Fräulein Wünsche und die Wunder ihrer Zeit - Juliane Michel - E-Book

Fräulein Wünsche und die Wunder ihrer Zeit E-Book

Juliane Michel

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Beschreibung

Ein Land wagt den Neuanfang und eine junge Frau kämpft gegen alle Widerstände um ihr Glück

Frankfurt, 1950: Zwischen den Trümmern ist der Wiederaufbau der Stadt in vollem Gange. Nach der Flucht aus Leipzig will sich auch Karin Wünsches Familie hier eine neue Existenz aufbauen. Die 20-jährige liebt Bücher und Geschichten und träumt von der großen weiten Welt. Als sie sich in den afroamerikanischen GI Billy verliebt, schwebt sie im siebten Himmel. Doch dann muss Billy zurück in die USA, und Karin macht eine Entdeckung, die ihr Leben auf einen Schlag verändert: Sie ist schwanger! Und sie ahnt, dass das Leben für die Mutter eines Besatzerkindes nicht leicht sein wird. Aber sie will kämpfen. Für sich und ihr Kind.

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Seitenzahl: 465

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DASBUCH

»Excuse me, is this a bookshop?« Der Schwarze Soldat deutete auf die halb gefüllten Regale.

Karin räusperte sich und suchte nach Worten. »Noch nicht ganz«, erklärte sie dann auf Englisch. »Wir eröffnen erst am Montag.«

Wie sollte sie ihn ansprechen? Auf seinem Jackenärmel prangte ein blaues Emblem mit einem Flammenschwert, darunter die Streifen seines Dienstgrades, aber sie wusste trotzdem nicht, ob er ein einfacher Soldat oder ein Offizier war. »Sir«, schickte sie ihrer Erklärung hinterher.

»My name is Billy«, sagte er.

Sollte sie auch nur ihren Vornamen sagen? Wie ungewöhnlich.

»Karin Wünsche«, entschied sie sich und streckte die Hand aus.

Zögernd betrachtete er ihre vom Winterwind rot verfrorenen Finger, bevor er sie vorsichtig ergriff. Seine Hand war warm, der Händedruck fest.

»Fräulein Karin.« Er schien jede Silbe auszukosten, und sie schmolz dahin wie Eis in der Sonne.

DIEAUTORIN

Bücher begleiten Juliane Michel schon ihr Leben lang. Sie wurde in Darmstadt geboren und studierte in Frankfurt am Main Bibliothekswissenschaften. Seit Jahren schreibt sie bereits erfolgreich Romane. Heute lebt sie mit ihrem Mann in der Nähe von Würzburg, ist aber in ihrem Herzen immer noch eine Hessin. Für die Geschichte von Fräulein Wünsche recherchierte sie akribisch über das Frankfurt der Nachkriegsjahre und sprach mit Menschen, deren Schicksal eng mit den amerikanischen Besatzern verbunden ist.

JULIANE MICHEL

Fräulein

Wünsche

und die Wunder ihrer Zeit

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Editorische Notiz

Im historischen Kontext dieses Romans verwenden die Figuren auch rassistische Wörter und Konzepte, die zu der dargestellten Zeit üblich waren.

Originalausgabe 10/2022

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Friederike Arnold

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design

unter Verwendung von Arcangel (Joanna Czogala);

Ullsteinbild (ullstein bild/Leber); Shutterstock.com

(rangizzz, normallens, Pixel-Shot)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27849-6V002

www.heyne.de

PROLOG

Juni 1946

Kohlenstaub kitzelte ihr in der Nase. Karin lag auf dem rumpelnden Laster und hoffte, dass sie nicht die falsche Entscheidung getroffen hatte. Immer weiter weg von zu Hause ging die Fahrt. Um in der dunklen Nacht nicht sofort erkannt zu werden, hatte sie ein graues Kopftuch um ihre blonden Zöpfe gebunden. Ihre wenigen Habseligkeiten steckten in ihrem Rucksack, die Kleidung trug sie auf dem Leib. So abgemagert, wie sie war, fielen die übereinandergezogenen Röcke und Pullover unter ihrem schwarzen Wintermantel überhaupt nicht auf.

Der nächtliche Himmel riss auf, und auf einmal konnte sie die Sterne erkennen. Egal, was auf der Erde passierte, es funkelten immer die gleichen Sterne. Da war der Polarstern und dort der Große Wagen. Ihre Mutter hatte sie ihr gezeigt, damals, als man noch keine Angst zu haben brauchte, es könnten Bomben auf einen herabfallen.

Jetzt glich der Himmel wieder einer endlosen Weite und einem großen Versprechen.

Neben ihr lagen drei Jungs. Sie kannten sich nicht, hatten aber dasselbe Ziel: die amerikanische Zone.

Karin war sechzehn Jahre alt und wollte eine Zukunft haben, wenn der Krieg ihr schon die Kindheit genommen hatte. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten. Stück für Stück hatten die Russen ihr alles kaputt gemacht. Sie durfte noch nicht mal mehr in die Schule gehen, nur weil sie sich geweigert hatte, Russisch anstelle von Französisch zu lernen. Russisch war eine schreckliche Sprache. Der Klang erinnerte sie immer wieder an den Tag, an dem ihre Oma erschossen worden war.

Karin wollte auch nicht in die FDJ, schon wieder so ein Verein, der die Jugend belügt, hatte ihr Vater gesagt. Sie wollte mit ihm zusammen die Buchhandlung wiederaufbauen, inmitten von Geschichten und Versprechungen auf eine bessere Zukunft leben. Doch auch die Buchhandlung hatten die Russen ihnen weggenommen. Jetzt arbeitete ihr Vater als Maurer. Und Opa war noch immer im Lager, ohne Aussicht auf ein Gerichtsverfahren, während auf seinen zusammengeflickten Druckmaschinen Propaganda der sowjetischen Militäradministration gedruckt wurde.

Nach dem Schulrauswurf hatte Karin erst einmal auf dem Land den Jungbauern beim Pflügen helfen müssen. Endlich raus aus der Steinwüste. Nur zu essen gab es dort leider auch nicht genug.

Dort hatte sie von dieser Fluchtmöglichkeit gehört. Sie hoffte, nach Frankfurt am Main zu ihrer Tante Elvira zu gelangen und dort aufs Gymnasium gehen zu können. Sie wollte lernen, mehr von der Welt erfahren. Und wenn sie dann nach Leipzig zurückkehren würde, hätte ihr Vater sicher längst eine neue Buchhandlung aufgemacht. So lautete der Plan, an den Karin sich klammerte, während der Laster Richtung Grenze fuhr.

Ein Klopfen schreckte sie aus ihren Gedanken. Das vereinbarte Signal, sich unter den leeren Säcken zu verstecken. Der Staub nahm ihr den Atem, auf einmal musste sie an die Gasmaskenübungen beim BDM denken. Rasch fingerte sie ein Taschentuch aus der Jacke, hielt es sich vor den Mund und atmete flach.

Eine Kuh muhte, der Laster holperte über Kopfsteinpflaster, dann war es wieder still. Karin bekam keine Luft mehr, wollte die Säcke zur Seite reißen, durfte nicht.

Da, ein zweifaches Klopfen. Zeit abzuspringen. Sie kroch hervor, einer der Jungs ließ sich leise fallen, sie folgte ihm. Der nächste Junge traf beinahe ihren Kopf.

Im silbernen Mondschein schlichen sie über die Felder. Frische Heugarben dufteten süßlich, ein Bach gluckerte, hinter einem Busch ragte ein weißes Schild empor.

Ende der russischen Zone. Durchgang und Durchfahrt verboten stand unter den kyrillischen Buchstaben, die Karin zwar lesen konnte, aber nicht verstehen wollte.

Sie grinsten sich an, Karin nahm Anlauf und flog voller Zuversicht über den Bach in die Zukunft.

Ihr Fuß knickte um, stechende Schmerzen fuhren ihr ins Bein, und sie musste innehalten.

Die anderen verschwanden schon in einem Wald, sie humpelte hinterher. Border Zone. Grenze amerikanischer Sektor war hier aufs Schild gepinselt worden. Die trockenen Blätter auf dem Waldboden knirschten. Einer der Jungen stoppte und hielt sich die Hand ans Ohr. Alle verharrten und lauschten. Jetzt vernahm auch Karin leise Motorengeräusche.

Die Jungs stoben in alle Richtungen davon, und Karin konnte mit dem verknacksten Fuß nicht mithalten. Kalte Angst erfasste sie. Schritt für Schritt schlich sie vorwärts. Da, wieder Motorengeräusche.

»Stopp! Stehen bleiben«, rief eine männliche Stimme. Karin versteckte sich wie Winnetou hinter einem Baum. Auf einmal tauchte eine Waffe vor ihrem Gesicht auf. Vor Schreck bekam sie keine Luft mehr. Ein Mann packte sie hart am Arm und drückte sie gegen den Baum.

