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PISA hat bewiesen: Unsere Schulen bedürfen einer Reform. Um unsere Schulen im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig und erfolgreich werden zu lassen, braucht es innovative Entwicklungsstrategien. In einer erfolgreichen Schule müssen sich Schülerinnen und Schüler frei entfalten können, um gefestigte und verantwortungsbewusste Persönlichkeiten zu werden. Individuelle Begabungen müssen stärker gefördert werden. Dafür ist es notwendig, neue Erkenntnisse und Entwicklungen im Bereich der Pädagogik in die moderne Unterrichtsgestaltung mit einzubeziehen. "Freiheit für die Kinder - Freiheit für die Schule" gibt praktische Hinweise für einen zeitgemäßen Unterricht mit dem Ziel, eine konstruktive und richtungsweisende Schulentwicklung zu ermöglichen.
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Seitenzahl: 351
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Harald Eichelberger
Mit Beiträgen von Christian Laner,Michaela Luckmann undDaniela M. I. Pichler-Bogner
StudienVerlag
InnsbruckWienBozen
© 2008 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 InnsbruckE-Mail: [email protected]: www.studienverlag.atDie Erstauflage erschien unter dem Titel „Freiheit für die Schule“ bei Holzhausen, Wien 1997.
Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt HöretzederSatz: Studienverlag/Nina FuchsUmschlag: Studienverlag/Vanessa Sonnewend
Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-7065-5804-4
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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Vorwort
Orientierung – Kindgemäße Pädagogik
Freiheit zur Entwicklung in der frühen Kindheit (Daniela M. I. Pichler-Bogner)
Autonome Bewegungsentwicklung
Von den Anfängen und der Bedeutung des freien Spiels
Schwierigkeiten selbständig lösen lernen
Geeignete Materialien
Beziehungsvolle Pflegesituationen und emotionale Sättigung
Soziale Kompetenz entwickeln
Die Aufgabe und Rolle des Erwachsenen
Kinder begleiten
Die Freiheit ist eine Schwester der Bildung (Michaela Luckmann)
Die Entwicklung der Drei- bis Sechsjährigen aus der Sicht der Montessori-Pädagogik
Beziehung zwischen Erwachsenen und Kind als Ausdruck gegenseitiger Achtung und Grundlage einer stabilen Persönlichkeitsentwicklung
Bauplan des Kindes als Prozess spontaner Selbstverwirklichung entsprechend seiner sensiblen Perioden
Begreifen als Weg zum Verstehen durch den konstruierenden Geist über die Wahrnehmungen der Sinne
Bewegung als Lernprinzip über den motorischen Aufbau hinaus
Beobachtung des Kindes als Grundlage weiteren Handelns der Erwachsenen
Arbeit – Notieren, wann ein Kind beginnt, konstant bei einer Arbeit zu bleiben
Verhalten – Den Zustand der Ordnung oder der Unordnung in den Handlungen des Kindes notieren Seine ungeordneten Handlungen notieren
Gehorsam – Notieren, ob das Kind der Einladung folgt, wenn es gerufen wird
Bildung im Alter von drei bis sechs Jahren
Ordnung
Sprache
Mathematik
Kosmische Erziehung
Zusammenfassung
Die Bedeutung der kindlichen Entwicklung für die aktuelle Schulentwicklung
Zur Andersartigkeit einer reformpädagogisch orientierten Schule
Das Wesentliche an der Reformpädagogik
Maria Montessori – Der Zugang zum Selbstbildungsprozess
Die Polarisation der Aufmerksamkeit
Der absorbierende Geist
Freiheit – Kennzeichen menschlichen Geistes
Zur vorbereiteten Umgebung
Merkmale der Materialien
Zur Freiarbeit
Kosmische Erziehung
Zur Imagination
Die Sicht des Kindes
Zusammenfassung
Die Ausgangsform zur Neugestaltung der Schule – Der Jenaplan
Zielsetzung des Jenaplans
