Wir tanzen in die Freiheit - Juliane Michel - E-Book

Wir tanzen in die Freiheit E-Book

Juliane Michel

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Beschreibung

April 1945. Flakhelferin und Swing-Girl Elfie kehrt ins zerstörte Frankfurt zurück. Sie ergattert eine Arbeitsstelle als Gärtnerin im amerikanisch besetzten Palmengarten, wo sie sich mit Hilfsgärtner Klaus um den Gemüseanbau kümmert. Als ein Freund Elfies aus der Gefangenschaft zurückkehrt, verrät er, dass Klaus ein Deserteur ist, und droht Ärger an. Elfie steht Klaus bei. Aus Dankbarkeit hilft er ihr bei der Suche nach dem Gestapobeamten, der sie und ihre Swing-Freunde misshandelt hat. Doch dann stellt sich heraus, wer den Odeon-Club damals verraten hat – und für Elfie bricht eine Welt zusammen. Zum Glück hat sie immer ihre beste Freundin Helga an ihrer Seite. Und Klaus …

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Das Buch

April 1945. Flakhelferin und Swing-Girl Elfie kehrt ins zerstörte Frankfurt zurück. Sie ergattert eine Arbeitsstelle als Gärtnerin im amerikanisch besetzten Palmengarten, wo sie sich mit Hilfsgärtner Klaus um den Gemüseanbau kümmert. Als ein Freund Elfies aus der Gefangenschaft zurückkehrt, droht er Klaus Konsequenzen an, weil er ein Deserteur ist. Elfie steht Klaus bei. Aus Dankbarkeit hilft er ihr bei der Suche nach dem Gestapobeamten, der sie und ihre Swing-Freunde misshandelt hat. Doch dann stellt sich heraus, wer sie damals verraten hat – und für Elfie bricht eine Welt zusammen. Zum Glück hat sie immer ihre beste Freundin Helga an ihrer Seite. Und Klaus …

Die Autorin

Juliane Michel lebte die ersten 27 Jahre in Südhessen und studierte in Frankfurt Bibliothekswissenschaften ganz in der Nähe vom Palmengarten. Heute lebt sie mit ihrem Mann in der Nähe von Würzburg. Ihr erster historischer Frankfurt-Roman, »Fräulein Wünsche und die Wunder ihrer Zeit«, stand 2023 auf der Shortlist für den DELIA-Literaturpreis.

Juliane Michel

Wir tanzen in dieFreiheit

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

»Dieser Roman wurde gefördert durch das Stipendienprogramm der VG Wort im Rahmen des Programms NEUSTARTKULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.«Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 09/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Frederike Arnold

Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design unter Verwendung von Arcangel (Joanna Czogala), akg-images (Tony Vaccaro), Shutterstock.com (OLeksiiTooz)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27856-4V001

www.heyne.de

Songliste des Odeon-Clubs

Runnin’ Wild, Benny Goodman Quartet

In the Mood, Glenn Miller

Harlem Swing, Orchester Scott Wood

It Don’t Mean a Thing (If It Ain’t Got That Swing), Duke Ellington und Ivie Anderson

Hotter Than That, Louis Armstrong and His Hot Five

Tiger Rag/Tigerjagd im Taunus, Teddy Stauffer

American Patrol, Glenn Miller

New Moten Stomp, Bennie Moten

Sing, Sing, Sing, Benny Goodman

Stompin’ at the Savoy, Count Basie und Benny Goodman

Big John’s Special, Benny Goodman

Jeepers Creepers, Teddy Stauffer

Crazy Rhythm, Django Reinhardt

Shades of Hades, Larry Clinton

Moonlight Serenade, Glenn Miller

Swing de Paris, Django Reinhardt

Don’t Sit Under the Apple Tree (with Anyone Else but Me), Glenn Miller

In den Dreißigerjahren hieß die heutige Siesmayerstraße Miquelstraße und die heutige Miquelallee Siesmayerstraße. Ich habe mir die Freiheit genommen, im Roman die heute üblichen Straßennamen zu verwenden, um Ortskundige nicht zu verwirren.

Prolog

Sommer 1941

Wenn Elfie Swing hörte, vergaß sie immer alles andere um sich herum. Die Welt wurde bunter, das Leben leichter und eine kaum zu bändigende Freude breitete sich dann in ihr aus. Als wäre in ihrem Bauch ein Gummiball, der hin und her hüpfte.

Aber noch war es nicht so weit. Noch kurbelte Bobby wie ein Weltmeister am Grammofon, um den Motor aufzuziehen, während Freddy Rheinhessensekt aus dem Keller seines Vaters in Helgas Bowle schüttete, Elfie diese probierte, Walter mit ein paar Jungs sich um einen Ball kabbelte und Lizzy im Spiegelbild des Fensters ihren Lippenstift nachzog.

Alle warteten gierig auf die ersten Töne, das spürte Elfie. Wie Elektrizität lag die Vorfreude in der Luft. Hier im Sommerhaus von Freddys Eltern mitten im Taunus waren sie völlig allein. Niemand da, der ihnen Ärger bereiten konnte, da Swing-Musik als entartet galt und sie eigentlich alle gerade mit der HJ wandern gehen müssten. Niemand konnte sie hören bis auf die Tiere im Wald und die Sonne versprach einen langen Abend.

Da senkte Bobby endlich den Tonarm des Grammofons auf die Schellackplatte. Fiebrig setzte das Schlagzeug ein.

Schon an den ersten Tönen erkannte Elfie Runnin’ Wild von Benny Goodman. Die schnellen Trommelschläge und die fröhliche Klarinettenmelodie durchfuhren sie wie ein Blitz. Sofort sprang sie auf und ergriff Freddys Hand, sodass dieser gerade noch die Sektflasche wegstellen konnte.

Es war ein eigenartiges Gefühl, seine Hand in ihrer zu fühlen. Seine Haut auf ihrer. Mit ihren fünfzehn Jahren war Elfie das erste Mal verliebt, aber noch wusste er nichts davon, sondern tanzte mit ihr wie mit jeder anderen. Und sie genoss es mit jeder Faser ihres Körpers, musste er doch am Montag an die Front.

Schnell schüttelte sie den Gedanken an den Krieg ab, ihre Füße bewegten sich wie von alleine im Takt der Musik, einen Schritt vor, mit dem lockeren Bein nach vorne tippen, einen Schritt zurück und nach hinten tippen. Dabei schwenkten sie ihre Arme in der Luft, zogen Grimassen oder wackelten mit den Hüften, Hauptsache, es machte Spaß. Aber das war erst der Anfang, um sich einzustimmen und Fahrt aufzunehmen.

Schon ergriff Freddy von hinten ihre Taille und hob sie nach oben. Ausgelassen vor Freude, spreizte sie kurz die Beine, sodass alle ihr Höschen sehen konnten, aber das störte hier niemanden. Dann setzte er sie vorsichtig wieder ab, sie ergriff seine Hand und weiter ging es, die Füße tippten nach rechts und links, sie sprangen auf und ab.

Die anderen Jugendlichen johlten. Auf einmal hob Freddy ein Bein, sie verstand sofort und duckte sich. Sofort streckte er es über ihren Kopf hinweg aus und drehte sich einmal um die ganze Achse. Hot!

Dann sprang sie wieder auf, er umfasste ihre Taille und drehte sie, bis ihr schwindelig wurde, sie nur noch farbigen Nebel sah und sich wie berauscht fühlte. Ihr ganzer Körper vibrierte vor Glück.

Ein kurzer Blick in den Himmel signalisierte ihr, was er als Nächstes vorhatte: einen Salto. Den liebte sie besonders! Sie nahm Anlauf, sprang mit einem Fuß in seine verschränkten Hände, und schon flog sie durch die Luft, als wäre das Leben unendlich und sie so frei wie ein Vogel.

Wenn man doch die Zeit anhalten könnte. So müsste das Leben immer sein.

Frei.

1 – Elfie

April 1945

Endlich zu Hause! Müde und erleichtert zugleich lief Elfie den Sachsenhäuser Berg hinab. Zwei Jahre war es her, dass sie völlig überstürzt Frankfurt hatte verlassen müssen. Zwei unendlich lange Jahre. Jetzt konnte sie endlich wieder nach Hause. Hier war der Krieg mit all seinen Schrecken bereits zu Ende.

Hoffentlich war mit ihrer Mutter alles in Ordnung! Elfie machte sich solche Sorgen um sie. Ihre Mutter kam nicht gut mit dem Alleinsein zurecht und alle hatten sie verlassen müssen, zuletzt sogar ihre Eltern.

Und was, wenn es noch Kämpfe vor der Besetzung durch die US-Army gegeben hatte? An das Schlimmste wagte Elfie gar nicht zu denken.

Seit Wochen hatte Elfie keine Post mehr bekommen und wusste nicht, wie es ihrem Vater oder ihrem Bruder Walter ging. Ob sie bereits in Gefangenschaft in Sicherheit waren oder noch kämpfen mussten? Wann würde der Irrsinn endlich enden? Der Krieg war doch längst verloren, aber noch immer mussten Menschen sterben. Wenn Elfie schon dieses zerfetzte Plakat an der Litfaßsäule sah, wurde ihr schlecht: Frontstadt Frankfurt wird gehalten!

Ein blütenweißer Anschlag klebte darüber. Die amerikanische Militärregierung ordnete eine Ausgangsbeschränkung von sechs Uhr abends bis sieben Uhr morgens an. Und den Schießbefehl bei Missachtung. Wie das Leben unter amerikanischer Herrschaft wohl sein würde? Wenn sie die Bevölkerung den halben Tag in ihren Häusern einsperrten und jeden erschossen, der sich nicht dran hielt? Plötzlich schnürte sich ihre Kehle zu. Sie sehnte sich so danach, dass der Krieg endlich endete, aber vor dem Frieden hatte sie trotzdem Angst.

