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Reinhard Kaiser-Mühlecker schreibt die Geschichte zweier Brüder und ihrer Heimat in Oberösterreich – ein mit biblischer Wucht erzählter Roman um Missverständnisse, Tötungen, Familientragödien und Befreiungsversuche. Alexander kehrt von seinem Auslandseinsatz als Soldat internationaler Truppen in die Heimat zurück. Seine Unruhe treibt ihn bald wieder fort. Sein jüngerer Bruder Jakob führt unterdessen den elterlichen Hof. Als sich sein Freund aufhängt, wird Jakob die Schuldgefühle nicht mehr los. Der Vater fabuliert von phantastischen Geschäftsideen, während er heimlich Stück für Stück des Ackerlandes verkaufen muss. Mit großer poetischer Ruhe und Kraft erzählt Reinhard Kaiser-Mühlecker von den Menschen, die durch Verwandtschaft, Gerede, Mord und religiöse Sehnsüchte aneinander gebunden sind. Es ist die Geschichte zweier Brüder, die dieser Welt zu entkommen versuchen – eine zeitlose und berührende Geschichte von zwei Menschen, die nach Rettung suchen.
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Seitenzahl: 315
Reinhard Kaiser-Mühlecker
Fremde Seele, dunkler Wald
Roman
FISCHER E-Books
Du weißt ja, eine fremde Seele ist wie ein dunkler Wald.
Iwan Turgenjew
»Diese verdammten Russen«, sagte Alexander Fischer nach langem Schweigen und schob sein leeres Glas über die Theke, an der er seit dem späten Vormittag stand. »Welche Schwierigkeiten haben wir mit denen schon gehabt! Und welche werden wir erst noch haben …«
Es war zwei Uhr; außer ihnen war niemand im Gasthaus, nur hinten am Stammtisch, in dem Halbdunkel kaum zu erkennen, saß die hochaufgeschossene Gestalt des Postboten, der Zeitung lesend zu Mittag aß; obwohl er bereits vor einer ganzen Weile gekommen war, waren seine Schuhabdrücke auf den Bodendielen noch nicht aufgetrocknet. Unter der Tür wurde ein Blatt hereingeweht – Birke.
»Meinst du? Hört man doch schon lange nichts mehr von dort«, sagte der Wirt, ohne Alexander anzusehen. Er stand hinter der Theke und las ebenfalls in einer Zeitung. Seine gebräunte, pigmentfleckige Glatze glänzte, leuchtete wie aus sich selbst heraus. Er schlug die Zeitung zu und nahm Alexanders Glas. Sorgfältig spülte er es aus, hielt es unter den Zapfhahn und füllte es und schob es wieder hinüber.
»Ich lese gerade ein Buch«, sagte Alexander und umfasste das Glas. »In den vergangenen Jahrzehnten sind immer wieder russische U-Boote in schwedischen Gewässern aufgetaucht. Sogar in den letzten Jahren noch. Aber das ist nur ein Beispiel dafür, wie sie sind. Provokateure. Sie provozieren in einem fort.«
»Die Russen meinst du?«
»Ja doch. Wen denn sonst?«
»Von dieser U-Boot-Geschichte habe ich noch nie gehört.«
»Das hat schon in den Sechzigern begonnen«, sagte Alexander, ließ das Glas los und richtete sich den spiegelbesetzten Kragen seiner Uniform. »Ich muss meine Schwester einmal dazu fragen, vielleicht weiß sie mehr. Sie lebt ja seit ein paar Jahren dort oben, mit einem Amerikaner.«
»In Schweden?«, fragte der Wirt. »Hast du nicht gesagt, sie ist in Wien?«
»Nein, nein.« Alexander griff wieder nach dem Glas. »Schon lang nicht mehr.« Er betrachtete das Glas, als überlege er etwas. Dann wandte er sich zur Seite. »Telefonierst du eigentlich manchmal mit ihr?«
Jakob gab keine Antwort. Er saß auf dem Hocker und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Obwohl sie fast fünfzehn Jahre auseinander waren, stach die Ähnlichkeit zwischen ihnen sofort ins Auge. Beide hatten sie dunkle Haare, graublaue Augen und ein kantiges, verschlossenes Gesicht. Beide waren sie schlank, nur war Alexander ein gutes Stück größer als Jakob, aber es war noch nicht zu sagen, ob der Jüngere noch wuchs. Wären Jakobs Augen nicht geöffnet gewesen, hätte man denken können, er schlafe. Der Flaum auf seiner Oberlippe sah aus wie Schmutz, den er sich abzuwaschen vergessen oder übersehen hatte. Alexander stieß ihn an.
