Fräulein Wolf und die Ehrenmänner - Gabriella Wollenhaupt - E-Book

Fräulein Wolf und die Ehrenmänner E-Book

Gabriella Wollenhaupt

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Beschreibung

Der Mordprozess Lieschen Neumann: Packender Politkrimi mit realem Hintergrund Berlin 1930: Die jüdische Reporterin Leonore »Leo« Wolf zieht in die Hauptstadt, um beim Sozialdemokratischen Pressedienst zu arbeiten. Als ein sechzehnjähriges Mädchen des Mordes an einem Uhrmacher angeklagt wird, der mit Nacktfotos von Minderjährigen Geschäfte machte, übernimmt Leo die Prozessberichterstattung. Da auch Nazis zu den Kunden des Getöteten gehörten, gerät sie schnell ins Visier der NSDAP – und die brutalen Schikanen lassen nicht lange auf sich warten. Hilfe erhält Leo durch den Verleger Valentin Winterstein, einen weltgewandten und äußerst attraktiven Mann, mit dem sie sich Hals über Kopf in eine Affäre stürzt. Doch der berüchtigte Frauenheld spielt ihr gegenüber nicht mit offenen Karten ...

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Gabriella Wollenhaupt/ Friedemann Grenz

Fräulein Wolf und die Ehrenmänner

Dieses Buch ist ein Roman. Dennoch sind viele Personen nicht frei erfunden, sondern existierten wirklich. Ihre Handlungen beruhen auf einem historischen Hintergrund. Im Anhang findet sich ein Personenverzeichnis.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Antilo (Frau/Auto), Magic Panda (Ornament), Arterfak Projekt (Rahmen)

Lektorat: Ulrike Rodi

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-89425-782-8

Gabriella Wollenhaupt war viele Jahre als Fernsehredakteurin in Dortmund tätig. Als Kriminalschriftstellerin ist sie bekannt vor allem für ihre kultigen »Grappa-Krimis«. Die schlagfertige Polizeireporterin Maria Grappa ermittelte in insgesamt dreißig Romanen und hatte 2020 ihren letzten Auftritt in Ein letzter Grappa.

Weitere, wie Fräulein Wolf und die Ehrenmänner vor allem historische Romane hat die Autorin gemeinsam mit ihrem Ehemann Friedemann Grenz verfasst. Der Literaturwissenschaftler arbeitet als freier Lektor und Autor.

Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier!

William Shakespeare, Der Sturm – The Tempest I,1 – Ariel

Feuchte Luft und mattes Licht. Eine Tür wird nur angelehnt. Ein Traum von vollen Taschen.

Der Mann riecht nach Mottenkugeln und altem Schweiß. Luise atmet durch den Mund, dann stinkt es nicht so. Ist ja das letzte Mal, dass sie hier neben ihm liegt. Hofft sie.

»Lange geht dit nich mehr, Lieschen«, sagt er. »Dann passte nich mehr rein in meine Fotomaschine. Weil du denn aufjehst wie ’ne dicke Schrippe. Dit wollen die Herrn nicht sehen.« Er greift ihr an den Busen.

»Lass dit, Fritz, mir ist blümerant«, sagt Luise und rückt von ihm ab. »Ick muss pieseln.« Sie drückt seine Hand beiseite und steigt aus dem Bett.

Er knurrt unwillig, lässt sie aber gehen.

Sie schleicht barfuß zur Tür, entriegelt sie und öffnet sie vorsichtig. Draußen ist niemand.

Mattes Laternenlicht. Die Luft ist feucht. Es hat den ganzen Tag geregnet. Eine Katze flitzt über die Straße und verschwindet im Hauseingang gegenüber.

Luise lehnt die Tür an, ohne die Wohnung zu verlassen. Sie ist aufgeregt, ihre Hände zittern. Sie hat Hunger. In der Küche findet sie Brot und eine angebrochene Flasche Bier. Sie legt das Brot auf einen Teller, gießt das Bier darüber und isst mit den Fingern.

Onkel Fritz stöhnt nebenan. Dit wird ihm bald verjehen, denkt Luise. Sie geht zum großen Kochtopf neben dem Herd, hockt sich drüber. Als sie fertig ist, klappert der Teller, den sie als Deckel darüberschiebt. Sie schleicht zurück ins schmale Bett. Onkel Fritz schläft mit offenem Mund. Luise ist erleichtert. Wenn der erst mal schläft, weckt ihn wenig auf.

Sie bleibt auf der Bettkante sitzen. Morgen haben Richard, Erich und sie volle Taschen und sind unterwegs. Wohin, weiß sie nicht. Hauptsache, weg von Berlin.

Luise hört Geräusche an der Tür. Sie atmet tief durch. Es ist so weit.

Ein Mann mit antiquiertem Frauenbild braucht Nachhilfe. Die junge Frau will weder stricken noch kochen.

»Ich hatte jemand anderen erwartet.« Alois Beckmann mustert die junge Frau.

»Wegen dem Namen Leo?«, fragt sie. »Ich bin daran gewöhnt, dass man mit einem Mann rechnet. Aber ich bin nun mal eine Frau. Stört es Sie?«

Beckmann ist amüsiert. »Ich bin nur ein wenig überrascht. Sie sind also Leo Wolf. Kommt von Leonore, denke ich. Oder von Leopoldine?«

Beckmann gefällt, was er sieht. Eine junge Frau Ende zwanzig mit dunklem, glänzendem Bubikopf, einem roten Topfhut und einem beigefarbenen Mantel, der ihre Figur verbirgt. Hohe Schuhe mit Riemchen an wohlgeformten Beinen.

»Leonore. Ist es wirklich kein Problem für Sie, dass ich weiblich bin?«

»Nein«, antwortet er. »Ich habe eher ein Problem damit, dass Sie die Nichte des Vizepolizeipräsidenten sind. Es hat der Presse noch nie gutgetan, die Nähe zur Exekutive zu suchen. Das verträgt sich nicht wirklich mit der Meinungs- und Informationsfreiheit. Haben Sie eine gute Beziehung zu Ihrem Onkel?«

Leo Wolf zuckt nicht mit der Wimper. »Ich mag meinen Onkel, aber ich kenne ihn eigentlich kaum. Unsere Familie ist groß und über ganz Europa verteilt. Ich wohne auch nicht bei ihm und seiner Familie, sondern habe mir ein Zimmer gemietet.«

»Ach so. Sie gehören zu den Frauen, die emanzipiert und selbstständig sein wollen«, grinst Beckmann. »Gutes Gelingen.«

»Das sollte gerade von Ihnen nicht verspottet werden«, entgegnet Leo. »Immerhin habe ich mich beim Sozialdemokratischen Pressedienst beworben und nicht bei den bunten Blättern, die ein antiquiertes Frauenbild vertreten. Die Sozialdemokraten haben sich bisher immer für die Emanzipation der Frau eingesetzt – oder soll sich das ändern?«

»Der Genosse Chefredakteur ist dem Wunsch Ihres Onkels gefolgt und hat Ihr Praktikum genehmigt. Also versuchen wir es mal mit Ihnen, Fräulein Wolf. Was sind Ihre thematischen Vorlieben? Mode? Kochen? Stricken? Kirche? Garten?«

»Sie werden es nicht glauben«, lächelt Leo. »Politik, Kultur und Verbrechen.«

»Dann sind Sie in Berlin goldrichtig. Willkommen, Leo Wolf!«

Beckmann führt Leo Wolf durchs Haus. Die Nachrichtenagentur hat seit sechs Jahren ihren Sitz in Berlin-Kreuzberg am Belle-Alliance-Platz 7 und 8, in einem großen, repräsentativen Haus. Die Sozialdemokratische Partei hat alles bezahlt.