Er trug eine grüne Uniform und auf dem Kopf einen dunklen Helm mit gelben Streifen. In der Mitte prangte ein großes C mit einem roten Blitz. United States Constabulary las Karin. Ein Amerikaner. So ein Mist.

»Interzonenpass?«, fragte er mit deutlichem Akzent und zielte noch immer auf ihr Gesicht. Sie schüttelte den Kopf. Seine Augen konnte sie unter dem Helm nicht erkennen, nur den leichten Sonnenbrand auf der Nase. Ob er sie erschießen würde? Bloß nicht zugeben, dass sie aus der sowjetischen Zone stammte, sie wollte nicht zurückgeschickt werden. Den Russen war es nur recht, wenn die Deutschen ihre Zone verließen, in jedem Flüchtling sahen sie einen Faschisten, der beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft nur im Weg gewesen wäre. Aber willkommen waren sie in den anderen Besatzungszonen deswegen nicht, überall gab es zu wenig Lebensmittel und Wohnraum.

Er griff nach ihrem Rucksack, öffnete ihn. Neben Wäsche und Lebensmitteln hatte sie einen Band Rilke-Gedichte dabei. Ihr Herz trommelte in ihrer Brust, und sie bekam kaum noch Luft. Was, wenn er hineinschaute? Sie hatte ihren Personalausweis zwischen die letzten Seiten geklebt.

Anstatt das Buch zurückzulegen oder auszuschütteln, blätterte er interessiert die Seiten durch. Wieso musste sie ausgerechnet an einen Soldaten geraten, der Gedichte mochte? Schon hielt er die letzte Seite zwischen seinen Fingern, befühlte, was sich dort verbarg, und klappte ein Taschenmesser auf.

Sie taumelte, ihr wurde schwindelig vor Angst. Was würde jetzt mit ihr geschehen?

Ein Blick auf die kyrillischen Buchstaben genügte. Der Amerikaner zerrte sie am Arm durch den Wald. Dabei hatte sie sich solche Hoffnungen gemacht, als Leipzig letztes Jahr von der US-Army eingenommen worden war. Sogar Opas englische Sherlock-Holmes-Bücher hatte sie gelesen, um ihr Englisch aufzupolieren.

Und dann hatten sie die Stadt an die Russen übergeben.

Auf einem Feldweg wartete ein Jeep, die drei Jungs saßen mit hängenden Köpfen auf der Rückbank. Karin musste sich zwischen sie quetschen. Wenigstens bekam sie den Rilke zurück.

»Bücher filzen sie immer«, raunte ihr ein Junge zu. »Besser, man hat gar keine Papiere dabei.«

»Am besten ist es, man wird gar nicht erst geschnappt«, flüsterte der andere.

»Das nächste Mal probiere ich es bei den Briten«, meinte der dritte. »Die Tommys sollen nicht so streng sein.«

Aber Karin war sich nicht sicher, ob sie das noch einmal durchmachen wollte. Sie zitterte am ganzen Körper, nicht vor Kälte, sondern vor Angst. Wie konnte sie nur so unvernünftig sein und sich in die Nähe von Soldaten begeben, sie wusste doch, dass die Besatzer die Zonengrenzen kontrollierten. Ihr war, als ob sie wieder den Wodka riechen würde, und auf einmal musste sie sich übergeben.

Verhöre und Formulare, dann wurde sie zu vielen anderen Mädchen in einen Raum gesperrt, wusch sich an einem Eimer und bekam Brot zu essen. Nach zwei Tagen wurde sie zusammen mit anderen Jugendlichen zum Grenzübergang Bebra-Eisenach gebracht. Hinter dem Grenzbalken warteten bereits die schwarz gekleideten sowjetischen Grenzsoldaten.

Wieder wurde Karin vor Angst und schlechten Erinnerungen übel, aber dieses Mal schaffte sie es, sich zu beherrschen. Damit sie sie ohne Probleme passieren ließen, gab sie den sowjetischen Soldaten ihre gesamten Ersparnisse. Für den Rückweg brauchte sie mehrere Tage, fuhr bei Bauern auf Pferdewagen mit oder kletterte auf die übervollen Züge.

Als sie endlich wieder zu Hause in der Karl-Liebknecht-Straße eintraf, saß ihre jüngere Schwester Vera lesend am Küchentisch.

»Du bist wieder zurück!« Sie fiel ihr stürmisch um den Hals. »Wie kannst du nur abhauen, ich hatte solche Angst um dich.«

»Mir passiert schon nichts, Unkraut vergeht nicht.« Karin wusch sich die Hände, und als sie sich setzte, fiel eine schwere Last von ihr ab.

»Was liest du?«, fragte sie Vera neugierig.

»Vom Winde verweht.« Vera hielt das verkohlte Buch hoch, das Karin nach der Bombardierung zwischen den Trümmern ihrer Wohnung gefunden hatte.

»Findest du nicht, dass du mit vierzehn noch ein bisschen zu jung dafür bist?«

»Ich liebe Scarlett O’Hara«, sagte Vera.

»Ich hasse Amerikaner«, antwortete Karin.

1

DAS HERZ ALLER DINGE

Silvester 1949

Noch ein Tag, und das neue Jahrzehnt begann. Endlich kamen neue Zeiten, und endlich würde Karin da sein, wo sie immer sein wollte: bei ihrem Vater in der Buchhandlung, umgeben von Büchern, Menschen und Geschichten, die sie so sehr liebte. Nur, dass diese Buchhandlung sich nicht in Leipzig, sondern in Frankfurt am Main befand. Auf dem Weg dorthin folgte sie ihm mit dem Handkarren vorbei an leer geräumten Bombenkratern, vereinzelt wieder aufgebauten Häusern und riesigen Kinoplakaten mit Reklame für Der dritte Mann.

Hatte das nicht Graham Greene geschrieben? Sie reckte den Kopf, um die Ankündigung auf dem Plakat besser lesen zu können. Für einen Moment achtete sie nicht mehr auf den Weg und prallte gegen einen Passanten. Der Griff des Karrens stieß ihr in den Rücken, und sie blickte verärgert hoch.

Ein GI mit einer Kamera um den Hals.

»Sorry.« Er ging einen Schritt rückwärts und tippte sich mit der Hand an die Schiffchenmütze. Die Haare darunter waren millimeterkurz, seine Haut kastanienbraun.

»O nein, das war meine Schuld«, sagte sie spontan auf Deutsch. Ihre Englischkenntnisse waren völlig eingerostet.

Mit gerunzelter Stirn untersuchte er seine Kamera. Ob sie durch den Zusammenprall beschädigt worden war? Bestimmt gab es dann Ärger.

Irgendwie machte er sie nervös, dabei sah sie hier in Frankfurt ständig amerikanische Soldaten. Aber sie hatte noch immer nicht vergessen, wie sie sie mit siegessicherem Lächeln zurück nach Leipzig geschickt hatten, wo Hoffnungslosigkeit und Hunger auf sie gewartet hatten.

Er richtete die Kamera auf die unzerstörte Fassade des Bieberbau-Kinos, dann das erlösende Klicken. Nichts war passiert.

Karin kratzte ihre letzten Englischkenntnisse zusammen und versuchte zu erklären, dass sie nur aufs Kinoplakat von Der dritte Mann geachtet habe. Plötzlich ließ er die Kamera sinken und sah sie mit seinen braunen Augen an, als ob er sie jetzt erst richtig wahrnehmen würde. Ein fast unmerkliches Lächeln spielte um seinen wohlgeformten Mund, und ihr wurde auf einmal ganz heiß trotz der kalten Winterluft. Sein Lächeln wurde breiter, und sie erwiderte es zaghaft.

Doch er tippte sich nur an die Mütze und setzte seinen Weg fort. Aus der Tasche seiner olivfarbenen Uniformjacke ragte ein Buch, sie versuchte, den Titel zu erkennen, und sah ihm unwillkürlich nach, wie es sich für eine Frau eigentlich nicht gehörte.

»Trödel nicht so, Karin«, rief ihr Vater.

Seufzend wandte sie sich um. »Komm ja schon.«

Sie eilte hinter ihm her. Mit seinem schwarzen Hut und dem grauen Mantel fiel er nicht weiter auf, aber sie würde ihren stets aufrecht gehenden Vater, den Buchhändler Justus Wünsche, den all das Leid der vergangenen Jahre nicht hatte brechen können, überall wiedererkennen. Er sprach nie darüber, weder über die Ardennenoffensive, das Kriegsgefangenenlager am Rhein oder die Heimkehr nach Leipzig, als er am Grab seiner Mutter geweint hatte. Noch nie hatte Karin ihren Vater vorher oder danach jemals weinen sehen.

Als er an der Schillerstraße warten musste, holte sie ihn endlich ein. Eine Tram fuhr klingelnd an ihnen vorbei. In Frankfurt hieß die Bimmel nicht Bimmel, obwohl sie fast noch mehr klingelte als in Leipzig. Aber hier sagte jeder Tram, das hatte Karin wie so vieles andere auch schnell gelernt, seit sie im September 1948 in Frankfurt eingetroffen waren.

