezogen, das elektrische Licht ausgeschaltet und Kerzen angezündet. Trotz der behaglichen Atmosphäre spürte ich, dass sich kalter Schweiß auf meiner Stirn ausbreitete. Einen Moment lang überlegte ich, hinauszulaufen, die Wohnzimmertür von außen zu verschließen und mich bei Oma zu verkriechen. Mein Verstand hielt mich zurück, diese kleine Chance durfte ich mir nicht entgehen lassen, vielleicht würde Mutter doch von sich erzählen, mir die so lange ersehnten Antworten geben.

Als ich den alten Gläserschrank öffnen wollte, den mein Ururgroßvater gezimmert und seiner Tochter Fina als Mitgift mit in die Ehe gegeben hatte, schüttelte Mutter den Kopf: »Lass uns lieber eine Kanne Kräutertee kochen, für den Rest des Abends sollten wir einen klaren Kopf behalten.«

Noch während ich meine Mutter erwartungsvoll ansah und meine Lust auf ein Glas Rotwein zügelte, begann sie zu reden.

»Dir brennen Fragen unter den Nägeln. Hör mir zu, ich will dir keine Antwort schuldig bleiben.« Mutters Stimme klang weich und warm, ihre Augen flackerten, als kämpfte sie gegen Lampenfieber.

Mit angezogenen Beinen und halbgeschlossenen Augen saß sie auf dem Sofa. Aus ihrem Mund sprudelten die Worte, als lösten sie sich aus einem fertigen Manuskript von ihrer Seele. Sie sprach ohne Unterlass, leise und fein akzentuiert.

Früh um fünf, die Sonne lugte gemächlich in den neuen Tag hinein, krochen Mama und ich ebenso aufgekratzt wie erschöpft in unsere Betten. Ihr Leben lag vor mir wie ein Buch, dessen Siegel der Entschlüsselung harrten.

Ostbelgien 1946

Es war kalt geworden in unserem Haus seit Großmutters Tod. Es waren nicht allein die arktischen Temperaturen des Winters neunzehnhundertsechsundvierzig, vor denen unser alter Ofen kapitulierte und die Eisblumen auf den Fensterscheiben wachsen ließen, die jeden Blick nach draußen verwehrten. Großmutters Wärme fehlte, und Anna, meine Mutter, vermochte dieses Vakuum weder mit dem Schürhaken noch mit ihrer Geschäftigkeit zu füllen. Ich weiß nicht, ob Wind und Kälte durch die Mauerritzen drangen und die Glut am Entfachen hinderten, oder ob das Zetern und Kreischen von Mamas Schwestern dazu führten, dass die zu Großmutters Lebzeiten stets vorhandene Behaglichkeit plötzlich einer eisigen Atmosphäre gewichen war.

Für immer in meinem Gedächtnis eingegraben waren die Jahre in der kalten Wohn- und Arbeitsküche, deren Fensterchen nur ein spärliches Licht hineinließen. Mutter und Großmutter saßen gekrümmt an den ratternden Nähmaschinen, Stoffberge türmten sich und über allem lag der Geruch von aufgewärmter Kohlsuppe.

Ich schloss meine Augen und tauchte ab in jene Zeit, deren Schatten sich in Mamas Züge gegraben hatten. Und dennoch, diese Vertrautheit, dieses Gefühl von Geborgenheit als ich Mamas Löwenjunges, Omas Augapfel und Tante Marthas Herzenskind war, gehörten ins Schatzkästchen der Erinnerung.

Mama saß in den Mantel gehüllt an der Nähmaschine, nahezu unfähig, den Stoff unter die Nadel zu führen, denn schon nach wenigen Minuten waren ihre Hände blau gefroren, sodass sie die Arbeit beiseitelegen musste. In der Küche lief sie auf und ab, drei Schritte hin, drei Schritte zurück, um nicht vollends zu erstarren.