»Das sind die Arbeitsräume der Redakteure und ständigen Mitarbeiter«, erklärt der Schriftleiter. »Ziemlich gediegen, nicht wahr?«

Schwaden von Zigarettenqualm erschweren das Betrachten. Leo erkennt klobige Schreibtische, alle mit Telefon versehen, manche mit Sichtschutz vom Nachbarn getrennt.

»Die meisten unserer Reporter sind gerade unterwegs.«

Leo hustet.

Beckmann ruft: »Kann mal jemand lüften?«

Niemand reagiert. Der Schriftleiter zuckt mit den Schultern und rückt seine Brille zurecht.

Leo folgt ihm zu einer Tür, hinter der sich allerhand Technik befindet. Beckmann deutet auf einen Apparat. »Für die Funkaufnahme unseres Nachrichtendienstes. Damit kommen wir in den Äther.«

»Wer finanziert das alles?«, fragt Leo.

»Fast zweihundert Zeitungen stehen hinter uns. Sie bilden eine Genossenschaft, der wir gehören. Wir beliefern sie mit allen wichtigen Informationen. Dabei kommen manchmal zwanzig Bögen am Tag heraus. Die angeschlossenen Verlagshäuser übernehmen die Artikel, die für sie interessant sind, und erweitern sie, wo nötig, durch eigene Recherchen.«

Beckmann winkt einen jungen Mann zu sich, der die Beine auf den Tisch gelegt hat und telefoniert. Er beendet das Gespräch und folgt dem Wink.

»Herr Schriftleiter! Habe die Ehre …« Es klingt fast spöttisch.

»Das ist Lukas Fox. Seines Zeichens Jungredakteur. Leichtfüßig, mutig, frech und von schnellem Verstand. Wie ein Schreiberling sein sollte.«

Fox verbeugt sich und schielt mit einem Auge auf Leo. Eine neue Tippse?, fragt er sich.

»Und die junge Dame hier heißt Leo Wolf. Sie kommt ganz frisch aus Wien und wird hier arbeiten.«

»Als was?«

»Als Praktikantin. Ihre Arbeitsproben haben unseren Chefredakteur überzeugt.«

Hoffentlich erwähnt er Onkel Bernhard nicht, betet Leo innerlich, sonst hab ich den Ruf als Protegé weg.

»Lieber Kollege Fox«, macht Beckmann weiter. »Reichen Sie Fräulein Leonore Wolf Ihre kollegiale Hand. Nehmen Sie sie mit zu den Geschichten, die Sie ausgraben.«

»Auch die harten Sachen?«, zweifelt Fox.

»Fräulein Wolf mag Verbrechen«, versetzt Beckmann.

»So ist es«, lächelt Leo. »Und da bin ich in Berlin ja gut aufgehoben, oder?«

»Genau. Nirgendwo in Europa wird mehr gemordet, betrogen, vergewaltigt und zusammengeschlagen als in Berlin«, sagt Beckmann. »Es gibt keinen Anstand mehr, Frauen und Kinder prostituieren sich und niemanden kümmert es. Die Moral ist im Arsch – um es mal etwas unfein auszudrücken.«

Lukas Fox grinst. Seine blauen Augen blitzen. Auch Leo lächelt. Der Ton gefällt ihr.

»An welchem Fall arbeiten Sie gerade, Herr Kollege?«

»Es gab einen brutalen Mord im Wedding. Ein Uhrmachermeister ist erwürgt worden. Verdächtig sind seine Mädchen.«

»Mädchen?«, fragt Beckmann.

»Der Kerl war Hobbyfotograf, hat junge Frauen – fast noch Kinder – in anzüglichen Posen fotografiert und die Bilder unter der Hand verkauft. Er soll auch Bars und Bordelle beliefert haben. Ich wollte zum Tatort, dem Laden, der dem Mann gehört hat, und mich mal umsehen.«

»Das trifft sich gut«, freut sich Beckmann. »Nehmen Sie Fräulein Wolf doch gleich mit, dann können Sie beide …« Er beendet den Satz nicht und blickt an Wolf und Fox vorbei zu zwei Männern, die ein Büro verlassen. »Genosse Chefredakteur!«

Der Angesprochene bleibt stehen.

»Darf ich Ihnen unsere neue journalistische Mitarbeiterin vorstellen? Das ist Fräulein Leonore Wolf aus Wien. Seit heute bei uns an Bord.«

Chefredakteur Erich Alfringhaus reicht Leo die fleischige Hand. »Sie sind das also. Ihr Onkel hat ja wahre Loblieder auf Sie gesungen, Fräulein Wolf.«

Fox stutzt. Welcher Onkel?

Leo errötet. Jetzt ist es doch raus, denkt sie, und es wird sich wie ein Lauffeuer verbreiten.

Alfringhaus bemerkt ihre unglückliche Miene. »Ist ja keine Schande, mit dem Vizepräsidenten der Polizei verwandt zu sein. Wir mögen ihn nämlich, nicht wahr, Winterstein?«

»Lass das bloß nicht Humpelstilzchen wissen«, spottet Winterstein. »Darf ich mich vorstellen? Valentin Winterstein, Verleger von Beruf.«

Ein schöner Mann will dazulernen. Die zarte Frauenseele kümmert sich um einen brutalen Mord im Wedding.

Der Mann ist groß und drahtig, von athletischer Gestalt. Leicht angegraute Schläfen im schwarzen Haar, scharfe Gesichtszüge, der Schmiss im Gesicht reicht vom Ohr bis zur Nase. Sie schätzt ihn auf vierzig Jahre. Die dunklen Augen mustern Leo neugierig.

»Angenehm«, behauptet Leo. »Und wer ist Humpelstilzchen?«

»Goebbels, Joseph«, antwortet Alfringhaus. »Der Lieblingsfeind Ihres Onkels. Die beiden treffen sich oft – vor allem vor Gericht.«

»Ach ja. Der Gauleiter der NSDAP«, nickt Leo. »Das beste Beispiel für den überlegenen arischen Herrenmenschen: klein, dunkelhaarig, Klumpfuß.«

»Sie haben eine scharfe Zunge«, meint Winterstein. »Wenn Sie schreiben wie Sie reden, kommt ein bisschen Leben in diese altehrwürdige Bude hier. Sozialdemokraten sind immer so erschreckend brav.«

»Wir bemühen uns eben um ein gewisses Niveau«, verteidigt sich Alfringhaus. »Wir sind eine Nachrichtenagentur und kein politisches Hetzblatt.«

Lukas Fox nimmt Leos Arm. »Wir müssen los, die Arbeit ruft.«

»Was liegt denn an?«, will Alfringhaus wissen.

»Mord in der Drontheimer Straße im Wedding. Das Opfer soll selbst einiges auf dem Kerbholz haben.«

»Ist Mord ein Thema für eine zarte Frauenseele?«, fragt Winterstein. »Warum fangen Sie nicht mit einem typisch weiblichen Thema an?«

»Ich kann mir kein besseres Thema vorstellen«, lächelt Leo. »Der Tote hat junge Mädchen anzüglich fotografiert und die Bilder verkauft.«

»Oh, Pardon, da war ich wohl zu voreilig«, entschuldigt sich Winterstein. »Ich sollte mein Frauenbild den neuen Zeiten anpassen. Vielleicht könnten Sie mich bei Gelegenheit auf den aktuellen Stand bringen, Fräulein Wolf?«

»Lass gut sein, du alter Schürzenjäger«, ermahnt Alfringhaus. »Und nun lass die beiden jungen Leute arbeiten.«

Alfringhaus deutet eine Verbeugung an und die Männer gehen weiter. Leo sieht ihnen nach. Am Fuß der Treppe dreht sich Winterstein plötzlich um und versenkt sich in Leos Blick. Sie wird rot und dreht sich weg.

Ihre glühenden Wangen ärgern sie. Ich bin ein dummes Huhn, schimpft sie und nimmt sich vor, sich nicht in Gefühle verstricken zu lassen, gegen die sie sich bisher erfolgreich gewehrt hat.