Die vier Prinzipien des Jenaplans
Gemeinsame Erziehung
Gemeinschaftserziehung
Schul- und Unterrichtsleben
Schulgemeinde
Die Eigenständigkeit der Konzeption der Jenaplan-Schule
Die Jenaplan-Schulen nach Peter Petersen
Entstehung
Bewegung
Grundbegriffe
Der Jenaplan
„Ausgangsform“
Erziehungsidee
Schule unter der Idee der Erziehung
Die Bildungsgrundformen
Wochenrhythmus und rhythmischer Wochenarbeitsplan
Die Gruppierungsformen
Charakteristik statt Zensur
Beispiele von Charakteristiken statt Zensur
2 Beispiele
Zusammenfassung
Beispiel einer Schulentwicklung nach dem Jenaplan
Schulerneuerung in Holland
Freiheit zum Lernen – Der Daltonplan
Charakteristik des Daltonplanes
Die Daltonprinzipien
Freiheit
Die Wahlfreiheit der Schüler
Wahlfreiheit der Lehrer
Verantwortung
Die Zusammenarbeit (Kooperation)
Selbsttätigkeit
Anthropologische Auffassung
Die Unterrichtsorganisation des Daltonplanes
Zur Bedeutung des Lernortes
Zur Bedeutung der Lernzeit
Die Strukturierung der Lernzeit
Die Lernpensen im Daltonplan
Über die Gestaltung von „Pensen“
Vorschlag für den formalen Aufbau einer Monatsaufgabe
Organisatorisches zu den Pensen
Leistungsfeststellung und Beurteilung
Zusammenfassung
Die Freinet-Pädagogik als Konzept der (politischen) Veränderung (Koautor Christian Laner)
Grundgedanken der Freinet-Pädagogik
Gedanken zur Unterrichtskonzeption
Illustrationen
Der Pädagoge
Lernversuche
Schule
Der Unterricht
Unterrichtselemente (und doch keine Prinzipien)
Klassenrat
Freies Gespräch am Morgen – Morgenkreis
Individuelles Lernen und Selbsttätigkeit
Freier Ausdruck – freier Text
Erstschreiben und -lesen
Zeitung und Korrespondenz
Klassentagebuch
Entdeckendes Lernen
„Ateliers“
Arbeitsmittel
Auswertung der Arbeitsergebnisse
Zusammenfassung (und Probleme)
Lernen an Beispielen
Didaktische Überlegungen
Was ist ein Exemplum?
Das sokratische Element im Exemplarischen Verfahren
Das genetische Element im Exemplarischen Verfahren
Vom „Systematischen“ zum „Exemplarischen“ Lehrgang
Die Auswahl eines Exemplum
Ein Exemplum für ein Exemplum
Ausgangspunkt
Bedingungen
Vermittlung des Stoffes
Zusammenfassung – Kriterien des „Exemplarischen Verfahrens“
Was wir von PISA lernen können
Digitale Medien und Reformpädagogik (Christian Laner)
Software
Neue Formen der Kommunikation
Reformpädagogik und digitale Medien
Die Kraft der Reformpädagogik zur Erneuerung des Bildungswesens
Schulentwicklung braucht eine Entwicklungsdidaktik
Reformpädagogik als Motor der Schulentwicklung
Freiheit für die Schule
Innovation
Wertorientierungen und pädagogische Grundsätze
Schulgestaltung
Bildung
Konzept
Neustrukturierung der Schulorganisation
Frühkindliche Bildung
Schuleintrittsphase
Grundschule oder Primarbereich (6 bis 7 Jahre)
Sekundarstufe I (3 bis 4 Jahre)
Sekundarstufe II (in Modulen bis zur Hochschulreife)
ad AHS und BHS
ad BOS
Leben und lernen in der Ganztagsschule
Schulautonomie
„Freie Schulen“
Gute Lehrerinnen und Lehrer – Gutes Schulsystem
Ausbildung
Die Lehrerbildung ist das Fundament jedes Bildungssystems!
Eine (Schul-) Führung
Demokratische Struktur
Eigenständigkeit eines pädagogischen Modells
Schulorganisation
Kooperation mit anderen Institutionen unter einem Dach
Eigenständigkeit des Beurteilungssystems
Internationalisierung
Lebendige Schulentwicklung und Evaluation
Schulentwicklung
Auch wir wünschen uns als nächstes Projekt für unsere Schule deren Gestaltung nach den Kriterien unserer Pädagogik
Reformpädagogik in Österreich – Die Vergangenheit möge uns einholen!
Die Geschichte der Wiener Montessori-Bewegung von 1921/22 bis 1938
Montessori-Schule in Wien X.
