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Die lange erwarteten Erinnerungen von Angela Merkel 16 Jahre trug Angela Merkel die Regierungsverantwortung für Deutschland, führte das Land durch zahlreiche Krisen und prägte mit ihrem Handeln und ihrer Haltung die deutsche und internationale Politik und Gesellschaft. Doch natürlich wurde Angela Merkel nicht als Kanzlerin geboren. In ihren gemeinsam mit ihrer langjährigen politischen Beraterin Beate Baumann verfassten Erinnerungen schaut sie zurück auf ihr Leben in zwei deutschen Staaten – 35 Jahre in der DDR, 35 Jahre im wiedervereinigten Deutschland. Persönlich wie nie zuvor erzählt sie von ihrer Kindheit, Jugend und ihrem Studium in der DDR und dem dramatischen Jahr 1989, in dem die Mauer fiel und ihr politisches Leben begann. Sie lässt uns teilhaben an ihren Treffen und Gesprächen mit den Mächtigsten der Welt und erhellt anhand bedeutender nationaler, europäischer und internationaler Wendepunkte anschaulich und präzise, wie Entscheidungen getroffen wurden, die unsere Zeit prägen. Ihr Buch bietet einen einzigartigen Einblick in das Innere der Macht – und ist ein entschiedenes Plädoyer für die Freiheit.
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Seitenzahl: 1022
Angela Merkel
Erinnerungen 1954 – 2021
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Titelseite
Über Angela Merkel
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Angela Merkel, von 2005 bis 2021 Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, war die erste Frau im mächtigsten Amt, das das Land zu vergeben hat. 1954 in Hamburg geboren, aufgewachsen in der DDR, wo sie Physik studierte und zum Dr. rer. nat. promovierte, wurde sie 1990 in den Deutschen Bundestag gewählt. Von 1991 bis 1994 war sie Bundesministerin für Frauen und Jugend, von 1994 bis 1998 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, von 2000 bis 2018 Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. 2021 beendete sie ihre aktive politische Laufbahn.
zur Kurzübersicht
16 Jahre trug Angela Merkel die Regierungsverantwortung für Deutschland, führte das Land durch zahlreiche Krisen und prägte mit ihrem Handeln und ihrer Haltung die deutsche und internationale Politik und Gesellschaft. Doch natürlich wurde Angela Merkel nicht als Kanzlerin geboren. In ihren gemeinsam mit ihrer langjährigen politischen Beraterin Beate Baumann verfassten Erinnerungen schaut sie zurück auf ihr Leben in zwei deutschen Staaten – 35 Jahre in der DDR, 35 Jahre im wiedervereinigten Deutschland. Persönlich wie nie zuvor erzählt sie von ihrer Kindheit, Jugend und ihrem Studium in der DDR und dem dramatischen Jahr 1989, in dem die Mauer fiel und ihr politisches Leben begann. Sie lässt uns teilhaben an ihren Treffen und Gesprächen mit den Mächtigsten der Welt und erhellt anhand bedeutender nationaler, europäischer und internationaler Wendepunkte anschaulich und präzise, wie Entscheidungen getroffen wurden, die unsere Zeit prägen. Ihr Buch bietet einen einzigartigen Einblick in das Innere der Macht – und ist ein entschiedenes Plädoyer für die Freiheit.
PROLOG
ERSTER TEIL »Ich wurde nicht als Kanzlerin geboren«
Glückliche Kindheit
Quitzow
Der Waldhof
Blankes Entsetzen
Goetheschule
Ferien
Der Prager Frühling
Hermann-Matern-Schule
Auf in die Ferne
Das Studium der Physik
Unbekümmert
Klangfarben und Goldstaub
Das Diplom
Ilmenau
An der Akademie der Wissenschaften der DDR
Geschwindigkeitskonstanten
FDJ und Marxismus-Leninismus
In der Marienstraße
Die Templiner Straße
Internationaler Austausch
Zunehmende Entkopplung
Eigenheimbesitzerin
Westreisen
ZWEITER TEIL Ein demokratischer Aufbruch
Einigkeit und Recht und Freiheit
Gemischte Gefühle
Erste politische Schritte
Ein besonderer Wahlkampf
Reibungen und Konflikte
Sternstunde der Diplomatie
Auf eigenen Füßen
Mit der Faust in der Tasche
Ihr Direktkandidat
DRITTER TEIL Freiheit und Verantwortung
Aufbau Ost
Gründonnerstag
Ein Beinbruch
Die Nachbarin
Bürgersprechstunde
Blühende Landschaften! Blühende Landschaften?
Gegen Aggression und Gewalt
Gleichberechtigung
Feministin?
Nackenstarre
Nachhaltigkeit
Kein Energiekonsens
Außenpolitikerin
Der Preis des Überlebens
Warum CDU?
Parteivorsitzende
In den Mühen der Ebene – oder: Kampf um Autorität
Fraktionsvorsitzende
Plötzlich Neuwahlen
Die Kirche bleibt im Dorf
VIERTER TEIL Deutschland dienen (I)
Erste
Dienstag, 22. November 2005
Paris Brüssel London Berlin Düsseldorf Hamburg
Mehr Freiheit wagen
Weichenstellungen
Warschau
Europäischer Rat
»Wohin, wohin seid ihr entschwunden?«
Das Sommermärchen
Neue Zöpfe
Der dritte Platz
Gastgeberin im Strandkorb
Mittagessen mit George W. Bush
Die Beratungen der Acht
Warten auf Wladimir Putin
Weltwirtschaftskrise
Armida und die IKB
Weltweite Turbulenzen
Die Sparergarantie
Der Rettungsschirm
Arbeitsplätze
G20
Eurokrise
Wunschkoalition
Solvay-Bibliothek
Der Weg nach Ithaka
Scheitert der Euro, dann scheitert Europa
Auf der Suche nach der Bazooka
Auf Messers Schneide
NATO-Mitglieder Ukraine und Georgien?
Angriff auf die Ukraine
Der NATO-Gipfel in Bukarest
Frieden und Selbstbestimmung in der Ukraine
Östliche Partnerschaft
Die Proteste auf dem Maidan
Die Annexion der Krim
Das Normandie-Format
Petro Poroschenkos Friedensplan
Siebzehn Stunden Verhandlungen in Minsk
Ein Hauch von Kaltem Krieg
»Wir schaffen das«
Vor den Toren Europas
Die Sommerpressekonferenz
Die Entscheidung
FÜNFTER TEIL Deutschland dienen (II)
Ein freundliches Gesicht
»Dann ist das nicht mein Land«
Lösungen finden
Islamistischer Terror in Deutschland
Über Misstrauen und Vertrauen
Noch einmal kandidieren?
Eine vernetzte Welt – der Kreuzknoten
Ein Globus, eine Landkarte und die Toleranz
Brexit
Neue Bündnisse
Freihandelsabkommen
Das Übereinkommen von Paris
Partnerschaft mit Afrika
Weltmächte Indien und China
Donald Trump
G20 in Hamburg
Klima und Energie
Ein Albtraum und seine Folgen
Erdgas
Das Vorsorgeprinzip
Bundeswehr im Einsatz
Afghanistan
Libyen
Die Wehrpflicht
Westbalkan
Israel
Auf Adenauers Spuren
Staatsräson
Kairos
»Runter vom Platz«
Abschied vom CDU-Vorsitz
Die Pandemie
Eine demokratische Zumutung
Hoffnungen und Enttäuschungen
Bewährungsprobe für Europa
Neuland
Weltpolitik im Schatten der Pandemie
Zapfenstreich
EPILOG
Dank
Editorische Notiz
Bildteil
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Personenregister
Dieses Buch erzählt eine Geschichte, die es so nicht noch einmal geben wird, schon weil es den Staat, in dem ich 35 Jahre gelebt habe, seit 1990 nicht mehr gibt. Wäre sie einem Verlag frei erfunden als Roman angeboten worden, hätte man sie abgelehnt, sagte ein Gesprächspartner Anfang 2022 zu mir, wenige Wochen nach meinem Ausscheiden aus dem Amt als Bundeskanzlerin. Er kannte sich mit solchen Fragen aus und freute sich, dass ich mich entschlossen hatte, dieses Buch zu schreiben, und zwar genau wegen seiner Geschichte. Einer Geschichte, die ebenso unwahrscheinlich wie real ist. Mir wurde klar: Sie zu erzählen, Linien nachzuzeichnen, ihren roten Faden zu finden, Leitmotive zu benennen, das kann auch für die Zukunft von Belang sein.
Lange Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, ein solches Buch zu schreiben. Das änderte sich erstmals 2015, zumindest ein wenig. Damals hatte ich entschieden, die in der Nacht vom 4. auf den 5. September aus Ungarn kommenden Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze nicht abweisen zu lassen. Diese Entscheidung, vor allem ihre Folgen, erlebte ich als eine Zäsur in meiner Kanzlerschaft. Es gab ein Vorher und ein Nachher. Damals nahm ich mir vor, eines Tages, wenn ich nicht mehr Bundeskanzlerin sein sollte, den Ablauf der Ereignisse, die Motive meiner Entscheidung, mein mit ihr verbundenes Verständnis von Europa und Globalisierung in einer Form zu schildern, die nur ein Buch ermöglicht. Ich wollte die weitere Schilderung und Interpretation nicht allein anderen überlassen.
Noch aber war ich im Amt. Es folgten die Bundestagswahl 2017 und meine vierte Amtszeit. In deren letzten beiden Jahren war die Eindämmung der Coronavirus-Pandemie das alles beherrschende Thema. Die Pandemie war, wie ich öffentlich mehrfach sagte, eine einzige demokratische Zumutung: persönlich, national, europäisch, global. Sie war damit zugleich der Anstoß, den Blick zu weiten und nicht allein über die Flüchtlingspolitik zu schreiben. Wenn schon, dann richtig, sagte ich mir, und wenn, dann zusammen mit Beate Baumann. Sie berät mich seit 1992 und ist Zeitzeugin.