Die junge Frau fragt nach dem schönen Mann und seinen Neigungen. Der Schreiberling hat einen Laubfrosch.

Fox und Leo verlassen das Gebäude. Sie gehen über einen weitläufigen Platz. Leo steuert eine der Bänke an, die an der Straße stehen, und setzt sich. Fox tut es ihr gleich und fragt: »Schon müde? Oder ist Ihnen schlecht?«

»Nein, nein, aber Sie wissen doch, dass ich ganz neu bin in Berlin. Das sieht mir hier so aus, als wäre es eine gewissermaßen historische Gegend. All die neuen großen Häuser. Machen Sie mir doch mal ein bisschen den Fremdenführer. Was soll diese riesige Säule dahinten?«

»Oje. Fremdenführer. Na gut. Dies ist der Belle-Alliance-Platz, benannt nach einem Gasthaus in der Nähe von Waterloo. Tatsächlich steht es mitten auf dem Schlachtfeld von 1815. Napoleon hat dort sein Hauptquartier gehabt. Sehen Sie die Frau oben auf der Säule?«

»Sie ist nicht zu übersehen.«

»Das ist Viktoria, die Siegesgöttin.«

»Und ihr benennt einen Platz, mit dem ihr euren Sieg feiert, nach dem Hauptquartier des Gegners?«

»Gerade. Genau. Vielleicht etwas überheblich. Berliner Humor.«

Leo muss lachen. »Na dann. Die Häuser jedenfalls sehen toll aus.«

»Genug Fremdenführung?«

»Ja, danke, wir haben ja zu tun. – Wer ist dieser Winterstein?«, fragt Leo dann. »Was verlegt er?«

»Kleine Zeitschriften für Randgruppen.«

»Was soll das heißen?«

»Na jaaaa«, dehnt Fox. »Postillen für Freunde der gehobenen Tischkultur, Ratgeber für die deutsche Hausfrau und Illustrierte für Menschen mit – sagen wir mal – besonderen Neigungen.«

Leo macht große Augen.

Lukas grinst. »Kennen Sie das Blatt Die Freundschaft, das den Befreiungskampf andersveranlagter Männer und Frauen fördert?«

»Homosexualität? Ist Winterstein selbst auch …?«

»Das bestimmt nicht«, antwortet Fox. »Winterstein lässt in der Hinsicht nichts anbrennen. Sein Ruf ist nicht der beste. Niemand weiß, wie er zu seinem Vermögen gekommen ist. Manche halten ihn für einen Kriegsgewinnler und die Nazis haben ihn auf ihrer schwarzen Liste, obwohl er politisch zurückhaltend ist. Kommen Sie, wir gehen weiter.«

»Und was hat er mit dem Pressedienst zu tun?«

»Er ist ein Freund des Chefs. Aber ich denke, dass die beiden Informationen austauschen. Über was auch immer.«

Sie erreichen den Busbahnhof, doch Fox biegt in eine Seitenstraße ein.

»Ich dachte, wir fahren mit dem Bus«, wundert sich Leo. »Wie kommen wir denn jetzt nach Wedding?«

»Damit!« Fox deutet stolz auf ein geparktes Auto. »Mein Laubfrosch!«

»Schön grün« sagt Leo und streicht mit der Hand über den Lack.

»Opel. Zwölf PS. Schnurrt wie ein Kätzchen.« Der Jungredakteur hält ihr die Tür auf.

Lungernde Jugend, allerhand kleine Läden und eine große Torte für die kleinen grauen Zellen.

Lukas Fox stellt das Auto ab und zeigt auf ein Schaufenster voller Uhren auf der anderen Straßenseite. »Da ist der Laden ja schon.«

Er will hinübergehen. An der Tür des Ladens sind Polizeisiegel zu erkennen. Ein Wachtmeister schaut ballspielenden Kindern auf der Straße zu. Neugierige bleiben stehen. Eine Gruppe junger Leute schlendert heran und blickt zu dem Uhrenladen. Die Nachricht von dem Mord an Onkel Fritz hat sich schnell herumgesprochen.

»Die Mordkommission war heute Morgen da und in der Morgenausgabe der Berliner Volkszeitung stand eine kurze Notiz. Die waren schneller als unser Pressedienst.« Fox reicht Leo einen Zeitungsausschnitt.

Sie liest:

Die Mordkommission der Berliner Kriminalpolizei wurde heute Vormittag zu dem Haus Drontheimer Straße 5 im Norden der Stadt gerufen, wo der 56-jährige Uhrmacher Friedrich Ulbrich in seinem Geschäft tot aufgefunden wurde. Verschiedene Umstände lassen darauf schließen, dass Ulbrich einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.

»Wie gehen wir jetzt vor?«

»Wir streunen durchs Viertel«, erklärt Fox. »Fragen die Leute aus. Vielleicht treffen wir ja jemanden, der zufällig etwas bemerkt hat. Einen Zeugen, den die Polizei noch nicht in der Mangel hatte. Und dann brechen wir das Polizeisiegel auf und schauen uns am Tatort um.«

Fox lacht, als er Leos entsetztes Gesicht sieht. »Das war nur Spaß«, beruhigt er sie. »Kein Journalist in Berlin will sich mit dem alten Buddha anlegen.«

»Ernst Gennat?«

»Sie kennen ihn?«

»Sein Name ist auch in Wien bekannt. Die berühmte Mordinspektion Berlin. ›Der Dicke vom Alexanderplatz‹. Frisst jeden Tag eine Stachelbeertorte, damit die grauen Zellen funktionieren. Onkel Bernhard hat mir sein gruseliges Büro geschildert.«

»Das kenne ich auch«, nickt Fox. »Die durchgesessen Fauteuils, der Frauenkopf aus der Spree – fein säuberlich präpariert – auf einer Säule, die schwere Axt, die irgendein Mörder benutzt hat, und die vielen Fotografien von Mordopfern. Wirklich gruselig.«

»Sollten wir uns nicht erst mal einen Eindruck vom Gesamtmilieu verschaffen? Lassen Sie uns doch ein paar Schritte in die Straße tun«, wendet Leo ein. »Die Zeugen suchen wir dann später.«

»Hier gibt es nicht viel zu sehen«, wehrt Fox ab. »Wedding ist kein feines Milieu, aber auch kein Elendsviertel. Lassen Sie uns die Menschen ansprechen. Angeblich wurde die Leiche des Uhrmachers von einer Frau gefunden, die zu seinen Modellen gehörte, also auch von ihm fotografiert worden ist.«

»Dann suchen wir diese Zeugin«, sagt Leo entschlossen.

Sie schreitet die Straße entlang, die auf der gegenüberliegenden Seite keinen Gehweg hat. Ein paar noch junge Bäume würden etwas Schatten spenden, wenn denn die Sonne schiene. Aber wenigstens regnet es nicht.

Die kaiserliche Marine schwimmt nicht mehr – sie rollt. Dafür gibt es ein Chansonettenbrüstchen.

Neben einem Metzgerladen eine Destille, davor sitzt ein sichtlich betrunkener Bettler mit Mütze auf dem Boden und versucht tapsig, Leos Mantelsaum zu erwischen. Er hat keine Beine mehr und bewegt sich auf einem Brett mit vier Rollen.

»Na, na, benimm dich«, knurrt Fox und stößt die Hand des Mannes mit seinem Schuh an.

»Ick bitte um eine milde Jabe«, lallt der Mann.

Leo holt ein paar Münzen aus der Manteltasche und wirft sie in die Mütze. Sie bemerkt, dass der Bettler eine goldfarbene Medaille am zerschlissenen Mantel trägt.

»Was bedeutet dieser Orden?«, fragt sie.

»Kaiserliche Marine«, murmelt der Mann. »U-Boot-Kriegsabzeichen von Kaiser Wilhelm Zwo. Einjetauscht gegen zwee Beene und dit nette Luxusauto hier.« Er klopft auf das Brett unter sich. »Det verjoldete Jelump bekamen die Doofen, die mindestens drei Feindfahrten auffem U-Boot durchjeführt haben. Dit hab ick.«

»Das tut mir leid.« Leo fühlt, dass dieser Satz dumm und sinnlos ist.

