Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Freinet-Pädagogik zählt wie die Montessori-, die Jenaplan- und die Daltonplan-Pädagogik zu den reformpädagogischen Richtungen, die die Schule und die Auffassung von Unterrichten nachhaltig verändert haben. Célestin Freinet hat in dieser Tradition seinen Platz als Reformer, als politischer Kopf, als Verfechter der Demokratie in der Schule. Sein Name steht auch für technische Erneuerungen: Die Freinet-Pädagogik bietet mit der Einrichtung der Korrespondenz-Klassen, der Schülerzeitung, der Dokumentation und dem Freien Text eine ideale pädagogische Grundlage für die Arbeit mit dem Computer in der Klasse. Es genügt nicht, die Schulen "ans Netz zu hängen"! Die Aktualität der Freinet-Pädagogik liegt darin, dass sie dem Einsatz moderner Kommunikationsmedien in der Schule einen pädagogischen Sinn gibt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 319
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Harald Eichelberger (Hrsg.)
Freinet-Pädagogik und die moderne Schule
Harald Eichelberger (Hrsg.)
StudienVerlag
InnsbruckWienMünchenBozen
© 2003by StudienVerlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6010 Innsbruck
E-Mail: [email protected]
www.studienverlag.at
Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder
Satz: Markus Anderwald/Studienverlag
Umschlag: Studienverlag/Helmut Mangott
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-7065-5841-9
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.
Harald Eichelberger, Christian Laner
Vorwort
Harald Eichelberger, Eva Filice
Freinet-Pädagogik – ein Konzept für jede Schule
Uschi Resch, Walter Hövel
Zur Bedeutung der Freinet-Pädagogik heute
Gerhard und Pia-Maria Rabensteiner
Politisches Bewusstsein durch Freinet-Pädagogik
Eva Filice
Auf der Suche nach Freinet in Italien
Jochen Hering, Walter Hövel
Miteinander reden – miteinander arbeiten
Werner Hangartner
Mathematik in der Freinet-Pädagogik
Christian Laner
Lernen im virtuellen Raum
John Bronkhorst
Freinet-Pädagogik und neue Medien
Elisabeth Furch
Interkulturelle Pädagogik und die Pädagogik Célestin Freinets – Berührungspunkte?
Literaturempfehlungen
Autorinnen und Autoren
Harald Eichelberger, Christian Laner
„Die Tätigkeit des Lehrers ist im idealen Fall gleich Null ...“1
Hugo Gaudig
Dieses Buch über die Freinet-Pädagogik ist Teil einer Reihe von Büchern über und zur Reformpädagogik: Nach dem „Handbuch zur Montessori-Didaktik“, dem ersten in Österreich publizierten Jenaplan-Buch „Der Jenaplan heute“, der „Einführung in die Daltonplan-Pädagogik“ mit erstmals in deutscher Sprache publizierten Originaltexten Helen Parkhursts aus ihrem Buch „Education on the Daltonplan“ liegt nun der vierte Band einer Reihe über reformpädagogische Konzeptionen als Studientext vor: ein Buch über die Aktualität der Freinet-Pädagogik, in dem nicht versäumt wird, auch die Wurzeln einer pädagogischen Bewegung aufzuzeigen und dem Leser eine Möglichkeit zu geben, diese pädagogische Bewegung auch in einem radikalen Sinn zu studieren.
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes sehen die Reformpädagogik als Fundament der gegenwärtigen bildungspolitischen Entwicklung und im Speziellen die Freinet-Pädagogik als wesentlichen Teil dieses Fundaments zur Erneuerung und ständigen gesellschaftspolitisch notwendigen Entwicklung der Schule und des gesamten Schulsystems.
Was gegenwärtig real- und bildungspolitisch notwendig ist, ist das kritische Durchdenken und Sichten der an Erneuerungsideen reichen Reform-Bewegung hinsichtlich ihrer vielen auch gegenwärtig noch tragfähigen und zukunftsträchtigen pädagogischen Konzeptionen. „Eine Auseinandersetzung mit den reformpädagogischen Grundgedanken bedeutet stets eine substantielle Bereicherung, weil hier gültige Antworten auf Fragen entwickelt wurden, die in veränderter zeitspezifischer Konfiguration noch unsere Fragen sind.
Das Konzept der daltonisierten Schule, die Methoden der Pädagogen Decroly, Freinet, Montessori, Steiner, Petersen sind noch heute so aussagekräftig wie in den 20er Jahren, als sie entwickelt wurden. Genauer gesagt: sie gehören auch gegenwärtig zu den wenigen gültigen Modellen, die eine begründete und bewährte Antwort auf die Bildungsproblematik geben.
Der entscheidende Grundgedanke der Reformpädagogik, der ihre Verästelung in die verschiedensten pädagogischen Bereiche zusammenhält, ist das Prinzip der Selbsttätigkeit in der Erziehung. Es zeigt sich in der Individualisierung des Unterrichts ebenso wie in den Formen der Selbstbeurteilung oder Mitverwaltung. In einer erfindungsreichen Weiterentwicklung, Gestaltung und Umsetzung des reichen pädagogischen Ideengutes der pädagogischen Klassiker entstand ein neues Bild der Schule als Lebens- und Wirkungsraum des Kindes, in dem es sich wohlfühlt, weil es durch seine Mitwirkung ein begründetes Heimatrecht erwirkt.“2
Bei allen Gemeinsamkeiten, die in den pädagogischen Ideen und Konzeptionen der Reformpädagogik zu finden sind, finden wir auch Ausdifferenzierungen und Orientierungen unterschiedlicher Art und unterschiedlicher Richtungen. Die Freinet-Pädagogik ist ein Beispiel für die spezielle Ausrichtung einer pädagogischen Konzeption innerhalb einer pädagogischen Bewegung (der Reformpädagogik – Anm. der Autoren) bei gleichzeitiger Betonung der gleichen Grundorientierung.
Die Reformpädagogik ist eine ungewöhnlich komplexe Bewegung ... Sie hat so unterschiedliche Sprecher hervorgebracht wie Cecil Reddie, Hermann Lietz, Bertholt Otto, Maria Montessori, Paul Oestreich, Adolf Reichwein, Célestin Freinet u. a.