Am 8. Dezember 2021 ging ich aus dem Amt. Nach sechzehn Jahren verließ ich es, wie ich beim Zapfenstreich der Bundeswehr zu meinen Ehren einige Tage zuvor gesagt hatte, mit Fröhlichkeit im Herzen. Zum Schluss hatte ich diesen Moment regelrecht herbeigesehnt. Genug war genug. Nun galt es, Pause zu machen, einige Monate auszuruhen, die Atemlosigkeit der Politik hinter mir zu lassen, um ab Frühsommer 2022 langsam und tastend ein neues Leben zu beginnen, zwar immer noch ein öffentliches, aber kein politisch aktives mehr, den richtigen Rhythmus für öffentliche Auftritte zu finden – und dieses Buch zu schreiben. Das war der Plan.
Dann kam der 24. Februar 2022, Russlands Angriff auf die Ukraine. Sofort war klar, dass es völlig ausgeschlossen war, dieses Buch zu schreiben, als wäre nichts geschehen. Schon die Jugoslawienkriege Anfang der 1990er Jahre hatten Europa erschüttert. Doch Russlands Überfall der Ukraine stellte mehr infrage. Er war ein völkerrechtswidriger Akt, der die europäische Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg erschütterte, die auf der Wahrung der territorialen Unversehrtheit und Souveränität ihrer Staaten gründete. Tiefe Ernüchterung folgte. Auch darüber werde ich schreiben. Doch dies ist kein Buch über Russland und die Ukraine. Das wäre ein anderes Buch.
Ich möchte vielmehr die Geschichte meiner beiden Leben erzählen, des ersten bis 1990 in einer Diktatur und des zweiten seit 1990 in der Demokratie. Sie sind zu dem Zeitpunkt, da die ersten Leserinnen und Leser dieses Buch in den Händen halten, ungefähr gleich lang. Zweimal 35 Jahre. Doch in Wahrheit sind es natürlich nicht zwei Leben. In Wahrheit ist es ein Leben, und der zweite Teil ist ohne den ersten nicht zu verstehen.
Wie kam es, dass eine Frau nach den ersten 35 Jahren ihres Lebens in der DDR das mächtigste Amt, das die Bundesrepublik Deutschland zu vergeben hat, übernehmen und sechzehn Jahre lang bekleiden durfte? Die es wieder verließ, ohne während einer Amtszeit zurücktreten zu müssen oder abgewählt worden zu sein? Wie war es, in der DDR als Pfarrerskind aufzuwachsen und unter den Bedingungen der Diktatur zu leben, zu studieren und zu arbeiten? Wie war es, den Zusammenbruch eines Staates zu erleben? Und wie, plötzlich frei zu sein? Davon will ich erzählen.
Natürlich ist die Schilderung zutiefst subjektiv. Zugleich habe ich mich um aufrichtige Selbstreflexion bemüht. Heute als falsch Eingeschätztes werde ich benennen, für richtig Gehaltenes verteidigen. Dabei ist dies kein lückenloser Bericht. Nicht alle werden sich in ihm wiederfinden, die davon vielleicht ausgehen oder von denen es erwartet wird. Dafür bitte ich schon jetzt um Nachsicht. Mein Ziel ist es, Schwerpunkte zu setzen, durch die ich die schiere Masse des Stoffes zu bändigen versuche und nachvollziehbar machen möchte, wie Politik funktioniert, welche Prinzipien, welche Mechanismen es gibt – und was mich geleitet hat.
Politik ist kein Hexenwerk. Politik wird von Menschen gemacht. Menschen mit ihren Prägungen, Erfahrungen, Eitelkeiten, Schwächen, Stärken, Wünschen, Träumen, Überzeugungen, Werten, Interessen. Menschen, die in einer Demokratie für Mehrheiten kämpfen müssen, wenn sie etwas durchsetzen wollen.
Wir schaffen das – kein Satz ist mir in meiner gesamten politischen Laufbahn so sehr um die Ohren gehauen worden wie dieser. Keiner hat so polarisiert. Für mich jedoch war dieser Satz banal. Er war Ausdruck einer Haltung. Man kann sie Gottvertrauen nennen, Zuversicht oder einfach die Entschlossenheit, Probleme zu lösen, mit Rückschlägen fertigzuwerden, Tiefpunkte zu überwinden und Neues zu gestalten. »Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.« So habe ich es in meiner Sommerpressekonferenz am 31. August 2015 gesagt. So habe ich Politik gemacht. So lebe ich. So ist auch dieses Buch entstanden. Mit dieser Haltung, die auch eine Erfahrung ist: Alles ist möglich, weil nicht nur die Politik dazu beiträgt, sondern jeder einzelne Mensch seinen Anteil daran haben kann.
Angela Merkel
mit Beate Baumann
Berlin, im August 2024
17. Juli 1954 bis 9. November 1989
Am 10. November 1989, einem Freitag, verließ ich wie jeden Morgen gegen 6.30 Uhr meine Wohnung in der Schönhauser Allee 104 in Berlin-Prenzlauer Berg, um vom S-Bahnhof Schönhauser Allee nach Berlin-Adlershof zur Arbeit zu fahren. Die S-Bahn war gut gefüllt, draußen war es noch dunkel. Wie immer um diese Zeit. In Wahrheit war aber nichts wie immer. Am Abend zuvor hatte Günter Schabowski, Sekretär für Informationswesen und Medienpolitik der SED-Führung, im Fernsehen der DDR erklärt: »Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden.« Und auf Rückfrage bestätigt, dies gelte »sofort, unverzüglich«. Faktisch hatte er an diesem Donnerstag, dem 9. November 1989, das Ende der Berliner Mauer verkündet. Kurz darauf gab es kein Halten mehr.
Im Laufe des Abends hatte auch ich mich in den Zug der Menschen eingereiht, der sich Richtung Grenzübergang Bornholmer Straße und dann nach Westberlin bewegte. Aus den Wohnungen riefen von überallher Westberlinerinnen und Westberliner, wir könnten zu ihnen nach oben kommen, ein Bier mit ihnen trinken, auf dieses unfassbare Ereignis anstoßen. Andere kamen vor Freude selbst runter auf die Straße. Wildfremde umarmten sich, ich war mittendrin dabei. Ich folgte einer kleinen Gruppe mir unbekannter Menschen in die erste Seitenstraße links hinter der Brücke. Ein Westberliner lud uns in seine Wohnung ein, ich ging einfach mit. Er bot uns ein Bier an, und wir durften telefonieren. Mein Versuch, meine Tante in Hamburg zu erreichen, misslang jedoch. Nach etwa einer halben Stunde verabschiedeten wir uns. Die meisten zogen weiter zum Kurfürstendamm, der Prachtstraße Westberlins. Ich dagegen kehrte um und ging nach Hause, gegen 23 Uhr, denn ich dachte daran, dass ich sehr früh aufstehen musste, um nach Adlershof zu fahren. Dort wollte ich an einem Vortrag arbeiten, den ich einige Tage später in Toruń in Polen halten sollte und der noch weit davon entfernt war, fertiggestellt zu sein. In der Nacht machte ich kaum ein Auge zu, zu aufgeregt war ich wegen allem, was ich wenige Stunden zuvor erlebt hatte.
Am Morgen saß in meiner S-Bahn nach Adlershof auch eine kleine Gruppe von Männern in Uniform, Soldaten des Wachregiments Feliks Dzierżyński. Sie fuhren ganz offensichtlich nach ihrer Nachtschicht an der Grenze zurück in ihre Kasernen. Diese befanden sich in der Nähe meines Instituts. Die Soldaten unterhielten sich, und zwar so laut, dass ich gar nicht anders konnte, als ihren Worten zuzuhören. »Mensch, das war ja eine Nacht«, feixte einer von ihnen. »Was wird das alles für Auswirkungen auf unsere Offiziere haben?«
»Die waren völlig von der Rolle und werden sich noch wundern«, sagte ein Zweiter.
»Die haben ihre Existenzberechtigung verloren. Ihr Leben, ihre Karrieren – alles im Eimer!«, rief ein dritter Soldat.
Wir stiegen in Adlershof aus. Jeder von uns ging seiner Wege, die Soldaten zu ihren Kasernen, ich zu meinem Schreibtisch im Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR. Doch an Arbeit war nicht zu denken. Alles blieb liegen, natürlich auch der Vortrag, dessentwegen ich am Abend zuvor früh aus dem Westen zurückgekehrt war. Nicht nur mir ging es so, sondern allen. Wir redeten und redeten. Im Laufe des Vormittags rief mich meine Schwester im Institut an. Sie arbeitete damals in der Poliklinik der Bauarbeiter als Ergotherapeutin. Wir verabredeten, am späteren Nachmittag einen langjährigen Freund von ihr in Westberlin zu besuchen, den sie über Bekannte ein paar Jahre zuvor kennengelernt hatte. Es war kaum zu fassen, dass wir plötzlich einfach zu ihm fahren konnten.