Der Schutzmann mit der Trillerpfeife gab den Weg frei, und sie passierten die dunkle Ruine der Hauptwache und die hohen Neubauten mit Leuchtreklame für die Frankfurter Rundschau und Mouson-Creme, Zeichen des rasanten Wiederaufbaus.

Die Zeil, Frankfurts wichtigste Einkaufsstraße, schien sowieso keinen Stillstand zu kennen. Der Kaufhof hatte bereits wieder zwei Stockwerke, und ganz Frankfurt sprach davon, dass er bald abgerissen und noch größer und moderner wieder aufgebaut werden würde.

Vor der notdürftig reparierten Kleinmarkthalle bog ihr Vater in die schmale Hasengasse ab. Hier standen fast keine Häuser mehr, sie näherten sich unverkennbar der zerstörten Altstadt.

»Hoffentlich entscheiden die Politiker bald, dass hier gebaut werden darf«, sagte Karin.

»Was fändest du denn besser?«, fragte ihr Vater. »Den mittelalterlichen Stadtkern abreißen oder die historischen Gebäude rekonstruieren?«

»Was schneller geht.« Sie gingen an einem Jungen in kurzen Hosen vor einer Kellertür vorbei. Hinter ihm erkannte Karin Matratzen und einen Eimer. Das Haus über dem Keller stand nicht mehr. »Es fehlen so viele Wohnungen.«

»Und Geschäfte.« Er wies auf einige Baracken am Straßenrand. Schnell gezimmerte Holzbuden. Hauptsache, man konnte seine Waren irgendwo verkaufen.

An der Ecke zur Töngesstraße zeigte er voller Stolz auf eine der Bretterbuden, hinter der auf einem Trümmerberg dürres Wintergras wuchs.

»Das ist sie. Unsere Frankfurter Buchhandlung Wünsche.«

Sie war winzig, aber Karin fand sie wunderschön. Durch das weiß gestrichene Holz fiel sie sofort auf, zwei größere Fenster zum Dekorieren besaß sie auch, und als sie durch die dreckigen Fenster spähte, erkannte sie deckenhohe Regale, einen Tisch, mehrere Stühle. Es war karg, aber ein Neubeginn, und das war alles, was zählte.

Es dauerte, bis ihr Vater das verrostete Vorhängeschloss aufbekam. Ein Schwall staubiger Luft stieg Karin in die Nase, durchmischt mit dem Geruch nach Leder und Schuhcreme. An der Decke brannte eine fahle Glühbirne. Vorher war hier ein Schuhladen gewesen. Das Geschäft musste gut gegangen sein, denn der Schuster besaß mittlerweile einen großen Laden auf der Zeil.

»Na, Karin, was sagst du?« Ihr Vater nahm den Hut ab und drehte sich langsam im Kreis. Sein blondes Haar fiel ihm trotz des akkurat gekämmten Seitenscheitels widerspenstig in die Stirn, seine sonst so bleichen Wangen waren vor Freude gerötet, und seine Augen blitzten.

Und für einen Moment sah sie wieder die alte, mehrstöckige Buchhandlung am Leipziger Marktplatz vor sich: Bücher über Bücher in deckenhohen Regalen, den weinroten Teppichboden, die alten Ölgemälde und den funkelnden Kronleuchter. Sie seufzte.

»Keine Angst, das wird bestimmt ganz wunderbar!«

»Ich musste nur gerade an zu Hause denken.« Sie rieb sich die kalten Hände. Noch immer wurde sie wütend, wenn sie an den Tag dachte, als die Russen sie aus ihrer Buchhandlung warfen.

Er strich sich die Haare aus der Stirn. »Wenn Deutschland erst mal wiedervereint ist, bekommen wir alles zurück, verlass dich darauf.«

Das sagte er oft, aber Karin glaubte nicht mehr daran.

»Und wann kommen die neuen Bücher?«, fragte sie.

»Jeden Moment, wir sollten uns beeilen!«

Sie nickte und band sich das graue Tuch um den Kopf. Zöpfe hatte sie keine mehr, die hatte sie sich gleich am ersten Tag in Frankfurt abschneiden lassen. Jetzt reichten ihr die welligen Haare bis zum Kinn.

Von einem Hydranten zwei Häuser weiter holte Karin Wasser. Dann schlüpfte sie aus ihrem Mantel und zog sich über ihren alten braunen Rock und den Norwegerpullover aus der Kleidersammlung eine Schürze an. Zuerst putzte sie einen fensterlosen Raum, der Lager und Büro gleichzeitig werden sollte, danach war der Ladenraum dran, der mit einem kleinen Bollerofen beheizt werden konnte. Sonst würde es in der Holzbaracke verdammt kalt werden.

»Herr Wünsche?« Ein Mann im weißen Malerkittel stand vor der Bude. »Isch hätt da Ihne Ihr Schild!«, sagte er in breitem Frankfurterisch und hielt es wie zum Beweis hoch: ein weißes Holzschild, auf dem in roter, geschwungener Schrift Buchhandlung Wünsche stand.

»Ah!« Ihr Vater ging zu ihm. »Sehr nett von Ihnen, dass Sie es mir trotz der Betriebsferien zwischen den Jahren vorbeibringen!«

»Na ja, wenn Sie am Montag uffmache wolle …« Der Mann streckte die Hand aus, und ihr Vater gab ihm ein Trinkgeld. Obwohl sie wenig hatten, war er immer großzügig.

Schnell brachten sie das Schild an, und der Maler verabschiedete sich. »Dann einen guten Rutsch und alles Gude für Ihrn Lade!«

Ob jetzt endlich die Bücher kamen? Karin konnte es kaum erwarten, sie war ganz unruhig vor Freude und schaute ständig zur Tür. Doch als sie Schritte hörte, waren es nur ihre Mutter und Vera.

Alma Wünsche stellte einen Einkaufskorb auf den Tisch. Der schwarze Mantel schlotterte um ihre schmalen Schultern, und erste weiße Strähnen waren in den braunen Haaren zu erkennen. Karins Mutter arbeitete in einer Anwaltskanzlei als Buchhalterin, aber in Leipzig, da hatte sie die Buchhandlung durch den Krieg gebracht und auch in Zeiten von Papierknappheit und täglichen Bombenalarmen ihre Kunden mit tröstendem Lesestoff versorgt. Sogar Baumaterialien für die provisorische Reparatur nach der großen Bombardierung im Dezember 1943 hatte sie organisiert. Nur gegen die Enteignung war auch sie machtlos gewesen.

»Wie gut, dass das Schild schon da ist!« Sie zog ihren Mantel aus, unter dem sie bereits ihre braun karierte Kittelschürze trug. »Sonst kann man ja gar nicht erkennen, dass das hier eine Buchhandlung ist.« Sie deutete auf die leeren Regale.

»Und wo sind die Bücher?« Karins Schwester Vera folgte ihrer Mutter. Sie ging noch zur Schule, und auf ihre langen, braunen Zöpfe wollte sie noch nicht verzichten. Karin fand, dass sie viel jünger als siebzehn wirkte. Bestimmt lag es daran, dass sie den Krieg bei Verwandten in Thüringen verbringen durfte und nie die Todesangst während einer Bombardierung erlebt hatte. Da es dort aber kein Lyzeum gegeben hatte, war Karin notgedrungen in Leipzig geblieben.

Justus Wünsche schaute auf die Uhr. »Ich habe die Lieferungen am Bahnhof sammeln und lagern lassen, der Spediteur sollte jeden Moment kommen.«

»Sei nicht so ungeduldig, wir müssen ja erst noch putzen.« Ihre Mutter ergriff den Besen.

Vera schnappte sich Lappen und Eimer. »Wie gut, dass du heute nicht bei Herrn Böttcher arbeiten musst, Karin.«

Das stimmte, obwohl Karin natürlich dankbar war, so schnell eine neue Lehrstelle gefunden zu haben, und dann auch noch in einer großen Universitätsbuchhandlung. In Leipzig hatte sie erst fast ein Jahr nach der vergeblichen Flucht mit ihrer Lehre angefangen.

»Hier ist es so schön, wer will da noch woanders arbeiten?«, fragte sie.

Vera nickte ihr lächelnd zu und fing mit dem Putzlappen eine Spinne ein. Schnell waren sie fertig, und die blitzsaubere Bude wartete genauso wie Familie Wünsche auf die Bücher.

»Hunger?«, fragte ihre Mutter und öffnete ihren Korb. »Ich habe Kaffee dabei und Wurstbemmen.«

»Mama, wir sind nicht mehr in Sachsen.« Karin zog das Kopftuch aus und schüttelte ihre Haare. »Hier heißen die Bemmen Brotscheiben.«

»Na, dann eben Wurstbrot. Mit Gurken.«

Karins Lieblingsbrote, schon beim Gedanken daran lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie setzten sich auf die wackeligen Stühle, ihre Mutter schenkte die mitgebrachten Tassen voll mit heißem Muckefuck. »Besser als nichts«, lautete ihre übliche Bemerkung.