»He«, sagte er, »ich habe dich etwas gefragt.«
»Nein«, sagte Jakob und nahm die Hände nach unten. »Sie ruft fast nie an. Irgendwann im Sommer das letzte Mal, glaube ich.«
»Ich höre auch kaum etwas. Seltsam eigentlich, dass sie sich gestern gemeldet hat.«
Alexander nahm einen Schluck aus seinem Glas, stellte es wieder ab und wischte sich über die Lippen.
»Gib ihm auch noch eines«, sagte er, sich an den Wirt richtend.
»Er hat doch noch.«
Der Wirt blickte Jakob fragend ab, aber Jakob zeigte keine Regung.
»Das ist warm. Gib ihm noch eines.«
Der Wirt zuckte mit den Schultern, zapfte ein kleines Bier, stellte es Jakob hin und nahm das noch halbvolle Glas weg.
»Du musst es nicht trinken«, sagte er, doch Jakob hatte bereits danach gegriffen.
»Du hast recht, man hört vielleicht nichts, aber der russische Bär schläft bloß. Da bin ich ganz sicher. Irgendwann wird er wieder erwachen. Dann wird es etwas geben, du wirst schon sehen. Sie selbst, die Russen selbst sprechen von diesem Bild, weißt du? Ein Bär, so sehen sie sich …«
»Wünsch dir keinen Krieg«, sagte der Wirt. »Das ist das Schlimmste. Meine Mutter hat alle ihre Brüder im Krieg verloren. Und auch wenn ich Gott sei Dank keinen erlebt habe, erinnere ich mich noch gut an die Bilder aus Jugoslawien.«
»Ich wünsche mir keinen. Natürlich nicht. Niemand will das. Niemand will Krieg. Aber du weißt, wie es ist. Was sein muss, muss eben sein.«
Der Wirt seufzte. »Na, es wird schon nicht so weit kommen«, sagte er. Er nahm das Geschirrtuch und faltete es und legte es vor sich hin. »Und da unten? Was tut sich dort?«
»Da unten? Da ist es ruhig. Nur hin und wieder ein paar Schmuggler. Ein paar Waffen, oder Haschisch, so Sachen.« Er lachte auf. »Aber vor kurzem haben wir einen geschnappt, der Tropenholz schmuggelt. Er hatte in seinem Lastwagen Esel geladen, die in großen Holzkisten standen. Wir kannten ihn, er kam alle paar Wochen einmal vorbei. Wir machten sogar Witze über den Eselhändler. Ein komischer Beruf, oder nicht? Ein Kamerad, ein gelernter Tischler, der erst ein paar Tage vor Ort war, hat es sofort gesehen. Er war gar kein Eselhändler. Die Esel waren nur Ablenkung. Jotoba, so heißt die Holzart, oder Jatoba. Ein dunkles, rötliches Holz, sehr teuer. Es geht um die Kisten.«
»Hm«, machte der Wirt. »Was geschieht mit so einem?«
»Wir übergeben ihn der örtlichen Polizei. Was die mit ihm machen, weiß ich nicht, vielleicht lassen sie ihn auch gleich wieder laufen, wenn er sie ein wenig schmiert. Vielleicht nennen sie ihm sogar eine andere Route. Aber darum kümmern wir uns nicht.«
»Hm«, machte der Wirt wieder. »Solange es ruhig ist, ist es gut.« Es klang, als spreche er zu sich selbst.
»Ich mag es, wenn es ruhig ist, aber allmählich wird es mir zu ruhig«, sagte Alexander. »Ich habe einen Antrag auf Versetzung gestellt. Wird wahrscheinlich abgelehnt. Der erste geht nie durch. Man muss mehrmals beantragen.«
»Wohin willst du dich denn versetzen lassen?«
»In den Norden, an die Grenze zu Serbien.«
»Du musst lebensmüde sein.«
»Warum?« Alexander streckte sich. »In zwei Wochen, höchstens drei, fahre ich wieder. Sobald mein Rücken wieder in Ordnung ist.«
»Wie ist es eigentlich passiert?«, fragte der Wirt.
»Mein Pferd hat gescheut«, sagte Alexander.