Célestin Freinet ist aus heutiger Sicht ein klassischer Vertreter der Reformpädagogik. Der von ihm geschaffenen pädagogischen Bewegung ist innerhalb aller anderen reformpädagogischen Konzeptionen auch eine spezielle Perspektive eigen. Célestin Freinet ist expressis verbis der politischste aller Reformpädagogen: In der Freinet-Schule wird demokratisches Handeln gelernt, werden Regeln gelernt, nach denen Schüler selbst verantwortlich im Leben politisch agieren können. Politisch Handeln und politisch Denken zu lernen ist Vorbereitung auf das Leben, ist Erreichen von Selbständigkeit durch Selbsttätigkeit unter dem Primat des pädagogischen Denkens. Selbständig werden ist aber nicht auf das Klassenzimmer bezogen, sondern geschieht bei Freinet unter Einbezug der Welt außerhalb der Schule, der Lebenswelt der Kinder. Die Kinder verlassen die Schule, besuchen Arbeitsstätten der Erwachsenen, führen mit ihnen Gespräche, recherchieren und lernen auf diese Weise nicht eine Welt aus dem Buch kennen, sondern „die“ reale Welt, in der sie leben, wobei diese tiefgründig erforscht werden soll, um sie zu durchschauen. Nicht umsonst findet man in den Freinet-Klassen die Ateliers, die Werkstätten. Durch aktives Tun geschieht die Auseinandersetzung, die schließlich in eine Art journalistische Tätigkeit mündet. Das Alltagsleben ist die Basis für die schulische Arbeit. Durch das Schreiben werden die Gedanken nochmals überarbeitet und geklärt. Die Texte werden für die Öffentlichkeit geschrieben, nicht aus reinem Selbstzweck, womit auch die Bedeutung des Schreibens mit seinem Ausdruck, der Rechtschreibung und der Grammatik eine neue Dimension und eine wichtige Bedeutung erhält.
Die Freinet-Pädagogik war und ist nicht auf die schulische Arbeit alleine beschränkt. Sie war und ist eine Pädagogik mit dem Anspruch der Veränderung der Gesellschaft. Nicht nur die Gestaltung der Schule ist die Aufgabe der Lehrer, Eltern und Kinder. Gerade mit der Aufgabe der Schulgestaltung und Schulentwicklung wollte Célestin Freinet in seinen Kindern das Bewusstsein schaffen, dass auch die Gesellschaft nach den Bedürfnissen des Kindes bzw. der Betroffenen veränderbar ist. Er hat den Kindern das Wort gegeben, damit sie lernen, sich zu artikulieren, damit sie lernen können, in einer Demokratie zu leben – verantwortlich für sich selbst und für andere Menschen und doch selbstbestimmend innerhalb eines demokratisch strukturierten sozialen Gefüges zu sein. Wo sonst sollen Kinder Demokratie lernen, wenn nicht in der Schule? Und wir dürfen und müssen nicht nur den Kindern das Wort zur Gestaltung und Entwicklung ihrer Schule geben, sondern auch den Lehrerinnen und Lehrern und den Eltern. Demokratie bedeutet Mitbestimmung und daher auch Mitbestimmung an einem lebendigen Gestaltungs- und Umgestaltungsprozess der Gesellschaft und eines wesentlichen Teils derselben: der Schule.
„Célestin Freinet ist bestrebt, für diesen Umwandlungsprozess den pädagogischen Rahmen in der Schule zu entfalten, der bei ihm als Schulkollektiv eine pädagogische Synthese zwischen dem Schulstaat und der Schulform bildet. Die Druckerpresse als das schulpraktische Zentrum bietet Möglichkeiten sowohl hinsiehtlieh der selbsttätigen Aufgabenlösung – sei es als individuelle Leistung oder als kooperative Bewährung in der Gruppe. Der Austausch der Arbeitsergebnisse mit Patenschulen in anderen Regionen und Ländern gewährt zugleich die Möglichkeiten des internationalen Gedanken- und Erfahrungsaustauschs als Vorstufe zur internationalen Verständigung.“3
Das Studium der Freinet-Pädagogik wie auch anderer reformpädagogischer Modelle sollte es uns ermöglichen, dem pädagogischen Ziel eines auf Selbständigkeit und Selbstbestimmung basierenden Bildungsprozesses in den Schulen näher zu kommen, ohne die Notwendigkeit einer didaktisch-methodischen Grundlage für schulisches Lernen und den gesellschaftlichen Rahmen der Schule aus den Augen zu verlieren.
„Die Repräsentanten der Reformpädagogik sind Gestalten eigener Dignität. Ihre Theorie ist fest mit den relevanten praktischen Wirklichkeitsbereichen verwoben, so dass das eine stets mit den anderen mitbedacht sein will. Die Reformpädagogik stellt insgesamt gleichsam ein System der pädagogischen Schlüsselbegriffe dar, die, unter Nutzung der Grundeinsichten der pädagogischen Klassiker, die Bereiche der Erziehungswirklichkeit so erschließen und gestaltbar machen, dass ein nie abreißender Dialog zwischen Theorie und Praxis entsteht.“4
Mit all den zu diskutierenden Konzepten sind pädagogische Prinzipien wie Selbständigkeit, Selbstbildung, Eigenverantwortung, Selbsttätigkeit, eigenständiges und autonomes Lernen, entdeckendes Lernen, Bildung der Imaginationsfähigkeit sowie soziales Lernen und Integration verbunden. Zentrales Anliegen ist es, dem heranwachsenden Menschen in seiner Entwicklung zur eigenständigen Persönlichkeit und zur Entfaltung seiner Individualität zu helfen.
Montessori-Pädagogik, Freinet-Pädagogik, der Jenaplan nach Peter Petersen, der Daltonplan nach Helen Parkhurst oder der Epochenunterricht der Waldorfschulen bieten klare methodisch-didaktische Konzepte und sind dabei doch flexibel: Je nach dem entwickelten Schulprofil bieten sie die Grundlage für die pädagogische Arbeit an der Schule oder sie bilden die Basis für die Entwicklung eines adaptierten oder neu erstellten Erziehungs- und Unterrichtskonzeptes. In beiden Fällen setzt die Integration eines dieser Modelle ein vorangehendes intensives Studium desselben voraus und erfordert die permanente Reflexion, ob die Intentionen der Schule auch eine Verwirklichung durch das gewählte pädagogische Modell erfahren können, ob also der gewählte Weg auch zum Ziel führt.