Da wurde ein Fenster geöffnet und wie ein Weckruf schallte eine Bläserfanfare über die Straße. Elfie schrie begeistert auf. Sie erkannte das Lied sofort: In the Mood von Glenn Miller. Mitten in Frankfurt-Sachsenhausen. So schlimm würde es vielleicht doch nicht werden, wenn Swing hören endlich erlaubt war. Swing, das war ihre Jugend.

Jugend. Komisch, diese Zeit so zu nennen. Sie war doch erst neunzehn, noch nicht mal volljährig! Aber ihre Backfischzeit war längst vorbei, der Kriegshilfsdienst in der Rüstungsfabrik und zuletzt an der Flak hatten sie erwachsen werden lassen.

Die Musik im Radio wurde ausgeblendet, die englischen Worte des Sprechers ließen Elfies Herz höherschlagen. Sie liebte alles Angelsächsische, auch wenn es jahrelang verboten gewesen war. Früher hatte sie sogar einen englischen Spitznamen gehabt: Ivie, gesprochen: Eiwi.

Ihre beste Freundin Helga war von allen Annie genannt worden. Ob sie schon wieder zurück in Frankfurt war? Auch von Helga hatte sie viel zu lange keine Nachricht mehr erhalten.

In ihrem Kopf hörte Elfie noch immer die mitreißende Melodie, ihre Arme und Beine zuckten vor Freude. Auf einmal sah sie die Welt um sich herum mit anderen Augen. Natürlich, auf den Straßen türmte sich der Schutt, doch an den Rändern wuchs bereits Gras darüber, und die Frühlingssonne ließ den allgegenwärtigen Staub in der Luft schimmern. Fliederduft drang ihr in die Nase, und Vögel flatterten zwitschernd, als wäre nichts geschehen.

Die Frühlingssonne wurde immer wärmer, Elfie öffnete ihren zerschlissenen Wintermantel und streifte sich das Kopftuch von den dreckigen Haaren. Seit einer Ewigkeit war sie aus ihrer Kleidung nicht mehr hinausgekommen. Insgeheim sehnte sie sich nach einer Badewanne, aber angesichts der Zerstörung um sie herum kam es ihr selbstsüchtig vor.

So viele Menschen hatten kein Zuhause mehr. An den verrußten Häusermauern in der Schweizer Straße klebten kleine Zettel mit Suchmeldungen und neuen Adressen, manche schrieben ihre Sehnsucht auch groß mit Kreide an die Wand.

Der Gustav-Adolf-Platz wirkte merkwürdig leer. Es dauerte, bis Elfie begriff, dass die roten Hakenkreuz-Fahnen fehlten. Auf einmal konnte man die Häuser sehen, die vorher davon bedeckt gewesen waren, hellbraune oder graue Wände, manche sogar mit Dach oder Fenstern. Autos fuhren keine, und keine Tram. Ganz vereinzelt mal ein Fahrrad.

Auf einmal kam ihr eines der BDM-Wanderlieder in den Sinn, und sie merkte, dass sie automatisch im Takt dazu ausschritt. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Nie mehr in ihrem Leben wollte sie wandern gehen und dabei Lieder von der angeblich so frohen Zukunft und der Überlegenheit der Deutschen singen. Sie spitzte die Lippen und pfiff wie früher den Harlem Swing, bis sie am Main ankam.

Ein Blick zur Altstadt am gegenüberliegenden Ufer des Flusses, und ihr stockte der Atem. Unwillkürlich schossen ihr die Tränen in die Augen, sie sank auf die Knie und konnte doch den Blick nicht abwenden.

Sie waren verschwunden. Die Fachwerkaltstadt, die imposanten Häuser aus der Kaiserzeit – alles war weg. Vereinzelt ragten noch Mauerreste aus einer Wüste aus Asche, Schutt und Steinen empor, aber egal, wie lange sie suchte: Ihr Geburtshaus in der Bendergasse, in dem sie viele Jahre gemeinsam mit den Großeltern gelebt hatten, war ebenfalls dem Erdboden gleichgemacht worden. Nur der Kaiserdom stand unversehrt in der Mitte.

Von Trauer erstarrt, konnte Elfie den Blick nicht wenden. Dort waren vor einem Jahr ihre Großeltern gestorben. Mutter hatte von herabstürzenden Trümmern geschrieben, die den Ausgang des Luftschutzkellers versperrt hatten. Wie schrecklich.

Lautes Rufen vom Fluss schreckte sie auf. Ein längliches Ruderboot voller Menschen näherte sich dem Ufer. Dahinter ragten aus dem Main die Trümmer der Adolf-Hitler-Brücke und des Eisernen Steges hervor. Die kleine Fähre war die einzige Möglichkeit, ans andere Ufer zu gelangen, und die Schlange war lang.

Elfie erhob sich, klopfte sich den Staub aus der Kleidung und reihte sich ein, um nach Hause zu gelangen. Vor ihr schleppte eine blasse Frau einen vollen Rucksack auf dem Rücken und einen vor dem Bauch, beide mit Kohlenstaub bedeckt. Das kleine Mädchen an ihrer Hand taumelte müde vor sich hin.

Die Frau wirkte genauso erschöpft. Als das Mädchen stolperte, fing Elfie sie auf und nahm sie auf den Arm.

»Dann warten wir beide mal zusammen, einverstanden?«, fragte sie.

»Sie müssen das nicht tun«, sagte die Frau und schaute ängstlich auf ihre Kohlenrucksäcke, als ob Elfie einen Lohn für die Hilfe einfordern würde.

»Das macht mir nichts aus.« Elfie kitzelte das Mädchen mit den roten Haarschleifen, die anscheinend aus ehemaligen Hakenkreuzfahnen gemacht waren, bis dieses kicherte.

Die Wartenden schauten mit hängenden Schultern vor sich hin und schwiegen. Alte Männer mit grauen Gesichtern, in die sich tiefe Falten gegraben hatten, junge Frauen mit über der Stirn verknoteten Kopftüchern oder Vorkriegshüten.

Leider war niemand dabei, den Elfie von früher kannte.

Die Fähre legte an, aber mehr als zwanzig oder dreißig Gäste konnte sie nicht pro Fahrt transportieren, obwohl alle wie Ölsardinen in dem schmalen und schwankenden Holzboot standen.

Zwei Stunden später kam Elfie endlich Dribb de Bach, auf der anderen Seite, an. Schweren Herzens lief sie vom Mainufer zur Ruine des Schauspielhauses und dann durch den lang gestreckten Park der Taunusanlage, bis dieser eine Biegung machte.

Früher wäre sie hier Richtung Westend abgebogen und erst zu Helga und dann nach Hause gegangen. Aber wollte sie das? Sie konnte ja kaum an die Lindenstraße denken, in der Helga wohnte. Direkt gegenüber der Frankfurter Gestapozentrale, in der Elfie furchtbare Dinge hatte erleben müssen.

Aber dann verdrängten Sehnsucht und Sorge nach ihrer besten Freundin ihre Angst vor dem Ort des Schreckens.

Und so bog sie klopfenden Herzens in die noch immer ziemlich prächtige Guiollettstraße und von dort in die Lindenstraße, wie sie es in ihrem Leben so oft getan hatte.

Voller Ekel schaute sie an der monumentalen, hochherrschaftlichen Cronstett’schen Villa vorbei. Dem früheren Sitz der berüchtigten Frankfurter Gestapo.

Gegenüber war Helgas wunderschönes Zuhause, das nicht einen Kratzer abbekommen zu haben schien und in dessen schmalem Vorgarten die Tulpen in voller Blüte standen.

Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Helga Sartorius, das Professorentöchterchen, und Elfriede Fischer, deren Vater nur Hausmeister war. Aber Elfie war immer Klassenbeste gewesen, weshalb Herr Mauersberger Elfie das Schulgeld für die Oberrealschule bezahlt hatte. Herr Mauersberger war ein reicher Mann, dem Vater 1918 in den Schützengräben in Frankreich das Leben gerettet hatte.

Kurz musste sie innehalten. Das Haus mochte unversehrt sein, aber was war mit den Bewohnern? Was, wenn Helga etwas geschehen war? Oder ihren Eltern? Minna, dem Hausmädchen?

Aber dann schluckte sie ihre Angst hinunter und schritt die wenigen Stufen zur Haustür hoch. Am Klingelschild hingen zwar neue Zettel, aber Ferdinand Sartorius stand Gott sei Dank noch immer da. Sie klingelte, der altbekannte wohltönende Gong erklang, und als Minna mit ihrer weißen Schürze öffnete, konnte Elfie sich nicht mehr beherrschen und brach in Tränen aus.

»Elfie, also … ich meine, Fräulein Elfriede, wie schön, Sie wiederzusehen!«

Minna strahlte sie an und trat einen Schritt zur Seite, doch bevor Elfie eintrat, suchte sie nach Anzeichen von Trauer oder Schmerz in Minnas rosigem Gesicht. Vergebens.

»Wie schön, dass es Ihnen gut geht!«, sagte Elfie. »Und die anderen? Sind alle gesund und munter?«

Plötzlich hörte sie schnelle Schritte und stürmisch schlangen sich zwei Arme um sie.

»Elfie«, rief Helga ein ums andere Mal. »Elfie, endlich.« Und sie hielten einander fest, als ob sie sich nie wieder loslassen wollten. Elfie vergrub ihr Gesicht in Helgas blonden Haaren, die sauber nach Seife dufteten, und schluchzte auf einmal. Dann atmete sie tief durch und ließ ihre Freundin los.