Einziger Lichtblick in diesen verstörenden Tagen war Onkel Arthur, der amerikanische Offizier. Der Krieg war noch nicht zu Ende gewesen, als er bei uns auftauchte. Ich war noch ein kleines Mädchen, als ich in Mamas Gesichtsausdruck erkannte, dass sie wusste, wer dieser Fremde war. Ihre weit aufgerissenen Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen und ihre freudig lächelnden Lippen verschlossen sich zu einem schmalen Strich, als ihre Blicke sich trafen. Offensichtlich hatte sie sofort gespürt, dass er gekommen war, um ihre banges Fünkchen Hoffnung gegen die traurige Gewissheit zu tauschen. Leo, mein Vater, war tot.

Damals wusste ich nur, dass mein Vater vor meiner Geburt gestorben war, nichts weiter. Onkel Arthur war sein Bruder. Dass er der einzige Überlebende der Familie war, sollte ich erst viel später erfahren. Arthur hatte Anfang der Dreißigerjahre eine Stelle in New York angetreten, sodass er außer Reichweite der Nazis war. Gegen den Willen der Eltern hatte Arthur sich nicht auflehnen können, er war gezwungen, seinen Bruder, der sich gerade erst mit Mama verlobt hatte, nach Amerika mitzunehmen. Die für seine Berliner Verlobte gebuchte und bezahlte Schiffspassage musste er an seinen Bruder abtreten. Wir erfuhren, dass Leo plötzlich an einer unheilbaren Krankheit verstorben war, kurz nachdem er amerikanischen Boden betreten hatte. Mama erinnerte sich an Leos starke Kopfschmerzen während der letzten gemeinsamen Tage.

Unsere kleine Familie war völlig durcheinander seit Arthurs Ankunft. Oma war inzwischen nahezu blind. Sie hatte aufgehört, die Welt verstehen zu wollen. Der Krieg hatte ein zweites Mal alles, woran sie glaubte, erschüttert. Die Töchter waren zerstritten, im Dorf konnte man einander – genau wie 1919 – nicht vertrauen. Und nun stand zu allem Überfluss ein Deutsch sprechender Amerikaner im Haus, der Mamas Nähe suchte.

Mama weinte heimlich. Abends, wenn wir im Bett lagen und sie mich schlafend wähnte, hörte ich sie schluchzen. Arthur gegenüber zeigte sie sich freundlich und dankbar, dass er sie von der quälenden Ungewissheit erlöst hatte. Aber seinen Bruder, Leo, hatte sie geliebt.

Onkel Arthur versprach Mama von Anfang an, dass ihre und meine Zukunft gesichert seien. Leo, mein Vater, der nie erfahren hatte, dass seine und Mamas Liebesnacht nicht folgenlos geblieben war, habe Arthur in seinen letzten Stunden das Versprechen abgenommen, für Mama zu sorgen und sie um Verzeihung zu bitten.

Doch Anna, meine Mama, war es nicht gewohnt, dass sich jemand um sie kümmerte und ihr Ratschläge erteilte. Ungebetene Ratschläge, wie sie nicht aufhörte, zu betonen.

Sie war nicht die Einzige gewesen, die sich vergeblich an Hoffnungen geklammert und dem Wunsch nach Gewissheit nur einen winzigen Platz im hintersten Winkel ihres Herzens eingeräumt hatte. Wie sie hofften und bangten zu jener Zeit Unzählige, deren Liebste vermisst oder gefangen waren, oder als Flüchtlinge irgendwo im Nirgendwo steckten. Und dann gab es jene, mit ansehen mussten, wie ihre Angehörigen ins Gas geschickt wurden, während sie selbst knapp dem Tod im Lager entrannen und zerfressen an Leib und Seele heimatlos erneut auf der Suche nach einem rettenden Ort umherirrten. Zu jener Zeit wusste ich nichts darüber.

Ich muss gestehen, dass ich damals – als Zehnjährige – nicht genau verstand, worum es ging, als meine beiden Tanten wenige Stunden nach Großmutters letztem Atemzug auftauchten und herumschrien. Ebenso wenig verstand ich, was Mama und Onkel Arthur besprachen.

Die beiden redeten immer abends, wenn sie mich schlafend wähnten. Da stand ich, vor Kälte zitternd, die Bettdecke um die Schultern geschlungen, an der spaltbreit geöffneten Tür und lauschte. Im Laufe der Jahre entwickelte ich mich zur Spezialistin im heimlichen Horchen.