„In Freinets Schulmodell sind die Gedanken der Reformbewegung eingegangen, wie: die Kritik an der einseitig intellektuellen Schule, der Gedanke einer dem Wachstum der kindlichen Kräfte entsprechenden Schule, die Forderung der Selhsttätigkeit des Kindes im Unterricht und Schulleben, die besondere Beachtung der Handarbeit, die engere Verbindung von Schule und Leben. Der Zentralbegriff seiner Bestrebungen wurde die Arbeit, die ‚die Schule von morgen‘ bestimmt. In ‚L’education du Travail‘ erläutert er sie: ‚Von Arbeit sprechen wir immer dann, wenn das Tätigsein – ob physisch oder geistig – den natürlichen Bedürfnissen des Individuums entspricht und durch diese Tatsache allein schon eine gewisse Befriedigung verschafft. Im gegenteiligen Fall sprechen wir von Aufgabe und Pflicht, die man nur erfüllt, weil man dazu gezwungen wird.‘ Daraus folgert die pädagogische Aufgabe, nicht anders gesehen als in der deutschen Arbeitsschule:, Wir bereiten ein erzieherisches Milieu, ein Arbeitsmaterial, entsprechende Arbeitstechniken und eine Organisation der gesamten Arbeit vor, die es den Kindern erlauben, sich so weit als möglich selbst zu verwirklichen, wenn der Lehrer ihnen dabei hilft oder sie wenigstens bei ihren tastenden Versuchen und ihrem Forschen nicht hindert.‘“5
Aktives Tun bzw. das Herstellen eines Bezuges zur Arbeitswelt war ein wesentliches Element in der Pädagogik Freinets. Dabei wuchsen die Kinder seiner Zeit noch in sehr engem Kontakt mit dieser Welt auf. Die Kinder unserer Zeit erleben eine Welt, die sehr abstrakt ist und ihnen auch sehr wenig Möglichkeiten gibt, Grunderfahrungen zu machen, die wesentlich für die Entwicklung des Menschen sind. Die Kinder erleben nicht mehr, welcher Tätigkeit ihre Eltern nachgehen, höchstens, dass sie kaum Zeit für sie haben und vor allem die Mutter in einer Doppelbelastung, die sie nicht deuten können. Andererseits sind auch die Bewegungsmöglichkeiten der Kinder sehr eingeschränkt bzw. es gibt kaum Freiräume für Aktivitäten, die nicht geplant und organisiert sind. Dadurch habe Kinder immer weniger Möglichkeiten, grundlegende Eigenerfahrungen zu machen. Man denke nur an die sogenannte Problematik der hyperaktiven Kinder. Ob wir es nicht eher mit einem Phänomen zu tun haben, dass sie nur mehr eingeschränkte Möglichkeiten haben, handlungsorientiert zu arbeiten, die Energien, die in ihnen stecken, los zu werden? Kinder, die „arbeiten“ dürfen und zwar im Sinne von wirklichem Arbeiten – denn Tätigkeiten der Kinder sind Arbeiten – weisen selten solche Symptome auf. Weiters können wir mit Hilfe von Freinet eine Reflexion über Spiel und Arbeit durchführen, die er ganz klar trennt und deren unterschiedliche Bedeutung reflektiert. Hier sind viele Ansatzpunkte für eine Schule, die in der heutigen Zeit den Kindern auf Grund der veränderten Lebenslage große Dienste erweisen kann. Die Kinder sollten nach Freinet auch Forscher sein, ein Grundbedürfnis der Kinder. Dazu müssen wir ihnen ein entsprechendes Umfeld und auch die organisatorischen Rahmenbedingungen schaffen.
Die Freinet-Pädagogik ist eine lebendige Pädagogik im Sinne einer Bewegung, im Sinne einer pädagogischen Lebensführung, die ihre Aktualität gegenwärtig dadurch beweist, dass sie als Pädagogik der Publikation und als Pädagogik der Dokumentation den pädagogischen Rahmen bietet, um die Informations- und Kommunikationstechnologien in der Schule pädagogisch sinnvoll nutzen zu können.6
Wie modern Freinet war und ist, kann man allein an der Tatsache messen, dass er ständig auf der Suche nach neuen Entwicklungen war, wobei es ihm sicherlich besonders der Bereich der Technik angetan hatte. So hat sich Freinet überraschenderweise auch mit dem programmierten Unterricht versucht und an den Versuchen der damaligen Zeit mitgewirkt. Man kann sich vorstellen, welche Begeisterung er heute für Entwicklungen wie Internet etc. hätte; es hätten ihm vermutlich die neue Möglichkeiten der Kommunikation und Kooperation, die über die E-Mail hinausgehen, angetan. Die Kerngedanken, die wir in qualitativ hochwertigen Bildungsservern finden, finden ihren Ursprung, bewusst oder unbewusst, in den Grundgedanken von Freinet7. In diesem Sinne finden wir heute eigentlich keine neuen Entwicklungen in der Pädagogik C. Freinets, vielmehr werden seine Ideen mit den heutigen technisehen Möglichkeiten realisiert. Hier geschieht auch sehr viel interkulturelle und vor allem auch demokratische Erziehung. Deutlich wird aber auch, wie wichtig die Auseinandersetzung mit den Grundlagen dieser reformpädagogischen Ansätze ist.
Ergänzend kann Hansen-Schaberg zitiert werden, dass gemessen an systematischen akademisch-pädagogischen Konzeptionen mit der Freinet-Pädagogik kein originäres Werk entstanden ist: „Das pädagogische Vokabular ist aus anderen Kontexten entliehen worden, ein theoretisches Konzept existiert nicht, und Grundbegriffe sind nicht vorhanden.“8
Bekannt sind die illustrativ geschriebenen Texte Célestin Freinets und Elise Freinets, vorbildlich ist die im Einklang mit seinen pädagogischen Ideen stehende Biografie dieses großen Pädagogen, hervorzuheben ist die Effektivität der Freinet-Pädagogik durch ihre weltweite Verbreitung.
„Die größere Wirksamkeit hat das Schulkonzept Freinets erwiesen, das den aktivitätspädagogischen Ansatz dadurch instrumentalisiert, dass es die Druckerpresse zum Mittelpunkt der Schularbeit macht. Durch die Möglichkeit des Druckens (l’imprimerie à l’école) wird ein ganzheitlicher Bezug gestiftet, der das Lernen mit dem praktischen Tun verbindet – eingebettet in eine Fülle sozialer und kommunikativer Prozesse. Durch den Austausch der auf diese Weise entstehenden Dokumente mit anderen Schulen – auch des Auslands – entsteht ein lebendiger Erfahrungsaustausch als Resultat eigener Initiativen.“9
Gerade in der Auseinandersetzung über einen sinnvollen Einsatz der Neuen Medien und des Internets bietet Freinet einige wertvolle Impulse und Gedanken, die zu einem qualitativen Umgang mit denselben im Unterricht führen kann.
Trotz ihrer eindeutigen Ausrichtung kann die Freinet-Pädagogik immer nur im Kontext der Bewegung der Reformpädagogik gesehen werden. Eine Auseinandersetzung mit den primären Repräsentanten der Reformpädagogik – „Reddie, Lietz, Ferrière, Geheeb, Montessori, Otto, Gaudig, Reichwein, Freinet – bedeutet, ins Zentrum der pädagogischen Fragestellung vorzudringen und Lösungsansätze zu erfahren, die über ihre Zeitbedingtheit hinaus einen gültigen Antwortkern in sich tragen. Im Rahmen der Reformpädagogik ist ein echtes pädagogisches Engagement spürbar, ein Einsatz des ganzen Menschen für die Erziehung des Heranwachsenden,...“10
1 Gaudig, Hugo: Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit. Erster Band. Leipzig 1922. S.110.
2 2 Röhrs, Hermann: Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf unter internationalem Aspekt. Weinheim 1994, S. 332.