Helga trug eine hellblaue Bluse, einen dunklen Rock und eine cremefarbene Strickjacke, die schulterlangen Haare hübsch zurechtgemacht, das Gesicht klar und hell wie immer.

Voller Scham zog Elfie ihren dreckigen und zerschlissenen Wintermantel und die verschmutzten Arbeitsschuhe aus. Ohne diese Schuhe hätte sie die Strapazen der letzten Jahre nicht überstanden. Auch nicht ohne die Uniform des Kriegshilfsdienstes, ohne die dicke graubraun melierte Hose und die kurz geschnittene Jacke aus dem gleichen Stoff. Hässlich, aber warm und strapazierfähig.

»Du siehst aus, als wäre Frieden«, sagte Elfie bewundernd zu ihrer Freundin.

»In Frankfurt ist ja auch Frieden, irgendwie jedenfalls. Ach, bin ich froh, dass du zurück bist! Ich habe mir ja solche Sorgen gemacht, weil wir schon so lange nichts mehr voneinander gehört hatten. Und du bist gesund, alles in Ordnung?«

»Ja, ja, der Kopf ist noch dran.« Elfie grinste. »Und bei euch?«

»Alles bestens. Minna, schauen Sie doch mal, ob Sie was zu essen für Elfie finden. Du hast bestimmt Hunger.« Helga hängte sich an Elfies Arm und führte sie in den Salon mit den Nussbaum-Möbeln und den gelben Brokatvorhängen. In der Zimmerecke stand ein Paravent und verbarg nur mühsam die Koffer und Feldbetten dahinter.

»Ziemlich voll bei uns. Meinte Tante ist mit den Kindern hier, total ausgebombt, und meine Großeltern auch, aber was willst du machen?«, sagte Helga und umarmte sie schon wieder. »Ich habe dich so vermisst, Elfie!« Sie setzte sich aufs Sofa und klopfte neben sich.

Elfie schüttelte den Kopf. »Ich bin doch viel zu dreckig für eure guten Möbel.« Sie verzog ihr Gesicht zu einem Grinsen, dabei würde sie so gerne sitzen und nie mehr aufstehen. »Ich musste nur unbedingt sehen, wie es dir geht.« Dann zwang sie sich, tief Luft zu holen und zu fragen, was ihr die ganze Zeit auf der Seele brannte.

»Und meine Mutter?«

»Der geht es gut, mach dir kein Sorgen.«

Sie lebte! Elfies Herz schlug auf einmal wie wild vor Freude, solche Angst hatte sie die ganze Zeit gehabt. War ja auch kein Wunder, in Nürnberg hatte sie im Bombenhagel an der Flak stehen und zusehen müssen, wie viele Menschen ihr Leben verloren, nur weil der Oberbürgermeister die Stadt nicht aufgeben wollte! Und hier?

»Die ganzen Nazigrößen waren schon weg, bevor die Amis einmarschierten. Kämpfe gab es keine mehr, alles ist gut!«, beruhigte Helga sie, als ob sie Gedanken lesen könnte.

Helga stand wieder auf und trat nahe an Elfie heran. »Hast du was von deinem Bruder gehört?«, flüsterte sie. »Ich schreibe Walter so oft, aber die letzte Antwort ist Monate her.«

Elfie schüttelte bedauernd den Kopf. »Auch nicht von Vater.«

Da war sie wieder, die Angst um ihre Lieben. Elfies Vater musste in Frankreich und ihr Bruder Walter an der Ostfront kämpfen. »Ich wünsche mir so, dass sie in Gefangenschaft sind.« Denn das hieß, dass sie noch lebten. »Und dein Vater?«

»Am Schluss hat auch seine Rückstellung vom Kriegsdienst nichts mehr bewirkt, sie haben ihn zum Volkssturm eingezogen, kannst du dir das vorstellen?«

Elfie nickte.

»Hoffentlich geht es Walter gut.« Seufzend zupfte Helga an ihrem Ohrläppchen. Das machte sie immer, wenn sie nervös war.

Elfies Bruder und Helga waren ein Paar.

Elfie nickte. »Und die da drüben?« Sie wies mit dem Kopf Richtung Gestapozentrale.

»Geflohen, was sonst. Feiglinge. Und vorher haben sie noch wochenlang ihre Akten im Garten verbrannt. Bin ich froh, dass die weg sind.«

Nachdenklich nickte Elfie, brachte es aber immer noch nicht über sich, aus dem Fenster zu schauen.

Auf einmal musste sie an ihren letzten gemeinsamen Schultag auf der Viktoriaschule denken. Chemie bei Herrn Wolf, wie immer hatte ein Experiment nicht funktioniert und sie hatten sich hinterher auf dem Gang vor Lachen nicht mehr halten können. Das war das letzte Mal, dass sie ihre Freundin gesehen hatte. Kurz darauf musste sie Frankfurt verlassen.

»Fräulein Elfriede?« Minna unterbrach ihre Gedanken. »Ich habe ein Brot für Sie zurechtgemacht, und einen Malzkaffee. Möchten Sie?« Sie wies in die Küche.

Elfie nickte. Auf einen Holzstuhl konnte sie sich in ihrer dreckigen Kleidung setzen, den konnte man zur Not hinterher abwischen. Aber erst mal verschwand sie in der kleinen Toilette, die Frau Sartorius für ihre Gäste neben den Salon hatte einbauen lassen.

Als sie wiederkam, dampfte es bereits aus einer Tasse und auf dem Teller lag ein dünnes Marmeladenbrot ohne Margarine. Elfie setzte sich und musste sich zusammennehmen, um das Brot nicht sofort in sich hineinzuschlingen.

Während Elfie vorsichtig kaute, fragte Helga nicht, was alles in der Zwischenzeit geschehen war. Oder warum Elfie damals so schnell verschwinden musste. In all ihren Briefen hatte sie nie gefragt und Elfie war so dankbar dafür.

2 – Elfie

Auf dem Weg nach Hause kam Elfie am Palmengarten vorbei. Auch hier zeigten die Bäume bereits ihr erstes Frühlingsgrün.

Elfie liebte den großen Park mit seinen Gewächshäusern voller exotischer Pflanzen, den Ruderbooten auf dem Weiher und den Spielplätzen. Ihr Zuhause im Tiefparterre eines noblen Mietshauses war dunkel, einen eigenen Garten besaßen sie natürlich nicht. Es gab nur einen Baum im Hinterhof, das war alles.

Aber sie waren nicht oft im Palmengarten gewesen. Als einfacher Hausmeister konnte Vater sich den Eintritt nur selten leisten.

Vor der Parkmauer stand eine lange Reihe Jeeps. Amerikanische Soldaten rammten Holzpfeiler in den Boden. So wohlgenährte Männer hatte Elfie schon lange nicht mehr gesehen. Und dann lachten sie auch noch die ganze Zeit, als wären sie auf Urlaub hier!

Wenn sie dagegen die lange Schlange magerer Deutscher betrachtete, die in ihrer abgetragenen Kleidung vor dem imposanten Gebäude einer Handelsgesellschaft anstanden. Stadtverwaltung verkündete ein improvisiertes Schild am Zaun. Der Römer, Frankfurts Rathaus, war bestimmt wie alles andere im Feuersturm der großen Bombardierung zerstört worden.

»Elfie!«, rief auf einmal ein hagerer Mann und hob den Hut. Eine ungewohnte Geste. »Oder sollte ich langsam Fräulein Fischer zur dir sagen?«

»Herr Lenze!« Sie freute sich, ihren Nachbarn aus dem ersten Stock wiederzusehen. »Für Sie bin ich immer Elfie! Wie geht es Ihnen?« Seine Schläfen waren grau geworden, die Falten auf den sonnengegerbten Wangen tiefer als früher, aber sein Blick war wach wie immer.

»Wenn nicht bald etwas geschieht … die Palmen sind bereits erfroren! So schnell, wie das Glas bei jeder Bombardierung zersplitterte, konnten wir es gar nicht mehr reparieren …« Erschüttert schüttelte er den Kopf.

Herr Lenze war Obergärtner im Palmengarten. Als Elfie klein gewesen war, hatte sie immer gedacht, er würde sich um alle großen Bäume und die hohen Palmen kümmern, eben um alles, das sich oben befand und bis in den Himmel ragte. Als sie erfuhr, dass er als Obergärtner der Chef war und die Verantwortung für alle Gärtner hatte, war sie ziemlich enttäuscht gewesen. Irgendwann war er zum Technischen Direktor befördert worden, aber für Elfie würde er immer der Obergärtner ihrer Kindheit bleiben.

Typisch für ihn, zuerst an die Pflanzen und dann an sich zu denken.

»Und Ihre Familie?«, fragte sie daher.

»Der letzte Brief von Rolf stammte aus Weißrussland.« Herr Lenze seufzte.

Rolf war gemeinsam mit Walter einberufen worden. Aber nach dem Wehrertüchtigungslager hatten sich ihre Wege getrennt, Walter war bei der Heeresgruppe Nord gelandet und Rolf in der Heeresgruppe Mitte.

»Aber das ist auch schon wieder ein paar Monate her. Wer weiß, wo er ist. Wie es ihm geht.« Wieder seufzte er. »Aber meine Frau ist wohlauf. Doch sag, wie geht es dir, Elfie? Deine Mutter hat erzählt, du wärst beim Kriegshilfsdienst gewesen?«

Elfie nickte. »Es ist überstanden.«

»Deine Mutter wird sich freuen, dass du wieder zu Hause bist.« Er hob den Hut und eilte weiter.