Onkel Arthurs häufige Besuche blieben nicht unbeobachtet, zumal er seinen Jeep vor unserer Haustür parkte und damit den Nachbarn Anlass zu Spekulationen lieferte. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, Mama sei ein Amiliebchen. Ein Glück, dass ihnen der Blick in unsere Töpfe verwehrt blieb. Denn wir waren bestens mit amerikanischen Leckereien ausgestattet, und mit Neid ließen sich alte Geschichten aufkochen.

In jenen Tagen war ich als Freundin begehrt, verfügte ich doch über Unmengen Chewinggum, Popcorn und Schokolade. Hin und wieder stibitzte ich ein paar Tuben Milch, die wir Kinder aussaugten, oder auch eine Dose Corned Beef aus dem Vorratsschrank.

Mama hielt nicht viel von Onkel Arthurs Bemühungen, sie wollte endlich wieder schneidern, eigene Entwürfe realisieren, und seien es nur alte Soldatenmäntel, die sie zu Damenkostümen oder Kinderkleidung umarbeitete.

Ostbelgien 1950

Inzwischen war ich fünfzehn, lümmelte auf der Anrichte unserer amerikanischen Küche, ließ die Beine baumeln und sah aus dem Fenster.

Wie üblich arbeitete Mama wieder bis zum Einbruch der Dunkelheit im Atelier, sodass ich ungestört nachdenken konnte. Sie ertrug nicht, dass ich herumsaß und Löcher in die Luft starrte. Fasziniert von den heimlich gelesenen Tagebüchern meiner längst verstorbenen Tante Maria, die als Nonne im Kongo missioniert hatte, wollte ich es ihr gleichtun und meine Erlebnisse niederschreiben. Ich fragte mich, an welchem Punkt ich ansetzen sollte und verbrachte Stunden und Tage damit, über meine Kindheit zu sinnieren.

Mama hockte im Atelier an der Nähmaschine. Onkel Arthur, den ich seit der Hochzeit Dad nannte, war unterwegs und ich konnte meine Gedanken ungestört schweifen lassen. Ob es der trübe Novembernebel war, der die Erinnerung an jenen schicksalhaften Winter hervorrief, oder ob mich wieder dieser schwarze Mantel umhüllte, in dessen großen Taschen die Ungereimtheiten meines kleinen Lebens steckten, wusste ich nicht.

Vor meinem inneren Auge tauchten meine Tanten Elisabeth und Johanna auf, wie sie Mama anfuhren: »Sieh zu, dass du fortkommst mit deinem Ami und dem Nazibalg! Du pickst dir immer die Perlen heraus.« Ich konnte mir keinen Reim auf die Vorwürfe der Tanten machen. Mama starrte auf den Küchentisch, wo die Großmutter mit dem Rosenkranz in den gefalteten Händen aufgebahrt lag.

»Sie ist noch warm. Schämt ihr euch nicht?« In Mamas Augen standen Tränen. Mein unbändiger Wunsch, die Großmutter ein letztes Mal zu umarmen, ergriff erneut Besitz von mir. So, als könnte ich jenes Versäumnis nachholen.

Es muss kurz nach der Beerdigung gewesen sein, als Onkel Arthurs eindringliche Stimme in meine Ohren drang. Ich verließ das Bett und bezog meinen Lauschposten hinter der Schlafzimmertür.

»Anna, ich bitte dich, werde meine Frau. Ich erwarte nichts von dir. Nur so kann ich Leos Vermögen auf dich und euer Kind überschreiben. Verzichte auf dein elterliches Erbteil – sollen deine Schwestern mit dem alten Häuschen machen, was sie für richtig halten – und lass uns gemeinsam eine neue Existenz aufbauen.«

Ich vernahm Mamas Schluchzen, ihr wiederholtes »Nein, nein, nein.«

Stille! Ich war gerade im Begriff, meinen Lauschposten zu verlassen und ins warme Bett zurückzukehren, als ich Mamas – inzwischen deutlich leisere Stimme – vernahm. »Ich habe noch nie viel Geld besessen und bin gewohnt, für meinen Lebensunterhalt zu arbeiten.«

»Indem du darauf wartest, dass die Leute dir ihre zerschlissenen Sachen zum Flicken bringen? Und du bis zum Einbruch der Dunkelheit an der Nähmaschine sitzt – sofern überhaupt Aufträge eingehen? Willst du dein Kind mit vierzehn in die Fabrik schicken, weil das Schulgeld fehlt?« Onkel Arthurs Stimme klang gepresst, so, als wollte er seinen Ärger unterdrücken.