Den ganzen Tag gingen mir dabei die Sätze der Soldaten nicht aus dem Kopf, die ich am Morgen in der S-Bahn gehört hatte. Ich dachte: Endlich! Endlich haben diese Soldaten und ihre Offiziere keine Macht mehr über dich. Endlich haben sie keine Macht mehr über deine Familie. 28 Jahre hatte die Berliner Mauer nicht nur meine Familie getrennt und gerade meinen Eltern so viel Schmerz bereitet, sondern auch die Familie meines Mannes Joachim Sauer. So wie uns war es unzähligen Menschen in Ost und West ergangen. Endlich konnten diese Soldaten uns nicht mehr daran hindern, uns frei zu bewegen. Zugleich ertappte ich mich jedoch dabei, dass ein Wort, das der Soldat in der S-Bahn gesagt hatte, bei mir nachhallte: Existenzberechtigung. Wie sah es nach dieser Nacht damit bei meinem Leben aus, wie bei dem meiner Familie, meiner Freunde, meiner Kollegen? Welchen Wert würden unsere Erfahrungen, Ausbildungen, Kompetenzen, Leistungen, privaten Entscheidungen in Zukunft haben? Ich war 35 Jahre alt. Erst 35 Jahre? Oder schon 35 Jahre? Was würde bleiben, was nicht?
Ich wurde am 17. Juli 1954 in Hamburg als erstes Kind von Herlind und Horst Kasner geboren. Mein Vater war 1926 in Berlin als Sohn des aus Posen stammenden und Anfang der 1920er Jahre nach Berlin gezogenen Ludwig Kazmierczak und dessen Ehefrau Margarete zur Welt gekommen. Sein Vater war Polizeibeamter gewesen, seine Mutter, die aus Berlin stammte, Näherin und Hausfrau. 1930 hatte die Familie ihren polnischen Nachnamen in den deutschen Nachnamen Kasner ändern lassen, fortan hieß mein Vater Horst Kasner. Mein Großvater Ludwig Kasner starb bereits 1959, ich habe an ihn keine persönliche Erinnerung.
Meine Mutter Herlind wurde 1928 in Danzig-Langfuhr als Erste von zwei Töchtern des Lehrerehepaares Willi und Gertrud Jentzsch geboren. Ihre aus dem ostpreußischen Elbing stammende Mutter hatte den Beruf nach der Geburt des Kindes aufgegeben. Ihr Vater, mein Großvater Willi, hatte die Familie als Lehrer in den naturwissenschaftlichen Fächern und Direktor eines Realgymnasiums in Danzig zu gewissem Wohlstand geführt. Sie lebte, wie man heute sagt, in gutbürgerlichen Verhältnissen. 1936 sollte die Familie von Danzig nach Hamburg umziehen. Der Vater hatte das Angebot bekommen, Schulleiter eines Gymnasiums in Hamburg zu werden. Alles war vorbereitet, eine neue Wohnung gemietet, eine Umzugsfirma beauftragt. Dann erkrankte mein Großvater an einer vereiterten Blinddarm- und Gallenblasenentzündung. Er starb, weil es das rettende Penicillin noch nicht gab.
Nun standen meine Großmutter und ihre beiden Töchter allein da. Sie zogen trotzdem nach Hamburg in die große, bereits angemietete Wohnung in der Isestraße. Geldsorgen plagten sie. Das hatten sie vorher nicht gekannt. Meine Großmutter bekam zwar Witwengeld, doch das gesamte bisherige Leben war zusammengebrochen. Eine lange Zeit trug meine Großmutter ausschließlich schwarze Kleidung und war in ständiger Sorge um ihre Töchter. Kamen die Kinder etwas später als vereinbart nach Hause, war sie in Angst aufgelöst und hielt vom Balkon aus nach ihnen Ausschau.
Im Sommer 1943 wurde Hamburg von britischen und amerikanischen Luftangriffen schwer getroffen, so auch das Haus, in dem meine Familie wohnte. Meine Großmutter verließ mit ihren beiden Töchtern die Stadt. Zuerst zogen sie in das Dorf Neukirchen in der Altmark, wo eine Schwester meiner Großmutter mit ihrer Familie lebte, im Herbst 1943 dann nach Elbing, ihre Geburtsstadt in Ostpreußen, doch schon einige Monate später, im Sommer 1944, kehrten sie wieder nach Neukirchen zurück. 1944 wurde meine Mutter von dort in die nach Písek im heutigen Tschechien ausgelagerte Berliner Westendschule geschickt. Nach Kriegsende schlug sie sich auf abenteuerlichen Wegen zurück zu ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Neukirchen durch. Zwischen Ende März 1945 und ihrer Ankunft im Dorf im Oktober 1945 erhielt die Familie kein Lebenszeichen meiner Mutter. Sie erzählte oft, dass sie, die damals erst siebzehn war, große Angst gehabt hatte, von sowjetischen Soldaten, denen sie unterwegs begegnete, vergewaltigt zu werden.
Auf das Leben meines Vaters hatten die Kriegserlebnisse eine noch stärkere Wirkung. Zusammen mit seinem Vater, meinem Großvater Ludwig, hörte er abends oft heimlich unter der Bettdecke im Radio BBC, um den Frontverlauf zu verfolgen. Mein Großvater war schon während des Kriegs überzeugt, dass Deutschland ihn verlieren würde – und auch zu verlieren hatte. Im Mai 1943 wurde mein Vater als Flakhelfer eingezogen, nach seinem achtzehnten Geburtstag im August 1944 wurde er Soldat und im Frühjahr 1945 nach einem Bombenangriff unter Geröll verschüttet. Kurzzeitig geriet er nach Ende des Kriegs in Dänemark in britische Gefangenschaft. Nach seiner Rückkehr im August 1945 war Deutschland bereits zwischen den Siegermächten in Besatzungszonen aufgeteilt worden. Er ging zu einem Freund nach Heidelberg und holte dort die Abiturprüfung nach, um, wie er später erzählte, geprägt von der Kriegserfahrung 1947 mit dem Theologiestudium zu beginnen.
In seinem Elternhaus war das nicht angelegt gewesen. Sein Vater war zwar katholisch getauft und seine Mutter Mitglied der evangelischen Kirche, aber meine Großeltern waren keine praktizierenden Christen. Mein Vater selbst war noch katholisch getauft, 1940 jedoch in der evangelischen Kirche konfirmiert worden. Nach dem Ende des Kriegs und der Schrecken des Nationalsozialismus war er überzeugt, dass es für einen Neuanfang eine Friedensethik brauchte. Für ihn erwuchs sie aus dem christlichen Glauben. So beschloss er, in den damaligen westlichen Besatzungszonen Theologie zu studieren. Von vornherein verband er das Studium mit dem Plan, anschließend wieder in die damalige sowjetische Besatzungszone zurückzukehren. Dort würden Menschen wie er gebraucht, war er überzeugt. Ich denke, man kann es Berufung nennen.
Mein Vater setzte 1949 das Studium in Bethel fort und beendete es 1954 mit dem Vikariat in Hamburg. 1950 lernte er meine Mutter bei einer Veranstaltung der Evangelischen Studentengemeinde kennen, wo sie beide Vertrauensstudenten waren, also gewählte Ansprechpartner für andere Studenten. Meine Mutter studierte in Hamburg Englisch und Latein. Sie wollte später als Gymnasiallehrerin arbeiten. Von ihren Freunden in der Studentengemeinde wurde sie scherzhaft »Mercedes« genannt, weil sie – wie stets auch ihre Mutter – schon damals den Traum hatte, ein eigenes Auto zu besitzen, und zwar ein möglichst großes und schnelles.
Meine Eltern heirateten am 6. August 1952. Mit der Hochzeit stand für meine Mutter fest, ihrem Mann zu folgen, sobald er seinen Plan umsetzen würde, wieder in die Berlin-Brandenburgische Kirche zurückzukehren, also in die drei Jahre zuvor gegründete DDR. Diese Entscheidung fiel ihr alles andere als leicht. Doch sie traf sie aus Liebe, mit für sie gravierenden Folgen.
1954 war es so weit. Dieses Jahr ist für viele, wenn nicht die allermeisten von uns, mit dem Wunder von Bern verbunden, dem Gewinn der ersten Fußballweltmeisterschaft der Nationalmannschaft der Bundesrepublik Deutschland. In meiner Familie aber war es das Jahr, in dem meine Eltern aus der Bundesrepublik Deutschland in die DDR zogen, von Hamburg nach Quitzow, einen kleinen Ort in der brandenburgischen Prignitz, knapp 150 Kilometer nordwestlich von Berlin. Dort trat mein Vater seine erste Pfarrstelle als Gemeindepfarrer an. Er fuhr vor, meine Mutter folgte kurze Zeit später mit mir in einer Baby-Tragetasche. Ich war sechs Wochen alt. Gerade einmal ein Jahr war vergangen, seit am 17. Juni 1953 ein Volksaufstand mit Streiks und politischen Demonstrationen in der DDR von sowjetischen Panzern brutal niedergeschlagen worden war. Und nur wenige Jahre später sollte mit dem Mauerbau ein anderer, Millionen Deutsche und auch unsere Familie ins Mark treffender Schlag folgen. Einstweilen jedoch richteten sich meine Eltern mit mir in der neuen Umgebung ein.