Erleichtert setzte Elfie ihren Weg fort. Herr Lenze hatte nicht so geklungen, als ob sie irgendwelche schlechten Überraschungen erwarten würden. Und als sie endlich das wohlbekannte cremefarben gestrichene Haus erspähte, lief sie voller Vorfreude los. Die Fenster im Tiefparterre waren hell erleuchtet. Und da! Ihre Mutter, wie immer an der Nähmaschine.

»Mutti«, rief Elfie sofort und klopfte ans Fenster.

Ihre Mutter schaute auf. Ihre früher so gepflegten blonden Wellen waren in einen strengen Zopf gebunden, sie sah müde aus.

»Elfriede«, rief sie ungläubig und sprang auf. Elfie eilte zur Haustür. Ihr Herz pochte in ihrer Brust, und als sich die Tür endlich öffnete, warf Elfie sich in die Arme ihrer Mutter und weinte vor Freude.

»Mein Kind«, murmelte ihre Mutter ein ums andere Mal. »Mein Mädchen.«

Sie hatte ihre Mutter so sehr vermisst! Endlich war alles überstanden, endlich war sie wieder zu Hause und in Sicherheit.

Elfie löste sich aus der Umarmung und fragte: »Bist du gesund?«

»Alles bestens! Und du?«

»Auch.«

Mutter nickte und ging die halbe Treppe zur Wohnung hinunter. Elfie fiel auf, wie fadenscheinig die blau-weiß karierte Kittelschürze geworden war.

In der Garderobe streifte sie den Rucksack ab und stellte ihn neben die Garderobe. »Seit Tagen ungewaschen.«

»Das riecht man«, sagte Mutter belustigt. »Aber das macht nichts.« Sie schloss die Tür hinter ihr. »Fließend Wasser haben wir wieder, nur noch kein Gas, das Wasser ist also kalt.«

»Das bin ich gewohnt. Aber wie geht es dir und Vater und Walter?«

»Na, komm erst mal in die Küche. Hast du Hunger?« Sie kratzte sich am Arm.

»Danke, aber ich habe bei Helga schon was gegessen.«

»Ach, du warst schon bei Helga.« Sie klang enttäuscht.

»Nur weil es auf dem Weg lag«, entschuldigte sich Elfie. »Ich bin über Sachsenhausen hierhergelaufen«, fügte sie noch erklärend hinzu.

»Ist vielleicht besser so, außer trocken Brot kann ich dir leider gar nichts anbieten. Das Ernährungsamt vorne in der Bockenheimer Landstraße gibt zwar weiterhin Lebensmittelmarken aus, aber krieg mal was dafür. Den ganzen Tag stehe ich bei den Geschäften an, völlig umsonst.«

Sie hörte sich verzweifelt an, und es erinnerte Elfie an die Zeit, als ihre Eltern arbeitslos gewesen waren und alle in der dunklen Altstadtwohnung der Großeltern gelebt hatten. Erst als Vater Herrn Mauersberger bei einer NSDAP-Veranstaltung traf und dieser ihm die Stelle als Hausmeister in seinem neuen Mietshaus anbot, ging es endlich aufwärts. Seitdem wohnten sie im Frankfurter Westend, einer der schönsten und besten Gegenden der Stadt.

Jetzt klang Mutter, als hätte sie Angst, wieder in die Armut zu rutschen. Wer konnte es ihr verdenken?

Am liebsten hätte Elfie sie noch einmal in den Arm genommen, doch sie war bereits voraus in die Küche gegangen.

Elfie zog die dreckigen Schuhe und den Mantel aus, dann folgte sie ihr.

Während Mutter ein Glas aus dem Schrank holte, schaute Elfie sich um. Alles sah genauso gemütlich wie früher aus!

Nur eines störte sie: das unsägliche Gedicht von Rudolf Hess über den unbedingten Gehorsam, das noch immer über der Eckbank hing. Sie mussten es in der Schule fein säuberlich mit Tusche und Feder auf cremefarbenes Zeichenpapier schreiben und hinterher auswendig lernen.

Sie wollte es gerade abhängen, als Mutter ihr ein Glas Wasser reichte.

»Vater und Walter haben sich schon lange nicht mehr gemeldet, wer weiß, ob sie überhaupt noch leben …« Sie seufzte, in ihren Augen glitzerte es. »Aber Oma und Opa …« Schluchzend fingerte sie ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und betupfte ihre Augenwinkel.

»Es tut mir so leid, Mutti. Die Armen! Ich vermisse Oma und Opa ganz fürchterlich.«

Wieder nahm sie ihre Mutter in den Arm, doch die machte sich ganz steif, als ob sie verhindern wollte, dass sie losheulte, und fuhrwerkte auf einmal mit einem Lappen in der penibel ordentlichen Küche herum.

»Drei Tage hat es gedauert, bis sie den Eingang vom Luftschutzkeller freigeschaufelt hatten. Jetzt liegen sie auf dem Waldfriedhof in Oberrad. Und weil sie nicht genug Särge hatten, haben sie sie beide in einen gelegt, stell dir das mal vor!« Sie warf den Lappen in die Spüle. »Jetzt bin ich ganz allein«, jammerte sie. »Alles bleibt an mir hängen, Lebensmittel besorgen, für die Nachbarsfrauen nähen, um ein bisschen Geld zu verdienen, und natürlich Vater ersetzen, der Franzose hat sich ganz schnell aus dem Staub gemacht, war ja klar.«

Der Franzose, das war Pierre, ein französischer Kriegsgefangener, den Herr Mauersberger als Hausmeister-Ersatz für Vater zugewiesen bekommen hatte. Elfie hatte Pierre sehr gemocht.

»Alles muss ich selbst machen, sogar den Hausmeister spielen, …«

»Jetzt bin ich ja auch noch da und kann dir helfen, Mutti.«

»Das wurde auch Zeit. Aber sag, wo kommst du denn her?«

»Aus Nürnberg. Kriegshilfsdienst an der Flak. Der absolute Horror, sage ich dir.«

»Jeder muss eben seinen Anteil leisten, damit wir uns gegen die Feinde Deutschlands wehren können.« Auf einmal holte Mutter den Lappen wieder aus der Spüle und wischte zum zweiten Mal über den Tisch. »Es ist schön, dass du das mittlerweile verstanden hast.«

Elfie traute ihren Ohren nicht. Dachte Mutter, sie wäre freiwillig dort gewesen? Dabei musste doch jeder Deutsche zwischen achtzehn und fünfundzwanzig zum Reichsarbeitsdienst, sonst bekam man keinen Ausbildungsplatz. Ursprünglich sollte der Dienst nur ein halbes Jahr dauern, dann wurde noch ein halbes Jahr drangehängt und danach mussten sie alle zum neuen Kriegshilfsdienst. Urlaub hatte man Elfie auch nie bewilligt. Zwei Jahre lang war sie nicht zu Hause gewesen. So war eben das Leben der Jugend im totalen Krieg.

»Der Krieg ist sowieso verloren.« Elfie hob abwehrend die Hände. »Je früher das Gemetzel ein Ende hat, umso besser.«

»Elfriede!« Reflexhaft schaute Mutter sich um, als ob sie befürchtete, man würde sie belauschen.

»Wenn du gesehen hättest, wie überlegen die Amerikaner sind, Mutter. In Nürnberg …«

»Nürnberg hat sich lange gehalten und dem Feind großen Schaden zugefügt!«

Entsetzt schüttelte Elfie den Kopf. Glaubte ihre Mutter etwa noch an den Endsieg?

»Mutti, gegen die Amis können wir uns nicht wehren. Die haben so viele Bomben auf Nürnberg geworfen, dass ich noch immer auf einem Ohr schwer höre, obwohl ich schon vor vier Tagen dort weg bin!«

Als die ersten Amerikaner in die Stadt einmarschiert waren, hatte sie sich gemeinsam mit ihrer Freundin Greta von der Flakbatterie abgesetzt und auf den Weg nach Hause gemacht. Greta wollte nach Cottbus. Der Krieg war aus, auch wenn ein paar hundertfünfzigprozentige Arbeitsmaiden davon gesprochen hatten, dass sie sich auf den Weg zum RAD-Lager in Füssen machen sollten. Zur legendären Alpenfestung.

»Und wie bist du so schnell von Nürnberg nach Hause gekommen? Die Reichsbahn darf doch nicht mehr fahren.«

»Mit dem Rad.«

»Du hast ein Fahrrad?« Mutter riss erfreut die Augen auf.

»Bis gestern jedenfalls, aber es ist mir in Hanau gestohlen worden, und ich musste laufen.« Es waren viele unterwegs gewesen und sie hatte auch viel gesehen. Aber darüber konnte sie nicht reden. Auch nicht davon, dass sie sich vor den Amerikanern versteckt hatte. Gerüchte von Vergewaltigungen und Verhaftungen machten überall die Runde. Irgendein Kerl auf der Straße hatte behauptet, auch die Kriegsmaiden, also die Frauen im Kriegshilfsdienst, würden als Soldaten gelten und müssten in Gefangenschaft, die Besatzer wären skrupellos und hätten keinen Respekt vor Frauen.

Und deshalb hatte sie sich illegal in die Stadt gemogelt, war durch den Stadtwald am Bischofsweg nach Sachsenhausen geschlichen und in der Menge der Passanten untergetaucht.

»Schade. Mir tun die Füße vom vielen Laufen schon weh.« Mutter deutete auf ihre abgelaufenen Halbschuhe.

»Habt ihr denn an der Flak wenigstens einen Flieger abgeschossen?«, fragte sie. »Diese Terroristen. Du erinnerst dich an das Lager für die abgeschossenen Fliegerpiloten hier gleich ums Eck? Im Grüneburgpark? Das haben sie genauso bombardiert wie alles andere. Und der Gauleiter hat doch wirklich geglaubt, dass das Lager die Stadt vor Zerstörungen bewahren würde!«

»Aber hier im Westend sind doch viel weniger Bomben als in der Innenstadt gefallen. Ich denke schon, dass es etwas gebracht hat«, erwiderte Elfie. Nördlich der Bockenheimer hatte sie überhaupt keine Schäden an den Häusern mehr gesehen.