»Kannste ja nüscht für, Mädchen.« Der Mann kichert. »Der nächste Krieg, der wird noch unjemütlicher, wetten? Danke für die Spende, Frolleinchen. Ick rolle mal weiter zur Destille und jenehmige mir ’n Chansonettenbrüstchen.«

Er bringt das Brett in Bewegung, indem er sich mit den Armen anschiebt. Die Rollen quietschen.

»Was meint er mit ›Chansonettenbrüstchen‹?«, fragt sie.

»Eine Bulette«, erläutert Fox. »Die Leibspeise der Berliner Unterschicht. Schlechtes Fleisch, Gewürze und viel altes Brot.«

Auf Leos Stirn bildet sich die Ärgerfalte. »Für jemanden, der beim Sozialdemokratischen Pressedienst arbeitet, sind Sie ganz ordentlich überheblich, Herr Fox.«

»Man muss den Tatsachen ins Gesicht sehen«, wehrt sich Fox. »Besonders als Journalist. Sie werden in Berlin an jeder Ecke Kriegsversehrte sehen, Fräulein Wolf. Wenn Sie bei jedem in Tränen ausbrechen, kommen Sie nicht zum Schreiben. Und ich bin nicht überheblicher als eine Person, die aus einem reichen jüdischen Haushalt aus Wien ins gebeutelte Berlin kommt, um sich das Elend anzusehen.«

Leo atmet tief ein und wieder aus. »Sie haben recht. Ich werde mich bemühen, meine Gefühle zu kontrollieren, und erst abends in meine Kissen weinen.«

Fox grinst. »Guter Plan. Lassen Sie uns nun weiter das Milieu studieren.«

Sie spazieren die Drontheimer Straße entlang. Neben einem Schuhgeschäft führen einige Stufen in ein Souterrain. Über dem Eingang ein Schild: Milch & Gemüse, immer frisch.

»Verhungern muss man ja nicht«, fasst Leo ihren Eindruck zusammen. »Fleisch, Milch, Gemüse und dort ist ein Bäcker.« Sie zeigt auf ein Blechschild in Form einer Brezel. »Ich denke, ich hab das Milieu hier in etwa verstanden.«

»Dahinten lungert unsere Berliner Jugend herum.« Fox deutet auf eine Gruppe junger Männer. »Arbeitslose Burschen ohne Zukunft. Irgendwann steuern die schnurstracks eine kriminelle Karriere an, aber keine große, sondern im Rahmen ihrer geistigen Möglichkeiten, und dann landen sie im Gefängnis und vielleicht unterm Fallbeil. Oder die Nazis fangen sie ein und sie mutieren zu Herrenmenschen, die auf Juden, Homosexuelle und Kommunisten einschlagen.«

»Sollen wir sie ausfragen?«, will Leo wissen. »Sie kennen bestimmt das eine oder andere Mädchen, das der Tote fotografiert hat.«

»Zuerst gehen wir mal zu den Uhren zurück«, beschließt Fox.

Die Zeugin im Gemüse plaudert aus dem Nähkästchen: Der Tote wollte den Mädchen nur helfen.

»Da ist er wieder«, sagt Leo. »Der Bettler von eben.«

»Und er hat sich tatsächlich Essen geholt«, bestätigt Fox. »Und natürlich eine Flasche Bier. Sind Sie nun beruhigt, dass Sie Ihre gute Tat für heute schon erledigt haben, Fräulein Wolf?«

Jetzt hat der Bettler die beiden auch entdeckt. Er hebt die Flasche hoch und winkt.

»Wir fragen ihn mal«, beschließt Leo. »Wenn die Stelle vor der Destille sein Stammplatz ist, könnte er was bemerkt haben.«

Sie geht zu dem Mann, Fox folgt ihr – innerlich murrend. Dieses Weib ist anstrengend, sagt er sich, aber es ist ihr erster Arbeitstag. Da darf man etwas zu eifrig sein.

»Haben Sie mitbekommen, dass der Uhrmacher da oben tot ist, wahrscheinlich umgebracht wurde?«

»Jau, der Fritze Ulbrich, der Halunke«, nickt der Bettler. »Die Polente hat dit Etablissemang schon jefilzt.«

»Kannten Sie den Ulbrich?«

»Jesehen hab ick den oft. Jegeben hat er mir nie was«, erzählt der Bettler und nimmt einen tiefen Schluck aus der Pulle. »Schmuck war der nicht. Konnte sich mit ’nem Schwamm kämmen, so kahl war der auffem Kopp. Der jing oft auf ’n Matratzenball mit allerlei Frolleins. Hat Fotos jemacht und sich eenen abjezupft. Konnte kiebich werden, der Stenz.«

»Er meint, dass Ulbrich unattraktiv, glatzköpfig, geil und frech war«, übersetzt Fox.

»Ich hab’s schon verstanden«, lacht Leo. »Die Berliner sind so schön direkt.«

»In der Bude innendrin viel Blut im Bett und der Ulbrich tot uffem Kissen«, erzählt der Mann weiter.

»Woher wissen Sie das?«

»Die Frieda hat ihn jesehn.«

»Welche Frieda?« Jetzt ist Fox ganz Ohr.

»Frieda Seemann. Die hat den jefunden. Dahinten wohnt se.« Er deutet auf das Schild Milch & Gemüse, immer frisch.

Frieda Seemann ist eine propere Frau in den Zwanzigern, zugezogen aus dem Vogtland. Sie sitzt hinter einer Theke, auf der Holzkisten mit Gemüse stehen: Kohlrabi, Rotkohl, Kartoffeln, Zwiebeln und Rüben. Das Brot kostet neununddreißig Pfennig das Pfund.

Leo und Fox stellen sich vor. Frieda Seemann ist sofort bereit zu plaudern. Bei der Mordinspektion hat sie schon ausgesagt und sich gemerkt, was für die Polizisten wichtig gewesen ist.

»Also, der Laden war offen, aber niemand zu sehen. Ick hab an die Verbindungstür jeklopft, die zu Fritzens Wohnung führt. Wieder nix. Dann bin ick rein.«

»Kannten Sie das Opfer denn näher?«, fragt Fox.

»Na, wie man sich so kennt.« Sie errötet. »Ick sach mal so: Vor Jahren hatter mal Fotos von mir jemacht. Echt künstlerische Bilder. Ick hatte sogar ein Angebot als Garderobenmädchen in ’nem Kabarett. Aber dann hab ick meen Mann kennengelernt und der wollte dit nicht.«

»Sie sind also in die Wohnung rein …«

Sie nickt. »Da lag eener im Bette mit der Decke überm Kopp. Ick hab drunterjekiekt und fand den Fritze. Tot. Der lag da verkehrt rum. Kopp am Fußende. Ick hab ’nen Nachbarn zu Hilfe jeholt und der holte een Schutzmann. Der jing von einem Unfall aus und meinte, der Fritz sei knülle jewesen und jefallen. Dann hatter doch im Alex angerufen. Da kamen die Beamten der Mordinspektion und danach ein Schreiber von der Berliner Volkszeitung.«

»Wie ging es weiter?«

»Der Tote wurde weggeschafft und die Polypen kiekten sich in der Wohnung und im Laden um. Ob was geklaut is. Und dann wurden die Nachbarn befragt. Natürlich haben die erzählt, dass bei Fritze immer was los war. Mit die Mädchen und so. Das wusste hier jeder. Die Feierei ging oft bis spät in die Nacht.«

»Hat sich denn nie jemand beschwert? Ein alter Mann und junge Mädchen, die sich fotografieren lassen?«, fragt Leo. »Hatten die Eltern nichts dagegen?«

»Der Fritze hat die Fotos verkooft und die Mädchen bekamen ihren Anteil.«

»Wer waren seine Kunden?«

»Männer eben. Die janz jungen und aparten Mädchen bekamen ooch mal Arbeit in einem Restaurang, Kino oder als Tischdamen im Tanzlokal. Manche wurden ooch Girls im Kabarett.«

»Also war Ulbrich ein echter Wohltäter«, resümiert Fox. »Gut zu wissen.«

»Na ja … janz so war dit nicht«, gibt Frieda Seemann zu. »Manche waren ooch seine Bettschlumpen. Aber er hat denen nie was Böses getan, ehrlich.«

Moralisch zu sein ist einfacher, wenn man genug zu essen hat. Die junge Frau ist dem Fuchs zu alt.