Das „Kind in der Familie“
Die Montessori-Erziehung
Ein Vereinsjahr der österreichischen Montessori-Gesellschaft
Wien I. – Rudolfsplatz
Zum vorläufigen Ende (einer viel versprechend pädagogischen Initiative)
Neubeginn
Conclusio
Anmerkungen
Literatur
Autorinnen und Autoren
Abbildungen
„Hundert Kinder, hundert menschliche Individuen – nicht erst morgen, sondern jetzt, hier und heute.“
Janusz Korczak
„Freiheit für die Kinder – Freiheit für die Schule“ ist eine Neubearbeitung des Buches „Freiheit für die Schule“. Ich habe für diese Neubearbeitung drei GastautorInnen eingeladen. Sie haben dem nun vorliegenden Buch eine neue Perspektive gegeben – die Perspektive der Kindgemäßheit und damit die pädagogische Ausrichtung des Buches wesentlich beeinflusst. Frau Daniela M. I. Pichler-Bogner diskutiert die Bedeutung der frühkindlichen Entwicklung unter dem Aspekt der Freiheit des Kindes zu seiner eigenen Entwicklung und der Rolle der Erzieherinnen und Erzieher. Frau Michaela Luckmann weist in ihrem Beitrag auf die Wichtigkeit des Vorschulalters für die Bildung des Menschen hin und konkretisiert ihre Ausführungen in ihrem tief gehenden Verständnis der Montessori-Pädagogik.
Herr Christian Laner hat seinen Beitrag zur Freinet-Pädagogik überarbeitet und stellt in einem weiteren Beitrag die Arbeit mit den neuen Medien in der Schule in einen reformpädagogisch-kritischen Kontext. Alle diese Aufsätze haben mich dazu bewogen, die Neubearbeitung des Buches auf die wesentliche pädagogische Botschaft der Reformpädagogik auszurichten: auf die Entwicklung des Menschen und auf die wesentliche Bedingung zur selbständigen Entwicklung und Bildung: auf die Freiheit.
Gerade deswegen enthält das Buch klare Positionierungen einer zukunftsrelevanten Unterrichts- und Schulentwicklung, werden Modelle diskutiert, die als Grundlage für diese Entwicklung dienen können, wird Bildung als Basis für die Zukunftsfähigkeit eines Staates dargestellt und auch gezeigt, dass wir aus den PISA-Studien sehr viel lernen können.
Es ist für einige Leserinnen und Leser sicher auch interessant, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Deshalb habe ich das Kapitel über die Unterrichts- und Schulentwicklung im Wien der Zwischenkriegszeit wohlüberlegt auch in die Neubearbeitung aufgenommen, als Beispiel des Möglichen und als Zeichen, dass es immer notwendig erscheint, aktuelle Unterrichts- und Schulentwicklungen auch mit ihren in der Vergangenheit liegenden Wurzeln zu sehen.
Von einer Intention bin ich aber auch in der Neubearbeitung des Buches nicht abgegangen: allen pädagogisch interessierten Menschen Anregungen zu bieten, Erziehung, Lernen und Schule neu zu denken, die Entwicklung des Kindes in den Mittelpunkt des Denkens über Erziehung und Unterricht zu stellen und zu zeigen, dass es möglich ist, kindgemäße Pädagogik zu verwirklichen, und dass es einfach an uns allen liegt, unseren eigenen individuellen Weg zu gehen, um unsere pädagogischen Vorstellungen umzusetzen.
Harald Eichelberger
„Es ist in unserem Schulwesen seit den Tagen des Humanismus schon viel reformiert worden, und der Eifer der Schulverbesserer hat sich genau auf dieselben Punkte beschränkt, die man heute noch als reformbedürftig findet: Die Stoffwahl, die Lehrart und die Gesamtorganisation unseres Bildungswesens. Aber alle diese Reformen haben die Unzufriedenheit und das Unbehagen nicht aus der Schule zu verbannen vermocht. Warum nicht? Weil diese Reformen immer nur den Sachen und den Einrichtungen galten, nicht aber den Menschen. Es gibt nur eine große Reform, die die Schule wirklich zu einer Stätte der Freude und des Behagens machen kann: Das ist die Reform des menschlichen Herzens. Solche Reform kann freilich nicht von oben herab beschlossen werden, die müssen wir in uns selber vollziehen.“
Hermann Weimer
Pädagogik als „kindgemäß“ zu bezeichnen, ist nicht der Versuch einer Neudefinition von Pädagogik, sondern die Betonung eines wesentlichen Aspekts von Pädagogik, basierend auf der Kindorientierung der Reformpädagogik. Davon ausgehend, dass wir alle in unseren Aussagen über Pädagogik von einem subjektiv-didaktischen Konzept, von einer individuellen Pädagogik geleitet werden – auch wenn diese Auffassung wissenschaftlich fundiert ist – zeigt das Attribut „kindgemäß“ die Orientierung, die Richtung in der Pädagogik, die in diesem Buch gedacht werden wird.