»Du hast keine Ahnung, Kind, unser Dach hat gebrannt und ich war doch Luftschutzwart und musste zum Löschen raus. Der Wind hat das Feuer immer wieder angefacht, bis Herr Mauersberger mir geholfen hat.« Ein dankbares Lächeln huschte über das Gesicht ihrer Mutter. »Wenn Hitler erst mal seine Wunderwaffe, die V2, einsetzt, wendet sich das Blatt!« Sie bekam glänzende Augen.

Jetzt reichte es Elfie. Sie wusste ja, dass ihre Eltern überzeugte Nazis gewesen waren. Aber hatte Mutter durch die schrecklichen Bombardierungen und den Tod ihrer Eltern nichts dazugelernt? Musste sie noch immer jede Parole nachplappern?

Elfie hatte genug von diesem Unsinn.

Und da fiel ihr Blick wieder auf dieses unsägliche Gedicht des Hitler-Stellvertreters Rudolf Hess.

Ein Griff, und sie hatte es abgehängt.

»Elfie!«

»Die Zeiten sind vorbei, die Nazis haben den Krieg verloren.«

»Häng das wieder auf! Gehorsam – das hat doch gar nichts mit Hitler zu tun. Ich habe alle seine Bilder weggeworfen und aus der Fahne das Hakenkreuz ausgeschnitten, damit es keinen Ärger gibt. Aber das Gedicht kann doch bleiben!«

Elfie ertrug es nicht mehr. Wütend über all die sinnlosen Befehle, die sie hatte ertragen müssen, öffnete Elfie den Rahmen, nahm das Blatt Papier heraus und riss die Tür vom Kohleofen auf.

»Nein!«, rief Mutter, aber da war es schon zu spät.

Elfie hatte den unbedingten Gehorsam verbrannt.

»Du hattest dir damals so viel Mühe damit gegeben!« Mutter deutete verständnislos auf den Ofen.

»Jetzt gefällt es mir aber nicht mehr«, verteidigte Elfie sich trotzig, schnappte sich ihren Rucksack und ging ins Kinderzimmer. Sie musste sich unbedingt den ganzen Kriegsdreck abwaschen und wieder Friedenskleidung anziehen, so wie Helga.

Im Kinderzimmer, das Walter und sie sich geteilt hatten, stand noch immer Walters Koffergrammofon auf seinem Schreibtisch. Am liebsten hätte sie es sofort geöffnet und Django Reinhardt oder Louis Armstrong aufgelegt, aber zuerst musste sie aus den schmutzigen Klamotten raus.

Im Kleiderschrank roch es nach Mottenkugeln. Elfie war es gar nicht mehr gewohnt, sich Kleidung aussuchen zu können, und konnte sich gar nicht entscheiden, was sie anziehen sollte. Dann ergriff sie den Bügel mit dem türkisfarbenen Tanzkleid. Wenn schon, denn schon. Dazu frische Unterwäsche und weiße Söckchen. Seidenstrümpfe waren keine mehr im Schubfach.

Im Bad löste sie ihren Zopf und wollte sich gerade ausziehen, als die Türglocke schrill klingelte und jemand energisch an die Tür hämmerte.

»Warning!«, rief ein Mann. »This entire house will be vacated!«

Neugierig verließ Elfie das Bad und auch das Surren der Nähmaschine endete.

»Weißt du, was der will?«, fragte ihre Mutter.

Elfie öffnete die Wohnungstür. Ein amerikanischer Soldat lief durchs Treppenhaus, klingelte an jeder Tür und rief immer wieder denselben Satz.

Er nuschelte zwar, aber sie verstand ihn sofort. Englisch war immer ihre Lieblingssprache gewesen, wie hätte sie sonst die Texte der geliebten Swing-Musik verstehen sollen?

»Wir müssen das Haus räumen«, erklärte Elfie verwundert und hob den Zettel vor ihrer Tür auf. Ihre Mutter stellte sich neugierig neben sie und Elfie las laut den deutschen Text vor. »Folgende Gegenstände dürfen mitgenommen werden: Kleidungsstücke, Nahrungsmittel, Küchengeräte und Bettdecken. Die Türen dürfen nicht verschlossen werden, die Schlüssel verbleiben in den Schlössern.«

»Wir müssen hier raus?«, wunderte Mutter sich.

»Bis um halb vier«, sagte Elfie.

»Das ist ja in zwei Stunden!« Ihre Mutter starrte auf ihre schmale Armbanduhr.

»Und wo sollen wir hin?«, rief Frau Lenze aus dem ersten Stock.

»Das können sie doch nicht einfach so machen!«, beschwerten sich die anderen Mieterinnen.

»Ich will hier nicht weg!«

»Und wann können wir zurück?«

Das Stimmenwirrwarr wurde immer lauter.

»Hurry up«, sagte der Soldat zu Elfie, bevor er das Haus verließ. »Two hours, not more!«

Elfie zog ihre Mutter mit sich in die Wohnung. »Wir sollen uns beeilen, hat er gesagt.«

Gemeinsam holten sie die großen Koffer vom Kleiderschrank, mit denen sie vor dem Krieg mit dem KdF nach Italien gefahren waren. Dann reichte Mutter Elfie die Kleidung aus dem Schrank, die diese sorgfältig verstaute.

»Was ist mit Vater, wenn er heimkommt?«, fragte Mutter mit zitternder Stimme. »Oder Walter? Wie sollen sie uns denn finden, wenn sie heimkommen?«

Das wusste Elfie auch nicht.

Am Schluss trugen sie den Leiterwagen aus dem Hausmeisterkeller und schichteten die Koffer darauf. Elfie wollte gerade das Koffergrammofon und die Sammelmappe mit den Platten obenauf legen, als ihre Mutter den Kopf schüttelte.

»Die brauchen wir nicht. Hilf mir lieber, die Nähmaschine einzupacken.« Sie deutete auf das große Holzgestell mit dem Fußantrieb, auf das die glänzend schwarze Singermaschine montiert war. »Die brauchen wir, um Geld verdienen zu können.«

»Und wenn ich das Grammofon und ein oder zwei Mappen in der Hand trage?« Sie hatten schließlich alle einen Griff.

»Stimmt, du hast die Hände noch frei!«, freute sich Mutter. »Nimm die Koffer und ich packe noch das Küchengeschirr auf den Wagen.«

Dagegen konnte Elfie schwer was sagen. Ein Kochtopf war natürlich wichtiger als Musik.

Da klopfte es schon wieder.

»Gleich«, rief Mutter.

»Ich bin es, Frau Fischer!«

»Herr Mauersberger!«, rief Mutter. »Das ist ja eine Freude, dass Sie bei uns vorbeischauen.«

In Elfies rechten Arm zuckte es, beinahe hätte sie ihn aus lauter Gewohnheit zackig schräg nach oben gestreckt. Herr Mauersberger hatte auf den Hitlergruß immer so viel Wert gelegt. Jetzt trug er kein Parteiabzeichen mehr am Revers, aber ansonsten sah er aus wie immer. Groß wie ein Schrank, das schüttere Haar streng nach hinten gekämmt, die vollen Wangen makellos rasiert, die blauen Augen eher stechend als wohlwollend.

»Mein liebes Fräulein Fischer!« Mit ungewohntem Schmelz in der Stimme streckte er ihr die Hand entgegen. »Sie sind wieder zurück, welche Freude!«

Seine Finger waren klebrig, Elfie ließ sehr schnell wieder los.

»Und das an so einem Tag. Mein Haus diesen Barbaren überlassen … wer weiß, ob ich es jemals zurückbekomme! Und wie es dann aussehen wird! In Höchst haben sie ja schon vor einigen Tagen einen Sperrbezirk rund um die Farbenfabrik errichtet. Und jetzt auch noch bei uns im schönen Westend!«

»Und wo gehen Sie hin, Herr Mauersberger?«, fragte Mutter. Herr Mauersberger wohnte eigentlich in der Beletage, in der schönsten Wohnung von allen.

»Nach Bad Nauheim zu meiner Schwägerin, machen Sie sich um mich keine Sorgen.«

Da erschien einer der Soldaten in der Tür. »You must go!« Er wedelte mit seinem Gewehr in der Luft herum.

»Aber wo sollen wir denn unterkommen?«, jammerte Mutter.

Wenn Elfie das nur wüsste. All ihre Freunde wohnten in diesem Haus oder in der näheren Umgebung und alle mussten ihre Wohnungen räumen. Mutters Eltern waren gestorben. Andere Verwandte hatten sie keine in Frankfurt. Und bei Helga war es doch schon so voll.

Wie Vieh wurden sie die Siesmayerstraße hinabgetrieben. An der Einmündung in die Bockenheimer Landstraße blockierte auf einmal ein Stacheldrahtzaun ihren Weg. Ein schmaler Durchgang wurde von mehreren Soldaten bewacht.

Ein Offizier mit braunen Augen und dunklem Teint wie ein Italiener deutete auf die Nähmaschine.

»What’ s that?«

»Küchengerät«, antwortete Elfie. »For the kitchen.«

»Looks like a sewing machine«, antwortete er und lud die Maschine wieder ab.

Mutter war den Tränen nahe.

»Aber wir brauchen sie«, sagte Elfie auf Englisch. »Um Geld zu verdienen.«

»Name and former adress«, forderte der Offizier und hängte dann einen Zettel an die Nähmaschine. Er riss Mutter die Maschine aus den Händen, jetzt weinte sie doch. Dann erklärte er, dass sie in die Wohnung zurückgebracht werden würde.