3 Röhrs, Hermann: a. a. O., S. 325.
4 Röhrs, Hermann: a. a. O., S. 335.
5 Scheibe, Wolfgang: Die reformpädagogische Bewegung 1900-1932. Eine Einführende Darstellung. 10. Aufl. Weinheim 1994. S. 201f.
6 Siehe dazu vor allem die beiden Artikel von J. Bronkhorst und Christian Laner in diesem Buch!
7 Siehe dazu vor allem: www.schule.suedtirol.it/blikk! Siehe S. 143 und S. 144 in diesem Buch!
8 Hansen-Schaberg, Inge/Schonig, Bruno: Freinet-Pädagogik. Reformpädagogische Schulkonzepte. Hohengehren 2002, S. 4.
9 Röhrs, Hermann: a.a.O., S. 54.
10 Röhrs, Hermann: a. a. O., S. 302.
Harald Eichelberger, Eva Filice
Wirklich wichtig ist nicht das Wissen, sind nicht einmal die Entdeckungen: Wichtig ist das Forschen.
Célestin Freinet
Niemand kann wohl Célestin Freinet besser charakterisieren als er selbst. Aus diesem Grund erscheint es uns plausibel, eine Einführung in die Freinet-Pädagogik mit einem Zitat dieses großen Pädagogen Frankreichs und international anerkannten Reformpädagogen zu beginnen:
„Mein einziges pädagogisches Talent besteht vielleicht darin, dass ich eine so gute Erinnerung an meine jungen Jahre bewahrt habe. Ich fühle und verstehe als Kind die Kinder, die ich erziehe. Die Probleme, die sich stellen und die für die Erwachsenen ein so großes Rätsel sind, stelle ich mir auch selbst und erinnere mich dabei an die Zeit, als ich acht Jahre alt war, und so lege ich als Erwachsener und gleichzeitig als Kind über die Systeme und Methoden hinweg, unter denen ich so sehr litt, die Irrtümer einer Wissenschaft offen, die ihre Ursprünge vergaß und verkannte.“1
Vor dem Hintergrund eigener, meist negativer Schulerfahrungen mit der so genannten „Kasernenschule“ (C. Freinet) charakterisiert Célestin Freinet eine „kindgemäße Schule“ in seinem Werk „Die moderne französische Schule“:
„Die Schule von morgen wird das Kind als Glied der Gemeinschaft in den Mittelpunkt ihres erziehlichen Bemühens stellen. Von seinen wesentlichen Bedürfnissen, hingeordnet auf die Belange der Gesellschaft, der es angehört, sind die von ihm zu erwerbenden manuellen und geistigen Fertigkeiten, das Bildungsgut, die Art der Vermittlung des Bildungsgutes und die Art und Weise seiner Erziehung abzuleiten. Es handelt sich bei diesem Vorgehen darum, die Schule wahrhaft wieder in eine vernünftige, wirksame und menschliche Form zu bringen, die es dem Kind erlaubt, zu einer möglichst vollkommenen Entfaltung seiner Menschlichkeit zu kommen.“2
Voraussetzung einer kindgemäßen Schule sind die Erkenntnis und die Kenntnisse der kindlichen Entwicklungsprozesse und die didaktische Orientierung an den kindlichen Entwicklungsbedürfnissen. Erst dann kann die Schule nicht nur Lernwelt, sondern Lebenswelt des Kindes werden. Die Bedeutung von Schule als Lebenswelt des Kindes betont Célestin Freinet immer wieder im „Sinn des Lebendigseins“. In einer kindgemäßen Schule erleben die Kinder ihre Kraft, die in ihnen steckt, ihre inneren Wünsche, ihre Lebensstärke und ihre Kreativität und nicht nur, sich einem fremden Willen unterzuordnen. In der Geschichte des Pferdes, das zur Tränke geführt wird, illustriert C. Freinet die Eigen-Art des Lebendigen. Erzählt wird diese Geschichte vom Bauern Mathieu, dem C. Freinet im Geschichtenbuch „Les dits de Mathieu“ seine pädagogischen Einsichten aussprechen lässt:
„Der junge Städter wollte sich auf dem Bauernhof, der ihn beherbergte, nützlich machen.,Bevor ich das Pferd aufs Feld führe‘, so sagte er sich, ‚werde ich es trinken lassen.‘...
Und das frischgebackene Landkind zieht am Zügel, geht nach hinten und gibt dem Pferd ein paar kurze Schläge. Endlich! ... Das Tier bewegt sich ... es ist schon an der Tränke ... vielleicht hat es Angst ..., Ob ich es vielleicht streicheln soll? Du siehst doch, das Wasser ist frisch. Bitte! Mach mal deine Nüstern nass ... Wie! Du trinkst nicht? ... na dann!‘
Und der Mann stößt mit Gewalt die Nüstern des Pferdes ins Wasser der Tränke. ... Das Tier schnaubt und atmet, aber es trinkt nicht.
Der erfahrene Bauer kommt dazu. Ironisch sagt er: ‚Ach, du glaubst, dass man so ein Pferd führen kann? Weißt du, es ist nicht so dumm, wie ein Mensch ... Es hat keinen Durst! ...‘
‚Was kann man da machen?‘
‚Man merkt, dass du kein Bauer bist! Du hast nicht verstanden, dass das Pferd zu dieser frühen Morgenstunde keinen Durst, aber große Lust auf guten frischen Klee hat. Danach hat es Durst, und du wirst sehen, wie es zur Tränke galoppiert.‘...“3
Bevor wir uns nun den Prinzipien der Freinet-Pädagogik ausführlich zuwenden, lenken wir unseren Blick auf die Biografie Célestin Freinets, steht doch wie bei den meisten großen Pädagogen sein Lebensweg in einem engen Zusammenhang zu seinem pädagogischen Lebenswerk.
Célestin Freinet wird am 15. Oktober 1896 als fünftes Kinder einer Bauernfamilie in Südfrankreich geboren. Die Erfahrungen aus seiner eigenen Schulzeit, die der junge Célestin als Qual erlebte, werden später sein pädagogisches Denken und Handeln stark beeinflussen.
1913 beginnt Célestin Freinet in seinem 18. Lebensjahr das Studium am Lehrerbildungsseminar, dem sogenannten Ecole Normale.
1915 wird er zum Kriegsdienst eingezogen und wird während der Krieghandlungen im ersten Weltkrieg durch einen Lungenschuss schwer verwundet. Seine Kriegserfahrungen machen Célestin Freinet zu einem überzeugten Pazifisten. Es besteht in diesem Zusammenhang auch die Vermutung, dass die Lungenverletzung Célestin Freinets indirekt den Anstoß zu Schaffung seiner Pädagogik der Seihsttätigkeit gegeben hat: Freinet hält es nur mehr schwer in dem kleinen, stickigen Klassenraum aus und ermuntert seine Schüler, mit ihm die Klasse zu verlassen und außerhalb der Schule zu lernen.