Im Pressehaus telefoniert Fox mit der Mordinspektion und erfährt, dass sich bereits ein Gerichtsarzt die Leiche des Uhrmachers angeschaut hat. Zudem haben die Kriminalbeamten weitere Zeugen befragt. Eine junge Frau und zwei Männer sollen die letzten Besucher des Ermordeten gewesen sein.

»Morgen werden sich bestimmt noch weitere Zeugen melden. Mein Artikel wird heute Nacht gedruckt, erscheint morgen ganz früh und geht dann an alle Zeitungen, die uns abonniert haben«, verspricht Fox.

Nach und nach füllt sich das große Büro. Schriftleiter Alois Beckmann wandelt von Schreibtisch zu Schreibtisch, spricht mit den Reportern – in der Hand einen Block, auf dem er sich Notizen macht.

»Herrschaften, in einer Stunde ist Andruck«, ruft er. »Also allez hopp!«

Jetzt ist er am Schreibtisch von Fox angelangt. Der telefoniert schon wieder.

»Fräulein Wolf! Hatten Sie einen erfolgreichen Tag?«, fragt Beckmann.

Leo sitzt Fox gegenüber, vor sich einen Bogen Papier. »Wir haben mit der Zeugin gesprochen, die die Leiche des Uhrmachers gefunden hat«, berichtet sie. »Das war sehr aufschlussreich. Der Tote war dafür bekannt, dass er von vielen sehr jungen Mädchen erotische Fotos gemacht und sie verkauft hat. Manche Mädchen landeten auch im Bett des Alten. Alle wussten das und niemand hat was dagegen unternommen.«

Beckmann nickt. »Moral können sich nur die leisten, die sich nicht darum kümmern müssen, dass sie was zu fressen haben. Der Krieg hat uns viel gekostet. Nicht nur Menschen-, sondern auch Seelenleben. Der Young-Plan ist uns vor einem Jahr aufgezwungen worden, danach muss Deutschland sechsunddreißig Milliarden Reichsmark als Reparationsschuld an die Siegermächte zahlen.«

»Finden Sie das etwa ungerecht?«, fragt Leo. »Immerhin hat Deutschland diesen schrecklichen Krieg mit heraufbeschworen!«

»Ich finde es ungerecht, dass das Volk diese Schuld begleichen muss und nicht die, die den Krieg angezettelt haben.«

Fox telefoniert nicht mehr. »Es war ein Raubmord«, stellt er fest. »Der Mann wurde mit dem eigenen Kopfkissen erstickt. Außer Bargeld in noch unbekannter Höhe fehlen siebzehn Ringe mit bunten Steinen, eine goldene Uhr im Wert von fünfzig Mark und mehrere Damenarmbanduhren. Und: Es wurde eine Belohnung von tausend Mark ausgesetzt.«

»Gut gemacht«, lobt Beckmann. »Dann mal los! Ich warte auf den Bericht. Lassen Sie Fräulein Wolf auch einen Teil schreiben, Fox. Bin gespannt, ob ich erkenne, wer was verfasst hat.«

»Danke!«, freut sich Leo. »Gibt es eine Schreibmaschine für mich?«

Beckmann zeigt auf einen freien Tisch. »Auch einen eigenen Schreibtisch. Da finden Sie alles, was Sie brauchen – sogar ein Telefon.«

Beckmann zieht weiter. Fox macht ein mürrisches Gesicht.

»Ist was?«, fragt Leo.

»Ich hab noch nie mit jemandem zusammen was geschrieben«, mault er. »Und mit einer Frau schon gar nicht.«

»Was soll mir das jetzt sagen?«, fragt sie zurück. »Dass Sie was gegen ehrgeizige und selbstbewusste Frauen haben?«

»Was wollen wir denn als Signatur unter den Artikel schreiben?«

»Fox Schrägstrich Leo.«

»Klingt lustig.« Er hat sich wieder im Griff. »Ein Fuchs und ein Löwe. Ich schreibe über die Polizeiermittlungen und Sie über Ulbrichs Vorlieben. So könnte es gehen.«

»Ja, das hört sich gut an«, lächelt sie. »Sollen wir uns eine vertrauensbildende Maßnahme gönnen?«

»Und die wäre?«

»Sagen Sie Leo zu mir, dann sage ich Lukas zu Ihnen.«

»Einverstanden.« Er mustert sie. Leo hat sich inzwischen hingesetzt, die Beine damenhaft übereinandergeschlagen. Den Topfhut hat sie abgelegt. Der Schein der Schreibtischlampe lässt ihre Haare glänzen.

Sie hat schöne dunkle Augen, denkt Lukas. Ihre Lippen sind wohlgeformt und ihr Teint fein und blass. Auch die Figur gefällt ihm: feingliedrig und an den richtigen Stellen weiblich. Aber sie ist schon um die dreißig, also zu alt für ihn.

Er ist ganz nett, aber ein bisschen ungehobelt, denkt Leo. Hat Probleme mit selbstbewussten Frauen, die sein Ego nicht hofieren. Die hellbraunen lockigen Haare stehen ihm und die schlaksige Gestalt gibt ihm etwas Jungenhaftes. Er könnte ein guter Freund werden, mehr nicht. Er ist höchstens fünfundzwanzig, also zu jung für mich.

»Wäre es vermessen, dich zu fragen, ob du mir einen Kaffee kochen würdest?« Er grinst.

»Wenn es deinen Geist beflügelt, mache ich das«, gibt Leo zurück. »Aber gewöhn dich nicht daran.«

»Ich hab schon verstanden, dass du kein Dienstmädchen bist.« Fox zeigt zur offenen Tür. »Rechts den Flur runter und die letzte Tür links. Auf dem Tisch unterm Fenster steht die Kanne mit dem Filter. Wasser gibt es an dem Hahn daneben und Tassen stehen auch da. Kaffee ist in der schwarzen Dose.«

Er spannt Papier in seine Schreibmaschine, zündet sich eine Zigarette an, nimmt ein paar Züge und tippt: Der Mann, der fotografierte – das Geheimnis um den Uhrmachermord im Wedding – fünfzig Mädchen trauern um ihren Gönner.

Warum ein hoher Polizeibeamter von einer Witzfigur als »Isidor« beschimpft wird. Schwarzer Kaffee und der Beginn einer Freundschaft.

In der winzigen Kaffeeküche trifft Leo auf Alma Wuttke. Die Frauen beäugen sich. »Kommst du aus dem Schreibbüro?«, fragt Alma und gießt kochendes Wasser in den Filter.

»So ähnlich.« Leo weiß, dass im Schreibbüro mehrere Frauen die Artikel abtippen, die ihnen von Mitarbeitern vorgelegt werden. Entweder treffen diese die Tasten der Schreibmaschine nicht oder es ist unter ihrer Würde, eigenhändig zu tippen.

»Ich schreibe aber nichts ab, sondern verfasse die Texte selbst«, erklärt Leo. »Und du?«

»Ich sitze im Sekretariat vom Chef. Alfringhaus. Find ich mutig von dir, dass du dich so was traust. Ich bin übrigens Alma.«

»Leonore, genannt Leo.«

»Ich hab von dir gehört«, lächelt Alma. »Du kommst aus Wien und alle dachten, dass du ein Mann bist. Stimmt es, dass du die Nichte von unserem Vizepolizeipräsidenten bist?«

Leo nickt und seufzt leise.