Vater schaute schon wieder auf die Uhr. »Wenn das nicht klappt … ich hab doch erst heute den Schlüssel bekommen, und am zweiten Januar wollen wir aufmachen, wie sieht das denn aus, wenn die Regale noch leer sind …«

»Wird schon, Justus, wird schon«, beruhigte ihre Mutter ihn.

Da klopfte es, und alle sprangen erwartungsvoll auf, aber es stand nur Tante Elvira vor der Tür.

»Das ist ja eine Bruchbude«, sagte sie anstelle einer Begrüßung und wischte sich Staubflusen von ihrem schwarzen Persianermantel. Tante Elvira war eigentlich Karins Großtante, die Schwester von Großvater Wünsche und die Witwe eines Pelzhändlers. Der Persianer war ihr, neben einer Nerzstola, als einziger Pelzmantel geblieben – die anderen hatten ihren Weg auf den Schwarzmarkt gefunden und ihre Freunde und sie vor dem Verhungern bewahrt. Jetzt war ihr Haus voller Ausgebombter und Vertriebener, doch Tante Elvira freute sich, wenn sie helfen konnte.

»Du hast als Maurer gearbeitet, und dann mietest du ein Holzhaus? Und hier willst du Bücher aufbewahren?« Mit dem Lederhandschuh strich Tante Elvira über die Regalbretter, aber Staub konnte sie natürlich keinen mehr finden.

»Ist ja nur für den Übergang. Ich bin so froh, endlich was gefunden zu haben und die Maurerkelle an den Nagel hängen zu können.«

Karin wusste, dass er gerne als Maurer gearbeitet hatte. Vor allem in Leipzig, zusammen mit Opa Buschke, dem Vater ihrer Mutter. Der gelernte Maurermeister hatte ihm alles beigebracht, und ihr Vater schien die körperlich anstrengende Arbeit gebraucht zu haben, damit er seinen Kopf frei von seinen Kriegserinnerungen bekam.

Der Gedanke an die in Leipzig gebliebenen Eltern ihrer Mutter schnürte Karin die Kehle zu. Für sie war eine Flucht nicht infrage gekommen – ihr Maurerbetrieb florierte, zudem war Opa Buschke in die SED eingetreten und hatte kein Verständnis für ihre Fluchtpläne gehabt.

Als Tante Elvira an einem Regal rüttelte, schwankte es. »Es ist ja noch schlimmer, als ich es befürchtet habe.«

»Dafür gibt es endlich wieder eine Buchhandlung Wünsche.«

»Richard hätte das nie und nimmer als Buchhandlung bezeichnet.« Erschrocken legte sie die Finger an die Lippen. »Entschuldigung. Das wollte ich nicht. Dein Vater wäre bestimmt froh, wenn er hier bei dir sein dürfte, egal, wie die Buchhandlung aussieht. Ganz allein in einem Internierungslager an Typhus zu sterben, das hat mein Bruder nicht verdient.« Betrübt schüttelte sie ihre silbergrauen Haare. »Wie konnte das nur passieren?«

»Wir werden es nie erfahren.« Justus legte ihr die Hand auf die Schulter. »Aber wir sind dir so dankbar, dass du uns bei dir aufgenommen hast.«

»Das war doch selbstverständlich, Justus.« Sie blickte ihn an. Karin fiel auf, dass die beiden sich im Profil ähnlich sahen. Sonst nicht, sie war klein und dick und ihr Vater groß und schlank.

»Aber wo sind denn eigentlich die Bücher?«, meckerte Tante Elvira schon wieder.

»Die kommen bestimmt gleich.«

»Ich halte es immer noch für einen Fehler, direkt nach dem Weihnachtsgeschäft zu eröffnen.« Sie machte eine ausladende Geste. »Den größten Umsatz des Jahres hast du gerade verpasst. Nicht, dass du bis zum nächsten Weihnachtsfest pleite bist.«

Justus stützte die Hände in die Seiten. »Wir schaffen das, Tante, du wirst sehen.«

»Ganz bestimmt!«, bekräftigte Karin.

Plötzlich klopfte es. Draußen stand ein dicker Mann mit Schnauzbart und einer Postmütze auf dem Kopf.

Während ihr Vater die Lieferungen entgegennahm, räumten sie die Putzsachen schnell in den Handwagen. Er erklärte noch einmal genau, wie sie die Bücher auf dem Lieferzettel abhaken und auszeichnen, also den Preis und das Lieferjahr mit Bleistift auf den inneren hinteren Buchdeckel schreiben sollten. Dann öffnete er die erste Holzkiste.

»Vom Desch Verlag«, sagte er voller Inbrunst und strich wie immer mit der Hand sanft über die Bücher.

»Die Geschlagenen von Hans Werner Richter.« Er klang ehrfürchtig. »Er ist der Kopf der Gruppe 47, die die deutsche Literatur erneuern will.«

Vorsichtig öffnete Karin ihr Paket. Es kam aus Berlin, von Suhrkamp, dem früheren S. Fischer Verlag. Thomas Mann, Stefan Zweig, Gerhard Hauptmann. Vorsichtig nahm sie Band für Band heraus, verglich sie mit der Bestellung und dem Lieferschein und schrieb mit Schönschrift die Preise hinein. Sie liebte den Geruch von Papier, die rauen oder glatten Seiten, feine Leinen- oder Halbleinenbände mit Lesebändchen und bunten Schutzumschlägen. Manche Verlage lieferten die besonders kostbaren Bücher sogar in Zellophan verpackt! Und natürlich liebte sie die Geschichten in den Büchern.

Fürs Einräumen in die Regale war Vera zuständig. Mit Vaters Plan in der Hand summte sie dabei leise vor sich hin. Tante Elvira half, in dem sie das Packpapier ordentlich glättete und in einer Ecke stapelte, damit man es wieder verwenden konnte. Sogar die Bindfäden rollte sie sorgfältig auf.

»Justus!«, rief sie auf einmal entsetzt und deutete auf den Packen Zeitungen, den er gerade auf einem Tisch ausbreitete. »Du verkaufst auch diese billigen Romane von Rowohlt? Das sind doch keine Bücher, das sind – Zeitungen!«

»Auf den Inhalt kommt es an. Papier und Maschinen gibt es zwar langsam wieder, um Bücher zu drucken, aber Geld, um sie zu bezahlen, daran mangelt es den meisten Kunden noch.«

»Du solltest sie ins Schaufenster legen«, sagte Karin. »Der Böttcher verkauft sie nämlich nicht, und es kommen viele, die nach den Büchern fragen.«

»Bücher«, schnaubte Tante Elvira.

»Gute Idee mit dem Schaufenster.« Ihr Vater reichte Karin den Zeitungsstapel. »Auszeichnen müssen wir sie nicht, der Preis steht ja drauf.«

Blieb die Frage, wie sie die Hefte auf dem schmalen Fensterbrett dekorieren sollte. Hinstellen konnte man sie schließlich nicht.

Vor dem Fenster herrschte das übliche Gewimmel. Irgendeine Bewegung brachte Karin dazu aufzublicken. Und da ließ ein Schwarzer Soldat auf der anderen Straßenseite gerade seine Kamera sinken. Sie erkannte ihn sofort – den Mann von heute Morgen. Er sah zu ihr hinüber und überquerte die Hasengasse. Wollte er etwa zu ihnen? In die Bude? Da öffnete er bereits die Tür.

Wir haben noch nicht auf, wollte sie sagen, starrte aber nur die Uniform an und brachte kein Wort außer »Hello« heraus.

»Excuse me, is this a bookshop?« Er deutete auf die halb gefüllten Regale. Die anderen hielten mit der Arbeit inne.

Karin räusperte sich und suchte nach Worten. »Noch nicht ganz«, erklärte sie dann auf Englisch. »Wir eröffnen am Montag.«

Wie sollte sie ihn ansprechen? Auf seinem Jackenärmel prangte ein blaues Emblem mit einem Flammenschwert, darunter die Streifen seines Dienstgrades, aber sie wusste trotzdem nicht, ob er ein einfacher Soldat oder ein Offizier war. »Sir«, schickte sie ihrer Erklärung hinterher.

Er sah sie unverwandt an, ohne eine Miene zu verziehen. Hatte sie etwas falsch gemacht?

»Sie mögen wohl Graham Greene«, sagte er auf Englisch und deutete auf den Zeitungsroman in ihrer Hand.

Verdutzt schaute sie genauer hin. Tatsächlich, Graham Greene. Das Herz aller Dinge. Sie musste unwillkürlich schmunzeln.

Er erwiderte das Lächeln. Es erfasste sein ganzes Gesicht, die Nase, die schmalen braunen Augen, und Karin fiel eine Windpockennarbe an seiner Wange auf.

»Haben Sie auch Bücher auf Englisch? Ich würde gerne etwas von Graham Greene lesen.«

Sie drehte sich nach ihrem Vater um, der schüttelte den Kopf.