1920 schafft es Célestin Freinet – trotzdem er an den Folgen seiner Verletzung noch sehr leidet – in der winzigen und armseligen Dorfschule von Bar-sur-Loup seine erste Anstellung als Lehrer anzutreten. Hier beginnt nun in den nächsten Jahren die Entwicklung der Freinet-Pädagogik zu einer weltweiten pädagogischen und politisch-pädagogischen Bewegung.
In diesen Jahren lernt Célestin Freinet auch den belgischen Arzt und Pädagogen Ovide Decroly kennen, der schon begonnen hatte, Schüleraufsätze zu drucken. Für die Entwicklung der Freinet-Pädagogik nimmt er ebenso Anregungen von der deutschen Reformpädagogik, vor allem von Hermann Lietz und dessen Idee des Landerziehungsheimes auf. Er lernt Paul Geheeb kennen, den Begründer der Odenwaldschule und ebenso den Schweizer Pädagogen Adolphe Ferrière, Autor von „L’Ecole active“. Von ihm erhält Célestin Freinet die Anregung für sein Werk „L’Education du Travail“. Fèrriere zeigte auf, wie die Forderung Kerschensteiners „Die Schule der Zukunft wird die Arbeitsschule sein“ praktisch verwirklicht werden kann. Freinet studiert intensiv die Reformbestrebungen anderer Länder und lernt 1923 auch Peter Petersen in Hamburg kennen. Mit Peter Petersen pflegt Célestin Freinet bis zu seinem Tod eine intensive Brieffreundschaft und einen regen Gedankenaustausch.
1923 kauft Célestin Freinet eine Druckerpresse und beginnt, seine Schülerinnen und Schüler freie Texte drucken zu lassen. Diese freien Texte basieren auf dem freien persönlichen Ausdruck der Schülerinnen und Schüler. Aus den freien, gedruckten Texten entstehen in Folge die Klassenzeitung und die Texte für die Arbeitsbibliothek der Kinder. Die Einführung der Schuldruckerei ist ein wesentlicher Entwicklungsschritt in der Freinet-Pädagogik, um den „Kindern das Wort zu geben“. Die Druckerei wird zum Symbol der Freinet-Pädagogik, einer rasch wachsenden Bewegung, gekennzeichnet durch ein Netz von Kooperationen, durch Treffen und Tagungen und auch durch eine intensive Korrespondenz.
1924 gründen Célestin Freinet und zu dieser Zeit schon zahlreiche gleichgesinnte Kolleginnen und Kollegen die „Cooperative de l’Enseignement Laie“, abgekürzt C.E.L., aus der allmählich die französische Lehrerbewegung „Ecole Moderne“ hervorgehen wird. Ziel dieser Bewegung ist die Neugestaltung der Schule von innen heraus. Sie unterscheidet sich von den anderen reformpädagogischen Bewegungen dieser Zeit auch durch die explizit genannten politischen Absichten: als eine „Pädagogik des Volkes“ verfolgt sie eindeutig emanzipatorische Ziele und ergreift Partei für die unterprivilegierten Kinder der Gesellschaft.
1926 heiratet Célestin Freinet. Seine Frau Elise wird auch engste Mitarbeiterin und wohl auch Mitschöpferein der Freinet-Pädagogik. Zu dieser Zeit engagiert sich Freinet auch in der Gewerkschaftsbewegung und wird auch Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs, die er allerdings in den Fünfzigerjahren wieder verlassen wird.
1927 findet der erste große Kongress der Ecole moderne statt, der ab diesem Jahr zu einer alljährlichen Einrichtung werden wird und maßgeblich zur Verbreitung der Freinet-Pädagogik beitragen wird.
1928 wird Célestin Freinet nach St. Paul versetzt. Die Gründe für diese Versetzung lagen wohl in den heftigen Konflikten mit der Schulbürokratie, die die Grundlagen der herkömmlichen Schule durch die immer stärker werdende Bewegung der Ecole Moderne gefährdet sah.
1934/35 eröffnen Elise und Célestin Freinet ihr privates Landerziehungsheim in Vence. Im Zentrum des Lebens und Lernens in diesem Heim und in dieser Schule steht die sinnvolle und schöpferische Arbeit des Kindes und die Arbeit, die zur Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes entscheidend beiträgt.
1941-44: Nach dem Aufenthalt in einem Internierungslager, in dem Célestin Freinet auch grundlegende pädagogische Arbeiten verfasst, engagiert er sich bis zum Ende des 2. Weltkrieges in der französischen Widerstandsbewegung (Resistance). Im Jahr nach dem Ende des Krieges erscheint sein Buch „L’Ecole Moderne Francaise“, eine Zusammenfassung seiner pädagogischen Ideen. Zur gleichen Zeit können Elise und Célestin Freinet auch das Landerziehungsheim in Vence wieder eröffnen. Weitere Publikationen zu Pädagogik und pädagogischer Psychologie mit seiner Frau Elise Freinet folgen.
1961 wird die „Federation Internationale des Mouvements de l’Ecole Moderne“ (ICEM) gegründet. Sie dient der Koordinierung der Freinet-Bewegung auf internationaler Ebene. Aus der Kooperation weniger Volksschullehrer um Célestin Freinet ist in rund 40 Jahren eine weltweite internationale pädagogische Reformbewegung geworden.
1966 stirbt Célestin Freinet in Vence. Die Freinet-Bewegung verliert zwar ihren Gründer und ihre Galionsfigur aber nicht ihre pädagogische Bedeutung als schulerneuernde pädagogische Kraft.
Wie andere Reformpädagogen auch hat Célestin Freinet früh erkannt, dass nicht eine neue Lehr- und Lernmethode im Mittelpunkt einer neuen Pädagogik stehen kann, sondern im Sinne einer „kopernikanischen Wende“ in der Pädagogik das Kind und dessen individuelle Entwicklung in einer bestimmten Gesellschaft in das Blick- und Handlungsfeld des Pädagogen gerückt werden muss. So kann davon aus heutiger Sicht ausgegangen werden, dass auch Célestin Freinet – wie Maria Montessori – kein Förder- oder Lernkonzept erstellt hat, sondern ein Entwicklungskonzept des Kindes. Doch es genügt beiden genannten Pädagogen nicht, von den Interessen und Bedürfnissen des Kindes allein auszugehen, sondern ihre Pädagogik manifestiert sich darin, dass sie versuchen, dem Kind das für die Entwicklung in pädagogischer Verantwortung bereitzustellen und zu geben, was es in seinem Alter aktuell für seine Entwicklung braucht.