Wir hatten eine Haushaltshilfe. Sie hieß Frau Spieß und war mit dem Vorgänger meines Vaters aus Ostpreußen nach Quitzow gekommen. Nach dessen Pensionierung setzte sie ihre Tätigkeit bei meinen Eltern fort. Sie brachte ihnen alles bei, was man für ein Leben auf dem Land wissen musste. Mein Vater musste Ziegen melken, meine Mutter lernte Brennnesseln zu kochen und vieles mehr, was sie als Stadtkind nicht gekannt hatte. In unserer Familie wurde oft erzählt, dass sie einen weißen Teppich in die Ehe gebracht hatte und anfangs auch in Quitzow an ihrer Hamburger Gewohnheit festhalten wollte, dass sich Besucher nicht die Schuhe ausziehen mussten, auch die Bauern des Dorfs nicht, wenn sie mit meinem Vater sprechen wollten. Und sie kamen häufig mit ihren Sorgen zu ihm, weil die Zeit der Zwangskollektivierung begonnen hatte; viele von ihnen gingen deshalb später in den Westen. Immer wenn die Bauern vor dem Betreten des Hauses ihre Schuhe ausziehen wollten, weil sie wussten, welche Spuren sie auf dem weißen Teppich hinterlassen würden, sagte meine Mutter: »Lassen Sie das nur.« Also stapften sie mit ihren von der Arbeit dreckigen Sohlen über den weißen Teppich. Irgendwann gab meine Mutter ihre Hamburger Gewohnheit auf und ließ Besucher ihre Schuhe ausziehen. Sie war in Quitzow angekommen.
Ich selbst habe an den Ort keine direkte eigene Erinnerung und kenne alles nur aus den Erzählungen in unserer Familie. Ganz anders verhält es sich mit Templin. In diese Kleinstadt in der brandenburgischen Uckermark, ungefähr achtzig Kilometer nördlich von Berlin, zogen meine Eltern 1957 mit mir und meinem im selben Jahr geborenen Bruder Marcus. Mein Vater war von der Berlin-Brandenburgischen Kirche zum Leiter des in Templin angesiedelten Seminars für kirchlichen Dienst, des späteren Pastoralkollegs, berufen worden. Damit war er kein klassischer Gemeindepfarrer mehr. Auch für meine Mutter taten sich mit dem Umzug neue Möglichkeiten auf.
1964 wurde meine Schwester Irene geboren. Seitdem sie etwa sechs Jahre alt war, hatten wir einen gemeinsamen Lieblingsplatz. Er befand sich auf der Blechverkleidung des Gaubenfensters im Dachgeschoss des Wohnhauses meiner Eltern. Irene war behänder als ich und hatte entdeckt, dass wir aus dem Fenster gut hinausklettern und es uns dann auf der Blechfläche gemütlich machen konnten. Von hier konnten wir auf Kiefern blicken und beobachten, wie sich die Wipfel leicht im Wind bewegten. Zwischen den Bäumen sahen wir einen Weg, der leicht abwärts zu einer Wiese führte, durch die der Kanal zwischen dem Templiner See und dem Röddelinsee floss. Im Sommer schmiedeten wir oben auf dem Dach Pläne, was wir unternehmen wollten. Zur Quelle auf der Wiese gehen? Mit dem Fahrrad zum Baden an den Röddelinsee fahren? Blaubeeren pflücken in den Wäldern um Templin herum? Die Möglichkeiten erschienen unbegrenzt. Wir verstanden uns prächtig, trotz unseres Altersunterschieds von zehn Jahren.
Das Gaubenfenster im Dachgeschoss gehörte zu meinem Zimmer. Die eigentliche Familienwohnung lag eine Etage tiefer. Unser Wohnhaus befand sich auf dem Gelände des sogenannten Waldhofs, der am Rande der Stadt lag. Der wesentliche Teil dieser Anlage war eine Einrichtung der Stephanus-Stiftung für Kinder und Erwachsene mit geistiger Behinderung. Das Konzept entsprach dem der von Bodelschwinghschen Stiftungen in Bethel. Neben der Pflege und Betreuung der Bewohner legte man Wert auf die therapeutische Wirkung aktiver und sinnvoller Arbeit. Die Einrichtung sollte sich so weit wie möglich selbst versorgen und wirtschaftlich tragen. Deshalb gab es auf dem Waldhof neben einer Küche und der Landwirtschaft auch eine Gärtnerei, eine Wäscherei, eine Schmiede, eine Tischlerei, eine Schusterei und eine Schneiderei. Als Kinder durften wir überall hingehen und uns mit den Handwerksmeistern der verschiedenen Gewerke und den Bewohnern mit geistiger Behinderung unterhalten.
Zu dem von meinem Vater geleiteten Pastoralkolleg gehörte zum einen ein Gebäude mit Zimmern für die Übernachtungen der Kursteilnehmer und wenigen Wohnungen, darunter die Dienstwohnung unserer Familie mit insgesamt sieben Zimmern. Fünf von ihnen befanden sich im ersten Geschoss, mein Zimmer und das Arbeitszimmer meines Vaters lagen im Dachgeschoss. Zum anderen gab es eine sogenannte Schule, in der die von meinem Vater geleiteten Veranstaltungen und Lehrgänge stattfanden.
Auch für meine Mutter ergaben sich auf dem Waldhof neue Aufgaben, etwa bei der Ausbildung kirchlicher Verwaltungsangestellter, denen sie im Pastoralkolleg Deutsch- und Mathematikunterricht erteilte, oder beim Griechisch- und Lateinunterricht, den sie hier den zukünftigen Studenten des Berliner Sprachenkonvikts gab, einer theologischen Ausbildungsstätte der evangelischen Kirche, um sie auf ihr Studium vorzubereiten. Im Laufe der Jahre konzentrierten sich die Aufgaben des Kollegs jedoch immer stärker auf die Weiterbildung von Pfarrern, sodass sich die Betätigungsfelder meiner Mutter wieder einschränkten. Sie arbeitete dann noch eine Zeit lang als Sekretärin meines Vaters. Im öffentlichen Schuldienst unterrichten durfte sie als Ehefrau eines Pfarrers nicht. Denn wann immer und wo immer es in der DDR um Bildung ging, sollten kirchliche Einflüsse ausgeschlossen werden. Die DDR verstand sich als atheistischer Staat.
Zwischen meiner Mutter und meinem Vater gab es im Familienalltag im Grunde eine klassische Rollenverteilung, wobei sich meine Mutter zumindest gerne vorstellte, wie es wäre, wenn sie an einer Schule unterrichtete. Damals dachte ich, dass das lediglich mit einer Doppelbelastung verbunden gewesen wäre, weil sie dann beides hätte bewältigen müssen, den Unterricht und den Haushalt. Darin sah ich als Kind für mich keinen Vorteil. Da meine Mutter offiziell nicht werktätig war, wie man in der DDR sagte, also keiner Erwerbstätigkeit nachging, war es meinen Geschwistern und mir auch nicht gestattet, den Kindergarten zu besuchen oder später am Schulessen teilzunehmen. Das wiederum gefiel mir überhaupt nicht. Ganz zum Schluss, im letzten Schuljahr, erkämpfte ich mir die Teilnahme daran dann doch noch. Dass ich das wollte, lag nicht so sehr in der Qualität des Essens begründet, sondern im Reiz des lange zuvor Verwehrten. Im Ergebnis jedoch musste meine Mutter über viele Jahre jeden Tag für die ganze Familie Mittagessen kochen, hinzu kamen natürlich auch noch die anderen Mahlzeiten und – nicht zu vergessen – die Einkäufe dafür.
Vom Waldhof zum Einkaufen in die Stadt waren es etwa drei Kilometer. Als wir Kinder noch zu klein zum Helfen waren, musste meine Mutter alle Lebensmittel mit dem Fahrrad allein nach Hause schaffen. Das war für sie körperlich sehr anstrengend. Später, nachdem sie die Fahrerlaubnis erworben hatte, schenkte ihr ihre Mutter, meine Hamburger Großmutter, einen Trabant. Das erfolgte über GENEX, die Geschenkdienst- und Kleintransporte GmbH, eine Transferstelle, über die Westdeutsche DDR-Bürgern größere Geschenke machen durften, die in D-Mark bezahlt wurden. Ein eigenes Auto fahren zu können, wenn es auch eine Nummer kleiner war als das Modell, das ihr zu Studienzeiten den Spitznamen »Mercedes« eingetragen hatte, war für meine Mutter wie ein Akt der Selbstbefreiung. Nun war sie mobil. Das nutzte sie auch dafür, um in Berlin am Sprachenkonvikt Englischkurse zu geben, was wiederum zeitweise zu Reibungen mit meinem Vater führte, der sich ungern selbst sein Essen zubereitete. Doch meine Mutter ließ es sich nicht nehmen, ihren eigenen Weg zu gehen.
Pfarrer verdienten in der DDR wenig Geld, mussten allerdings, wie wir auch, nur eine geringe Miete für ihre Dienstwohnung zahlen. Aus dem Westen erhielten sie zudem materielle Unterstützung, die sogenannte Bruderhilfe. Für unsere Familie machte dies etwa siebzig D-Mark im Monat aus. Meine Hamburger Großmutter und – nach ihrem Tod 1978 – meine Tante, die Schwester meiner Mutter, verwalteten die Bruderhilfe und schickten uns regelmäßig Pakete. Das war für die Hamburger eine gewaltige organisatorische Aufgabe, für uns aber eine unschätzbare Hilfe.
Und noch in anderer Hinsicht waren die Pakete etwas Besonderes, das spürten wir nach dem Öffnen sofort und sagten: »Das riecht nach Westen.« Wir meinten damit den feinen Duft guter Seife oder aromatischen Kaffees. Der Osten dagegen roch streng nach Scheuermitteln, Bohnerwachs und Terpentin. Diesen Geruch habe ich bis heute in der Nase.
Überhaupt war die offizielle DDR für mich die Inkarnation der Geschmacklosigkeit. Nur Imitate statt richtiger natürlicher Materialien, nie freudvolle Farben. Meine Eltern bemühten sich, die Nischen zu finden, durch die sie dieser Geschmacklosigkeit entrinnen konnten, zum Beispiel indem sie die besonders formschönen Möbel der Werkstätten Hellerau kauften, auf die sie teilweise sehr lange warten mussten. Vielleicht ist meine heutige Vorliebe für farbenfrohe Blazer auch auf die Urerfahrung zurückzuführen, dass ich im DDR-Alltag kräftige Farben oft vermisste.