»Oder Ernest Hemingway?«

»Nur auf Deutsch.«

»Schade. Dann will ich Sie nicht länger stören.« Er tippte sich wieder an seine Schiffchenmütze, wie vorhin auf der Straße. Karin öffnete ihm die Tür.

Er zog ein Päckchen Lucky Strike aus seiner Brusttasche und bot ihr eine an. Sie zögerte. Einerseits wollte sie sich gerne länger mit ihm unterhalten, andererseits musste sie sich um die Bücher kümmern.

Doch dann folgte sie ihm nach draußen und griff zu, dabei rauchte sie nur selten. Er gab ihr Feuer und schaute ihr in die Augen. Ein Blick voller Melancholie. Karins Herz vollführte auf einmal einen Trommelwirbel, und sie wandte sich schnell ab und zog an der Zigarette, um sich zu beruhigen.

Vergeblich.

Er entzündete seine Zigarette. Als er das Streichholz ausblies, sah er sie eindringlich an, sodass sie den Blick senkte und die Kamera betrachtete, die an einem Band um seinen Hals hing.

»Sind Sie ein …?« Das englische Wort photographer wollte ihr nicht über die Lippen kommen, sie deutete auf die Leica.

»No.« Er zog an seiner Zigarette. »Das sind nur Erinnerungen. Für meine Familie. Mein Bruder war in Frankfurt, ich will ihm zeigen, wie sich alles verändert hat.«

Sie nickte. »War er …« Was hieß nur Kapitulation? »War er hier, als der Krieg zu Ende war?«

Er nickte. »My name is Billy«, sagte er auf einmal.

Sollte sie auch nur ihren Vornamen sagen? Wie ungewöhnlich. »Karin Wünsche«, entschied sie sich und streckte die Hand aus.

Zögernd betrachtete er ihre vom Winterwind rot verfrorenen Finger, bevor er sie vorsichtig ergriff. Kurz fragte sie sich, ob sich braune Haut anders als weiße anfühlen würde. Aber seine Hand war warm, der Händedruck fest. Und völlig normal. Mehr als normal. Angenehm. Er sah ihr wieder in die Augen, und als er sie anlächelte, erwiderte sie den sanften Druck.

»Fräulein Karin.« Er schien jede Silbe auszukosten, und sie schmolz dahin wie Eis in der Sonne.

»Haben Sie schon einmal etwas von Graham Greene gelesen?«, fragte sie.

Er nickte. »Brighton Rock.«

»Ich auch! Was für ein großartiges Buch.« Langsam fielen ihr immer mehr Vokabeln ein. »Eine junge Frau auf der Suche nach einem Mörder.« Sie musste unbedingt wieder englische Bücher lesen.

»Welcher Roman war das?« Er deutete mit der Zigarette auf die Buchhandlung.

Schnell ging sie hinein und holte das Heft. »Das Herz aller Dinge.« Auf der Rückseite stand der Originaltitel. »The Heart of the Matter, kennen Sie das?«

Er schüttelte den Kopf.

Neugierig blätterte sie hinein. »Es spielt in Afrika.«

»Ein Weißer, der über Afrika schreibt.« Er trat seine Zigarette aus.

»Es geht um eine Kolonie während des Krieges, wenn ich es richtig verstehe. Aber ich werde es lesen!«

Sie hätte sich auf die Zunge beißen können. Das klang ja, als ob sie ihn wiedersehen wollte. Andererseits wollte sie das ja auch. Mit einem Amerikaner über Literatur reden zu können war aufregend. Normalerweise ging es bei den GIs immer nur ums Feiern, jedenfalls wenn sie den Erzählungen ihrer Mitschülerinnen in der Berufsschule Glauben schenkte. Um die ihr hinterherpfeifenden Soldaten machte Karin immer einen großen Bogen.

Aber Billy war anders, so ernsthaft. Und er las gerne!

Da fiel ihr noch etwas ein.

»Im Amerikahaus an der Taunusanlage gibt es eine Bibliothek mit englischsprachigen Büchern.«

Erstaunt hob er die Augenbrauen. »Danke, die werde ich mir ansehen.«

Er klopfte sich den Staub von seiner Hose und schaute ins Innere der Buchhandlung, in der längst wieder fleißig geräumt wurde.

»Ist das Ihre Familie?«, fragte er.

»Ja, am Montag soll Eröffnung sein, da haben wir noch viel zu tun.«

»Sie sind also die Tochter eines Buchhändlers«, sagte er und lächelte sie an. »You lucky girl.«

Sie spürte, wie sie rot wurde. Aber er hatte recht – sie war ein glückliches Mädchen.

»Wir haben lange auf diesen Tag gewartet«, sagte sie. Ihr Blick fiel auf die Kamera. Ob sie ihn bitten sollte, ein Foto von ihnen zu machen, als Erinnerung an diesen Tag? Aber dann ließ sie es bleiben. Sie kannte ihn ja gar nicht.

Er tippte sich an die Mütze, nickte ihr zu und wünschte ihnen viel Erfolg. Karin sah ihm nach, bis er in die Zeil abbog, und hoffte, dass er wiederkommen würde.

Vera öffnete ihr die Tür. »Hattest du keine Angst vor ihm?«

»Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?«, ahmte Karin das Kinderlied nach. »Sei nicht so kindisch, Vera.«

»Woher kennst du ihn denn?«

»Ich kenne ihn nicht, wie kommst du denn auf die Idee?«

»Na, so wie du ihn angesehen hast. Und er dich.«

»Du übertreibst.« Karin löschte ihre Zigarette und betrat wieder den Laden.

»Mich hat er gar nicht beachtet.« Vera seufzte. »Aber kein Wunder, du bist ja auch viel schöner als ich.« Sie schnippte die nussbraunen Zöpfe auf den Rücken.

»Gar nicht.«

»Sicher. Blonde Haare, blaue Augen, das mögen die Männer. Du hast auch viel mehr Busen als ich. Und ein wunderschönes Gesicht!«

»Und meine Stupsnase?« Sie fasste sich an die Nasenspitze.

»Die sieht genauso frech aus, wie du es bist«, sagte ihr Vater. »Der GI hat mich auf eine Idee gebracht. Vielleicht schaffe ich noch Platz für englischsprachige Literatur. Bestimmt sind Importe aus England und den USA bald leichter zu bekommen.« Nachdenklich legte er die Hand ans Kinn und bat Vera, ihm den Regalplan zu geben.

»Aber pass bitte auf, wenn du dich mit den Kunden unterhältst, Karin!« Ihre Mutter rückte die gestapelten Bücher gerade. »Du hast sehr vertraut mit ihm gewirkt. Das schickt sich nicht. Du musst auf deinen Ruf achten.«

»Ja, ja.« Aber Karin hörte gar nicht auf die Ermahnungen ihrer Mutter, die kannte sie zur Genüge, sondern überlegte, wie sie die Zeitungsromane im Fenster platzieren sollte. »Wie wäre es, wenn wir Schnüre mit Reißzwecken im Rahmen befestigen und sie dann mit Wäscheklammern aufhängen?«

»Geht da nicht der Rahmen kaputt?«, fragte Vera.

»Auf den brauchen wir keine Rücksicht nehmen«, sagte ihr Vater. »Mach das, Karin. Früher oder später werden diese Buden sowieso abgerissen. Das sind nur Notbehelfe, nichts für die Ewigkeit.«

»Dann bringe ich morgen Reißzwecken mit. Ach, und Vati? Können wir den Schreibtisch ins Geschäft räumen? Dahinten ist es mir zu dunkel!«

»Wieso – dir?« Er schob sich die Haare aus der Stirn.

»Na, ich arbeite doch jetzt hier.«

»Hier? Wie kommst du denn auf die Idee?«

»Wozu soll ich noch zu Herrn Böttcher gehen, wenn wir endlich unsere eigene Buchhandlung aufmachen? Die Lehre dort war doch auch nur ein Notbehelf, ab jetzt bist du mein Lehrherr!«

»Aber wie stellst du dir das vor? Bis wir wieder eine richtige vollständige Buchhandlung mit großem Lager und bibliografischem Apparat sind, dauert es noch. Herr Böttcher hingegen …«

»Du hast es mir aber versprochen! Und ich will …«

»So nicht, mein Fräulein!«, zischte ihr Vater wütend. »Es geht nicht darum, was du willst. Wir alle, wir sind die Buchhandlung Wünsche, und du nützt uns am meisten, wenn du bei Herrn Böttcher von der Pike auf lernst.«

»Aber …«, gab sie nicht auf.

»Kein Aber, Karin!« Er drohte ihr mit dem Zeigefinger.

»Aber ich habe doch schon längst bei Herrn Böttcher gekündigt!«

Auf einmal herrschte Stille im Laden.

»Kind!« Ihre Mutter fand als Erste die Sprache wieder.

»Was hast du getan!?« Ihr Vater starrte sie ungläubig an.