»Der hat es gerade nicht leicht«, plappert Alma weiter. »Die Nazis hassen ihn und beleidigen ihn, wo sie nur können. Ich sage nur: Isidor!«

»Isidor?«

»Der Schmähname für die Juden. Der Goebbels nennt ihn so und dehnt das O. Also: Isidoooooor. Dabei ist der Kerl selbst eine Witzfigur.«

»Alles klar. Humpelstilzchen«, nickt Leo.

Alma lacht und streicht sich die blonden Locken aus dem Gesicht. Sie wirkt wie ein Gegenentwurf zu Leo: klein, mollig, mit großem Busen und ausladendem Becken. Die beiden Grübchen machen ihr Lachen ansteckend.

»Dann auf gute Zusammenarbeit.« Alma nimmt die Kaffeekanne und verschließt sie mit einem Deckel.

»Kannst du mir einen Becher abgeben?«, fragt Leo. »Mein Kollege Fox braucht Koffein für sein Hirn. Wir waren am Nachmittag im Wedding.«

»Der Mord an dem Uhrmacher?«

»Ja.«

Alma gießt Kaffee in einen Becher und reicht ihn Leo. »Lass uns mal was zusammen unternehmen. Kino, tanzen oder wir fahren raus ins Grüne. Und grüß den Foxi! Er ist einer der Nettesten in diesem Laden.«

Gierig greift Lukas Fox nach dem Kaffee, lehnt sich zurück und legt die Füße auf den Tisch. »Der Beginn des Artikels liegt auf deinem Schreibtisch. Guck dir das an und schreib weiter.«

Leo greift nach dem ersten Blatt und liest:

Im Wedding wurde ein 56-jähriger Mann in seiner Wohnung in der Drontheimer Straße 5 erwürgt aufgefunden. Der Tote, der als Uhrmacher ein kleines Geschäft führte, war nebenbei Agent für Varietés und Kabaretts, denen er junge Artistinnen zuführte. Das geheimnisvolle Doppelleben des Sonderlings wird jetzt von der Mordinspektion aufgerollt. Auch unsere Kriminalreporter waren am Ort des Geschehens.

»Und jetzt?«, fragt Leo.

»Jetzt bist du dran. Schreib einfach auf, was wir beobachtet haben«, fordert Fox. »Und ich schreib dann, was ich im Präsidium erfahren habe … und schon ist der Bericht fertig.«

In Leos Magen grummelt es. Das ist meine Chance, denkt sie und spannt das halb beschriebene Papier in die Schreibmaschine.

Fox lässt sie nicht aus den Augen. Leo ist irritiert. Will er mich scheitern sehen?, fragt sie sich.

»Wenn du nicht weiterkommst oder dir ein Wort nicht einfällt, frag mich einfach«, bietet er an.

Leo atmet durch, holt ihre Aufzeichnungen aus der Handtasche und tippt:

In der Gegend nannte man ihn »Onkel Fritz«. Er handelte mit allerlei Arten von Uhren, aber auch mit silbernen Löffeln, Halsketten und Fingerringen mit billigen Steinen und weiterem Tand. Und der Mann hatte noch eine andere Passion: Er machte erotische Fotos von jungen Mädchen, angeblich, um ihnen Stellungen als Tänzerinnen, Tischdamen und lebende Marmorfiguren zu verschaffen. Die Wahrheit ist jedoch: Die meisten Nacktbilder verkaufte er unter der Hand an interessierte Kunden. Ungefähr fünfzig Mädchen bekamen so im Laufe der Jahre Geld oder Geschenke. Eins seiner früheren Modelle, inzwischen verheiratet, betont, dass Onkel Fritz den Mädchen »nie etwas Böses getan« habe.

Die ganze Gegend wusste von den Fotos. Die Leute lachten über Fritz und nannten ihn den Don Juan von der Drontheimer Straße.

Leo reicht Fox das Papier, der nach der Lektüre meint: »Famos! Dein Stil passt zu meinem: kurz und präzise.«

Er schreibt weiter:

Der Mord wurde am Morgen entdeckt. Ulbrich lag auf seinem Bett, der Kopf war in einem Kissen vergraben, der Kiefer ausgerenkt – wie der Gerichtsarzt später feststellte.

Wenn sich auch äußerlich keine Würgespuren zeigen, so fand man doch im Halsinneren starke Blutungen, die nur durch Gewaltanwendung hervorgerufen sein können. Verletzungen an Mund und Kinn hat der Mann vermutlich im Kampfe davongetragen. Die leichte Abschürfung auf dem Scheitel kann von einem Schlag oder Stoß herrühren, der aber nicht tödlich war.

Onkel Fritz wurde also erwürgt oder erstickt. Nachbarn haben der Kriminalpolizei von einer feuchtfröhlichen Feier in der Nacht berichtet.

Schallplattenmusik, Mädchenlachen und Männerstimmen seien zu hören gewesen. Die Polizei sucht jetzt diese Gäste. Sie dürften die letzten Menschen sein, die Ulbrich lebend gesehen haben. Vielleicht sind sie aber auch die Mörder.

»Fertig!«, ruft Fox. »Jetzt kommt nur noch unser gemeinsames Kürzel drunter. Fox und Leo. Und dann ab zu Beckmann zum Gegenlesen!«

Ein Regierungsrat schlägt Jungen und über die Stränge – und kommt ganz groß in die Zeitungen.

Im Keller des Pressedienstes rattern Rotationsdruckmaschinen. An diesem Abend sollen insgesamt zweiunddreißig Seiten erscheinen. Der Artikel über den Mord an dem Uhrmachermeister wird in die Rubrik Aus aller Welt gestellt – hier werden kriminelle, skurrile und manchmal auch schlüpfrige Themen behandelt.

Der Pressedienst hat in allen europäischen Hauptstädten Korrespondenten und Mitarbeiter, die alle relevanten Informationen an die Berliner Zentrale übermitteln. Dabei spielen Telefon, Telegramme und Funksprüche eine wichtige Rolle, aber auch Expressbriefe.

Leo ist in die Druckerei gegangen, um zu genießen, wie ihr erster Artikel tatsächlich gedruckt wird. Die Maschinen machen einen ziemlichen Lärm, doch das scheint die Arbeiter nicht zu stören. An den Wänden hängen die Wahlplakate der Sozialdemokratischen Partei von der letzten Reichstagswahl vor einem Monat. Die hat die SPD mit 24,5 Prozent gewonnen, gefolgt von der NSDAP mit 18,3 Prozent. Die Zentrumspartei und die Kommunisten sind mit 14,8 und 13,1 Prozent in den Reichstag eingezogen. Innerhalb von zwei Jahren steigerte sich die NSDAP bei der Wahl 1928 von 810.000Stimmen auf 6,4 Millionen im September 1930.

Ein Arbeiter legt einen Stapel fertige Zeitungen auf eine Sackkarre. Leo nimmt sich ein Exemplar und schaut hinein.

Der Ulbrich-Mord hat es im Aus aller Welt-Teil fast ganz nach vorne geschafft – nur noch getoppt von der Affäre um den ehemaligen Regierungsrat Lübben, einen homosexuellen Nazi, der sich in einem Marinesportklub an junge Kerle herangemacht hat.

DIE LIEBESAFFÄREN DES HAKENKREUZHÄUPTLINGS

Seine Opfer waren Jungen im Alter von 16, 17 und 18 Jahren.