Das Pastoralkolleg meines Vaters profitierte von der Infrastruktur des gesamten Waldhofs, zum Beispiel der Küche und den Werkstätten der Einrichtung der Stephanus-Stiftung. Auch verrichteten Bewohner mit geistiger Behinderung bestimmte Arbeiten im Kolleg. Einer von ihnen ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Er half meiner Mutter unermüdlich und mit Engelsgeduld beim Holz- und Kohlenholen. Das war sehr harte Arbeit, weil alle Zimmer mit Kachelöfen beheizt wurden. Er konzentrierte sich ganz auf die Arbeit. Ansonsten sprach er unentwegt vor sich hin und erzählte aus seiner Welt als angeblicher Beschäftigter der Eisenbahn. Ich schloss Freundschaft mit ihm.
Solange wir Kinder noch nicht zur Schule gehen mussten, verbrachten wir die Tage meist draußen, lediglich unterbrochen von den Mahlzeiten. Um zwölf Uhr und um achtzehn Uhr läutete ein Bewohner des Stephanus-Stifts die Glocken im Glockenstuhl, der sich auf dem Gelände des Waldhofs befand. Auch für uns Pfarrerskinder hieß es dann, nach Hause zu kommen, weil es zu diesen Zeiten Essen gab. Ansonsten konnten wir uns den ganzen Tag auf dem Gelände herumtreiben. Das war wunderbar.
Mein besonderer Freund war der Gärtner, Herr Lachmann. Bei ihm lernte ich das Pikieren von Pflanzen und das Gärtnern in Gewächshäusern. Ich konnte ihn alles fragen und ihm gleichzeitig ein wenig bei der Gartenarbeit helfen. Ohnehin war ich ein relativ rustikales Kind. Es hieß, ich hätte als kleines Mädchen in Quitzow sogar Wasser aus dem Trinknapf der Hühner getrunken, wenn ich durstig war. Und auf dem Waldhof machte ich mir auch nichts daraus, ungewaschene Möhren in der Gärtnerei zu essen.
Mein Lieblingsort im Herbst war ein Platz auf dem Kartoffeldämpfer. Das war ein riesiges Gefährt, das wie ein Lkw mit einem großen Kessel aussah. In diesen wurden die Kartoffeln gefüllt, wo sie durch heißen Dampf weich wurden. So konnten sie bald nach der Ernte zu Futter verarbeitet werden. Während dieses Vorgangs durfte ich als Kind beim Fahrer sitzen. Es roch wunderbar nach Kartoffelfeld und Kartoffelkraut. Und es war mir ein großer Genuss, von den weichen Kartoffeln zu kosten.
Auf dem Waldhof lebten noch andere Kinder, einige älter, einige jünger als ich. Wir unternahmen viel, fuhren zum Baden, spielten im Stroh oder Völkerball. Es fand sich immer jemand, der mitmachte. Uns war nie langweilig.
Am ersten Adventssonntag sangen die Kinder des Waldhofs Adventslieder für die Bewohner mit geistiger Behinderung. Früh um sieben Uhr brachten wir unser Ständchen. Damit weckten wir sie, die in großen Sälen schliefen. So waren die Umstände damals, an Einzel- oder Zweibettzimmer war nicht zu denken. Wir sangen »Es kommt ein Schiff, geladen«, »Macht hoch die Tür« und viele andere Lieder. Die Bewohner freuten sich sehr darüber, und auch wir Kinder waren mit ganzem Herzen dabei. In der Weihnachtszeit sang ich zusätzlich noch im Chor der Maria-Magdalenen-Kirche in Templin mit. Überhaupt war Weihnachten für uns Kinder auf dem Waldhof ein großer Höhepunkt im Jahr. Der Ablauf unseres Heiligabends unterschied sich allerdings erheblich von dem vieler anderer Familien. Im Pfarrhaus gingen Berufliches und Privates fließend ineinander über, das merkten wir gerade zur Weihnachtszeit.
An Heiligabend musste mein Vater zwei oder drei Gottesdienste in den Dörfern um Templin herum halten und kam oft erst nach achtzehn Uhr und dann sehr verfroren aus den kalten Dorfkirchen nach Hause. Als wir klein waren, wurden wir Kinder zuvor zum Mittagsschlaf verdonnert, weil es abends spät werden sollte. Als ich älter wurde, begleitete ich meinen Vater zu seinen Gottesdiensten.
Natürlich kam meine Berliner Großmutter zu Besuch, aber zugleich sollte gerade an diesem besonderen Abend auch an die gedacht werden, die allein waren. Meine Eltern vermittelten uns Kindern von klein auf, dass der wesentliche Sinn von Weihnachten darin lag, an Menschen zu denken, die es nicht so gut hatten wie wir, die einsam und verlassen waren. So wurde jedes Jahr an Heiligabend ein Mitbewohner unseres Hauses zu uns eingeladen, der allein lebte und selten Unterhaltung hatte. Beim Abendessen, das aus meiner kindlichen Perspektive wegen der Gottesdienste meines Vaters sowieso schon spät genug begann, durfte unser Gast endlich einmal ausführlich plaudern, meine Eltern ermunterten ihn sogar noch dazu. Wir Kinder aber saßen auf heißen Kohlen, galt doch unsere gesamte Aufmerksamkeit der sehnlichst erwarteten Bescherung, aber es verbot sich, etwas zu sagen. So wurde es oft zwanzig Uhr oder noch später, bevor wir endlich das Weihnachtszimmer betreten durften.
Dort hatten wir ein festes Ritual. Wenn die Wachskerzen brannten, trugen meine Geschwister und ich mit verteilten Rollen die Weihnachtsgeschichte vor. Zwischen den Abschnitten des Lukasevangeliums spielten wir kurze Flötenstücke und sangen Weihnachtslieder. Das war eine kleine Inszenierung, die natürlich auch dazu gedacht war, unseren Gästen eine Freude zu machen, vor allem aber sollte sie uns vor Augen führen, dass es Weihnachten nicht vorrangig um die Geschenke ging.
Sehr schöne Erinnerungen habe ich an den ersten Feiertag morgens, wenn die Geschenke ausgepackt vor uns lagen und wir im Wohnzimmer beisammensaßen. Mein Vater musste meist keinen Gottesdienst halten, weil er als Leiter des Pastoralkollegs nur aushilfsweise in den Gemeinden eingesetzt wurde. Während meine Mutter in der Küche den Gänsebraten zubereitete, konnten wir mit unserem Vater über die Geschenke sprechen. Dabei naschten wir von den Bunten Tellern, die meine Mutter für uns zubereitet hatte, ohne dass wir ermahnt wurden, bei den Süßigkeiten Maß zu halten. Wenn unter den Geschenken aus dem Westen für meinen Bruder eins seiner geliebten Ravensburger Puzzles war, begannen wir, es gemeinsam zusammenzusetzen.
Wir waren ein offenes Haus, nicht nur zu Weihnachten und anderen Festen. Meine Eltern hatten das ganze Jahr über häufig Besuch. Oft kamen Freunde nach dem Abendessen, und die Erwachsenen tranken gemeinsam Tee oder ein Glas Wein. Nicht selten suchten auch Menschen bei meinen Eltern Rat, wie sie sich in bestimmten Lebenssituationen gegenüber dem Staat verhalten sollten, darunter waren auch Mitglieder der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. An den Wochenenden besuchten sich die Pfarrer gerne auch untereinander. Ich liebte es, in andere Pfarrhäuser im Kirchenkreis mitzufahren. Nach dem Kaffeetrinken wurden wir Kinder häufig weggeschickt. Wenn es hieß, ihr könnt spielen gehen, war eigentlich gemeint, wir sollten spielen gehen. Ich versuchte des Öfteren, bei den Erwachsenen zu bleiben, und entwickelte Strategien, wie ich mich in eine Ecke verdrücken oder hinter einem Vorhang unerkannt dabeibleiben konnte. Ich wollte unbedingt zuhören, was gesprochen wurde. Die Gespräche waren meistens hochpolitisch. Das interessierte mich brennend – und mehr, als wenn über theologische Fragen oder Christenlehre und Gottesdienste gesprochen wurde. Manchmal ging es um andere Pfarrer, die in einen Konflikt mit dem Staat geraten waren oder Schwierigkeiten mit der Staatssicherheit hatten, es wurde auch über die Probleme der Kinder mit der Schule geredet. Immer war klar, dass über solche Gespräche und Begegnungen niemals mit Dritten gesprochen werden durfte. Wir Kinder wussten, dass wir zu schweigen hatten.
Meine ersten Erinnerungen verbinde ich mit meiner Hamburger Großmutter, wobei ich gar nicht weiß, inwieweit es tatsächlich meine eigenen sind oder sie durch die Erzählungen in der Familie zu meinen wurden. Die erste jedenfalls reicht bis in das Jahr 1957 zurück, ich war drei Jahre alt. Für drei Monate lebte ich bei meiner Großmutter, meine Mutter erwartete ihr zweites Kind, meinen Bruder Marcus. Als ich nach seiner Geburt aus Hamburg nach Templin zurückkehrte, konnte ich, so wurde später immer wieder erzählt, zwar nicht allein die Treppe zu unserer Wohnung hochgehen, aber »Sie« sagen. Dass ich meine Mutter nun also siezte, versetzte ihr einen gehörigen Schrecken, offensichtlich war durch die Trennung eine gewisse Entfremdung eingetreten.