Meine Mutter unterschied sich nicht von den anderen einfachen Menschen in unserer Gegend: Statt die Gunst der Stunde zu nutzen und strategisch zu handeln, reagierte sie im Schneckentempo und übervorsichtig auf neue Entwicklungen. Ich fand sie bockig, ein Verhalten, das sie mir nur allzu oft vorwarf.

Ich wagte, die Tür einen Spalt breit zu öffnen, und sah, wie Mama mit den Achseln zuckte: »Gewiss, Lea sollte es einmal besser haben.«

»Es ist deine verdammte Pflicht, die Erbschaft anzunehmen und die Zukunft deines Kindes zu sichern, begreife doch endlich!«

Auf Onkel Arthurs Stirn zeichnete sich eine tiefe Falte ab. Leise schloss ich die Tür und auf Zehenspitzen zurück.

Als Mama endlich zugestimmt hatte und mir von den, wie sie sagte, »bevorstehenden Änderungen« berichtete, sah ich sie vor meinem geistigen Auge als wunderschöne Braut in einem bodenlangen, weißen Kleid mit Schleppe und Schleier vor dem blumengeschmückten Altar unserer Kirche knien. Hinter ihr stand ich als Brautjungfer im weitschwingenden Tüllkleid, mit einem rosa Blütenkranz im Haar und einem Körbchen voller roter Rosenblüten. Wie ein Film schob sich eine weitere Szene in meinen Tagtraum. Im neuen Haus würde ich ein eigenes Zimmer haben, darin ein weißes Himmelbett, ein Bett, in dem ich nie wieder frieren und im Backofen erwärmte, in Lumpen gewickelte Ziegelsteine zwischen meinen eiskalten Füßen und bis zu den Waden hin und her schieben musste. Die Zentralheizung würde mich von allem Unglück erlösen.

Begeistert nickte ich mit dem Kopf und sprudelte los:

»Das muss ich gleich in der Klasse erzählen!«

»Gar nichts wirst du erzählen! Das Aufgebot ist bestellt, die Pläne für den Hausbau liegen beim Architekten – und du hältst den Mund.«

»Die Hochzeit, Mama, wo …?«

Mama erklärte mir kurz und bündig, dass es keine Feier und erst recht keine kirchliche Trauung geben würde. »Arthur ist ein anständiger Mann, wir müssen zufrieden sein. Abgesehen davon würde kein katholischer Priester einer ledigen Mutter und einem Juden seinen Segen erteilen!«

Arthur, der dem Gespräch bisher schweigend gefolgt war, mischte sich zähneknirschend ein: »Selbst, wenn ein Priester dazu bereit wäre, könnte ich mich und mein Lebensglück nicht einer Institution anvertrauen, die so viel Schuld auf sich geladen und sich den marodierenden Nazis nicht eindeutig entgegengestellt hat.«

Schon wieder stand ich mit offenem Mund und angsterfüllten Augen vor meinem zukünftigen Stiefvater. »Warum bist du Jude, was bedeutet das überhaupt?« Arthur räusperte sich und wollte zu einer Erklärung ansetzen, da schnitt Mama ihm das Wort ab: »Juden sind nicht katholisch, sie haben eine eigene Religion. In unserer Kirche werden nur Katholiken getraut.«

Dass Arthur als Amerikaner die Nazis bekämpft hatte, wusste ich, aber dass er selbst keine kirchliche Hochzeit mit Glockengeläut, feierlichem Blumenschmuck und weißgekleideter Braut wollte, wenn unser Pastor für ihn eine Ausnahme machen würde, ging mir doch gegen den Strich.