»Dein Pferd? Wird noch geritten? Die Uhren scheinen da noch anders zu gehen.«
»Das tun sie wirklich«, sagte Alexander, und da war etwas in seiner Stimme, das wie Wehmut klang. Er verschwieg, dass der Unfall nicht im Dienst passiert war. Er war der Einzige in der Truppe, der mit einer Sondererlaubnis alle paar Tage das Camp verließ, um reiten zu gehen. Die anderen blieben lieber im Camp und nutzten die Kletterwand oder trainierten im Studio, um in Form zu bleiben und sich die Zeit zu vertreiben. »Das tun sie wirklich. Jedenfalls muss ich deshalb dieses elende Korsett tragen und darf nicht sitzen.«
»Verstehe.«
An dem hinteren Tisch klirrte Geschirr. Der Postbote war aufgestanden, hatte seine dicke Jacke, die das gleiche dunkle Blau hatte wie seine restliche Dienstkleidung, angezogen und suchte etwas in seinen Taschen. Er bückte sich und schaute unter den Tisch, bevor er sich wieder aufrichtete und die Zeitung an die Theke zurückbrachte, sich verabschiedete und ging, ein Bein etwas höher als das andere hebend. Sobald er weg war, machte der Wirt einen Strich in ein Büchlein, nahm das Geschirrtuch und ging nach hinten. Auch er – eine Hand auf die Tischplatte legend – warf einen Blick unter den Tisch, um das vermeintlich Verlorene vielleicht zu entdecken, aber auch er fand nichts; er räumte den Tisch ab und wischte mit dem Tuch darüber. Alexander sah ihm dabei zu.
»Wir sollten auch gehen«, sagte er. »Aber was soll man bei dem Wetter zu Hause tun? Wir können genauso gut hierbleiben. Oder was meinst du?«
»Weiß nicht«, sagte Jakob. »Von mir aus können wir fahren.«
Zum ersten Mal, seit sie hier waren, sah Alexander seinen Bruder genauer an, und er bemerkte den gelangweilten Ausdruck auf dem Gesicht dessen, der ihn immer so bewundert hatte, der nie genug von seinen Geschichten hatte bekommen können: Stundenlang hatte Jakob sich Fotos und Videos von irgendwelchen Übungen und Manövern auf Alexanders Handy angesehen. Plötzlich wurde Alexander klar, dass Jakob schon die ganze Zeit so dasaß und nicht das geringste Interesse an seinem Reden zeigte. Obwohl er sich sagte, dass es nichts mit ihm zu tun haben musste, sondern dass sein Bruder – wie alt war er? fünfzehn? oder doch erst vierzehn? – im Moment vielleicht einfach andere Sorgen hatte, wurde er verdrossen und sogar ein wenig ärgerlich. Er war aus seiner guten Stimmung gerissen.
»Gut«, sagte er trocken. »Gut.«
Er nahm sein Glas und trank es in einem Zug aus. Jakob, kurz zögernd, tat es ihm gleich.
»Wir gehen«, sagte Alexander zum Wirt, der dabei war, das Geschirr in die Küche zu tragen. »Schreibst du es zu dem anderen?«
»Schon in Ordnung, Alexander«, sagte der Wirt und drückte die Schwingtür zur Küche auf. »Wir erledigen das, bevor du wieder abhaust.«
Jakob rutschte vom Hocker und näherte sich mit raschen Schritten dem Ausgang. Alexander nahm die Zigaretten von der Theke und folgte ihm. Ein zweites Birkenblatt war hereingeweht worden; es war genau gleich groß, und sogar die Färbung war gleich. Alexander blieb stehen, ging, für einen Augenblick wie ein Seiltänzer aussehend, mit aufgerichtetem Oberkörper in die Knie und hob eines der beiden Blätter auf. Das dreieckige, am Saum gesägte Blatt betrachtend, richtete er sich wieder auf. Jakob hatte die Tür geöffnet und wartete. Obwohl Alexander nur wenig von Jakobs Gesicht sehen konnte, sah er doch, wie ungeduldig sein Bruder jetzt war. Wie der Vater, dachte Alexander. Genau wie er. Der Gedanke erheiterte ihn und ließ seinen Ärger verfliegen. Er drehte sich noch einmal um und deutete grinsend einen militärischen Gruß an. Der Wirt, wieder über die Zeitung gebeugt, hob nur das Kinn, als sage er: Ah ja.