Die zweite Erinnerung führt mich in das Jahr 1959 und erneut nach Hamburg. Dort feierten wir die Hochzeit der Schwester meiner Mutter, meiner Tante Gunhild. Auf der Fahrt von Templin nach Hamburg in unserem grauen Wartburg Kombi sollten mein Bruder und ich eigentlich schlafen, wir fuhren abends. Mit im Gepäck war eine große Bodenvase, die meine Eltern als Hochzeitsgeschenk für meine Tante gekauft hatten. Als sie an der Grenze den Polizisten erzählen mussten, was sie dabeihatten, sagte ich von hinten: »Ihr habt was vergessen! Wir haben doch auch die Vase noch eingepackt!« Zum Glück brachte meine vorlaute Art meine Eltern an der Grenze in keine größeren Konflikte. Als wir weiterfuhren, schimpften sie mit mir, weil ich nicht geschlafen hatte. Wenigstens hätte ich mich schlafend stellen sollen, sagten sie. Ich habe diesen Vorfall nie vergessen. Damals war ich noch so unbedarft, dass ich jedem alles erzählen wollte. Das änderte sich im Laufe meines Lebens.
Bei meiner Tante war es wunderbar. Eigentlich. Denn am Hochzeitstag geschah etwas Unangenehmes. Zu der Feier, es war November, waren auch Verwandte mit älteren Kindern gekommen, Jungen im Alter von neun oder zehn Jahren, die zu mir sagten, wir könnten gemeinsam spazieren gehen. Ich war stolz, dass sie mich mitnahmen, ich war ja erst fünf. Bald allerdings hatten sie genug von mir und schickten mich zurück. Allein. Doch ich fand den Weg nicht mehr. Ich weiß nicht mehr wie, aber irgendwann landete ich auf einer Polizeistation. Die Polizisten fragten mich so lange aus, bis sie heraushörten, wo sich meine Eltern aufhielten, sodass sie benachrichtigt werden und mich abholen konnten. So sind meine ersten Erinnerungen an Hamburg eher zwiespältiger Natur.
Am 16. Juli 1961 wurde meine Hamburger Großmutter siebzig Jahre alt. Zu ihrem Geburtstag hatte sie sich eine Urlaubsreise mit meiner Familie nach Bayern gewünscht. Dass dies unsere letzte gemeinsame Reise in Westdeutschland werden sollte, konnte keiner ahnen. Meine Großmutter hatte nie den Führerschein gemacht. Da kam es ihr gerade recht, dass ihr Schwiegersohn Horst, mein Vater, gerne Auto fuhr. Es wurde ein VW Käfer gemietet, mit ihm fuhren wir im Sommer drei Wochen nach Bayern und Österreich. Meine Großmutter wünschte sich, dass es eine ausgedehnte Reise würde.
Von Templin machten wir uns zuerst auf den Weg nach Hamburg, holten dort unsere Großmutter ab, dann ging es weiter Richtung Süden. Wir wohnten in einem kleinen Hotel am Sagberg bei Frasdorf in den Chiemgauer Alpen. Die Anfahrt habe ich als sehr kurvenreich in Erinnerung. Wir sahen die Berge, machten Ausflüge nach Herren- und Frauenchiemsee, nach München, Innsbruck und Salzburg. In Wasserburg am Inn beeindruckten mich die reißenden Fluten des Flusses, der zu der Zeit Hochwasser führte.
Nach drei Wochen fuhren wir wieder zurück, am 7. oder 8. August 1961 waren meine Eltern, mein Bruder und ich wieder zu Hause in Templin. Mein Vater erzählte später oft, dass er damals Maschendrahtzäune in den Wäldern um Berlin herumliegen gesehen hatte, offensichtlich Vorboten einschneidender Vorgänge. Er ahnte, dass etwas Schlimmes passieren würde.
Am Donnerstag oder Freitag vor dem Mauerbau fuhr mein Vater mit mir nach Berlin, um dort etwas zu erledigen. Mich ließ er bei seiner Mutter, meiner Berliner Großmutter. Sie lebte in Pankow im Retzbacher Weg in einer Wohnung eines in den dreißiger Jahren erbauten Hauses. An dem Tag ging sie mit mir von dort in Richtung Wollankstraße in den französischen Sektor Berlins, um sich Zigaretten zu kaufen, sie war eine starke Raucherin, wie auch mein Vater. Ich entsinne mich genau, wie sie mich fest an der Hand hielt und die ganze Zeit hinter sich herzerrte, weil sie schneller gehen wollte, als ich mit meinen sieben Jahren konnte. Im Geschäft ging es hektisch zu, meine Großmutter sprach im Stakkato. Sie wollte schnell wieder aus dem Laden raus, denn der Kauf von Zigaretten in Westberlin und die Mitnahme in den Osten waren nicht gestattet. Ich wusste damals noch nicht, dass es sehr lange dauern würde, bis ich wieder nach Westberlin kommen konnte. Abends fuhren mein Vater und ich wieder zurück nach Templin.
Am 13. August, es war ein Sonntag, begann der Bau der Mauer mitten durch Berlin. Mein Vater hielt ganz regulär einen Gottesdienst ab, ich war dabei, das werde ich nie vergessen. Überall herrschte blankes Entsetzen, die Menschen weinten. Meine Mutter war verzweifelt. Sie wusste nicht, wann sie ihre Mutter und Schwester in Hamburg wiedersehen konnte, mein Vater war niedergeschlagen, weil ein Teil seiner Heimatstadt für ihn unerreichbar war. Es war etwas geschehen, was seine Fantasie überstiegen hatte. Seine Geburtsstadt wurde durch eine Mauer geteilt. Und nicht nur Berlin, sondern das ganze Land.
Obwohl die beiden deutschen Staaten bereits seit 1949 existierten, sollte sich erst durch den Mauerbau 1961 die Lebenssituation meiner Familie, wie die Millionen anderer Menschen, tatsächlich fundamental ändern. Er verurteilte uns in der DDR zur Ohnmacht. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Tage der verheerenden Sturmflut in Hamburg einige Monate später, im Februar 1962, als meine Mutter furchtbare Angst um ihre Mutter und Schwester hatte – ohne irgendetwas tun zu können. Unsere Familien waren einfach voneinander getrennt worden. Um überhaupt Kontakt halten zu können, schrieben sich meine Großmutter und meine Mutter wöchentlich Briefe. Nach dem Tod meiner Großmutter im Jahr 1978 setzte meine Tante diese Tradition fort.
Da ich nach dem 30. Juni geboren worden war, konnte ich nach damaliger Regelung nicht schon 1960 im Alter von sechs Jahren eingeschult werden, sondern musste noch ein Jahr warten. Nun, nur wenige Tage nach dem Mauerbau, der meine Familie so schwer getroffen hatte, war es so weit. Anfang September 1961 wurde ich im Alter von sieben Jahren in die Grundschule IV eingeschult. Sie lag dem Waldhof am nächsten. Trotzdem war der Weg dorthin immer noch recht weit, ich brauchte zu Fuß eine halbe Stunde. Da ich rechts und links noch nicht richtig unterscheiden konnte, erlaubten mir meine Eltern erst ab der zweiten Klasse, im Straßenverkehr mit dem Fahrrad zu fahren. In der fünften Klasse wechselte ich von der Grundschule IV in die benachbarte Goetheschule, eine Polytechnische Oberschule.
Der Unterricht begann um halb acht. Ich stand gegen 6.15 Uhr auf, das Frühstück bestand nur aus einer Stulle in der Hand und einer Tasse Tee oder Muckefuck, zum Hinsetzen blieb keine Zeit. Meistens holte ich dann die Kinder einer Nachbarsfamilie ab, um mit ihnen gemeinsam zur Schule zu laufen oder zu fahren. Die waren allerdings oft noch nicht fertig, weshalb meine Mutter aus dem Küchenfenster unserer Wohnung beobachtete, wann ich denn nun endlich losging. Manchmal machte sie mir Vorwürfe, dass ich das Risiko des Zuspätkommens einfach in Kauf genommen hatte.
Mittags kam ich nach Hause, am Schulessen durfte ich ja nicht teilnehmen. Nach dem Mittagessen erledigte ich entweder Schulaufgaben oder hatte Freizeit. Um achtzehn Uhr gab es Abendessen, zumeist Stullen, manchmal aber auch Grießbrei mit Kirschen oder Blaubeeren. Das Abendbrot war die zentrale Mahlzeit unserer Familie. An ihr nahmen alle teil. Wir Kinder erzählten von unseren Erlebnissen vom Tag. Die Eltern hörten aufmerksam zu und gaben uns gute Ratschläge, damit wir Geschwister mit den Widrigkeiten des DDR-Alltags klarkamen. Mein Vater hatte allerdings sehr häufig nur eingeschränkt Zeit, wenn um 19 oder 19.30 Uhr Abendveranstaltungen des Pastoralkollegs begannen. Dann leistete ich nach dem Abwasch, bei dem wir halfen, meiner Mutter Gesellschaft, zum Beispiel beim Stricken. Als ich älter wurde, sahen wir uns auch gemeinsam die Nachrichten der »Tagesschau« an.
Anders als alle meine Mitschülerinnen und Mitschüler durfte ich in der ersten Klasse noch nicht in die Pionierorganisation, die staatliche Jugendorganisation für Schüler bis zur siebten Klasse, eintreten. Das hatte Folgen. Für sehr gute schulische Leistungen bekam ich keine Auszeichnung wie die anderen, die bei den Pionieren waren. Anstehende Feste, zum Beispiel die Weihnachtsfeier, durfte ich nicht mit vorbereiten. Alles nur, weil ich nicht Mitglied der Pioniere war.