Ich war abgrundtief enttäuscht. Im Kino hatte ich Die große Liebe gesehen und wusste, wie Verliebte einander anschmachteten. Ich konnte mich gut daran erinnern, weil Oma ein Riesentheater veranstaltet hatte, als Mama mit mir nach Aachen ins Kino gefahren war. »Mitten im Krieg, du versündigst dich!«, hatte sie geschrien.

Mama war aufgeregt in Anbetracht der bevorstehenden Veränderungen. Von Verliebtheit jedoch keine Spur. Wenn es etwas gab, was ihre Begeisterung hervorrief, dann war es die Aussicht auf ein eigenes Atelier.

Bald nach seinem Auftauchen bei uns hatte Dad begonnen, mit mir Englisch zu sprechen. Mir gefiel das, zumal viele amerikanische Soldaten in der Gegend waren und wir Kinder sie gerne um Naschwerk anbettelten. Es musste niemand wissen, dass wir zu Hause bestens damit ausgestattet waren. Dad erkannte mein Interesse und meldete mich unverzüglich bei Mrs. Smith zum Privatunterricht an: Jeden Mittwochnachmittag galt es nun nach der Schule, den zusätzlichen Unterricht zu besuchen. Mrs. Smith war die Witwe eines englischen Professors und hatte bis zu dessen Tod in England gelebt. Einerseits fühlte ich mich privilegiert und das Lernen bereitete mir Freude, andererseits hätte ich gerne die schulfreien Nachmittage genossen.

Um den Familiennamen meiner Eltern, Rosenzweig, tragen zu können, musste Dad mich adoptieren. Mama fragte mich, ob ich einverstanden sei und versprach, alles beim Alten zu lassen, falls ich Einwände erheben würde. Ich war begeistert, erhoffte ich mir doch die äußere Bestätigung, endlich ein ganz normales Kind, ein Kind wie alle anderen, zu sein, und den Namen des Vaters zu tragen. Kein Strich mehr da, wo der Name des Vaters eingetragen werden sollte! Der Schamstrich! Jedes Mal, wenn ich mich früher deswegen bei Mama beschwerte, zog sie die Stirn kraus, zupfte unwirsch am nächstbesten Stück Stoff und flüsterte: »Hör auf, unzufrieden zu sein. So ein Strich kann Leben retten.«

»Der Zeitpunkt ist günstig, nach den Ferien wechselst du ohnehin die Schule. Dort kennt dich und deinen bisherigen Familiennamen niemand.« Dad verstand es, seine Vorstellungen vor einem sinnvollen und praktischen Hintergrund zu präsentieren. Dass es hier auch um Recht, Erbschaft und Vermögen ging, ahnte ich nicht.

Im Juni 1947 wurde ich eine Rosenzweig, bekam einen Vater, den ich Dad nannte, und eine neue Geburtsurkunde.

Erst viel später würde ich die große Not unserer Familie nach Großvaters Tod verstehen, die nur durch das zähe Ringen meiner Großmutter, ihren und Mamas Fleiß und Stolz in erträglichen Grenzen gehalten wurde. Und noch später erkannte ich das Ausmaß von Dads Entscheidung, sein Leben in Amerika für uns aufzugeben.

Es war Dad, der über meine Schullaufbahn entschied. Für Mama gab es nichts Schöneres als das Schneidern und Entwerfen modischer Damengarderobe. Dass ich nicht in ihre Fußstapfen treten wollte, wäre ihr nie eingefallen. Wann immer Erwachsene mich mit ihren Fragen nach meinen Zukunftsvorstellungen – was willst du später werden? – behelligten, wusste ich nur eine Antwort: »Ganz bestimmt nicht Schneiderin.«

»Wir werden Lea auf der Oberschule in Verviers anmelden. Ein junger Mensch muss heutzutage in der Lage sein, überall auf der Welt seine Zelte aufzuschlagen«, bestimmte Dad. Mamas fragender Blick feuerte ihn an. »Lea Rose wird in die Lateinklasse gehen, das Abitur machen und später studieren.«

Er sprach ruhig und ernst. Mama schüttelte den Kopf, als hätte sie gerade einen seltsamen Witz gehört. »Warum soll sie Latein lernen? Zum Schneidern braucht sie Augenmaß, Präzision und Geduld.«