»Ich habe gekündigt!«

»Was … wie …?«, polterte er los. »Du kannst gar nicht kündigen, du bist noch nicht volljährig. Und du wirst auch nicht kündigen. Später, nach der Lehre, da kannst du bei uns arbeiten, aber jetzt gehst du sofort zu Herrn Böttcher, entschuldigst dich und ziehst die Kündigung zurück, mein Fräulein!«

2

GÖTTER, GRÄBER UND GELEHRTE

Den gesamten Weg bis ins Westend überlegte Karin, wie sie die Kündigung am besten zurückziehen konnte. Doch als sie die leuchtenden Schaufenster im Dämmerlicht der untergehenden Sonne erblickte, hatte sie noch immer keine Antwort gefunden.

Eigentlich gefiel es ihr bei Herrn Böttcher. Die wissenschaftliche Fachbuchhandlung mit ihrer Glastheke, auf der die Buchhändler den Kunden die Bücher vorlegten, wirkte zwar etwas nüchtern und kühl, aber die Kollegen waren nett. Die meisten Kunden arbeiteten an der benachbarten Universität und hatten ausgefallene Literaturwünsche, ständig lernte sie interessante Autoren und Wissensgebiete kennen.

Viele Buchhandlungen, bei denen sie sich vorgestellt hatte, wollten kein Lehrmädchen im zweiten Jahr einstellen. Zudem hatte Karin keinen richtigen Schulabschluss und ihre Lehre auch noch ausgerechnet in der Zone begonnen. Bei den Soffjets, wie Herr Böttcher immer sagte. Aber er war der Einzige gewesen, der sie einstellen wollte, und vielleicht war er ja froh, wenn sie wieder zurückkam.

Doch kaum hatte sie »Ich möchte meine Kündigung zurückziehen« ausgesprochen, schrie er: »Was erlauben Sie sich eigentlich?« Sein feistes Gesicht über dem engen Hemdkragen wurde puterrot. »Gestern tun Sie so, als ob Ihnen die Welt gehörte, und heute soll ich das einfach vergessen?«

Karin schaute auf ihre Schuhe. Das Leder an der Kappe war so brüchig, dass bald ihre Fußspitzen hinausragen würden.

»Lehrjahre sind keine Herrenjahre, aber das haben Sie in der Zone natürlich nicht gelernt.« Er wippte auf den Zehenspitzen und scherte sich keinen Deut darum, ob die Kunden im Laden vorne ihn hören konnten.

»Ich habe Ihnen gleich gesagt, dass ich die Unterschrift Ihres Herrn Vaters brauche, Fräulein Wünsche. Sie sollten wieder zurück nach drüben gehen und hier nicht den Frankfurtern die Arbeitsplätze wegnehmen.« Seine Stimme überschlug sich beinahe, so sehr regte er sich auf. »Jeder hat sein Päckchen zu tragen, sage ich immer, und ihr da drüben habt eben ein sozialistisches Päckchen abbekommen, die Suppe müsst ihr schon selbst auslöffeln, aber einfach abhauen und es sich hier im gemachten Nest gemütlich machen, das hätten Sie wohl gerne! Schmarotzer!«

Er musste tief Luft holen. Wieso hatte er sie überhaupt eingestellt, wenn er so viel an ihr auszusetzen hatte?

»Gehen Sie runter zu Herrn Pohl«, zischte er wütend, »die Lieferungen müssen noch ausgefahren werden, egal, wie lange es dauert. Und die verpassten Stunden ziehe ich Ihnen vom Lohn ab.«

»Jawohl, Herr Böttcher.« Karin musste sich zusammennehmen, um höflich zu knicksen. »Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen so viele Unannehmlichkeiten bereitet habe. Das wird nicht wieder vorkommen.«

Er schnaubte wütend. »Der Urlaub am zweiten Januar ist natürlich auch gestrichen. Zu Ihrer Eröffnungsfeier wird sowieso niemand kommen. Eine Buchhandlung in einer Bretterbude ist doch ein Witz!«

Sie verkniff sich eine Erwiderung, knickste erneut und ging in den Keller.

Was für ein Schlamassel. Nicht nur, dass er sie mal wieder einen Schmarotzer genannt hatte, das kannte sie ja schon. Manchmal nannte er sie auch Schwarzgänger, weil sie schwarz über die Grenze gekommen war. Aber das scherte sie nicht. Schlimmer war, dass sie ausgerechnet heute an Silvester stundenlang mit den Auslieferungen beschäftigt sein würde. Tante Elvira hatte der ganzen Familie zu Weihnachten Karten für Die Fledermaus im Börsensaal geschenkt. Karin hatte noch nie eine Operette gesehen. Ob sie es rechtzeitig schaffen würde?

Der Packraum im Keller stank wie immer nach Zigaretten. Herr Pohl, ein kleiner Mann mit grauer Haut und grauen Haaren, schlug gerade ein Buch in Papier ein.

»Ich soll Ihnen helfen«, sagte sie.

Er deutete auf den Tisch voller Bücherstapel. »Lieferscheine liegen drin.«

Sie zog den Mantel aus, hängte ihn an den Haken an der Tür und schnappte sich ebenfalls einen Bogen Papier. Auf dem ersten Bücherstapel lag das meistverkaufte Buch im Weihnachtsgeschäft: Götter, Gräber und Gelehrte – Roman der Archäologie von C. W. Ceram, ein Leinenband mit zahlreichen Fotos und Goldschnitt. Offensichtlich ließen sich viele Kunden davon trösten, dass sich aus den Trümmern der Geschichte bislang immer neues Leben und neue Zivilisationen entwickelt hatten. Aber Karin schockierte noch immer der Preis. Achtzehn D-Mark – nur für ein einziges Buch?

Davon könnte man sich sehr viele Zeitungsromane kaufen, die kosteten zwischen fünfzig Pfennige und einer Mark fünfzig. Stalingrad von Theodor Plievier, Das siebte Kreuz von Anna Seghers. Ihr Roman über sieben KZ-Flüchtlinge spielte sogar in Frankfurt und Umgebung. Karin fand die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus viel wichtiger als die Entdeckung Trojas.

Aber jetzt fühlte sie sich, als ob ihre eigene Welt schon wieder in Trümmern läge.

Völlig erschlagen lief sie an diesem Silvesterabend um kurz nach neun Uhr in den Grüneburgweg und atmete erleichtert auf, als sie von Weitem den kleinen Turm an Tante Elviras Haus erkannte.

Das zweistöckige weiße Gründerzeithaus mit den roten Sandstein-Verzierungen war vom ersten Augenblick an ihr neues Zuhause geworden. Sie liebte die verzierten Eisenbalkons auf jeder Seite des Eckhauses, aber vor allem die vielen Pelztiere an der Stuckleiste.

Ein paar Einschusslöcher auf Kopfhöhe waren die einzigen Zeugen des überstandenen Krieges. Auch die amerikanischen Offiziere, die in den ersten Jahren nach dem Krieg hier gelebt hatten, als das nördliche Westend Sperrbezirk gewesen war, hatten das Haus gut behandelt. Nur Onkel Valentins Weinkeller hatten sie ausgetrunken.

Wenn Karins erste Flucht erfolgreich gewesen wäre, hätte sie mit ihrer Tante in einem Hochbunker im Ostend leben müssen. Erst kurz vor der Ankunft der Familie in Frankfurt wurde der Stacheldraht entfernt, und die Anwohner durften ihre Häuser wieder beziehen.

Schräg gegenüber, hinter den Bäumen, lag das IG-Hochhaus, ein gelber, halbrunder Monumentalbau, dessen Fenster sogar jetzt noch zum Teil erleuchtet waren. Manche Nachbarn sagten auch IG-Farben-Haus. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass die IG Farben, ein riesiger Chemiekonzern, tief in die menschenverachtenden Machenschaften der Nazis verstrickt gewesen war. Das Gift, mit dem die Juden umgebracht worden waren, stammte von dort. Einfach unvorstellbar.

Jetzt befand sich hier das Hauptquartier der Amerikaner. Unter der Hand erzählten sich die Frankfurter, dass vor allem der Geheimdienst dort tätig war. Jedenfalls sah man ständig Militär, insbesondere beim wöchentlichen Fahnenappell auf der großen Wiese. Sogar weibliche Soldaten hatte Karin dort gesehen.

Abends lag die Wiese dunkel und verlassen da, und die Fahnen waren natürlich eingeholt. Leise Musikfetzen schwebten durch die Nacht, vielleicht feierten sie in den Büros, aber die große Silvesterfeier der Amerikaner fand im Gesellschaftshaus vom Palmengarten statt, off-limits für Deutsche natürlich, die hatten dort keinen Zutritt.

Ein Jeep fuhr vorbei, die Soldaten pfiffen ihr hinterher. Ob dieser Billy dabei war? Aber es saßen nur Weiße im Wagen.

Friedel öffnete ihr. Die Familie war wie erwartet im Theater.