Das lag an meinen Eltern. Sie hatten bei der Einschulung zu mir gesagt: »Das wirst du nach Ende der ersten Klasse selbst entscheiden, aber noch nicht jetzt, bei der Einschulung. Die Schule ist eine Pflicht, die Mitgliedschaft bei den Pionieren nicht.« Darum ging es ihnen. Ich sollte lernen, dass es auch in der DDR Entscheidungsmöglichkeiten gab. Deshalb hatten meine Eltern zugleich auch in Aussicht gestellt, am Ende des ersten Schuljahres mit mir darüber zu reden, ob ich Mitglied der Pioniere werden wollte oder nicht. Sie würden beide Entscheidungen akzeptieren. Mit diesem Vorgehen – das habe ich erst später in seiner ganzen Tragweite verstanden und meinen Eltern dann auch immer hoch angerechnet – wollten sie zweierlei erreichen: Ich sollte lernen, selbstständig zu entscheiden, und es sollte verhindert werden, dass mir als Pfarrerskind, dem man von vornherein unterstellte, aus einem oppositionellen Elternhaus zu kommen, eine akademische Ausbildung unmöglich gemacht wurde und nur ein Theologiestudium am Sprachenkonvikt als Option geblieben wäre. Denn ohne die Mitgliedschaft in den staatlichen Jugendorganisationen war es kaum möglich, Abitur zu machen und anschließend zu studieren. Meine Eltern wollten mir und nach mir meinen Geschwistern die Berufswahl nicht noch zusätzlich erschweren oder gar frühzeitig verbauen.
In der zweiten Klasse beschloss ich, in die Pionierorganisation einzutreten. Ich wurde Jungpionier – die weibliche Form des Wortes wurde nicht verwendet –, ab der vierten Klasse dann Thälmann-Pionier. Von 1962 bis 1968 war ich Mitglied der Pionierorganisation und danach der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der staatlichen Jugendorganisation für Kinder und Jugendliche ab der achten Klasse. Später konnte ich auch in der Pionierleitung der Klasse mitarbeiten, durfte allerdings nicht Gruppenratsvorsitzende werden, weil ich Pfarrerskind war.
Was es hieß, Pfarrerskind in der DDR zu sein, bekamen meine Geschwister und ich auf vielfältige Weise zu spüren. Ein besonderes Schreckgespenst für mich in diesem Zusammenhang war das Klassenbuch. In ihm war die Herkunft der Eltern notiert, also A für Arbeiterklasse, B für Bauern, S für Selbstständige, I für Intelligenz. Vertretungslehrer ließen sehr häufig die Schüler aufstehen und sagen, was der Vater von Beruf war. Einmal flüsterte ich zu meinem Tischnachbarn: »Boah, ich habe heute keine Lust, schon wieder ›Pfarrer‹ zu sagen, das gibt nur wieder tausend Nachfragen.« Er antwortete: »Dann sag doch einfach ›Fahrer‹.« Bis ich an die Reihe kam, zerbrach ich mir den Kopf, ob ich den gut gemeinten Rat meines Mitschülers tatsächlich beherzigen oder der Wahrheit folgen sollte. Als ich aufgerufen wurde, sprach ich den Beruf meines Vaters zwar etwas nuschelig aus, aber letztlich doch so, dass verstanden wurde, dass es sich um einen Pfarrer handelte. Zum Glück folgten dieses Mal keine Nachfragen, wie es denn so mit dem Leben in einem Pfarrhaus sei und ob meine Eltern kritisch über die Schule sprächen. Ich fürchtete solche insistierenden Fragen. Dann wollte ich einfach nur abtauchen – vielleicht auch, weil meine Mutter uns immer sagte, dass wir als Kinder eines Pfarrers besser als andere sein mussten und möglichst wenig auffallen sollten. Dass meine Eltern, insbesondere mein Vater, uns Pfarrerskindern erlaubt hatten, Mitglieder der Pioniere und der FDJ zu werden, war im Vergleich zu anderen Pfarrhäusern eine Ausnahme. Manchmal brachte diese Situation mich auch in einen Zwiespalt, wenn ich erlebte, dass Gleichaltrige allein deshalb nicht auf die Erweiterte Oberschule (EOS) wechseln durften, weil sie keine FDJ-Mitglieder waren. Mein Vater war im politischen Spektrum ohnehin eher links zu verorten. Er befürwortete die Befreiungstheologie in Lateinamerika und lehnte die Kirchensteuer in der Bundesrepublik ab. Denn er war der Meinung, dass sich Pfarrer in ihrer eigenen Gemeinde ihren Verdienst selbst erarbeiten sollten. Seine Einstellungen führten schon zu DDR-Zeiten dazu, dass er »der rote Kasner« genannt wurde. Ich hielt seine Auffassungen nicht für besonders praxistauglich und schlüssig, da ich mit Blick auf unsere eigenen Lebensumstände zu dem Ergebnis gekommen war, dass wir uns bei Umsetzung der Politik, für die mein Vater theoretisch argumentierte, vieles nicht hätten leisten können. Wenn ich dies meinem Vater sagte, stieß ich allerdings auf taube Ohren. Mir schien, dass er seine theoretischen Überlegungen und sein praktisches Leben nicht zusammendachte.
Von Anfang an fiel mir die Schule leicht – nur im Sportunterricht musste ich mich richtig anstrengen. Nie vergessen werde ich meinen ersten Sprung vom Dreimeterbrett. Eines Tages stand er auf dem Stundenplan. Ich konnte sehr gut schwimmen, aber die Höhe machte mir Angst. Von vornherein hatte ich mich in der Schulbadeanstalt, die neben der Goetheschule lag, hinten angestellt, um als Letzte an der Reihe zu sein. Alle meine Mitschülerinnen und Mitschüler waren längst gesprungen und schwammen unten schon wieder. Das machte mir jedoch wenig aus, mein Überlebenstrieb war größer als meine Angst, mich vor allen lächerlich zu machen. Aber einfach zurückgehen wollte ich auch nicht, das wäre eine zu große Niederlage gewesen. Also stand ich oben. Mein Sportlehrer redete mir gut zu, er hatte Geduld und spürte, dass ich eigentlich wagen wollte zu springen. Auch meine Mitschüler machten sich nicht über mich lustig, denn sie wussten, dass ich oft genug auch ihnen geholfen hatte. So zog sich das hin. Vielleicht dauerte es am Ende gar nicht so lange, wie es mir im Nachhinein erschien, statt 45 Minuten nur 20. Jedenfalls hörte ich schließlich aus der Ferne das Klingeln der Schule, ein Zeichen für das Ende der Stunde. Daraufhin sagte der Lehrer: »Jetzt musst du springen oder wieder zurückgehen.« Nun sprang ich und landete im Wasser mit einer Mischung aus Stolz, es geschafft zu haben, und Scham, weil es nicht so schlimm gewesen war, wie ich mir oben auf dem Dreimeterbrett ausgemalt hatte.
Doch in der Schule begegneten mir noch andere Herausforderungen, die von weit größerer Tragweite waren als schwache Leistungen im Sport. Ich bin meinen Eltern auch heute noch dankbar, wie sie – ganz besonders meine Mutter – uns Kindern halfen, damit umzugehen. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Deutschlehrerin in der Grundschule, die uns Kindern in nahezu jeder Stunde von den Gräueltaten der Nationalsozialisten erzählte, die die Kommunisten erlebt hatten. Sie war als Kommunistin selbst betroffen gewesen. Doch einmal abgesehen davon, dass sie, wie mir später klar wurde, nie von der Verfolgung und Ermordung der Juden durch die Nationalsozialisten sprach, konfrontierte sie uns Kinder – wir waren gerade einmal zehn Jahre alt – täglich mit eindringlichsten Beschreibungen sehr schwerer Schicksale. Ich weiß noch, dass das damals für meine Kinderseele harter Tobak war; ich brauchte ein Ventil, um damit umzugehen, und fand es bei meiner Mutter, wenn ich mittags nach Hause kam. Noch während sie das Essen aufwärmte, plapperte ich schon los und redete mir alles von der Seele. Wir nannten das »absprechen«.
Mein Bruder machte es etwas anders als ich. Er legte sich nach der Schule erst einmal auf den Teppich im Wohnzimmer und las Zeitung. Marcus brauchte eine Ruhephase, und meine Mutter gewährte sie ihm. Meine Schwester suchte dagegen zunächst Bewegung und ging gerne sofort nach draußen zum Spielen. Indem unsere Mutter für uns da war und sich individuell auf uns einließ, half sie uns, Unverstandenes zu ordnen, Aggressionen abzubauen, die sich aufgestaut hatten, und Abstand zu gewinnen.
Im Grunde lebten wir sowieso in zwei Welten. Die eine war die Schule, die andere das private Leben davor und danach. Nicht mit allen Mitschülern, aber mit den Schulfreunden konnten wir frei reden. Wir hatten keine Sorgen, dass sie etwas von unseren privaten Gesprächen verraten würden. Schnell hatten wir verinnerlicht, was wir in der Schule sagen durften und was nicht. Das war Teil des Lebens, weil uns klar war, dass wir sehr großen Ärger bekommen würden, wenn wir das eigene Denken voll offenbarten. So hatten unsere Eltern uns Kindern auch eingeschärft, nicht über das Westfernsehen zu sprechen. Eine beliebte Fangfrage mancher Lehrer war zum Beispiel: »Hat die Uhr deines Sandmännchens Punkte oder Striche?« An der Antwort konnten sie erkennen, ob wir zu Hause im Fernsehen den West-Sandmann oder den Ost-Sandmann gesehen hatten. Meine Eltern hatten uns deshalb schon vor Eintritt in die Schule gesagt, dass wir auf solche Fragen einfach antworten sollten, das nicht mehr genau zu wissen. Wir lernten sehr früh, vorsichtig zu sein.