Es war spät im Herbst, und aus allen Dingen schimmerte bereits der Winter hervor. Nur fahlgelber, krachtrockener Mais stand noch auf den Feldern; die restlichen Äcker waren öd und leer, wie erschöpft und endgültig ausgelaugt, und auf keinem war irgendjemand zu sehen. Sämtliche Höfe, an denen sie vorbeikamen, wenn viele davon auch herausgeputzt waren, wirkten verwaist. Einzig der Geruch nach Schweinedung, der sich, kaum einmal schwächer werdend, von einem Hof zum anderen zog, bewies, dass sie es nicht waren. Ohne ein Wort zu wechseln, fuhren sie die fünf Kilometer. Kaum war der Wagen zum Stillstand gekommen, stieg Jakob aus und verschwand in einem der Wirtschaftsgebäude des Hofes. Immer noch regnete es. Der Himmel hing tief und grau über dem weiten, von einer über dreißig Meter hohen Autobahnbrücke überspannten Tal. Alexander stellte den Motor ab, zog die Handbremse an und schüttelte den Kopf. Er musste daran denken, wie sein Leben gewesen war, als er in Jakobs Alter war. Wie lange lag das alles zurück, und wie wenig war es noch wahr. Er war damals Zögling im Stiftsgymnasium von K. gewesen. Und schon als Kind waren ihm alle mit einer Art Vorschuss auf die Achtung, die ihm später als Priester entgegengebracht werden würde, begegnet. Wie bloß konnte es sein, dass zwei Leben, die am selben Punkt ihren Ausgang genommen hatten, schon so früh begannen, unterschiedlich zu verlaufen? Das vermochte ihn immer wieder zu erstaunen. Er legte das Birkenblatt in die Mittelkonsole und schob die Abdeckung darüber. Er stieg aus, versperrte den Mietwagen und ging zwischen den Pfützen hindurch zum Haus. Über die Hintertreppe gelangte er zu seinem Zimmer. Kurz bevor er eintrat, lauschte er. Von unten her, aus der Küche, hörte er Stimmen; es waren wohl die Großeltern; sie, schon schwerhörig, redeten laut. Er betrat das Zimmer. Er musste Licht machen; es war hier noch deutlich dämmeriger als im Dorf. Er schloss die Tür, zog sich um und hängte die Uniform auf den Bügel. In Jeans und Pullover trat er ans offene Fenster, vor dem eine Linde stand; ihre Äste reichten bis an die Traufe und rieben an ihr. Durch die Baumkrone hindurch wehte kühle Luft herein. Ihr Säuseln und das Schlagen der Regentropfen löschten die Geräusche der Autobahn aus. Nur hin und wieder hörte man ein tiefes metallisches Dröhnen, als schreite irgendwo, weit entfernt – oder in einem Traum – ein Ungeheuer, ein Riese über lose aufliegende Eisenplatten. Immer noch war der süßliche Geruch von verrottendem Spargel zu riechen, den ein aus irgendeinem Ostland kommender Transporter geladen hatte, als er vor einem Jahr von der Brücke gestürzt war.
Seit Jahren war er nicht mehr länger hier gewesen, nur zu Weihnachten kam er regelmäßig für zwei oder drei Tage her, und dass er jetzt hier war, kam ihm fast wie ein Zufall vor. Der Militärarzt hatte einen Heimaturlaub vorgeschlagen – und Alexander hatte nicht sagen wollen, dass er keinen besonderen Wert darauf legte, seine Familie zu sehen; er wollte nicht als einer von denen gelten, die nur im fremden Land waren, weil sie es im eigenen nicht aushielten oder vor irgendetwas davongelaufen waren. Also hatte er sich für den Vorschlag bedankt und bei sich gedacht: Was soll’s? Gehe ich eben dort ins Wirtshaus …
Er blieb eine Weile stehen, schloss das Fenster wieder, setzte sich an den Schreibtisch und knipste das grün umschirmte Lämpchen an. Er seufzte auf. Es tat gut, zu sitzen. Er rieb sich die Arme; es war kalt in dem Raum. Er schenkte sich ein Glas Schnaps ein und warf einen Blick auf den Wecker auf dem Nachtkästchen. Drei Stunden am Tag hatte der Arzt ihm erlaubt. Am Vormittag war er eine Stunde gesessen, die kurze Autofahrt konnte man wohl vernachlässigen – zwei Stunden blieben ihm noch. Er nahm ein Buch von dem Stapel vor sich, schlug es an der Stelle auf, an der das Lesezeichen eingelegt war, und begann zu lesen. Wie er sich als Jugendlicher in die Bibel, die Texte christlicher Denker und römischer Schriftsteller vertieft hatte, vertiefte er sich nun in Bücher über Heerführung.
Jakob zog sich seinen Overall über und räumte die Werkstatt auf, kehrte den Boden und machte sich daran, die Fächer mit den Schrauben und Muttern zu sortieren – wie er es manchmal tat, wenn er nicht wusste, wie er sich sonst die Zeit vertreiben sollte. Dabei horchte er immer wieder, ob es noch regnete. Kaum hörte der Regen auf, ließ er das Sortieren und ging Richtung Weide, die jenseits der Brücke lag und auf der die Kühe standen. Seit letzter Woche waren es nur noch vierzehn Stück. Eine junge, gute Kuh hatte zu lahmen begonnen, zuerst lediglich ein wenig, aber kurz darauf war sie nicht mehr aus dem Stall zu bringen gewesen und hatte das Futter nicht mehr angerührt. Jakob hatte den Tierarzt geholt, er hatte ihr etwas gespritzt, doch es war vergebens; am Ende war nichts anderes übrig geblieben, als sie zum Schlachter zu bringen. Immer noch lag der gleiche Ausdruck auf seinem Gesicht, den Alexander für einen gelangweilten gehalten hatte, der jedoch mit Langeweile nichts zu tun hatte. Es war etwas anderes, das über ihn gekommen war, nur wusste Jakob selbst nicht, was es war; er wusste nicht einmal, seit wann es da war. Seit ihm der Bart spross, oder schon länger? Hätte er es beschreiben müssen, hätte er gesagt, es sei etwas wie eine Müdigkeit, die immer wieder über ihn hereinbrach und ihm jede Bewegung erschwerte und die so groß war, dass sie ihm manchmal die Tränen in die Augen trieb. Als wäre irgendwann eine Tür zugefallen, war es ihm, denn tief in sich hörte er bisweilen ein Geräusch wie einen Nachhall, sah aber nicht mehr, wo sich diese Tür befunden hatte; und es kam ihm vor, als streiche er immer nur – suchend, suchend – entlang an einer glatten, fugenlosen Mauer.