Beide Pädagogen gehen interessanterweise von dem Begriff der Arbeit aus. Finden wir bei Maria Montessori die Arbeit an sich selbst (gemeint ist das Kind – Verf.) und das Konzept der „Übungen des täglichen Lebens“ und das der „Sinnesschulung“, so betont Célestin Freinet den hohen positiven Wert der zielgerichteten und planvollen Arbeit an konkreten Problemen für jeden Menschen, so auch für Kinder. Nach Freinets Überzeugung strebt das Kind von Anfang an danach, mit den Eltern und wie sie zu arbeiten und es ihnen gleichzutun. So beruht auch Freinets Pädagogik für das breite Volk auf der Einrichtung einer Arbeitsschule. Er will sinnvolle, schöpferische, das Kind entfaltende Arbeit zum zentralen Inhalt der Schule machen.
Erlauben wir uns an dieser Stelle einen kleinen Exkurs zum eigentlichen geistigen Vater der sogenannten Arbeitsschule Georg Kerschensteiner, der dem Begriff der Arbeit eine spezifisch pädagogische Bedeutung gegeben hat, die auch in der Freinet-Pädagogik ihre Gültigkeit bewahren wird. Es genügt demnach nicht, im Unterricht einfach nur tätig zu sein.
„Das Wort von der Pädagogik der Tat wurde zunächst geprägt. Bald aber hatte es dem neuen Schlagwort Platz zu machen, dem Schlagwort vom Arbeitsunterricht als Prinzip, worunter man die Verbindung von einer Fülle manueller Tätigkeiten mit allen herkömmlichen Unterrichtsgegenständen verstand. Schon diese grobe Veräußerlichung des Begriffes ‚Arbeitsunterricht‘ als eines Unterrichts in rein manueller Beschäftigung zeigte, wie wenig das Wesen des Begriffes der Arbeitsschule erfasst worden war. ...
Weil Arbeiten gewöhnlich eine manuelle Tätigkeit ist, so glaubte man, das Problem der Arbeitsschule damit gelöst zu haben, dass man mit jedem herkömmlichen Unterrichtsgebiet der Schule irgendwelche manuelle Tätigkeit verband .... Aber so wenig man sich den Begriff des kategorischen Imperativs erarbeitet, wenn man einen Holzschnitt von Kant nachzeichnet, ebenso wenig treffen die erwähnten manuellen Arbeiten den Geist des Arbeitsprinzips. Manuelle Arbeit ist im Dienste eines Unterrichtszweiges nur da ‚bildend‘, wo Begriffe und Erkenntnisse aus Tatsachen der täglichen Erfahrung herauswachsen und das Vorstellungsmaterial aus sinnlicher Beobachtung gewonnen werden muss. Alle im Laufe der Zeiten entwickelten geistigen Arbeitsgebiete haben ihre eigenen spezifischen Arbeitsweisen. Das Arbeitsprinzip ist nur dann gewahrt, wenn die Arbeit beim Eindringen in die Vorstellungskreise und in die Denkungsweise dieses Gebietes den Arbeitsmethoden angepasst ist, die sich innerhalb jener Geistesgebiete mit psychologischer Notwendigkeit entwickelt haben.“4
Ich möchte aber in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Arbeitsbegriff Célestin Freinets eher einer politisch-marxistischen Prägung entspringt: Arbeit ist in diesem Sinne für Célestin Freinet ein Grundrecht des Menschen und deshalb in der Schule ein durchgehendes Prinzip; Arbeit ist ein wesentlicher Teil der Menschenwürde.
Schulisches Lernen in einer Freinet-Klasse ist in einem hohen Maß handlungsorientiert und immer von dem Lernenden selbst bestimmt. Freinet geht auch davon aus, dass jedes Kind die wichtigen Erfahrungen in seinem Leben selbst machen muss und dass jedes Kind ein grundsätzliches Recht hat, Wahrheiten selbst zu entdecken. Lebendiges Lernen besteht für Freinet darin, dass das Kind – eingebunden in die emotionellen und sozialen Beziehungen seiner Gruppe(n) und in enger Verbindung zu seinem Milieu – daran geht, die Beschaffenheit seiner Welt, ihre Werte und Beziehungen herauszufinden. Doch Freinet-Pädagogik heißt auch, ein Bewusstsein darüber zu entwickeln, dass diese Welt durch meine (des Schülers – Verf.) „politische“ Arbeit veränderbar ist.
Soll Lernen und Arbeiten für Kinder eine seine Individualität entwickelnde Bedeutung haben, so muss es im „Hier und Jetzt“ stattfinden und sehr wohl auch den Bedürfnissen und Interessen der Kinder entsprechen. So wird auch der Unterricht in der Freinet-Pädagogik erfahrungsorientiert, sachbezogen und für das Kind sinnvoll erlebbar sein. So wird zum Beispiel die Kulturtechnik des Schreibens immer auf ein Gegenüber gerichtet sein, dem ich etwas mitteilen kann, mit dem ich etwas austauschen kann. Wozu schreiben wir in der herkömmlichen Schule, wenn es außer der Lehrerin keiner liest und am Ende des Schuljahres das Heft weggeworfen wird?
Freinets Pädagogik verwendet große Sorgfalt und umfangreiche Mittel darauf,
• Suchbewegungen anzubahnen,
• Neugierverhalten zu ermutigen und
• Erfahrungslernen zu unterstützen.
Die differenzierten Arbeitsmittel, die dazu entwickelt wurden und die besonderen Organisationsformen der Klasse erlauben es jedem Kind, gemäß seinen Interessen, seinen Talenten und seinem individuellen Lernrhythmus vorzugehen.
Dazu wird es notwendig sein, das Klassenzimmer vollständig umzugestalten (Siehe Beispiel S. 36!). Aus dem Klassenzimmer wird ein ansprechender Lernraum werden, der viel eher einer Werkstatt ähnelt, in der entdeckendes und forschendes Lernen möglich ist und in der eine freudige und entspannte Atmosphäre herrscht.
Das Wissen in einer Freinet-Klasse kommt nicht mehr nur vom Lehrer allein. Es ist viel wichtiger, dass die Kinder lernen können, wie sie sich Wissen aneignen können mit verschiedenen Arbeitsmaterialien, mit Büchern, Informationsheften und Nachschlagewerken. Es ist nicht wichtig, dass ich immer wieder „Wissen“ serviert bekomme und dieses reproduzieren kann, sondern dass ich lerne, wie ich mir „Wissen“ selbständig erarbeiten kann und dieses „Wissen“ auch einer Selbstkontrolle unterziehen kann. Wissen ist lebensnotwendig, daher steht das Lernen von gezieltem, selbständigem Lernen im Vordergrund der Freinet-Pädagogik.