Wenn meine Mutter mitbekam, dass ich mit meinen Schulfreundinnen länger telefonierte, was ich sehr gerne tat, kam sie ins Zimmer und sagte, dass ich mich gerade um Kopf und Kragen redete, weil mit Sicherheit das Telefonat von der Staatssicherheit aufgezeichnet würde, und dass ich aufpassen sollte, wenn ich jetzt über die Lehrer irgendetwas sagte oder mich über die Situation in der Schule beschwerte. Meine Eltern empfahlen, derartige Gespräche draußen im Wald zu führen. Ich weiß noch wie heute, dass mein Bruder einmal in der ersten Klasse wegen eines Witzes über den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht richtig Ärger bekam, obwohl es eigentlich gar kein richtiger Witz war, sondern nur ein kleiner Spaß. Er hatte den Mann mit dem markanten Bart gegenüber seinen Mitschülern als »Spitzbart« bezeichnet. Einer verpetzte ihn bei der Klassenlehrerin. Meine Eltern wurden daraufhin informiert und mahnten einmal mehr zur Vorsicht bei allen politischen Äußerungen. Der Staat verstand keinen Spaß.
Deshalb war es selbstverständlich auch tabu, außerhalb unserer eigenen vier Wände über das zu reden, was meine Mutter mir eines Abends erzählte. Es war der 22. November 1963. Sie kam zu mir ins Zimmer und sagte leise: »Es ist etwas Schreckliches passiert.« Ich lag schon im Bett, normalerweise hätte sie mir nur »Gute Nacht« gesagt, stattdessen flüsterte sie: »John F. Kennedy ist ermordet worden.« Ich merkte sofort, wie erschüttert meine Mutter war. Es war gerade einmal ein paar Monate her, dass der amerikanische Präsident uns bei seinem Berlinbesuch mit seinen Worten »Ich bin ein Berliner« zu Tränen gerührt hatte.
Von der fünften Klasse an lernten wir Russisch. Eine Hürde, die sich mir entgegenstellte, war meine Zahnspange. Ich hatte eine zum Rausnehmen und konnte das russische »rrr« nicht richtig aussprechen, wenn die Spange im Mund war. Deshalb wickelte ich sie während der Russischstunde immer in mein Butterbrotpapier ein und legte sie unter mein Pult. Eines Tages vergaß ich sie dort, was ich aber erst zu Hause feststellte. Sofort raste ich mit dem Fahrrad wieder zurück zur Schule, um nach ihr zu suchen. Die Putzfrau hatte das Butterbrotpapier mit der Spange schon in den Mülleimer geworfen, der aber noch nicht geleert war. Ich konnte es kaum fassen und war unglaublich erleichtert, denn die Zahnspange war ein Wertgegenstand, und ich mochte mir nicht ausmalen, was zu Hause los gewesen wäre, wenn ich ihren Verlust hätte beichten müssen.
Gleich ab der fünften Klasse gehörte ich dem Russischclub der Schule an, einer Arbeitsgemeinschaft. Unsere Lehrerin, Frau Benn, eine überzeugte Kommunistin, war didaktisch sehr gut. Sie wusste uns zu motivieren. Dazu trugen Wettbewerbe, sogenannte Olympiaden, bei, mit denen in der DDR Leistungen auch außerhalb des Unterrichts gefördert wurden. An mehreren nahm ich in meiner Schulzeit teil, mit durchschnittlichem Erfolg an Mathematikolympiaden, mit sehr guten Ergebnissen an Russischolympiaden.
Bei meiner ersten Russischolympiade war ich in der achten Klasse. Sie fand auf verschiedenen Ebenen statt. Es begann mit der Schulolympiade, es folgten die Kreisolympiade, die Bezirksolympiade und schließlich die DDR-Olympiade. Die Teilnahme machte mir Freude. Als Schülerin der achten Klasse startete ich bereits in der Altersklasse der sogenannten Vorbereitungsklassen. So hießen in der DDR die neunten und zehnten Klassen der Erweiterten Oberschule, weil man sich dort auf die eigentliche Abiturstufe, die elfte und zwölfte Klasse, vorbereitete. Ich gewann eine Bronzemedaille. Sibylle Holzhauer, wie ich aus Templin, gewann eine Goldmedaille. Sie war zwei Jahre älter, Tochter eines Arztes und mein großes Vorbild, weil sie eine besonders gute russische Aussprache hatte, wie ich fand. Wir haben auch heute noch miteinander Kontakt. Mit Sibylles und meinen Medaillen hatte die kleine Stadt Templin einen überregionalen Erfolg vorzuweisen. Zwei Jahre später gewann ich sogar eine Goldmedaille.
Der DDR-weite Wettbewerb fand im Marmorsaal des Zentralhauses der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft in Berlin statt, das genau neben dem Maxim Gorki Theater lag. Beim Schreiben dieses Buchs habe ich einen alten Zeitungsausschnitt gefunden, den meine Mutter aufbewahrt hatte. Darin wird ausführlich beschrieben, wie die Olympiade im Mai 1969 ablief. Unter anderem hatten wir Schüler zu Beginn ein Gelöbnis abzulegen, es lautete: »Wir […] geloben heute, im Wettbewerb ehrenhaft, zielstrebig und mit allen Kräften um beste Resultate zu kämpfen – zur Ehre unserer Schule, unseres Kreises und Bezirks und zum Nutzen unserer sozialistischen Heimat.«
Der Wettbewerb war in eine Rahmenhandlung eingebettet: Wir Schüler mussten vier Stationen in einem sogenannten Feldlager junger Patrioten besuchen und uns dort einzeln in verschiedene Gesprächssituationen mit ungarischen Schülern und einer Komsomolzendelegation hineinversetzen. Komsomolzen waren die Mitglieder der Jugendorganisation Komsomol der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die Kinder in den unteren Klassen hießen Leninpioniere.
Ich erinnere mich daran, dass ich die ganze Nacht vorher nicht geschlafen habe, weil ich so aufgeregt war. Morgens war ich dann in Sorge, ob ich überhaupt irgendeine Aufgabe lösen können würde, weil ich so müde war. Ich war dann aber ganz erstaunt, welche Kräfte mir in der konkreten Wettbewerbssituation erwuchsen, das war natürlich pures Adrenalin.
Als Auszeichnung gewannen wir neben Medaillen eine Reise in den Sommerferien mit dem sogenannten Freundschaftszug nach Moskau und Jaroslawl. Sibylle und ich fuhren gemeinsam. Vor der Reise gab es einen Vorbereitungslehrgang, der in einem Lager der Pionierorganisation stattfand, im Klim-Woroschilow-Lager am Röddelinsee bei Templin. Es war nicht allein die Vorfreude auf die große Fahrt, die mich in diesen Tagen erfüllte. Das Wecken am Morgen, der Frühsport, die gemeinschaftliche Atmosphäre während der Tagesveranstaltungen und das lodernde Lagerfeuer am Abend zogen mich in ihren Bann. Zwar mussten wir ausgesprochen unschöne Einheitskleidung tragen, zusätzlich zur FDJ-Bluse erhielten wir einen braunen Anorak und einen braunen Rock, den wir jedoch einfach stark kürzten, was uns später in der Sowjetunion Ärger einbringen sollte, aber das konnte meine gute Stimmung nicht trüben. Vielleicht ist die sozialistische Idee doch nicht so schlecht, dachte ich.
Nach dem Lehrgang fuhren wir von Templin nach Berlin-Treptow zum Abschlussappell am Sowjetischen Ehrenmal zum Gedenken an die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten der Roten Armee. Sibylle und ich kamen ein wenig später als der Rest der Gruppe dort an. Deswegen wurden wir von einem Betreuer so sehr zusammengestaucht, dass meine positiven Gefühle, die ich im Woroschilow-Lager für den Sozialismus entwickelt hatte, schlagartig verflogen.
Anschließend mussten wir zu Fuß zu der Schule laufen, in der wir in der Nacht vor unserer Abfahrt schlafen sollten. Sie lag in der Nähe des Berliner Ostbahnhofs. Auf dem Weg – es war Samstagabend – schaute ich in die Fenster der Häuser, an denen wir vorbeigingen, und dachte: Oh Gott, du läufst jetzt hier in deiner Einheitsuniform herum und wirst auch noch für nichts und wieder nichts zusammengefaltet, die Menschen hinter den Fenstern gucken Westfernsehen, Kulenkampffs »Einer wird gewinnen«, und was machst du? Du marschierst hier in so einer Masse und fährst morgen mit dem Zug in die Sowjetunion. Es war mir nur noch alles peinlich, ich fühlte mich einsam und verloren und war schon bedient, bevor die Reise losging.
In Moskau trafen wir Komsomolzen. Sie erklärten uns so ziemlich als Erstes: »Es ist völlig ausgeschlossen, dass Deutschland geteilt bleibt. Es wäre ja auch vollkommen surreal, zwischen Leningrad und Moskau oder durch die beiden Städte eine Mauer zu errichten. Das dauert zwar noch einige Zeit, aber eines Tages wird Deutschland wieder vereint sein.« Ich war sprachlos, dass ausgerechnet Jugendliche des Landes, das maßgeblich für die deutsche Teilung Verantwortung trug, diese als das empfanden, was sie war: widernatürlich. Das war die erste Erkenntnis der Reise, im Jahr 1969, acht Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer. Erkenntnis Nummer zwei war, dass es hier, anders als in der DDR, Vinylplatten mit Beatles-Songs gab. Sofort kaufte ich mir in einem Geschäft das »Yellow Submarine«-Album.