Die Idee einer kindgemäßen Pädagogik oder wie die Reformpädagoginnen und Reformpädagogen vor nunmehr fast 80 Jahren formuliert haben, einer „Pädagogik vom Kinde aus“ führt uns zu einem Verständnis von Pädagogik, in dessen Mittelpunkt die Selbstbestimmung des Menschen innerhalb einer Erziehungsgemeinschaft steht und zu einem radikal reformerischen Verständnis von Unterricht und Schule.
Ein Lehrer an einer reformpädagogischen Schule, Martin Wagenschein, illustriert in der Geschichte vom kleinen Claudio das Wesentliche einer „Pädagogik vom Kinde aus“. Martin Wagenschein gibt uns auch eine Antwort auf seiner Suche nach dem Wesen der Schule. Es ist sicher keine endgültige und exemplarische Antwort. Die Antwort, die er uns gibt, zeigt uns aber die Richtung, in der wir suchen können.
„Das eigentliche Wesen der Schule scheint mir aber in dem Bericht über den kleinen Claudio eingeschlossen zu sein“, schreibt Martin Wagenschein:
„Von sich aus aber will das Kind lernen, nichts als lernen! – Ich sah vor kurzem ein knapp zweijähriges Kind – es war ein kleiner Italiener, Claudio, blond mit dunklen Augen – [...]
Ein paar Tage später war er schon zur Physik übergegangen und stand bei der Gravitation. Er hatte die Schwerkraft entdeckt. Und zwar war er weiter darin als wir. Sie erstaunte ihn noch, während wir das erst wieder lernen müssen. Er stand, völlig in sein Tun versunken, auf einer mit Kies belegten Terrasse. Er hockte sich nieder, nahm in beide Hände soviel Kiesel, wie sie fassen konnten, stand dann langsam auf, die Hände vor sich, die Handflächen nach oben, den Blick darauf gerichtet. Dann der Blick auf uns: Jetzt kommt es! Und es kam: Er brauchte nur die Hände zu öffnen, und die Steine fielen wie selbst zur Erde, ganz von selbst. Er wurde nicht müde, es zu wiederholen; und jedes Mal das kaum merkliche Lächeln zu uns: das Zeichen des Geistes. Siehst du es: es geht immer. Er hatte die Regel entdeckt, das Naturgesetz.“1
In einer kindgemäßen Pädagogik können wir das Wesentliche des Lernens und der Bildung auch mit dem niederländischen Philosophen Peter Sloterdijk umschreiben: Lernen ist Vorfreude auf sich selbst!
Eine Schule, die sich einer solchen kindgemäßen Pädagogik verpflichtet fühlt, hat die Aufgabe
• Lernen als Freude an sich selbst zu erhalten und
• Lernen als eine meinem Leben Sinn gebende Tätigkeit zu verwirklichen.
Um diese Auffassung einer kindgemäßen Pädagogik realisieren zu können, müssen wir uns immer wieder die Frage eines großen Reformpädagogen, Peter Petersens, stellen: „Wie soll die Erziehungsgemeinschaft beschaffen sein, in der und durch die ein Mensch seine Individualität zur Persönlichkeit vollenden kann?“2
Die Erziehungsgemeinschaft, von den Kindern immer wieder selbst gestaltet, ist ein wichtiger Erzieher zur Bildung der Schlüsselkompetenzen, über die Kinder – auch nach den bildungspolitischen Vorstellungen der OECD – verfügen sollen. Nach den Ergebnissen der PISA3-Studie wird eindeutig der Erwerb folgender Basiskompetenzen als didaktische Orientierung der Schulpolitik empfohlen:
• Für sich selbst verantwortlich sein können;
• Initiativkraft entwickeln;
• Flexibilität und Problemlösungsverhalten;
• Teamfähigkeit;
• Leistungsmut.