Im Verständnis Célestin Freinets ist Schule keinesfalls ein Schonraum, sondern heißt, stellvertretend in der Schule viel für und über das wirkliche Leben zu lernen und bei aller Freiheit zur individuellen Entwicklung die Verpflichtungen akzeptieren und damit umgehen zu lernen. Es gibt die Verpflichtungen, die Schule zu besuchen, selbst gesteckte Ziele zu verantworten, das Gruppenleben zu organisieren und Entscheidungen zu treffen, und ... In diesem Sinne ist die Freinet-Pädagogik keineswegs eine Pädagogik des Gewährenlassens, sondern eine Erziehung zu Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Menschen und in dieser Aufgabenstellung im höchsten Maße modern.
Die Prinzipien der Freinet-Pädagogik führen die Kinder und Jugendlichen in eine und in einer Schule der Vielfalt, Einzigartigkeit und Sinnfülle. Sie sind wesentliche Orientierungspunkte für all diejenigen, die Interesse haben, die Freinet-Pädagogik mit ihren Kindern in der Schule zu realisieren:
Im Freinet-Unterricht wird das Leben der Kinder im Unterricht weitergehen und sich in den Unterricht hinein fortsetzten, im herkömmlichen Unterricht wird es oft abgeschnitten und stirbt langsam. Der Begriff des Lebens ist für Célestin Freinet eine wichtige Metapher in seiner Philosophie. Immer wieder betont er, wie sehr ihm darauf ankomme, das Leben in die Schule hineinzunehmen.
Den Prinzipien ordnet C. Freinet Mittel und Techniken zu. Diese sind von C. Freinet zusammen gestellt worden, nur zusammen gestellt, nicht erfunden. C. Freinet hat die Vorschläge der Reformpädagogen seiner Zeit zusammengetragen und in seiner Pädagogik vereint. So soll z.B. der Bezug zum Leben durch folgende Mittel und Techniken hergestellt werden:
• Berichte
• Untersuchungen
• Unterrichtsgänge
• Arbeitsateliers ...
Fast in einem Atemzug mit dem Prinzip des Lebens nennt C. Freinet das Prinzip der Arbeit und des selbständig Tätigseins in der Schule. „Durch Selbsttätigkeit wird aller Bildungserwerb erfüllt.“5 Die selbsttätige Arbeit geschieht in den Freinet-Klassen vorwiegend in den Arbeitsateliers. Mittel und Techniken sind immer veränderbar und aktualisierbar, Prinzipien der Freinet-Pädagogik allgemeingültig und keinen Veränderungen unterworfen. Folgende Mittel und Techniken empfiehlt C. Freinet für die selbsttätige Arbeit:
• Feldarbeit und Tierpflege
• Schmiede und Schreinerei
• Spinnen, Weben, Schneidern, Kochen, Hauswirtschaft
• Konstruktion, Mechanik, Handel
• Nachschlagekiste für Unterrichtsvorhaben
• Wissensstoffe, Dokumentensammlung
• Experimentieren in Naturkunde, Physik, Chemie
• Meteorologie, Schulmuseum
• Schöpferische Betätigung, graphische Gestaltung und Korrespondenz
• künstlerisches Schaffen, Ausdruck und Mitteilung ...
Nicht nur die in der Schule zu lernenden und gelernten Inhalte müssen sinnvoll sein, sondern Lernen und Leben in der Schule müssen auch wesentlich dazu beitragen, einen Lebenssinn finden zu können. Diese Forderung bezieht sich ebenso auf das Erlernen und Anwenden der Kulturtechniken Schreiben und Lesen. C. Freinet sagt dazu:
„Wir haben die Motivierung des Schreibens durch unsere Techniken praktisch verwirklicht. Diese sind: Die Möglichkeit des freien Sich-Ausdrücken-Dürfens, die Vervielfältigung oder Druckerei, die Illustrierung, die Schaffung einer Schülerzeitung ...“6 „Das entscheidende Moment bei dieser Art des Schreibenlernens ist, dass das Kind den Wert, den Sinn und die Notwendigkeit des sich durch die Schrift Ausdrücken-Könnens in seiner Bedeutung für sich selbst und für die Allgemeinheit empfindet.“7
In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich auf den systemischen Charakter der Prinzipien der Freinet-Pädagogik hinweisen: Lernen im lebensbedeutenden Sinn, kann nur selbst bestimmtes Lernen sein, ein Lernen in Freiheit und Selbsttätigkeit ... D.h. sinnvolles Lernen ist immer Lernen in Freiheit:
• freier Ausdruck/freier Text
• Schul-Druckerei
• Schülerzeitung
• Korrespondenz ...
Die Freiheit manifestiert sich in der Freinet-Pädagogik vor allem in der Freien Wahl der Arbeitsschwerpunkte, im freien Ausdruck als „Offenbarung des Lebens selbst“8 und im freien Text, der „Veräußerlichung dessen, was im Kind ist, was das Gefühlt bewegt, es lachen oder weinen lässt, seine Träume erfüllt und ihm ausdrückliche Empfindungen verschafft ...“9
• freier Ausdruck/freier Text
• freie Wahl der Arbeitsschwerpunkte
• freie Untersuchungen
• freies Experimentieren ...
Ein wesentliches Prinzip der Freinet-Pädagogik ist die Kooperation der Kinder untereinander und miteinander. Dieses Prinzip steht im Gegensatz zum konkurrenzierenden Verhalten der Kinder in der herkömmlichen Schule. Vor allem die Schuldruckerei, die Korrespondenz und die Einrichtung des Klassenrates sind Mittel und Techniken, an denen die Kinder die Kooperation erlernen und erleben.
• Gemeinschaftsarbeiten
• Auswertung der Unterrichtsgänge
• Auswahl der freien Texte
• Korrespondenz
• Gruppenarbeit
• Druckerei
• Experimentieren ...
Viele Aufgaben werden in einer Freinet-Klasse von den Kindern in einer selbsttätigen Art und Weise und ebenso selbst verantwortlich übernommen. Vor allem die Möglichkeit der Mitgestaltung des Schullebens führt zur Übernahme der Verantwort. Doch Verantwortung können die Kinder nur übernehmen, wenn ihnen diese durch all die zusammenhängenden Prinzipien auch wirklich übergeben wird.
• Verantwortlichkeit („Ämter“)
• Arbeitspläne
• Disziplin
• Klassenversammlung10 ...
Grundgedanken und Prinzipien der Freinet-Pädagogik sollen im Verständnis dieser Pädagogik als einer Pädagogik der Unterrichts- und Schulentwicklung zu einer Unterrichts- und Schulkonzeption führen, die den in der Schule lebenden und lernenden Schülern und Lehrern entspricht und hilft die pädagogischen Ideen bestmöglich zu realisieren.