Aber wo sollten sie jetzt hin? Es herrschte ein heilloses Durcheinander, alle Nachbarn waren in heller Aufregung. Die Obdachlosensammelstellen waren durch die Ausgebombten doch schon überfüllt!

»Außerdem bin ich nicht obdachlos, meine Wohnung steht ja noch!«, rief die schmächtige Frau Lenze und schulterte einen schweren Rucksack. Ihre Haushälterin zog einen Wagen voller Koffer hinter sich her, auf dessen Seite Palmengarten stand.

Auf der Bockenheimer Landstraße wedelte ein Mann mit einer Liste. »Ich bin vom Wohnungsamt. Notunterkünfte gibt es im Hochbunker in Griesheim.«

»Im Bunker?«, sagte Elfies Mutter. »Ich gehe in keinen Bunker. Nie mehr.« In ihrem Gesicht spiegelte sich das Grauen, das sie während der Bombardierungen erlebt hatte.

Aber alle Gegenwehr nutzte nichts. Fürs Erste blieb ihnen keine andere Möglichkeit, als die weite Strecke nach Griesheim zu laufen. Da sich aber Frau Lenze ebenfalls auf den Weg zum Bunker machte, fügte Mutter sich in ihr Schicksal. Elfie wusste, wie sehr Mutter es kränkte, wenn sie aufgrund ihrer Herkunft schlecht behandelt wurde. Aber wenn auch die reiche Frau Lenze in den Bunker musste, dann war das etwas anderes.

Kurz vor dem Hauptbahnhof überquerten sie die Hohenzollernanlage, und Elfie las voller Erstaunen auf einem hölzernen Straßenschild, dass diese jetzt Platz der Republik hieß. Vor dem Gerippe des Bahnhofs bogen sie in die Mainzer Landstraße ab und marschierten in den Gallus, Frankfurts Arbeiterviertel.

Auch hier stand kein Haus mehr, die Mainzer Landstraße war umgeben von Schuttbergen. Wie traurig das alles war.

Aus einer dunklen Seitengasse lief ein Mann im hellen Staubmantel auf sie zu, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Irgendwas an seiner Gestalt, seiner Haltung, seinem Gang kam Elfie unangenehm vertraut vor. Als kannte sie diesen Mann. Aber konnte das wirklich sein? Unsicher blieb sie stehen. Bestimmt irrte sie sich.

»Elfie, nicht trödeln«, rief ihre Mutter.

Der Mann schaute auf.

Schockiert erkannte sie sein bleiches Gesicht, auch wenn er seine roten Haare unter dem Hut verborgen hatte.

Er war es tatsächlich. Kappes, der Gestapobeamte aus dem Jugendkommissariat.

Wieso lief der seelenruhig durch Frankfurt und wurde nicht von den Amerikanern verhaftet? Oder war abgehauen, wie all die anderen Feiglinge?

Schon drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand auf seine merkwürdig schlängelnde Art hinter einem Trümmerberg.

Elfie blieb wie erstarrt stehen. Sie wollte ihm nachlaufen oder zumindest die Polizei rufen, aber sie konnte keinen Fuß vor den anderen setzen, sondern zitterte am ganzen Körper.

»Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen«, wunderte sich Mutter.

Auch wenn sie Albträume von ihm gehabt hatte, so war Kappes doch kein Gespenst, sondern ein Mann aus Fleisch und Blut, hier, mitten in Frankfurt.

Den ganzen Weg bis nach Griesheim fühlte Elfie sich bedrückt und versuchte, ihren schlechten Erinnerungen durch ein Gespräch mit ihrer Mutter zu entkommen, während sie sich ständig nervös umschaute, als ob Kappes ihr folgen würde.

Erst als sie den Griesheimer Hochbunker erreichten, fühlte sie sich sicher.

Die Metalltüren standen sperrangelweit offen, auf der parkähnlichen Wiese davor spielten Kinder Fangen. Mit dem Turm an der Seite sah der Hochbunker aus wie eine Kirche. Im Inneren war es warm und die Luft frisch. Im Erdgeschoss befand sich die Heizungsanlage und sie mussten in den ersten Stock laufen, wo sie das Schild Hier ist Ruhe und Selbstbeherrschung oberste Pflicht empfing.

Elfie war noch nie in einem der im Krieg errichteten modernen Hochbunker gewesen. Zu Hause oder auch in der Schule waren sie bei Bombenalarm immer in den Keller gegangen.

Die Räume waren hell gestrichen und in jedem standen zehn Feldbetten. Die meisten davon waren belegt, wie die Decken und Koffer verrieten. Mancher hatte auch versucht, mit einem Kofferstapel oder Tüchern an einer Wäscheleine für Privatsphäre zu sorgen.

Eine Frau, auf deren Mütze Luftschutzwart stand, wies ihnen zwei Feldbetten zu. Die Nachbarn kamen in einen anderen Raum. »Größeres Gepäck können Sie in den Abstellraum im Erdgeschoss bringen.«

»Da sind ja Risse an der Wand!« Mutter zeigte aufgeregt an die Decke.

»Keine Angst, der Bunker ist sicher«, versuchte die Frau Elfies Mutter die Ängste zu nehmen. »Eine Luftmine hat uns das Dach weggepustet, aber hier drin sind alle heil geblieben, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Das ist deutsche Wertarbeit, alles reiner Stahlbeton, da können Sie sich drauf verlassen!«

Aber Mutter sah nicht beruhigt aus. Was sie wohl während der großen Bombardierungen durchgemacht hatte? Elfie war da ja schon beim Reichsarbeitsdienst gewesen.

Neben Elfies Feldbett war eine Bank aus Beton an die Wand gebaut worden. Sie war ganz warm, aus kleinen Schlitzen in Bodennähe drang warme Luft. Die Bunker hatten nicht nur eine Heizung, sondern auch eine Frischluftzufuhr. Elfie erinnerte sich daran aus der Schule, sie hatte einen Besinnungsaufsatz über die technische Meisterleistung des deutschen Bunkerbaus schreiben müssen.

Bei Stromausfall übernahm ein Diesel-Notstromaggregat die elektrisch betriebene Heizungsanlage, und die Lüftung, Radio und damit die neuesten Luftlageberichte wurden per Drahtfunk empfangen. Waschräume gab es auch. Alles, um sicher und ruhig hier abwarten zu können.

Nur keine Küche.

»Essensversorgung durchs Städtische Ernährungsamt«, sagte die Frau lapidar und wies auf einen Raum im Erdgeschoss. »Morgens und abends Brotausgabe hier, mittags kommt eine Gulaschkanone.«

»Ist denn auch Gulasch drin?«, fragte Mutter.

Die Frau hob spöttisch die Augenbrauen und kümmerte sich um die nächsten Ankömmlinge.

Abends konnte Elfie nicht einschlafen. Zwei Margarinebrote und ein halbes Glas eingelegter Gurken aus dem heimischen Vorrat machten einfach nicht satt. Schon um neun Uhr wurde das Licht gelöscht, aber die fluoreszierende Farbe an den Wänden, eine Art Notbeleuchtung bei Stromausfall, erhellte den Raum so sehr, dass sie hätte lesen können, wenn noch Platz für Bücher auf dem Leiterwagen gewesen wäre.

Ihre Mutter unterhielt sich mit ihrer Bettnachbarin über die schlimmen Zustände und die Frechheit der Amerikaner, ihnen ihr Zuhause zu nehmen.

»Wie eine zweite Ausbombung ist das!«, rief die Frau ein ums andere Mal. Ein Säugling weinte, zwei kleine Jungs stritten sich um ein Spielzeugauto, der Lärm hallte und dröhnte in Elfies Kopf, dass sie ihre Strickjacke überstreifte und nach draußen ging.

Wie still es war. Kein Luftalarm, keine Züge oder Straßenbahnen, noch nicht einmal ein Auto war zu hören. Über ihr blinkten die Sterne, in den Häusern konnte man noch Licht sehen, ganz anders als während der Verdunkelung. Sechs Jahre lang durfte man von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang im Freien keinerlei Licht sehen. Jetzt wurde es zaghaft wieder hell.

Elfie blieb in der Tür stehen und beobachtete, wie im Nachbarhaus eine Frau Geschirr spülte und eine andere mit einem Buch in der Hand vor dem Fenster stand.

Kaum vorstellbar, dass jetzt, in diesem Moment, in Berlin noch immer gekämpft wurde, noch immer Bomben fielen, noch immer Menschen starben.

Hoffentlich ging es Walter gut. In allerletzter Minute hatte sie noch ihr Tagebuch aus dem Geheimversteck unter der losen Bodendiele geholt. Darin lag ein Foto – Walter mit weißem Seidenschal und Regenschirm über dem Arm, Helga und Elfie in ihren kurzen Tanzkleidern, und alle drei mit einem Lachen im Gesicht – offen, unbeschwert und ausgelassen.

Nie hätte sie sich damals vorstellen können, was noch alles geschehen würde.

3 – Klaus

April 1945

Tagelang durchstreifte Klaus einsturzgefährdete Trümmerhäuser. Es war wie ein innerer Drang. Als ob er den verlorenen Leben einen letzten Besuch abstatten würde. Dabei waren gar nicht alle Ruinen ausgestorben, oft täuschte er sich und fand auf Mauervorsprüngen oder hinter Kellertüren Behausungen verschreckter Menschen. Manchmal gab es auch notdürftig hergerichtete Ladengeschäfte, sogar mit Fenstern und Türen. Und wenn ein standhaftes, robust gebautes Haus wie ein letzter Zahn im Gebiss eines alten Menschen übrig geblieben war, dann fragte er sich, wie das hatte geschehen können – der alte Kaiserdom war noch intakt, aber manches nur wenige Jahre altes Mietshaus war dem Erdboden gleichgemacht worden.