Aufgrund irgendeines Fehlers war er viel zu früh eingeschult worden und sollte, weil er dazu nicht reif genug war – das meinte zumindest der Direktor der Volksschule, auf den die Eltern, beide seltsam erleichtert, hörten –, nicht wie seine Geschwister das Gymnasium besuchen, sondern wurde in die Hauptschule im Ort geschickt, die er im Alter von dreizehn Jahren abschloss, wenige Monate bevor sich der Unfall mit dem Lastwagen ereignete. Gleich nach Schulabschluss hatte er es hier und da versucht, aber aufgrund seines jungen Alters wollte niemand ihn als Lehrling nehmen; man riet ihm wiederzukommen, wenn er fünfzehn wäre. Er überlegte, eine weiterführende Schule zu besuchen, wie mancher Lehrer es dem guten Schüler geraten hatte, doch er entschied sich dagegen und beschloss, die fehlende Zeit zu Hause zu bleiben und dem Vater zur Hand zu gehen.
Dem war das nur recht. Mehr und mehr überließ er seinem Jüngsten, der handwerklich der Geschickteste von allen war, geschickter sogar als der Vater selbst, die Arbeit und ließ sich bald kaum noch blicken. Er war ständig unterwegs, und wenn er bisweilen auftauchte, sagte er, er »schaue einmal nach«. Meistens beachtete er jedoch gar nicht, womit Jakob beschäftigt war, sondern redete, auf und ab gehend, rastlos wie eine Elster, immer nur von irgendwelchen Ideen, mit denen man »ein Vermögen« verdienen könne. Das war an sich nichts Neues, auch früher hatte es das gegeben; nur war solches Reden da bloß selten vorgekommen, während es jetzt nichts anderes mehr zu geben schien. Wo er die ganze Zeit über war, ob sein Wegsein etwas mit diesen Ideen zu tun hatte, wusste Jakob nicht – und es kümmerte ihn auch nicht. Er brauchte den Vater nicht, denn er kannte den Betrieb in- und auswendig und war von klein auf mit allen Arbeiten, mit jedem Handgriff vertraut. Er war sogar froh, wenn er niemanden um sich wusste. Brauchte er doch einmal tatkräftige Hilfe oder einen Rat, wandte er sich an den Großvater.
Obwohl diese Zeit nun bald vorbei war und er sich allmählich nach einer Stelle umschauen sollte, tat er nichts dergleichen. Es kam ihm zwar manchmal in den Sinn, aber – und er selbst fand das bisweilen merkwürdig – er konnte sich nicht dazu aufraffen.
Er öffnete das Gatter und zog es weit auf. Die Tiere grasten am Rand des erlenbestandenen Sumpfes, welcher die Weide an der Nordseite begrenzte und sich einige Hundert Meter bis an den schmalen, gewundenen, da und dort mit Konglomeratbrocken und Bauschutt befestigten Bach hinzog. Jakob konnte sie kaum ausmachen in dem Licht, das trotz der noch nicht späten Stunde bereits ein richtiges Dämmerlicht war; er spürte nur, dass sie hersahen. Er schlenderte zum Wasserwagen, klopfte dagegen, um zu überprüfen, wie viel Wasser er noch enthielt, sah nach, ob die Tränke funktionierte, und setzte sich auf den neben dem Wagen stehenden farbbesprenkelten Holzbock. Nach und nach erkannte er die Tiere, welche die Schädel wieder gesenkt hatten und fraßen. Er blieb lange so sitzen und sah ihnen zu. Er mochte diese Stunde des Tages; er mochte es, den Kühen zuzusehen. Etwas ging zu Ende und war doch noch nicht zu Ende; und er konnte diesen Zustand, diese Phase immer noch ein wenig verlängern, fast wie manchmal am Morgen, wenn er zu früh aufwachte, das Aufstehen … Hin und wieder dröhnte es von der Autobahn her, ansonsten war es sehr ruhig; ja, die Stille war sogar fast unheimlich, als wäre das Unwetter vom Vorabend nicht einfach bloß ein Unwetter, sondern eine Züchtigung gewesen, die über sie hereingebrochen war. Am westlichen Ende der Weide, wo das Gelände sanft anstieg, begannen sich Inseln aus Nebel zu bilden, die sich, keine Handbreit über den Halmen, auf irgendeine unnachvollziehbare Art und Weise bewegten, zerflossen und sich zugleich ständig neu formten – Menschen ähnlich, die ziellos umhergingen, verschwanden, wiederkamen oder wegblieben.