Dass ich gar nicht gefragt worden war, ärgerte mich. Hielten mich meine Eltern für zu jung, dass sie sich nicht nach meinen Wünschen und Plänen erkundigten? Dass ich mich widerstandslos auf diese Schule schicken ließ, lag daran, dass ich keine Ahnung hatte, welches Lernpensum mir bevorstand. Vermutlich wäre ein Protest ohnehin zwecklos gewesen, denn Dad setzte seine Vorstellungen durch. Grundsätzlich und immer! Nur gut, dass er hin und wieder für einige Wochen nach Amerika flog, um seinen Geschäften nachzugehen. In dieser Zeit genoss ich es, mich bei jeder Kleinigkeit gegen Mama aufzulehnen.

»Lea Rose ist faul, sie würde das nie schaffen«, wandte Mama ein. Mama hatte Recht, einerseits. Ich war tatsächlich faul. Allein aus Opposition gegen meine Mutter nahm ich mir fest vor, meinen inneren Schweinehund zu überwinden und fleißig zu lernen.

Gemeinsam fuhren wir zur Anmeldung an der Oberschule in die Stadt. Ein Blick auf mein Zeugnis genügte, um ein Runzeln auf der Stirn des Direktors entstehen ließen. »In die Lateinklasse?«, fragte er ohne Umschweife.

»Ja, meine Tochter wird die Lateinklasse besuchen.« Dad nickte bedächtig mit dem Kopf und zückte seinen amerikanischen Pass, der ihn als Colonel der US-Army auswies.

»Selbstverständlich, Dr. Rosenzweig.« So ein Speichellecker, dieser Mann!

Diesmal war ich ausgesprochen dankbar, dass der Direktor mich nicht nach meinen Vorstellungen fragte. Ich schämte mich ein bisschen, dass Dad so respektlos mit ihm umgesprungen war. Niemals hätte Mama so etwas gemacht. Und ich war nun gezwungen, auf Teufel komm raus gute Leistungen in der Schule zu erbringen.

Zur Feier des Tages führte Dad uns in die beste Konditorei der Stadt, wo meine Eltern sich belgischen Filterkaffee und Sahnetorte bestellten, während ich mir einen Eisbecher aussuchen durfte. Mama schien es die Sprache verschlagen zu haben – sie meckerte nicht einmal über die Verschwendung und die verlorenen Arbeitsstunden.

In den großen Ferien fuhren wir ein paar Tage ans Meer. Nach der Ankunft kauften wir Badekleidung und Strohmatten, damit wir es den anderen Müßiggängern gleichtun und uns im weißen Sand niederlassen konnten. Dad hatte vorsorglich einen Picknick-Korb mit Obst, Brot und Limonade gepackt.

Mama rutschte unruhig hin und her, als wollte sie mit dem Hintern eine Kuhle buddeln, um bequemer zu sitzen. Ich wagte ein Grinsen, wusste ich doch, dass meine Mutter sich ständig beschäftigen musste. Dad grinste ebenfalls, zog den Beutel mit den Handtüchern zu sich heran und angelte aus seinen Tiefen ein Wollknäuel und ein paar Stricknadeln hervor. Mama strahlte. Sie war von der Untätigkeit erlöst.

Dad und ich räkelten uns im Sand, lauschten dem Brausen der Nordseewellen und rätselten, wie weit die Linie, die den Horizont vom Meer trennte, entfernt sein mochte. Das Klappern der Stricknadeln ging im Meeresrauschen unter.

»Komm ins Wasser!« Dad nahm meine Hand und zog mich hoch. »Ins Meer???«, stotterte ich. »Ich kann nicht schwimmen.« Dad lachte. »Das werden wir jetzt ändern, komm.«

Die Sommerferien waren viel zu schnell vergangen. Dad und Mama begleiteten mich am ersten Tag zur neuen Schule. Dad zeigte sich enttäuscht, weil unseretwegen kein Aufhebens gemacht wurde. In Amerika würden die Schüler am ersten High-School-Tag festlich empfangen, erzählte er. Aufgeregt und gespannt gesellte ich mich zu den in Zweierreihen Wartenden, nachdem mich ein streng blickender Lehrer im grauen Kittel dorthin geführt hatte.