Eine Spezialität des tüchtigen Klubchefs waren stundenlange Strafübungen seiner Jünglinge, die – nur mangelhaft bekleidet – auch bei kältestem und unfreundlichstem Wetter exerzieren und Kniebeugen machen mussten. Die Ansicht der Polizei, dass es sich bei dem Klub um eine getarnte Fortführung des verbotenen Wikinger-Bundes handele, wurde durch die Tatsache bestätigt, dass 650 Abzeichen des verbotenen Bundes gefunden und beschlagnahmt wurden. Bei den Verhören stellte sich Bemerkenswertes heraus: Herr Lübben, dieser ausgezeichnete Repräsentant des kommenden »Dritten Reiches«, hatte zu seinen jungen Untertanen in geschlechtlichen Beziehungen gestanden. Wir berichten weiter. (Fox)

Leo legt die Zeitung auf den Stapel zurück. Sündenbabel Berlin. So wird die deutsche Hauptstadt in ganz Europa genannt. Viele, die sich bisher zu ihrer Neigung nicht bekennen durften, fühlen sich hier frei und wohl unter Gleichgesinnten. Doch dieser Prozess gegen einen führenden Nazi hat keine moralische, sondern nur eine kriminelle Dimension.

»Noch Lust auf einen Abstecher ins Josty?«, fragt Lukas Fox, als Leo wieder im Büro ist und ihre Sachen packt.

»Ich bin müde«, lehnt Leo ab. »Onkel Bernhard und seine Frau erwarten mich zum Abendessen. Ich muss mich in meiner Pension noch frisch machen. Gibt es hier in der Nähe einen Blumenladen?«

»Wohnst du nicht bei Dr. Weiß?« Fox ist überrascht.

»Nein, ich wohne in einer kleinen Pension am Alex.«

»Warum das?«

»Ich will Berlin kennenlernen und nicht jeden Abend im Kreise der Familie verbringen.«

»Ich verstehe«, grinst Fox. »Dabei kann ich dir gern helfen. Ich kenne jede schummrige Ecke in Berlin.«

»Ich fange erst mal mit einer Stadtrundfahrt an.«

»Wie langweilig!«

Alma Wuttke erscheint im Büro, winkt und steuert eilig auf Leo und Fox zu.

»Da ist ein Polizeiwagen im Hof«, berichtet sie aufgeregt. Geschickt vom Vizepolizeipräsidenten. Er soll Fräulein Wolf abholen.«

»Ich komme schon«, flötet Leo, greift nach ihrer Tasche und verschwindet.

Alma ist neugierig. »Hey, Lukas, hat Leo was angestellt?«

»Nein. Nicht mehr als du. Hast du Lust, mit mir auf ein Bier ins Josty zu gehen?«

»Wenn du bezahlst.«

»Mach ich doch immer, schöne Alma.«

Eine vergoldete Jugend tanzt auf dem Vulkan. Ein Jude ist dem Herrenmenschen zu tapfer.

Klein-Hilde ist schon im Bett, als der schwarze Wagen Leo Wolf vor dem Haus absetzt. Bernhards Frau Lotte begrüßt Leo und ist völlig aus dem Häuschen. »Wir haben was zu feiern!«, ruft sie aus.

»Hat Onkelchen wieder einen Prozess gegen Humpelstilzchen gewonnen?«

»Aber nein! Bis vor einer halben Stunde hatten wir einen bekannten Maler zu Besuch. Ernst Fritsch. Wir haben ihm ein Bild abgekauft.« Sie deutet auf ein Bild, das vor einer Wand auf dem Boden steht.

Das Gemälde zeigt eine Szene aus einem Tanzlokal. Im Vordergrund links sitzt ein dunkel gekleideter Mann mit dem Rücken zum Betrachter an einem weiß gedeckten Tisch, vor sich ein Glas Wein. Er beobachtet die Tanzpaare auf dem Parkett. Die Frauen sind à la mode gekleidet, allerdings wirken die Frisuren eher hausfraulich. Die Männer tragen Anzüge und Krawatten. Die Hände der Tanzenden sind miteinander verbunden. Niemand lächelt, die Gesichter sind leer und puppenhaft erstarrt, wenngleich errötet, vermutlich wegen der Anstrengung des Tanzens. Der gezeigte Bildausschnitt wirkt fotografisch. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass am rechten Rand des Bildes ein halber Kellner mit Serviette zu sehen ist. Die Unsichtbarkeit der zweiten Hälfte ist dem Bildausschnitt geschuldet.

Das Gesicht des Sitzenden ist den Tanzenden zugewandt, darum kann der Betrachter des Bildes seinen Ausdruck nicht erkennen. Die Kopfhaltung und eine Rotfärbung seiner rechten Wange erwecken den Eindruck, dass der Mann von dem, was er sieht, erregt ist. Die zentrale Dame, auf die sich vermutlich der Blick des Betrachters richtet, ist nur von hinten zu sehen. Ihre Frisur ist anders als die der anderen: ein tief sitzender Dutt; die Frau trägt ein rosafarbenes Kleid. Wahrscheinlich gehört sie zu dem sitzenden Herrn, denn auf seinem Tisch liegt ein passender rosafarbener Schal neben einer Tasse Kaffee. Der zweite Stuhl ist leer, über der Lehne hängt eine blaue Jacke. ihr Tanzpartner hat sie wohl von dem Tisch weg aufgefordert. Ein kleines Eifersuchtsdrama?

»Der Titel lautet Jeunesse dorée. Vergoldete Jugend«, informiert Lotte. »Gefällt es dir?«

»Ich finde es merkwürdig«, gibt Leo zu. »Der Titel passt irgendwie nicht zur Realität in Berlin. Ich habe zu viele arme Leute gesehen, die bestimmt kein vergoldetes Leben haben.«

»Dann warst du noch nicht in den einschlägigen Etablissements, liebe Nichte«, entgegnet Lotte. »Da findest du die Jugend, die zur reichen Oberschicht gehört, ein Leben in Luxus führt und sich zu Tode amüsiert. Ernst Fritsch hat mehrere Bilder zu dem Thema gemalt. Die Serie heißt Tanz auf dem Vulkan.«

»Jetzt verstehe ich auch den Gesichtsausdruck der Tänzer und die leeren Augen.«

Bernhard Weiß tritt zu den Frauen. Er ist klein, gedrungen, schwarzhaarig, hat eine große Nase und volle Lippen. Sein Aussehen bedient das Klischee eines Juden. Leo kennt die Karikaturen in der Hasszeitschrift der NSDAP, dem Stürmer, der auf fast jeder Seite die Losung »Juden sind unser Unglück« zelebriert, ihren Onkel als »Judenschwein« und »Isidoooor« beleidigt.

Weiß umarmt seine Nichte. Sie ist die Tochter seiner Schwester, die in Wien mit einem Pathologen verheiratet ist. »Lasst uns zu Tisch gehen.«

Das Esszimmer ist mit wertvollen Mahagonimöbeln ausgestattet, die aus der Zeit um 1910 stammen. Deutsche Gemütlichkeit und deutscher Mief. Die Frauen schnürten sich damals die Taillen ein, trugen lächerliche ausladende Hüte, durften nicht wählen und befehligten einen Trupp von Hausangestellten. Natürlich nur die Reichen. Für die Armen war und ist es egal, welche Marotten gerade angesagt sind, sie kämpfen gegen Arbeitslosigkeit und Hunger, die durch den verlorenen Krieg noch verschlimmert werden.

Auch Onkel Bernhard hat für Deutschland gekämpft und ist hochdekoriert aus dem Krieg heimgekommen – mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse. Ein Ärgernis für viele Nazis, dass ausgerechnet ein Jude wegen Tapferkeit vor dem Feind ausgezeichnet worden ist.

Keine großen Sprünge ohne Beine. Die junge Frau bekommt einen Mann nicht mehr aus dem Kopf.

Die Köchin trägt auf. Im Hause Weiß gibt es nicht unbedingt koscheres Essen, aber auf Schweinefleisch wird verzichtet. Heute gibt es Coq au Vin mit Rosmarinkartoffeln.