Die pädagogischen Grundideen Célestin Freinets zielen auf „offene und befreiende Erziehung“ ab und manifestieren sich im konkreten Unterricht in den folgenden Realisierungen. Dabei muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass Célestin Freinet seine Pädagogik als Pädagogik des Volkes und damit auch als eine Pädagogik für die Regelschule verstanden wissen wollte. Freinet-Pädagogik war niemals und ist auch heute keine Pädagogik für die, die es „sich leisten“ können.
• Die Schüler sitzen nicht mehr passiv in ihren Bänken und warten auf die Aufträge eines Lehrers, die sie dann in ihren Büchern und Heften arbeiten, sondern sie gehen im Unterricht alleine, zu zweit oder in Gruppen verschiedenen Arbeiten nach, die sie sich selbst gewählt haben. Sie drucken Texte, arbeiten Referate aus, führen Experimente durch, arbeiten an einem Mathematiklehrgang oder üben auch handwerkliche Tätigkeiten aus. Die Arbeiten sind für die Schüler nicht sinnentleert. Sie haben sie selbst gewählt und damit einen wichtigen Schritt zu einer selbstbestimmten Arbeit, zur eigenen selbstbestimmten Entwicklung und meist auch zu einer kooperativen Arbeit getan.
• Die Arbeitsmittel sind nicht mehr nur Schulbücher und Schulhefte, sondern in der Freinet-Pädagogik vor allem eben die Druckerpresse, der Schreibcomputer, eine Dokumentensammlung, die Arbeitsbibliothek, verschiedenartige Werkzeuge und Materialien, Lehrgänge und dgl. mehr. Die Arbeit der Kinder ist im Vergleich zum verbalistischen Unterricht das vorherrschende Element in der Lerngruppe. Die herkömmliche Fächertrennung ist meist aufgehoben, eine altersheterogene Einteilung der Schüler in Lerngruppen ermöglicht und erleichtert eine intensive Zusammenarbeit der Schüler. Die Arbeit der Schüler wird nach Möglichkeit in einer gleichgewichtigen Verbindung von manuellen, intellektuellen und künstlerischen Tätigkeiten vor sich gehen – wie bei Pestalozzi: Lernen mit Kopf, Herz und Hand.
• Der Unterricht wird von Lehrern und Schülern als gemeinsames Vorgehen konzipiert. Wochenplanung, Tagesplanung, Exkursionen, Klassenrat, Morgenkreis, Klassentagebuch usw. helfen dabei. Es werden Gruppenarbeiten und auch Einzelarbeiten vorkommen. Die herkömmliche Einteilung des Unterrichts in Fächer und Stunden, in denen diese Fächer dann gehalten werden, entfällt zugunsten einer entsprechenden Planung der Lerngruppe.
• Die Unterrichtsplanung wird prinzipiell von den Interessen und den Bedürfnissen der Schüler ausgehen, wobei der (staatliche) Lehrplan in allen Fällen ein in die Planung zu integrierendes Element sein wird (muss). Zentrale Elemente der Freinet-Pädagogik sind jedoch die Selbstbestimmung und die Eigenverantwortung. Diese können Kindern nur lernen, wenn man ihnen auch täglich die Möglichkeit in einem ernst zu nehmenden Rahmen dazu gibt. „Zu erkennen, was ich möchte“, ist der entscheidende Entwicklungsprozess des Menschen, eingebettet in eine konkrete Gemeinschaft in der Auseinandersetzung mit Pflichten, Rechten und Grenzen. In diesem Zusammenhang erhält auch der „freie Ausdruck“ von Gedanken, Erlebnissen und Gefühlen seinen pädagogischen Stellenwert im Unterricht der Freinet-Pädagogik.
• Diese Denkrichtung fortsetzend, wird auch einsichtig, dass die Schüler soweit wie nur möglich ihre Arbeit selbst organisieren werden und gemeinsam bestimmen, welchen Tätigkeiten und Wissensgebieten sie sich zuwenden werden. Gerade durch diesen Prozess der Selbstbestimmung wird den Kindern einsichtig, warum sie Mathematik, Sprache, Naturwissenschaften usw. lernen sollen und werden. So führt das eigene Interesse des Kindes diese z.B. zum mathematischen Denken und Problemlösen und dies in einer viel intensiveren und interessanteren Art und Weise als um lehrerzentrierten Unterricht. Die schwierige Aufgabe des Lehrer besteht darin, das Kind auf seinem Weg des entdeckenden Lernens didaktisch und methodisch fundiert zu begleiten. Außerdem dürfen wir immer darauf vertrauen, dass Kinder auch das lernen wollen, was im Lehrplan steht ...
• Der Lehrer hat in einem kooperativ organisierten Unterricht vorwiegend helfende, koordinierende und beratende Funktion. Doch das wird nicht genügen. Er wird korrigieren müssen, und er wird dafür sorgen müssen, dass auch die Teile des Lehrplanes für die entsprechende Lerngruppe erfüllt werden. In jeder Form von Freiarbeit muss der Lehrer in einem hohen Maße für die Kinder präsent sein und vermitteln, dass er in jeder Sekunde für sie da ist und wie wichtig er jede Aktivität des Kindes nimmt. Von der Intensität des Annehmens der kindlichen Aktivität und der kindlichen Persönlichkeit hängt weitgehend das Funktionieren und der Erfolg jeglicher Freiarbeit ab. Seine Angebote, seine Wertschätzung und seine gefühlsmäßige Anteilnahme sind die Basis einer Pädagogik der Selbstbestimmung.
• Außerschulische Kontakte erhalten eine höhere Bedeutung als im herkömmlichen Unterricht. Es geht nicht darum, dass das Leben in die Schule hineingenommen wird, sondern dass die Kinder die Schule verlassen und wieder in das Leben hinausgehen. Möglichst viele Exkursionen und lebensechte Erfahrungen werden hier angestrebt.
Mit den folgenden Illustrationen folgen wir der Absicht, den Schöpfer eines pädagogischen Modells selbst zu Wort kommen zu lassen. Célestin Freinet hat es geschafft, seine Pädagogik fast gleichnishaft darzustellen und zu erklären. Die Auswahl der Textstellen soll Appetit auf weitere Lektüre der Texte Célestin Freinet anregen.
„Der Pädagoge hatte seine Methode aufs genaueste ausgearbeitet; er hatte – so sagte er – ganz wissenschaftlich die Treppe gebaut, die zu den verschiedenen Etagen des Wissens führt; mit vielen Versuchen hatte er die Höhe der Stufen ermittelt, um sie der normalen Leistungsfähigkeit kindlicher Beine anzupassen; da und dort hatte er einen Treppenabsatz zum Atemholen eingebaut, und an einem bequemen Geländer konnten die Anfänger sich festhalten.
Und wie er fluchte, dieser Pädagoge! Nicht etwa auf die Treppe, die ja offensichtlich mit Klugheit ersonnen und erbaut worden war, sondern auf die Kinder, die kein Gefühl für seine Fürsorge zu haben schienen.