Friedel war Tante Elviras Perle und lebte in der kleinen Kammer neben der Küche. Als die Einquartierungen begannen, hatte Tante Elvira bereitwillig Platz gemacht und sogar ihr Schlafzimmer geräumt – nur Friedel durfte in ihrem angestammten Reich bleiben, darauf hatte Tante Elvira bestanden, und Friedel erwähnte es dankbar bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Die beiden mussten gemeinsam einiges durchgemacht haben, das spürte Karin, denn sie verband viel. Aber wie immer wurde auch darüber nicht gesprochen.

Friedel mit ihrem grauen Dutt schaute sie leicht mürrisch an, aber als Karin ihre Überstunden erwähnte, wärmte sie ihr sofort die Kartoffelsuppe von mittags auf. Sie nahm sich selten frei, obwohl Tante Elvira wollte, dass sie nur die üblichen achtundvierzig Stunden in der Woche arbeitete.

Aber jetzt war Karin dankbar für das warme Essen, setzte sich zu ihr in die Küche und erzählte von ihren Problemen.

»Lehrjahre sind keine Herrenjahre«, wiederholte Friedel den Spruch von Herrn Böttcher. »Ihr Mädchen denkt, ihr könnt alles selbst entscheiden. Das liegt am Krieg und dem Durcheinander, das danach geherrscht hat, aber die Zeiten sind vorbei. Meine Eltern haben für mich die erste Stelle ausgesucht. Und sie haben es richtig gemacht, die gnädige Frau und ihr Mann haben mich stets gut behandelt!« Sie seufzte.

»Sie haben immer nur für Tante Elvira gearbeitet? Wollten Sie nie woanders hin, eine andere Stadt, andere Leute kennenlernen?«

»Nein. Frankfurt ist mein Zuhause, und die Welt, die kam ja früher zu Besuch. Was haben wir für Gesellschaften gegeben! Ich habe vielleicht als einfaches Küchenmädchen angefangen, aber als der selige Herr noch lebte, da war ich die Haushälterin und hatte drei Mädchen unter mir!« Sie hob stolz den Kopf. »Deine Eltern wissen, was gut für dich ist. Es ist bestimmt richtig, wenn du deine Lehre woanders machst, andere Erfahrungen sammelst. Die Handwerksburschen gehen sogar auf Wanderschaft. Am Ende bist du schlauer als dein Vater.«

»Der Böttcher bringt mir doch gar nichts bei.«

»Du hast Augen und Ohren, du kriegst schon alles mit.« Sie tätschelte Karin die Hand. »Der Herr Böttcher, der war früher ab und an hier zu Besuch, er war ein Freund vom gnädigen Herrn.«

»Ach, davon hat Tante Elvira gar nichts erzählt.«

»Ist auch nicht wichtig.« Friedel wischte emsig den Tisch sauber, und Karin wollte sich ausruhen.

Sie ging durchs Wohnzimmer, am langen Esstisch vorbei und öffnete die Schiebetür zum ehemaligen Esszimmer.

Anstelle der Anrichte standen jetzt die schmalen und schlichten Holzbetten von Vera und Karin an der langen Wand, ein alter Schrank verdeckte die Tür zur Küche, und anstelle des Geschirrs bewahrten sie dort ihre Kleidung auf.

Karin warf sich erschöpft auf ihr Bett und schlüpfte unter die Decke. Ihr Blick fiel auf die Fotos, die sie aus Illustrierten ausgeschnitten und übers Bett gehängt hatte. Gondeln in Venedig, Zitronenbäume auf Capri und eine alte Werbepostkarte der Leipziger Buchhandlung.

Auf einmal schnürte sich ihre Kehle zu, und Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie wollte nicht weinen, auf gar keinen Fall. Sie hörte Stimmen, jemand klopfte. In diesem Haus war man einfach nie allein. Friedel hatte erzählt, dass früher nur Tante Elvira und ihr Mann Valentin in der sogenannten Beletage, also dem Hochparterre, und Familie Liebig im ersten Stock gewohnt hatten. Dazu die Dienstboten in der Mansarde. Mittlerweile hauste in jedem Eckchen jemand, vierzig Menschen insgesamt. Und sosehr sie Tante Elvira und das alte Haus liebte – Karin war froh, wenn sie irgendwann hier ausziehen konnte.

Es klopfte erneut.

»Ja?«, rief sie matt, und die Schiebetür zwischen dem Salon, wie Tante Elvira das Wohnzimmer nannte, und dem Esszimmer öffnete sich, und Vera steckte ihren Kopf herein.

»Wo warst du?«, fragte sie und warf sich auf ihr Bett. Sie trug einen langen schwarzen Rock und eine weiße Bluse. »Du hast was verpasst, Die Fledermaus war grandios! Die Kostüme und der Gesang! Ich liebe Operetten.« Sie befestigte ihre Eintrittskarte mit einer Nadel neben den Bildern von Fred Astaire, Gingers Rogers und der Glenn-Miller-Band.

»Der Böttcher hat mich Überstunden schieben lassen«, sagte Karin. »Oh, Vera, wie konnte ich nur so dumm sein und ohne Rücksprache mit Vati kündigen. Aber ich wäre ja niemals auf den Gedanken gekommen, dass er mich nicht ausbilden will.«

»Hattet ihr denn vorher nicht darüber gesprochen?«

»Nein, für mich war das völlig selbstverständlich.«

»Ich habe das eigentlich auch erwartet«, meinte Vera.

»Ehrlich?«

Ihre Schwester nickte. Auf einmal war Karin leichter ums Herz.

»Komm, Frau Taler hat aus dem PX Dosenananas mitgebracht.«

Frau Taler wohnte mit ihrem Sohn Peter in Tante Elviras früherem Schlafzimmer. Ihr Mann wurde seit Stalingrad vermisst, und um die karge staatliche Versorgung aufzustocken, arbeitete sie im Supermarkt der Army, dem PX, und konnte dadurch billig Waren einkaufen, die eigentlich nur für die Armeeangehörigen bestimmt waren.

»Sie will Bowle machen, und wir kriegen auch was ab.«

Es war kurz vor zwölf. Karin fischte ein Ananasstück aus ihrem Glas mit Bowle, das Radio spielte Die Caprifischer, und Vera sang lauthals mit. Die Eltern tanzten, genauso Frau Taler mit einem Untermieter.

Aus dem ersten Stock erklang sehr laut Der Ritt der Walküren von Wagner auf dem Klavier. Das war Oberstudiendirektor Liebig. Trotzdem schlief der kleine Peter selig auf dem grünen Sofa im Erker. Karin ging der Trubel auf die Nerven, sie wartete sehnsüchtig auf Mitternacht.

Endlich zählte der Radiosprecher die letzten Sekunden, und dann fingen die Kirchenglocken an zu läuten. Karin lief es kalt über den Rücken. Obwohl so viele Kirchen zerstört waren, läutete es aus allen Himmelsrichtungen.

Sie stießen mit Ananasbowle an, wünschten sich Glück fürs neue Jahr, »Das neue Jahrzehnt!« »Die kommende Jahrhunderthälfte!«, und fielen sich lachend und jubelnd um den Hals. Die Vierzigerjahre, Krieg, Hunger und Elend, lagen hinter ihnen, die Zukunft schien verheißungsvoll.

3

IN EINEM ANDERN LAND

An Neujahr räumten sie weiter die neue Buchhandlung ein. Karin dekorierte mit Veras Hilfe Buchumschläge und die Zeitungsromane von Rowohlt an Schnüren im Fenster, ihre Mutter bereitete die Kasse vor, und ihr Vater richtete sich seinen Schreibtisch in der kleinen Kammer her, die nun sein Büro war. Alles wirkte neu und aufregend, auch wenn die Möbel gebraucht waren und noch immer der Spiegel des Schusters an der Tür zum Büro hing. Aber es duftete endlich nach Papier, und die Regale standen voller bunter Bücher, es waren so viele, dass sie sich sogar noch auf dem Boden stapelten.

Alle freuten sich auf ihre morgige kleine Eröffnungsfeier. Auch Karin, obwohl sie arbeiten musste. Da Herr Böttcher aber jeden Tag über Mittag zwei Stunden zumachte, zog sie morgens trotzdem ihr neues, karamellfarbenes Winterkleid an und eilte in der Pause in die Hasengasse.

Sie war so gerne in der kleinen Bude. Es gefiel ihr, dass die Ladentheke in der hinteren Ecke stand und die Kunden selbstständig in die Regale greifen und auswählen durften. Bei Herrn Böttcher bekamen sie die empfohlenen Bücher vorgelegt, er bevormundete seine Kunden gerne und wetterte ständig gegen die angebliche Schmutz- und Schundliteratur. Ihr Vater hingegen verkaufte gut sichtbar nicht nur Zeitschriften, sondern auch Heftchenromane.