»Die Köchin hat eine Maispoularde ergattert«, erzählt Lotte. »Sie war bei ihren Eltern in Brandenburg und hat den Vogel mitgebracht. Wirklich ein großer Unterschied zu den rachitischen Berliner Flattermännern.«

Bernhard Weiß lacht. Er liebt seine Frau und ihr lebhaftes Wesen. Doch er macht sich auch Sorgen. Wie lange wird sie die immer frecher werdenden Diffamierungen der Nazibande gegen Juden noch aushalten?

Die Köchin serviert eine Bouillon, danach die Poularde; zwei Flaschen Bordeaux runden den Hauptgang ab.

»Wie war dein erster Tag bei den Sozis?«, fragt Bernhard Weiß. »Musstest du einen Eid auf Brüning ablegen?«

»Noch nicht. Ich bin aber zufrieden. Es ging raus zum Wedding. Da ist ein Uhrmacher ermordet worden, der junge Mädchen nackt fotografiert und die Fotos verkauft hat. Noch hat man den oder die Mörder nicht.«

»Ja, den Fall hatten wir heute in der Dienstbesprechung. Buddha wird’s schon rauskriegen.«

»Buddha« oder »Der Dicke vom Alexanderplatz«. Ernst Gennat, der die Aufklärungsquote der Berliner Kriminalpolizei in die Höhe katapultiert und die Mordinspektion gegründet hat. Der seinen Beamten verboten hat, Verdächtige körperlich zu misshandeln, um an ein Geständnis zu kommen. Dadurch ist er über die Grenzen Deutschlands hinaus berühmt geworden.

»Sehr gut!« Zufrieden schiebt Bernhard Weiß den Teller von sich. »Und du hast einen Artikel geschrieben über den Fall?«, fragt er. »Hoffentlich hast du die Polizei gut aussehen lassen.«

Leo schildert ihre Eindrücke und erwähnt den beinamputierten Bettler.

»Diese Menschen sind wirklich zu bedauern«, nickt Weiß. »Die meisten haben zwar als Kriegsversehrte eine kleine Rente, aber damit kann man keine großen Sprünge machen.«

»Dieser Bettler bestimmt nicht – ohne Beine«, gibt Leo zu bedenken.

»Pardon! Der Vergleich war nicht besonders zartfühlend«, räumt Weiß ein. »Aber dieser Mann kann sich wenigstens noch nach draußen trauen. In Berlin gibt es Heime, in denen ehemalige Kämpfer für Kaiser und Vaterland dahinvegetieren – mit weggeschossenem Gesicht, ohne Arme und Beine, durch Giftgas Hirnverletzte und andere Krüppel. Niemand darf diese Heime besuchen und den Verwandten dieser Männer hat man erzählt, dass sie im Krieg gefallen sind.«

»Bernhard! Musst du uns das Dinner verderben?«, schimpft Lotte.

»Das tut er nicht, liebe Tante«, sagt Leo. »Als Journalistin muss ich den Tatsachen ins Gesicht sehen.«

Das Dessert ist ein Vanillepudding mit gequetschten Pflaumen. Den Kaffee nimmt die Familie im Herrenzimmer. Weiß steckt sich eine Zigarre an.

»Kennst du einen Mann namens Valentin Winterstein?«, fragt Leo.

»Warum fragst du das?« Weiß pustet eine Rauchwolke in die Luft.

»Ich hab ihn zufällig kennengelernt. Ist er in Polizeiakten schon mal aufgetaucht?«

»Das kann ich dir nicht sagen, liebe Leo.«

»Auch nicht im Vertrauen?«

»Auch nicht im Vertrauen«, bestätigt Weiß ernst.

Lieschen kann nicht schweigen: Sie packt aus und die Mordinspektion packt zu. Gewaltfantasien eines Naziführers.

Eigentlich haben Lieschen Neumann, Richard Stolpe und Erich Benzinger nach dem Raubmord an Fritz Ulbrich eine gemeinsame Flucht geplant. Doch das Mädchen bleibt in Berlin und kehrt ins Elternhaus zurück. Die Beute von achtzig Reichsmark, etwas Schmuck und die Uhren werden von den beiden Männern mitgenommen und versetzt. Sie flüchten nach Stettin. Von dort wandern sie zu Fuß in ein Dorf namens Redel.

Lieschen kann den Mund nicht halten. Ganz Wedding spricht von dem brutalen Mord. Einer Bekannten erzählt sie, dass sie über den Mord einiges weiß, was nicht in der Zeitung steht. Die informiert die Polizei. Dem Verhör hält die Sechzehnjährige nicht stand: Sie gesteht den Mord und nennt ihre Komplizen. In der Wohnung der Eltern findet die Mordinspektion einen Koffer, der Stolpe gehört. Lieschen hat ihn hier deponiert, nachdem sie aus Stolpes Wohnung in Pankow Beutestücke aus dem Uhrmacherladen mitgenommen hat. Die Polizeiwachen in der Umgebung erhalten per Telegramm eine Beschreibung von Stolpe und Benzinger. Die Männer werden verhaftet. Die Mordinspektion kann einen weiteren Ermittlungserfolg verbuchen.

Leo Wolf darf die Mordsache Ulbrich inzwischen allein bearbeiten. In einer guten Woche hat sie gezeigt, dass sie nicht lockerlässt, belastbar ist und ordentlich schreiben kann. Lukas Fox hat sich weiterhin des ehemaligen Regierungsrates Dr. Karl Lübben angenommen, der wegen fortgesetzter Sittlichkeitsverbrechen und gefährlicher Körperverletzung vor dem Schöffengericht Berlin-Charlottenburg steht.

Fox geht nicht zimperlich mit Lübben um, nennt ihn einen »Hakenkreuz-Sadisten«, »wahnsinnigen Regierungsrat«, »rechtsradikalen Agitator« und »völkischen Sittenstrolch«.

»Geht es dir um seine Homosexualität oder um seine politische Nähe zu den Nazis?«, fragt Leo. Sie und Fox machen Mittagspause im Café Josty.

»Wie rum der Kerl gepolt ist, interessiert mich nicht«, behauptet Fox. »Dieser Sittlichkeitsverbrecher tut so, als wolle er harmlose Jugendliche mit den Segnungen des Dritten Reichs bekannt machen, lebt dabei aber nur seine eigenen Gewaltfantasien aus, um sich zu befriedigen. Er hat die Jungen bis aufs Blut geschlagen. Seine Spezialität an Grausamkeit war das sogenannte Rollen. Der Richter hat sich das genau beschreiben lassen. Einige Zuschauer mussten den Saal verlassen, andere blieben. Wenn ein Junge was ausgefressen hatte, wurde er zum Rollen abkommandiert. Lübben und das Kind wälzten sich auf dem Boden und der Nazi verprügelte den Jungen auf grausamste Weise, bis er halbtot liegen blieb. Dann hat er ihn missbraucht. Die anderen mussten dabei zusehen. Vor Gericht stellte Lübben seine Gemeinheiten als Abhärtung und militärische Ertüchtigung der Revanchejugend dar. Und solche Leute fühlen sich berufen, Deutschland zum Erwachen zu führen.«

Fox winkt der Kellnerin und bezahlt. Der Laubfrosch bringt sie zum Belle-Alliance-Platz. Dort wartet Alois Beckmann.

»Lieschen Neumann hat ausgepackt«, verkündet er. »Sie hat alles geplant und die beiden Jungen dazu gebracht, mitzumachen. Die Mordinspektion hat eine Depesche geschickt. An die Arbeit, Fräulein Wolf.«

Die Femme fatale droht mit einem griffbereiten Beil und der Fotograf braucht eine Stunde zum Sterben. Anwälte streiten sich um ein Mandat.

Nachdem sie mit der Mordinspektion telefoniert hat, haut Leo in die Tasten.

VERHAFTUNG DER UHRMACHERMÖRDER: EIN 16-JÄHRIGES HOCHSCHWANGERES MÄDCHEN IST DIE ANSTIFTERIN