Der Erwerb dieser Schlüsselqualifikationen ist – meiner Auffassung von kindgemäßer Pädagogik entsprechend – Voraussetzung und gleichzeitig Mittel zur Selbstbildung und zur gültigen Allgemeinbildung, deren Inhalte maßgeblich und selbstverantwortlich vom Lernenden selbst mitbestimmt werden. Diese Schlüsselkompetenzen sind die Grundlage, die Lernen – auch in der Schule – zu einem nachhaltigen Erleben und zu einer das Leben bestimmenden und für das Leben bedeutenden Fähigkeit werden lassen.
Soll Lernen eine das Leben begleitende Fähigkeit werden, so wird jede Schülerin/jeder Schüler Lernen als bedeutend für ihre/seine eigene Entwicklung erleben müssen. Schülerinnen und Schüler werden Lernen als eine Fähigkeit fühlen und empfinden müssen, die zum Aufbau und zur Integration ihrer eigenen Persönlichkeit entscheidend beigetragen hat und noch immer beiträgt. In diesem Sinne muss jede/r Lernende Lernen selbst als eine Fähigkeit integriert haben, die von jedem Individuum einerseits in selbständiger und selbsttätiger Arbeit angeeignet wurde und andererseits ein positives Bewusstsein erleben lässt, dass Eigeninitiative und Flexibilität die Lebenssituation des Individuums in einer bestimmten Lebensgemeinschaft verbessern kann.
Lebensbegleitendes Lernen ist somit auch eine Fähigkeit bewusst positiver Lebensführung und Lebenseinstellung und kann auch nur in einer Lernsituation erworben werden, in der initiatives Handeln, selbständiges und selbsttätiges Arbeiten und entdeckendes und forschendes Lernen im Vordergrund der didaktisch-methodischen Orientierung der Institution Schule stehen. Ich wage die These und bin zur Diskussion bereit: Lebensbegleitendes Lernen wird der Lernende wahrscheinlich nur dann als die beschriebene Fähigkeit internalisieren können, wenn er über sein Lernen und damit auch über die Form und die Inhalte seines Lernens selbst bestimmen kann und sein Lernen immer ein vorwiegend selbst bestimmter Lebensprozess ist.
Dementsprechend muss der pädagogische Fortschritt im schulischen Lernen in der konsequenten didaktischen und methodischen Reform der Schulen bestehen, dass der Erwerb der genannten Basiskompetenzen Grundlage der Bildung des ein Leben lang lernbereiten Menschen ist und dass der gebildete Mensch der zum Selbstwirksamkeitskonzept fähige Mensch ist. Dieses Selbstwirksamkeitskonzept ist verbunden mit der Fähigkeit des Menschen sich in die Welt hineinzuwagen, mit Neugierverhalten, mit Forschen und mit Entdecken-können.
Was Kinder brauchen ist die Entwicklung des Neugierverhaltens. Kinder brauchen Herausforderung und damit Wachstumsimpulse, indem sie Probleme als solche erkennen und nach Problemlösungen suchen können; das schließt auch den Umgang mit dem Scheitern mit ein.
Diese eben skizzierte pädagogische Orientierung betrifft auch die Lehrerinnen und Lehrer mehr, als es im ersten Augenblick den Anschein hat. Die für den skizzierten Bildungsanspruch notwendige Verbundenheit der Lehrerin/des Lehrers mit den SchülerInnen, ist verpflichtet
• dem Schutz, der Entfaltung und der Entwicklung des Lebens,
• einem gegenseitigen und immer reversiblen Vertrauensprinzip und
• einem Bündnis: die Lehrerin/der Lehrer ist immer auf die Mitwirkung der Schülerinnen und Schüler angewiesen und umgekehrt.
• Die Lehrerin/der Lehrer darf grundsätzlich nur dem Nutzen des Kindes dienen. Das Ausgeliefertsein des Kindes darf niemals ausgenützt werden.
• Die Lehrerin/der Lehrer ist der Selbstbegrenzung von Macht verpflichtet.