»Hia«, rief Jakob, »hia-hia!«, und schon dieser kurze Ruf klang wie ein Gesang. Er stemmte sich hoch, warf die Beine nach vorn und schwang sich vom Holzbock. Er sah zu den Kühen hin und schlenderte Richtung Gatter. »Hia-hia-hiiiaa!«, rief er, ohne sich umzudrehen, noch einmal. Die Kühe blickten auf, wandten die Schädel und setzten sich, eine nach der andern, schließlich in Bewegung.
Jakob ging gemächlich zurück und wartete im Stall auf die Tiere. Obwohl die Türen den ganzen Tag über offen standen, war es immer noch warm in dem Gebäude. Die Fliegen summten schon anders. Jakob hörte, wie die Kühe kamen. Ihre Hufe gruben sich knirschend in den planierten Schotter, der sich zwischen den Gebäuden ausbreitete. Langsam und mit den Schweifen nach den Fliegen schlagend, trotteten sie auf ihre Plätze. Jakob, wortlos auf sie einredend, hängte eine nach der anderen an die Kette. Immer noch sah der verwaiste Platz nur für den Moment verwaist aus, als könnte die junge Kuh – Nachzüglerin – gleich noch hereintraben und ihn einnehmen. Jakob hoffte für Augenblicke immer noch; aber mit jedem Tag gelang es ihm weniger, sich etwas vorzumachen; sie würde nicht mehr kommen. Es tat ihm weh, dass es so war. Er seufzte und nahm sich vor, den Mist, der noch an ihrem Platz lag, am nächsten Tag endlich hinauszubringen. Nachdem er alle Tiere angehängt hatte, holte er das Fett, saubere Tücher und den Eimer, schnallte sich den Schemel um, stellte den Eimer unter die erste Kuh, säuberte das Euter und fing mit dem Melken an. Auch im Stall herrschte eine sonderbare Ruhe, die anders als sonst war. Man hörte nur das Schnauben aus den feuchten, heißen Schnauzen und das Klirren der feingliedrigen, rostüberzogenen Ketten und wie, Strahl für Strahl, die Milch hart in den Eimer schoss. Sobald der Kübel voll war, brachte Jakob ihn in die Melchkammer und leerte die Milch in den Kühltank, der auf einem Fahrgestell stand und alle zwei Tage an die Straße gebracht werden musste, an welcher der Milchwagen vorbeikam und den Inhalt abpumpte. Nachdem alle gemolken waren, machte er die restliche Arbeit; er fütterte die paar Schweine und streute nach, befüllte im Schafstall die Raufen mit Heu und ging zuletzt zu den Hasen und schüttete Getreide in die Betonschüsseln. Bei ihnen blieb er ein wenig stehen und sah ihnen zu. Geduckt und zitternd saßen sie mit angelegten Löffeln in den engen Käfigen. Sie taten ihm leid. Warum hatte der Vater sie hergebracht? Und warum gleich so viele, vierzig Käfige? Jakob machte ein paar Schritte in die Wiese, pflückte eine Handvoll Spitzwegerich- und Löwenzahnblätter und gab sie einem der Hasen, der es ihm – warum? – besonders angetan hatte, ein fast vollkommen weißer. Blatt für Blatt beschnupperte der Hase, rupfte daran und fraß schließlich hastig. Jakob wischte sich die Hände an der Hose ab, lauschte und ging noch einmal in den Stall zurück. Die frisch zusammengesperrten Ferkel hatten zu raufen aufgehört, sobald sie Futter hatten, aber sie rauften schon wieder. Zerkratzte Rücken und Ohren; einem war das Ohr sogar eingerissen und blutete. Jakob holte einen leeren Sack Kraftfutter, riss ihn auseinander und warf ihn in den Stall, und sofort, einander vergessend, stürzten sich die Ferkel darauf und begannen, ihn zu zerfetzen. Das würde sie beruhigen und ihnen die Rauflust nehmen, hoffte er. Und wenn nicht, würde er ihnen später ein wenig Most in den Trog schütten müssen …
Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach fünf. Um sechs gab es Jause. Er zog die Arbeitsstiefel aus und schlüpfte in die Gummistiefel und ging Richtung Bach. Das Unwetter vom Vorabend war wie der Höhepunkt einer langen Schlechtwetterperiode gewesen. Seit Mitte August hatte es nahezu ständig geregnet, und spätestens seit Anfang September gab es Probleme mit dem Widder, der nahe am Bach lag und den Hof mit Wasser versorgte. Schon als Kind war Jakob oft mit dem Großvater hingegangen; der Großvater hatte dem faszinierten Buben die Anlage erklärt und ihm davon erzählt, wie sie sie gebaut, alles aufgegraben und die Leitungen gelegt hatten – irgendwann, als er selbst, zumindest seiner Meinung nach, noch ein junger Mann gewesen war. Jakob blickte, immer noch fasziniert, auf das System.