Vielleicht sollte er Maurer werden, oder Architekt, um zu lernen, wie man Häuser bombensicher baute.

Aber wieso dachte er an die Zukunft? Es würde keine Zukunft geben. Nicht für Deutschland und nicht für ihn. Er war ein Ausgestoßener, der durch Lügen versuchte, nicht aufzufallen. Nur deshalb trug er diese viel zu kurze Hose einer Hitlerjungenuniform, erzählte jedem, der ihn danach fragte, er sei fünfzehn, obwohl er bereits neunzehn Jahre alt war, und rasierte sich akribisch mit dem Rest einer grauen Kriegsseife und stumpfen Rasierklingen. Viel wuchs ja zum Glück noch nicht. Mit seinen zittrigen Händen schnitt er sich häufig. Aber letztendlich war es egal, niemand schaute einem dieser Tage lange ins Gesicht, alle duckten sich und wollten nicht auffallen, hatten irgendetwas zu verbergen.

Die Rasierklingen hatte Klaus in einem Trümmerhaus entdeckt. Er war ein Aasgeier geworden, so nannte er sich und die anderen, die die letzten Reste aus der toten Wüste rauspickten. Lebensmüde Menschen wie er.

Manchmal erinnerte er sich daran, früher bereits in den Häusern gewesen zu sein. Entweder weil er als Hitlerjunge den Besitz geflohener oder deportierter Juden aus deren Wohnungen hatte schaffen müssen. Angeblich, um sie bei Auktionen fürs Gemeinwohl zu versteigern. Aber dann brachten sie die Sachen zu irgendwelchen Parteibonzen nach Hause.

Oder weil er nach den Bombardierungen beim Bergen von Hausrat hatte helfen müssen. Keiner besaß so viel, dass er etwas zu verschenken hatte. Nur wenn Einsturzgefahr drohte, ließen sie davon ab. Viele der Pimpfe waren dann extra noch mal losgeklettert, um zu zeigen, wie mutig sie waren. Klaus ebenfalls.

Jetzt kraxelte er wieder durch Fensterlöcher und balancierte auf Mauerresten. Viel fand er nicht, doch manches Schätzchen brachte ihm auf dem Schwarzmarkt Zigaretten ein, und diese tauschte er in Brot um. Und wenn er Glück hatte, konnte er mittags seinen Blechnapf an einer Suppenküche füllen, an der das Emblem der NS-Volkswohlfahrt, die früher die Essensverpflegung der Bombenopfer übernommen hatte, nur schwach überpinselt worden war.

Eine merkwürdige Stille lag über Frankfurt während der Ausgangssperre, obwohl bereits die ersten Morgenvögel zwitscherten. Abwartend, innehaltend.

Jedes Geräusch ließ ihn zusammenfahren, sein Puls raste, dabei waren es nur aus den Angeln gehobene Türen, die der Wind hin- und herschlug, oder herabfallende Steine.

Wenn sich auf seinem Weg unerwartet ein Abgrund vor ihm auftat, wurde ihm schwindelig, dabei hatte er keine Angst, zu fallen, im Gegenteil. Aber jedes Mal sagte er sich: Jetzt noch nicht. Jetzt – noch – nicht.

Und kletterte weiter.

Das nächste Haus. Rechts des Treppenhauses fehlte alles, ganze Zimmerdecken waren wie Dominosteine umgefallen, doch die linke Haushälfte stand noch, und der Wind wehte weiße Gardinen aus offenen Fenstern.

Vorsichtig öffnete Klaus die schräg in den Angeln hängende Haustür, der Staub dahinter war makellos und ohne Fußabdrücke. Hier hatte sich noch kein Aasgeier hineingetraut.

Der Boden war übersät mit kleinen bunten Steinen, die sich aus den Wandmosaiken gelöst hatten. Die Reste sahen wie griechische Sagenfiguren aus. In der Erdgeschosswohnung schimmerten Seidentapeten an rissigen Wänden, dunkle Stellen ließen erahnen, wo Bilder gehangen hatten.

In einem kargen hellblauen Raum war nur noch ein Einbauschrank vorhanden. Die Flügeltüren öffneten sich quietschend und dahinter lag im Schatten – ein brauner Lederfußball.

Mit zitternden Händen ergriff Klaus ihn, befühlte ungläubig das weiche Leder, hob ihn an die Nase und sog den Geruch nach Gras und Glück ein, der noch immer an ihm haftete.

Den Ball unterm Arm, trat er aus dem Haus. Wo war er eigentlich? Sah wie die Bockenheimer Landstraße aus. Gegenüber lag die Einfahrt zum Palmengarten. Früher herrschte hier immer reger Betrieb. Jetzt zog noch nicht mal ein Pferd einen Wagen, die Amerikaner hatten jeden Fahrverkehr verboten.

Klaus schritt zur Straßenmitte, legte den Ball vor sich auf den Boden und sammelte sich kurz. Dann stellte er sich den Pfiff eines Schiedsrichters vor, die tobende Menge, die Blicke, die auf ihn gerichtet waren, und versetzte dem Ball einen Stoß, hechtete ihm nach, umrundete ihn, trat ihn ein weiteres Mal, riss die Arme hoch, schloss die Augen und hörte den Torjubel.

Scharrende Schritte, er öffnete die Augen. Ein ungefähr sechsjähriger Bub mit Zahnlücken schaute ihn aus großen Augen an.

»Darf ich mitspielen?«

Klaus kickte ihm den Ball zu, der Bub trat ihn zurück, nach wenigen Minuten kamen immer mehr Kinder aus den Trümmern, Jungs, Mädchen, schnell markierten Steine die Tore, Mannschaften bildeten sich und Kinderlachen erfüllte die Frühlingsluft.

Mit einem Mal tauchte laut knatternd eine lange Reihe Jeeps auf, gefolgt von einem Lastwagen voller Stacheldrahtrollen. Was war denn jetzt los?

»Kommt, wir verziehen uns besser!«, rief Klaus.

Sie schnappten sich die Torsteine und verlagerten ihren Bolzplatz in die Beethovenstraße. Aber das Treiben auf der Bockenheimer fesselte sie zunehmend, bald wurde der Ball unwichtig, denn die Soldaten rammten Holzpflöcke in den Boden und spannten den Draht um die intakten Häuser auf der Palmengarten-Seite der Bockenheimer Landstraße und der Siesmayerstraße.

Der breitschultrige Hüne in der kakifarbenen Uniform mit den drei Streifen und dem Stern auf seinem Abzeichen, war das nicht Campbell? Sergeant Major Campbell, der Klaus auf seiner Flucht mit nach Frankfurt genommen hatte. Ein Mann wie ein Berg, bestimmt zwei Meter groß, mit langen Fingern wie ein Klavierspieler.

Erfreut lief Klaus zu ihm.

»Oh, hello, Klaus«, begrüßte ihn Campbell und ein Lächeln breitete sich in seinem rosigen Gesicht voller Sommersprossen aus. »How are you?« Mehr verstand Klaus nicht. Seine Englischkenntnisse waren miserabel. Doch, ein Wort: family.

Er zuckte mit den Schultern. Wenn es etwas gab, über das er nicht reden wollte, dann war es seine Familie. Danach deutete er auf den Stacheldrahtzaun. »What’s that?«

»Restricted area. Sperrbezirk.«

Und auf einmal bemerkte Klaus, wie die Soldaten mit Handzetteln in die bewohnten Häuser gingen und dort ein riesiges Geschrei entstand. Offensichtlich mussten sie ihre Wohnungen verlassen.

»We need some space«, erklärte Campbell und musterte Klaus und die Kinder auf der anderen Straßenseite, die ihn neugierig beobachteten. »Sorry, Klaus. Do you need a job? Weneed some gardener.«

Gardener? Hieß das nicht Gärtner? Er musste sich verhört haben. Wozu brauchte ausgerechnet die Army Gärtner?

Campbell redete weiter auf ihn, und wenn Klaus ihn richtig verstand, sollte er am nächsten Morgen um acht da sein und sein Arbeitsbuch mitbringen. »Your papers are okay?«

»No papers.« Die hatte er weggeworfen und Campbell erzählt, er hätte sie bei einer Bombardierung verloren.

»Oh yes, I remember. But you are so young, that’s no problem.«

Ein Blick zu den Kindern, die Klaus umringten. »But only you!«

Dann scheuchte Campbell die Kinder weg. Die scharten sich daraufhin um die schwarzen Lastwagenfahrer und bekamen von ihnen Kaugummi und Schokolade geschenkt.

Konnte das sein? War Klaus eben Arbeit angeboten worden? Ausgerechnet bei der Army? Noch immer hatte er Angst, wenn er eine Uniform sah, glaubte, enttarnt zu sein, und fürchtete das Feldgericht.

Es war schon eine merkwürdige Sache gewesen, als er auf seiner Flucht nach Hause mitten in der Wetterau in der viel zu kleinen HJ-Uniform und mit der Waffe in der Hand, dieser dummen, dummen Waffe, Campbell begegnet war. Der aus seinem Jeep stieg und ihn aufforderte, die Waffe wegzuwerfen.

Klaus hatte erwartet, gefangen genommen zu werden, doch dann durfte er im Jeep nach Frankfurt mitfahren, nur weil er genauso wie Campbells kleiner Bruder aussah. Der hatte ihm sogar ein Foto gezeigt, das längliche Gesicht, die braunen Haare, der gleiche skeptische Blick aus hellen Augen.