Als Karin die Tür öffnete, herrschte unerwartete Enge. Die Inhaber der umliegenden Geschäfte und sogar einige Buchhändler gratulierten mit Wein und Blumen, für die Vera verzweifelt Vasen suchte. Die ersten Kunden blätterten neugierig in den Büchern, und mittendrin strahlte ihr Vater in seinem neuen hellgrauen Anzug und der ebenfalls neuen, blau gestreiften Krawatte.

Er würde nie in der Mittagspause zumachen, dazu hatte er zu lange auf seine neue Buchhandlung warten müssen. Karin und ihre Mutter aßen mittags eigentlich immer zu Hause, sie arbeiteten ja beide in der Nähe. Heute jedoch fand Karin im Büro einen Henkelmann, aus dem es nach Friedels Kartoffelsuppe duftete.

»Nur Geduld, Karin.« Ihre Mutter legte ihr die Hand auf die Schulter. Mit Tante Elviras hellblauem Seidentuch zum cremefarbenen Pullover sah sie richtig schick aus. »Ich würde auch lieber hier arbeiten, aber wir können noch nicht auf das Gehalt der Anwaltskanzlei verzichten. Und bis es so weit ist, unterstütze ich eben abends und am Sonntag deinen Vater bei der Kontoführung.«

Karin drückte sie an sich. »Ich kann dir gerne helfen.«

»So gehört es sich!«, mischte ihr Vater sich ein.

»O Vati, es tut mir so leid! Ich habe mich wie ein trotziges Kleinkind aufgeführt.«

»Ich hoffe, du hast was daraus gelernt, Karin.«

Und dann verkaufte sie einer älteren Dame das allererste Buch in der Bude: Mit Goethe durch das Jahr 1950. Und als sie den kleinen roten Taschenkalender in Papier einwickelte, lächelte ihr Vater sie stolz an.

Der Schwung des neuen Jahres verflüchtigte sich leider im kalten und regnerischen Januar. Herr Böttcher beschimpfte sie immer häufiger als Grenzgängerin, und bei jedem noch so kleinen Fehler sagte er, sie solle doch wieder nach drüben gehen. Tagelang ließ er sie Pakete aus- und einpacken, die Bücher auszeichnen und die Portokasse verwalten. Nur in den Laden durfte sie nicht. Dabei wusste er genau, wie gerne sie die Kunden beriet.

Die pausbäckige Gerda, die nach ihr angefangen hatte, durfte fast jeden Tag bedienen. Gerda war eine Nichte von Herrn Böttcher und sein erklärter Liebling. Trotzdem hatte sie gleich an ihrem ersten Tag gesagt, dass es ihr egal sei, dass Karin aus Leipzig stamme. Das würde Karin ihr nie vergessen.

Um die Gehilfenprüfung im nächsten Jahr trotzdem bestehen zu können, lernte sie abends mit dem alten Sortimentslehrling von Uhlig, der ihrem Vater gehörte. Das Lehrbuch war zwar von 1944, aber eine neuere Auflage war noch nicht erschienen, und ihr Vater hatte alles Überholte durchgestrichen.

Außerdem hatte sie sich eine Liste der wichtigsten Autoren erstellt und wollte von allen wenigstens ein Werk lesen. Vor allem interessierten sie die im Dritten Reich verbotenen Bücher. Gerade las sie Die Buddenbrooks von Thomas Mann in einer Ausgabe, die Bermann-Fischer im Exil in Stockholm veröffentlicht hatte. Anderes war noch immer nicht publiziert worden, Vicki Baum, die Lieblingsautorin ihrer Mutter, zum Beispiel.

Ohne die Berufsschule wäre die Lehre sehr langweilig gewesen. Hier lernte Karin nicht nur sehr viel Theorie, sondern auch die Arbeitsweise anderer Buchhandlungen kennen. Der Unterricht fand an der Kaufmännischen Berufsschule in Eschersheim statt, sie fuhr immer mit der 13er-Tram dorthin. Und der kürzeste Weg zur Haltestelle führte durch die Grünanlage am IG-Farben-Haus.

Ende Januar saß trotz der Kälte ein Schwarzer Fahrer in einem offenen Jeep vor dem imposanten Gebäude und las in einem Buch. War das nicht …? Ihr stockte der Atem. Tatsächlich.

Billy.

Mit zittrigen Händen rückte sie ihren grau-blau karierten Mantel und die blaue Baskenmütze zurecht und ging auf ihn zu, doch er war so in seine Lektüre versunken, dass er sie gar nicht bemerkte.

Ihre Mutter würde einen Anfall bekommen, wenn sie sehen könnte, was sie vorhatte. Aber das war Karin egal.

»Hello«, begrüßte sie ihn lächelnd.

Er schaute auf. Wieder dieser melancholische Blick, nur für einen Moment, dann erwiderte er ihr Lächeln, und ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus.

»Hello, Fräulein Karin!«

Er richtete sich auf, wollte aussteigen, doch in diesem Augenblick kam ein weißer Soldat aus dem Gebäude, unterm Arm eine Aktentasche. Der Offizier, wie Karin unübersehbar an den vielen Streifen und Abzeichen erkannte, steuerte auf Billys Wagen zu. Karin trat einen Schritt zur Seite. Der Offizier stieg wortlos ein. Billy nickte ihr zu und fuhr los.

Wie schade!

Von da an lief sie nicht nur auf dem Weg zur Berufsschule am IG-Farben-Haus vorbei. Billys Blick ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Die anderen Soldaten wirkten immer so fröhlich, offen und frei, als gäbe es nichts auf der Welt, das sie erschüttern könnte. Sieger eben. Karin war das unheimlich.

Aber Billy wirkte, als ob auch er seelische Wunden hätte.

Nur wenige Tage später wartete er wieder mit einem Buch in der Hand in seinem Jeep. Aufgeregt eilte Karin auf ihn zu. Nicht, dass ihr der Offizier erneut zuvorkam.

Billy stieg aus, und sie gaben sich unbeholfen die Hand.

»Was lesen Sie?«, fragte sie, um ihre Scheu zu überwinden. Und natürlich auch, weil es sie interessierte.

»A Farewell to Arms von Hemingway.« Er hielt ein graues Buch hoch. »Aus dem PX. Im Amerikahaus kann man nichts ausleihen.«

Er hatte tatsächlich ihren Rat befolgt und war dort gewesen! Die Freude wuchs.

»Worum geht es?«

Er warf ihr einen rätselhaften Blick zu. »Um den Krieg.«

Natürlich, übersetzt hieß der Titel Ein Abschied von den Waffen. Am liebsten hätte sie gefragt, wo er gekämpft hatte. Doch die Frage war viel zu persönlich.

»Ich habe Sie gar nicht in der kleinen Buchhandlung gesehen«, sagte er.

Hatte er sie gesucht? Sie unterhielt sich so gerne mit ihm – beruhte das etwa auf Gegenseitigkeit?

»Nein, ich arbeite nicht bei meinem Vater.«

Er runzelte die Stirn.

»Ich lerne …« Was hieß denn Lehre? Gab es das in Amerika überhaupt? »Ich arbeite in der Buchhandlung Böttcher, in der Schwindstraße.«

»Swind …?«

»Schwindstraße, in der Nähe vom Palmengarten.« Das stimmte zwar nicht ganz, aber den Palmengarten kannte er bestimmt, schließlich war das Gesellschaftshaus von der Army zum American Dreamland umgebaut worden.

Und tatsächlich nickte er.

Wieder trat der weiße Offizier aus dem Hauptquartier, ihr kleines Treffen war schon zu Ende.

»Auf Wiedersehen, Fräulein Karin«, sagte Billy, und sie freute sich schon darauf.

Karin musste ständig an ihn denken. Nicht nur, weil sie mit ihm über amerikanische Bücher reden konnte. Sie wollte mehr über ihn wissen, wo er herkam, wie lange er noch in Frankfurt blieb, wo er hinwollte.

Ob er sie mochte?

Bis sie ihn wiedersah, wollte sie auf jeden Fall das Buch lesen, das ihn so gefesselt hatte.

»Kennst du A Farewell to Arms von Hemingway?«, fragte sie ihren Vater beim Abendessen.

»Natürlich!« Er strich Margarine auf sein Graubrot. »Ein sehr beeindruckendes Buch über die Sinnlosigkeit des Krieges. Die Nazis hatten es natürlich verboten. Auf Deutsch heißt es In einem andern Land. Soll ich es dir morgen mitbringen?«

»Das wäre sehr nett. Herrn Böttcher möchte ich im Moment nicht danach fragen.« Normalerweise durften alle Angestellten sich Bücher zum Lesen ausleihen, sie mussten sich ja schließlich für die Beratung auskennen. Aber Karin war sich sicher, dass ihr Chef irgendwelche Einwände vorbringen würde.

»Wie kommst du denn auf das Buch?«, fragte ihr Vater neugierig.

Sie biss in ihr Wurstbrot und suchte fieberhaft nach einer Ausrede.

»Vati, ich habe heute eine Eins in Mathematik geschrieben«, nutzte Vera die Pause, und vor lauter Freude vergaß er seine Frage.