Aus einem höher gelegenen, gemauerten Becken, das sich aus Quellen speiste, wurde das Wasser über eine Leitung in einen mehrere Meter tiefen Schacht geleitet. In diesem Schacht befand sich die Widderpumpe. Erreichte das Wasser eine bestimmte Geschwindigkeit, verschloss sich ein Ventil am Ende der Pumpe, und dem dadurch entstehenden Wasserdruck gab ein anderes Ventil mit schnalzend-knallendem Geräusch nach, und Wasser wurde in den Windkessel gestoßen, gelangte in die Steigleitung und wurde zu einem Behälter beim Haus gepumpt. Mit diesem System war es möglich, Wasser über große Höhenunterschiede hinweg zu befördern; hier allerdings gab es nur ein paar Meter Gefälle auf die etwa vierhundert Meter. Manchmal aber kam kein Wasser aus den Leitungen; man brauchte dann nur ein paar Schritte in Richtung des Baches zu machen und die Ohren zu spitzen, um zu hören, dass der Widder stillstand. Hin und wieder stand er, ohne dass man wusste, weshalb; es reichte, die lose aufliegende, mit Steinen beschwerte blechbeschlagene Abdeckung wegzuziehen, in den Schacht hinabzusteigen und das Ventil zu öffnen, und bald lief er wieder. Meistens war es aber die Treibleitung, die verlegt war; wenn es stark geregnet hatte, waren Schlamm und Laub in das Becken geschwemmt worden und hatten das Sieb vor dem Rohr verstopft.
Schön und wie der Herzschlag eines großen urzeitlichen Lebewesens kam Jakob das kurz hallende Geräusch vor, mit dem das Druckventil sich öffnete und wieder schloss. Er warf den Eimer und die Kelle hinunter, nahm die an einen Baum gelehnte Leiter, ließ sie in den Schacht rutschen und stieg hinab. Es war eine Menge Schlamm aus dem Sumpf hereingeschwemmt worden, so dass das Wasser, welches der Widder ausstieß und welches normalerweise versickerte, nicht recht versintern konnte und mehrere Zentimeter hoch stand. Er begann zu schöpfen. Zwischendurch hielt er inne und verlor sich im Anblick der Wände, an denen die Schichtungen des Bodens sichtbar waren: der dunkelbraune Sumpfboden, darunter ein wenig heller, fast ockerfarbener Lehm, an den sich in schiefer, welliger Linie die breite Schicht aus grauem, hier und da ölig schimmerndem, weich aussehendem Schlier anschloss, und schließlich der weiße Kalkschotter. Wunderbar erschien ihm diese klare, wie gezeichnete Gliederung. Sobald der Eimer voll war, schleppte er ihn nach oben, kippte ihn neben dem Schacht aus, kletterte wieder hinab und schöpfte weiter.