Die Lateinklasse erwies sich als diejenige mit den wenigsten Schülern und Schülerinnen. Ich zählte außer mir fünf Mädchen und zwölf Jungen. Dass die Anforderungen meine schlimmsten Befürchtungen überstiegen, merkte ich schon in den ersten Wochen. Selbst die Mädchen und Jungen, die mit Bestnoten aus der Volksschule gekommen waren, stöhnten. Dad hatte mich gemahnt, strukturiert vorzugehen und so lange zu lesen und zu üben, bis ich die Aufgaben im Schlaf erledigen konnte. Ich wagte nicht, in das Lamento der Mitschülerinnen einzustimmen, sondern verhielt mich still, um nicht aufzufallen.

Dass ich den freien Mittwochnachmittag mit privatem Englischunterricht bei Mrs. Smith verbringen musste, hatte mich anfangs gewurmt. Bald erfuhr ich jedoch, dass den meisten anderen in meiner Klasse ebenfalls Verpflichtungen auferlegt waren. Sie nahmen Klavierstunden, probten im Kirchenchor oder gingen zum Ballett- oder Reitunterricht.

Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, als ich begriff, was Dad unter strukturierter Vorgehensweise verstand. Die englische Grammatik war simpel im Vergleich zu der lateinischen. Anders als meine Mitschüler, die neben die lateinischen Vokabeln die französische Übersetzung ins Schreibheft schrieben, benutzte ich ein großes Mathematikheft, in dem ich eine Tabelle mit vier Spalten anlegte und neben der lateinischen auch die englische, französische und deutsche Übersetzung eintrug. Ich entdeckte frappierende Ähnlichkeiten, die mir das Lernen erleichterten und viel Zeit sparten.

Dad nickte anerkennend mit dem Kopf, als ich ihm mein Vokabelheft zeigte: »Du bist eine echte Rosenzweig, du wirst es zu etwas bringen im Leben.«

Vor ein paar Wochen kam eine neue Schülerin in meine Klasse. Der Lehrer hatte ihr den Platz neben mir zugewiesen, woraus ich mein Recht ableitete, sie auszufragen. Mamas Mahnung, dass meine Neugier mich noch Kopf und Kragen kosten würde, blitzte nur kurz auf, ich schlug sie wie alles, was mir hinderlich erschien, in den Wind.

Danielle erwies sich als gesprächig, wobei sie mich beschwor, alles was sie mir anvertraute, für mich zu behalten.

Hätte Dad nicht hin und wieder Andeutungen gemacht, die in einer mysteriösen Weise zu dem passten, was Danielle erzählte, hätte ich sie für eine Lügnerin gehalten, eine, die sich als etwas Besonderes darstellen wollte.

»Ich bin Jüdin.« Sie stand vor mir, mit ihren ungezähmten roten Locken und sah mich unverwandt an.

Sollte ich verraten, dass ich Halbjüdin war? Ich, von der es hieß, ich sähe aus wie eine Zigeunerin mit meinem schwarzen Kraushaar. Ich entschied mich, vorerst den Mund zu halten. Dad hatte mir eingeschärft, Privates – und dazu gehörte auch die Familiengeschichte – nicht auf der Zunge zu tragen, da die Leute unter Umständen auf Juden nicht gut zu sprechen seien. Ich nahm mir vor, Danielle als Freundin zu gewinnen – und ihr später, irgendwann später, zu gestehen, dass mein Papa Jude war. Dad hatte ja schon angedeutet, dass den Juden während der Nazizeit Schreckliches angetan worden sei. Mama und Dad setzten bei derartigen Gesprächen eine Miene auf, die mir jedes Nachhaken verbot.

Als Danielle spürte, dass ich ihr vorurteilsfrei begegnete, öffnete sie mir ihr Herz. Und wieder bat sie mich inständig, ihr Vertrauen nicht zu missbrauchen und niemandem zu erzählen, was ich nun erfahren sollte.

»Du bist eine Rosenzweig«, bemerkte sie und sah mich an, als erkenne sie eine Gemeinsamkeit zwischen uns. Ja, ich wusste, dass ich einen jüdischen Namen trug – hätte aber nie geahnt, dass eine meiner Mitschülerinnen daraus meine Herkunft ableiten könnte.