Ich betone in diesem Zusammenhang ein notwendiges neues Selbstbewusstsein der Profession der Lehrerin/des Lehrers: Bedeutend für das Selbstbewusstsein der Lehrerinnen und Lehrer ist die Betonung des Eigensinns und der Eigenlogik von Bildung! LehrerIn-Sein ist nicht bloß eine Dienstleistung; diese besteht nur auf der Basis eines Vertrages; die Verpflichtung der Lehrerin/des Lehrers basiert hingegen auf ethischen Prinzipien: Jede Erziehung muss grundsätzlich darauf angelegt sein, dass der/die Erzieher/in nicht über den zu Erziehenden verfügt. Und Erfahrung der Schülerinnen und Schüler muss sein: Jede Erziehung muss grundsätzlich darauf angelegt sein, dass die Persönlichkeit und die Initiativkraft der Schülerinnen und Schüler gestärkt werden.4
Doch wie sind Schulen gestaltet, in denen die Kinder diese Kompetenzen erwerben können, in denen sie sich entfalten und entwickeln können? Ich versuche zu Beginn der Erörterungen zu beschreiben, was Schule sein soll.
Schule soll sein:
… „a place to grow up in!“ (Hartmut v. Hentig)
… ein Ort, an dem und in dem die Persönlichkeit der Kinder und ihr Lebensgefühl gestärkt werden!
… ein Ort, an dem und in dem das Eigene und Besondere jedes Kindes gedeihen kann!
… ein Ort, an dem das Selbstbewusstsein des Menschen wachsen kann und zur Basis der gesellschaftlich relevanten Produktivkraft werden kann!
… ein Ort, an dem die Wertschätzung und der Respekt den Umgang mit den Menschen bestimmen und an dem die Menschen Abschied von der Misstrauenskultur genommen haben!
… ein Ort, an dem Lernen als Vorfreude auf sich selbst erlebt werden kann!
… ein Ort kreativer Handlungsräume, in denen Bildungserlebnisse stattfinden!
… ein Ort, an dem Kinder lernen, beziehungsfähig zu werden!
… ein spannender Ort, der die Kinder neugierig auf sich selbst und auf die Welt macht und der die Anstrengungsbereitschaft der Kinder herausfordert!
… eine überschaubare Welt des Kindes, die Chancen und Schwierigkeiten der realen Welt in überschaubaren Dosen darbietet!
… eine Welt, in der Lernen und Leben als gegenseitige Anregung und Herausforderung stattfinden!
… eine Welt, in der Kinder individuell lernen, in der Kinder von Unterschieden lernen und in der sie gemeinsam lernen!
… eine Schule, in die Kinder, Lehrerinnen und Lehrer gerne hingehen,
… in der Lehrerinnen und Lehrer und Kinder zueinander finden und in einem positiv emotionalen Verhältnis miteinander lernen und leben,
… in der Lehrerinnen und Lehrer an das Potenzial jedes ihnen anvertrauten Kindes glauben,
… in der das Erkennen der Besonderheit jedes Kindes den Zugang zum Kind bestimmt und
… ein Ort, an dem die unheilige Allianz zwischen Herkunft und Bildung aufgehoben wird!
Doch es gibt ein Leben vor der Schule, und … wie die Schweden und Finnen sagen: Auf den Anfang kommt es an! Auf einen Anfang, den Daniela Pichler-Bogner im folgenden Kapitel diskutiert.
Daniela M. I. Pichler-Bogner
„Es ist die Qualität des Zusammenspiels zwischen den Erwachsenen, die einen bestimmten Ton setzt und über die Atmosphäre (…) entscheidet.“1
Jesper Juul
Die Bedeutung geeigneter Bedingungen für die Entwicklung von Säuglingen und kleinen Kindern bis zum Alter von drei Jahren wird uns seit vielen Jahren von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen nachweislich belegt. Die Auswirkungen der frühkindlichen Erfahrungen für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung und nachhaltige Zufriedenheit auf psychischer, physischer, sozialer wie infolgedessen auch ökonomischer Ebene sind offensichtlich. Voraussetzend darf angenommen werden, dass alle Kinder mit einem Entwicklungspotential auf die Welt kommen, aus dem sie schöpfen, das sie unter geeigneten Bedingungen und in ihrem Zeitmass Wachstums fördernd zur Entfaltung bringen können.
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