Ja, er sah diesem Jungen wirklich ähnlich. Aber der war ein fünfzehnjähriger Schuljunge, und er war bereits neunzehn.

Doch das durfte Campbell auf gar keinen Fall wissen.

Gemeinsam mit den ausquartierten Erwachsenen verließen auch viele der Kinder das Westend. Als die Sperrstunde nahte und die Mütter die allerletzten verbliebenen Kinder in ihre Behausungen riefen, wusste Klaus wie jeden Abend nicht, wo er sich verkriechen sollte. Eigentlich war es völlig egal, er konnte sowieso nicht schlafen, die dunkle Nacht war voller schrecklicher Erinnerungen. Aber irgendwo musste er ja hin, wenn er nicht der amerikanischen Militärpolizei in die Arme laufen wollte. Meist verzog er sich in Abbruchhäuser, immer auf der Hut vor den zwielichtigen Gestalten, die sich überall herumtrieben. Menschen, die sich vor den Amerikanern versteckten, ehemalige Zwangsarbeiter, Ausgestoßene und Wurzellose wie er.

Sein Zuhause gab es nicht mehr.

Vielleicht sollte er einfach hierbleiben, er hatte keine Uhr und würde so nicht verpassen, sich morgen früh rechtzeitig bei Campbell zu melden. Oder sollte er besser verschwinden? Wozu sich in Gefahr begeben? Wenn die Amerikaner sein Geheimnis entdeckten, ging es ihm bestimmt an den Kragen.

Aber ein Job – das war doch Arbeit, oder? Für die er bezahlt werden würde. Er könnte sich neue Papiere besorgen, und Lebensmittelmarken. Eigentlich klang das doch alles gar nicht so schlecht.

Und wenn sie wirklich hinter sein Geheimnis kämen – ein Ausweg blieb ihm immer. Ein endgültiger Ausweg.

Aber jetzt holte er erst mal seinen Rucksack, der noch dort stand, wo er den Ball gefunden hatte. Er schulterte ihn und suchte in der Erdgeschosswohnung nach einem gemütlichen Plätzchen, doch überall pfiff der kalte Abendwind um die Ecken.

Beim Gehen fiel ihm die Kellertür auf. Sie ließ sich ganz leicht öffnen, trotzdem schaute er sich die Treppe genau an, bevor er hinabstieg. Vor Kellern hatte er Respekt, man wusste ja nie. Es stürzten noch immer Ruinen ein.

Der Flur war trocken und sauber. Die einzelnen Türen standen offen, dahinter Vorratsregale voller leerer Marmeladengläser und Staub. Auf der letzten Tür stand Luftschutzraum, dahinter zusammengeklappte Feldbetten, Decken und Gasmasken an der unversehrten Wand.

Was für ein Paradies, wenn auch das Kellerfenster zugemauert worden war. Vielleicht konnte er die Steine morgen entfernen. Jetzt klappte er eines der Betten auf, kuschelte sich unter die Decken und fühlte sich in der Stille des Hauses das erste Mal seit Langem ein wenig geborgen.

4 – Elfie

26. August 1939

Der Sommer 1939 schien endlos zu sein. Später dachte Elfie oft, was für ein Kind sie damals doch gewesen war. Ein unschuldiges, naives, dummes Mädchen von dreizehn Jahren, das am meisten Angst vor der Dunkelheit hatte.

Seit sie vor drei Jahren ins Westend gezogen waren, ging Elfie auf die Oberrealschule. Dort hatte sie Helga kennengelernt. Außerdem hatten die Eltern sie beim Jungmädelbund angemeldet, der Gruppe für die jüngeren Mädchen des BDM.

Sie ging gerne zu den beiden Heimabenden in der Woche, bewährte sich in der zusätzlichen Doppelstunde Sport am Samstag und die Wochenendfahrten zweimal im Monat in den Taunus liebte sie ganz besonders. Wandern und dabei Lieder singen, konnte es etwas Schöneres geben? Zeigen, wie viel Kraft man hatte, um die neue Zeit aufzubauen.

Du bist nichts, dein Volk ist alles, stand überall auf Plakaten zu lesen und genauso fühlte Elfie sich auch. Aufgehoben in einer großen Volksgemeinschaft. Elfie war zwar erst dreizehn, aber sie hoffte sehr, bald ebenfalls eine Jungmädelführerin zu werden. Jugend führt Jugend, das imponierte ihr am meisten. Hitler traute seiner Jugend etwas zu!

Im Gegensatz zu Mutter, die selbst dann noch meckerte, wenn Elfie die Kartoffeln hauchdünn schälte.

Am Ende dieser schönen Sommerwochen erhielt Vater seinen Einberufungsbefehl. In der Schule, beim BDM und auf der Straße redeten alle vom Krieg, als wäre er so unausweichlich wie der nächste Regenschauer.

Ob es jetzt wirklich dazu kam?

Vater war ganz bleich geworden, und Elfie starrte ihn an, als ob sie jetzt schon Abschied nehmen müsste. Von seinen gütigen grauen Augen, dem runden Gesicht mit der beginnenden Halbglatze, dem gemütlichen Bauch und dem graublauen Hausmeisterkittel, den er immer trug.

Mutter schaute genauso entgeistert wie er. Er streckte seine Hand aus, strich ihr eine der blonden Wellen aus dem Gesicht und seufzte.

»Wie soll ich denn ohne dich zurechtkommen?«, flüsterte sie. »Was, wenn wir wieder völlig mittellos auf der Straße stehen?«

»Das wird nicht passieren«, antwortete Vater und schaute sie liebevoll an. »Der Staat zahlt doch Familienhilfe. Und Herr Mauersberger hat mir auch versprochen, für euch zu sorgen.«

Sie nickte, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und bügelte auf einmal stapelweise Taschentücher, die wurden ihm anscheinend im Gegensatz zur Uniform nicht von der Wehrmacht gestellt.

Elfie wollte Vater auch gerne etwas Gutes tun, doch bevor ihr eine zündende Idee gekommen war, rief er auf einmal alle zusammen und verkündete, in den Palmengarten gehen zu wollen. »Ein letztes Mal!«

Da konnte Mutter die Tränen nicht mehr zurückhalten und schluchzte so sehr, dass sogar Walter mitkam. Von Familienausflügen hielt ihr fünfzehnjähriger Bruder eigentlich nicht mehr viel. Und so ließen sie alles stehen und liegen, zogen sich ihre Sonntagskleidung an und liefen hinüber.

Ohne seinen Kittel wirkte Vater fremd auf Elfie. Wie würde es erst sein, wenn er Uniform trug?

Der Nebeneingang war geschlossen, sie mussten die Siesmayerstraße hinunter und über die Bockenheimer Landstraße und die kurze Palmengartenstraße zum Haupteingang gehen. Und kaum dass die Kassenhäuschen in Sicht kamen, riss Elfie sich von Mutters Hand los. Sie freute sich so, das Paradies zu besuchen, das sonst hinter dicken Mauern und Zäunen verborgen war.

»Elfie, benimm dich!«, rief Mutter ihr hinterher und strich sich einen Fussel von ihrem selbst genähten Blümchenkleid. Elfie trug ihre Jungmädeluniform: einen dunkelblauen Rock, eine weiße Hemdbluse und ein dunkelblaues Halstuch, und die Abzeichen auf ihrer Bluse zeugten von ihren sportlichen Leistungen und ihren Erfolgen beim Sammeln fürs Winterhilfswerk.

Geduld war jedoch keine ihrer Stärken. Anstatt sich in die lange Kassenschlange einzureihen, spähte sie durch den Zaun und bewunderte die in geometrischen Formen angepflanzten Sommerblumen und die Fontäne, die ihr Wasser meterhoch in den Himmel spritzte. Und natürlich das moderne weiße Gesellschaftshaus mit seinem Gartenrestaurant und dem berühmten Ballsaal.

Endlich hatte Vater bezahlt, und schon lief Elfie am Gesellschaftshaus vorbei zum Musikpavillon, wo das Palmengarten-Orchester gerade sein Nachmittags-Konzert gab.

»Willst du nicht zum Spielplatz?«, fragte Walter und zog an ihren Zöpfen.

Ihr Bruder war nur zwei Jahre älter als sie, überragte sie aber um Längen. Schlank und sportlich, wie er war, sah er trotzdem mit seinen grauen Augen und den mausbraunen Haaren Vater sehr ähnlich. Elfie auch, aber sie hatte dunklere Haare. Viel lieber hätte sie Mutters blonde Haare geerbt.

Walter trug einen hellgrauen Sonntagsanzug mit Strohhut, den Elfie ihm mit einem Griff vom Kopf pfefferte. Von der HJ hielt er nicht viel, obwohl längst alle Jugendlichen verpflichtet worden waren, ihr beizutreten.

»Selber Spielplatz!«, rief sie und hätte ihm am liebsten auch noch die Zunge rausgestreckt, doch Mutter rief schon wieder: »Kinder, benehmt euch!«

Möglichst unauffällig knuffte Elfie Walter in die Seite, als er seinen Hut vom Boden auflas und den Staub wegpustete.

Vor dem Musikpavillon drehten sich zwei junge Paare verträumt im Takt der Musik, während ihre Eltern vorbeischlenderten. Elfie hatte ihre Eltern noch nie tanzen gesehen.

Einige auffällig bunte Enten watschelten mit orangefarbenem Schwanz und Barthaaren vor Elfies Füße. Schnell fischte sie einige Brotkrumen aus einer Papiertüte, die sie aus der Küche geschmuggelt hatte.

»Das sind Mandarinenten«, erklärte Walter. »Die sehen wenigstens nicht so langweilig braun wie die anderen dummen Enten aus.« Er schaute auffällig zu einem Mann in brauner NS