Danielle erzählte: »Im Mai 1940, als die Wehrmacht in Belgien einmarschierte, haben meine Eltern mich bei fremden Leuten in Brüssel vor die Tür gesetzt und sind in den Untergrund gegangen. Ich war doch noch so klein und hatte solche Angst. Ich habe so sehr geweint, dass die Bewohner des Hauses gleich auf mich aufmerksam wurden. Dass Genossen meines Vaters mich an diese Familie vermittelt hatten, erfuhr ich erst nach Kriegsende. Sie sei jetzt meine Maman, flüsterte die Frau mir auf Französisch zu. Ich verstand kein Wort, denn meine Eltern sprachen zu Hause deutsch und in der Öffentlichkeit flämisch. Die Frau, die von nun an meine Maman war, erklärte mir auf Flämisch, dass hier in der Familie nur französisch gesprochen würde und ich nicht mit anderen Menschen reden sollte, bis ich akzentfrei französisch sprechen würde. Bis dahin würde sie behaupten, ich hätte einen Sprachfehler, der mich am Sprechen hinderte. Sie schärfte mir ein, dass ich keinerlei Zweifel daran aufkommen lassen dürfe, dass sie und ihr Mann meine leiblichen Eltern seien.

Meine Mutter war den Nazischergen bald ins Netz gegangen und die Oma auch. Sie wurden beide umgebracht. Später wurde auch Papa gefasst und nach Auschwitz deportiert. Er hat überlebt, weil er erst 1944 gefangen genommen wurde, gut genährt war und arbeiten konnte. Bis dahin hatte er der Résistance angehört und pendelte zwischen Belgien und Frankreich, wo er meist auf Bauernhöfen unterkam und mit Speck, Eiern und Kartoffeln versorgt wurde. Im Konzentrationslager musste er mit ansehen, wie die Menschen entweder sofort ins Gas geschickt wurden oder zum Schuften verdammt waren, bis sie tot umfielen. Viele starben an Krankheit und Unterernährung. Das Schlimmste ist, dass ihm heute kaum jemand glaubt.

Meine Stiefmutter, Papas neue Frau, ist hier in der Gegend aufgewachsen, deswegen sind wir hergezogen. Anfangs wäre ich lieber bei der Familie in Brüssel geblieben, aber Papa wollte mich zu sich nehmen, als er meine Stiefmutter heiratete. Möglicherweise stimmt, was Papa sagt, dass eine Stiefmutter fast so gut wie eine richtige Mutter ist.«

Noch nie in meinem Leben hatte ich so eine unglaubliche Geschichte gehört. Sie klang nach Wahrheit, für die Danielle sich schämte.

Von Auschwitz, Konzentrationslagern und ermordeten Juden hatte ich noch nie etwas erfahren. Im Krieg hatte ich mitbekommen, dass Soldaten gefallen, Zivilisten im Bombenhagel umgekommen und dass Leute sogar abgeholt worden und nie zurückgekehrt waren. Mamas beschwörende Formel »Halte den Mund, falle nicht auf und tu, was dir gesagt wird«, war mir hinter die Stirn geschrieben, seit ich denken konnte.

Ich musste mit Dad darüber sprechen. Ich musste ihn fragen. Ob ich mehr die Antworten oder die Reaktion meiner Eltern befürchtete, wusste ich nicht. Ich wollte vergessen, was mir Danielle anvertraut hatte, ich wünschte mir die Kraft, das Schreckliche ungeschehen zu machen.

Ich vermochte mich kaum auf die Hausaufgaben zu konzentrieren, die Fragen, die mich bedrängten und die ich nicht zu formulieren imstande war, lagen mir wie Wackersteine auf dem Magen. Meine Gedanken wurden belagert von unscharfen Bildern, die ähnlich einem zu schnell vorgespulten Film vor meinem geistigen Auge abliefen.

Kaum war ich eingeschlafen, suchten mich die Alben heim: Wandelnde Skelette mit kniehohen Lederstiefeln grinsten mich Knüppel schwingend boshaft an und drohten, mich durch den Schornstein zu