Er schöpfte schnell und hatte schon etliche Eimer die Leiter hochgetragen; das Schöpfen wurde immer mühsamer; er wollte sich bald auf den Weg zurück machen, denn es musste bereits auf sechs gehen. Es war schon ziemlich dunkel, aber plötzlich wurde es ganz finster im Schacht, und undeutlich zog ihm der Gedanke durch den Kopf, eine Wolke habe sich vor die Sonne geschoben, und er blickte nicht nach oben und schöpfte weiter; aber nach einer Minute dachte er, dass das Unsinn war und dass er seit langem keine Sonne mehr gesehen hatte und dass es einfach nur schon spät sein musste. Er blickte nach oben – und erschrak. Über den Schacht gebeugt, kniete Markus; seine Augen waren eng zusammengekniffen, eine Ader lief als dunklerer Schatten über seine Stirn, aber ansonsten konnte Jakob, bis auf die Ohrringe links und rechts, die das letzte Licht einfingen, nichts erkennen. Mit vollkommen ruhiger Stimme sagte Markus:
»Kein Mensch würde dich da unten suchen.«
Jakob war in der Schule kein Außenseiter gewesen und alles andere als unbeliebt, aber immer war als etwas Trennendes der Altersunterschied zwischen ihm und seinen Mitschülern gelegen, unaufholbar, unüberwindlich. Er hatte sich daran gewöhnt, lediglich gern gelitten zu sein und nicht wie alle anderen Freunde zu haben, dennoch hatte er sich je und je zumindest einen gewünscht. Und wenn er sich diesen einen hätte aussuchen können, hätte er keinen anderen als Markus Berger gewählt. Wer hätte das nicht getan? Markus war ein kräftiger Bauernbub, laut und verwegen, der schon seit Jahren rauchte und trank und um den sich Jungen wie Mädchen scharten und seinen Geschichten – aus nichts konnte er eine Geschichte machen – lauschten, und obwohl man ihn nie alleine sah, schien er sich nicht um die anderen zu kümmern. Er war in die Klasse über Jakob gegangen, war also fast drei Jahre älter. Jakob hatte ihn oft beäugt und sich vorgestellt, sein Freund zu sein; die Wirklichkeit war aber immer sehr weit von dieser Vorstellung entfernt gewesen, denn nie hatten die beiden auch nur ein Wort miteinander gewechselt. Aber jetzt, da Markus seit ein paar Monaten immer wieder und eigentlich fast immer ohne Grund vorbeikam, war er ihm beinah lästig. Er hatte es sich früher aufregend vorgestellt, mit ihm zusammenzusein, aber auf einmal sah er in dem so lange still Bewunderten nur noch einen Angeber, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Nur wusste er nicht, wie er ihn abwimmeln sollte. Er machte ohnehin keinen Hehl daraus, dass er lieber seine Ruhe hatte. War es vielleicht sogar das, was Markus anzog?
Jakob senkte den Blick und schöpfte weiter. Er wollte sich den Schrecken, den Markus ihm eingejagt hatte, nicht anmerken lassen.
»Was willst du?«, fragte er.
Markus gab keine Antwort. In dem bewegten schwarz-durchsichtigen Wasser des Schachts meinte Jakob, sein Gesicht zu sehen, wie es unverändert zu ihm herabstarrte. Aber je länger Markus schwieg und je länger nichts geschah, desto mehr beruhigte sich Jakobs Herzschlag wieder. Plötzlich fragte Markus:
»Was ist das?«
»Was meinst du?«
»Dieses Ding da. Was ist das?«
»Ein Wasserwidder«, sagte Jakob, ohne sich umzudrehen oder über die Schulter nach oben zu blicken, und gegen seinen Willen musste er schlucken. »Er pumpt Wasser. Ohne Strom. Funktioniert im Prinzip wie ein Perpetuum mobile.«
»Noch nie gesehen«, sagte Markus.
Der Kübel war fast voll; Jakob richtete sich auf. Jetzt blickte er nach oben. Markus sah nicht mehr ihn an, sondern war ganz in der Betrachtung des schlagenden Widders versunken.
»Wie funktioniert er?«
»Interessiert es dich?«
»Ja«, sagte Markus. »Ich verstehe es nicht.«
Jakob schleppte den Eimer nach oben. Als er ihn hinausheben wollte, nahm Markus ihn ihm ab.
»Was für ein Sumpf!«, sagte er im Aufstehen. Die Knie seiner engen Jeans waren nass, und ein wenig dunkle Erde klebte an ihnen.
»Früher muss es noch schlimmer gewesen sein«, sagte Jakob und atmete tief durch. »Bevor sie die Erlen angepflanzt haben.«
Markus sah sich um, während Jakob ihm den Kübel wieder aus der Hand nahm, ihn ausleerte und ausklopfte und die Kelle hineinwarf.
»Siehst du die kleine Erhebung dort?«
»Ja.«
»Dort ist ein Wasserspeicher.«
»Wozu braucht man den?«
In kurzen Zügen erklärte Jakob die Anlage. Markus hörte aufmerksam zu und stellte ein paar Fragen. Jakob hatte sich beim Reden belebt, aber sobald er fertig war, wurde er wieder verschlossen. Er stellte den Eimer ab und schob die Abdeckung über den Schacht.
»Wer hat dir gesagt, dass ich hier bin?«, fragte er.
»Deine Mutter.«
Markus zündete sich eine Zigarette an. Es roch nach Benzin, nach blauem Rauch, der durch die kalte Luft zog, und die blattlosen Erlen rauschten weich im Wind.
»Hör mal«, rief er plötzlich und stieß Jakob gegen die Schulter, »du gehst ja doch ins Wirtshaus!«
Jakob gab keine Antwort.
»Ich habe dich rauskommen sehen. War das dein Bruder?«
»Ja«, sagte Jakob.
»Was für eine Uniform!«
Jakob zuckte mit den Schultern und setzte sich in Bewegung, und Markus folgte ihm. Sie stapften durch den Sumpf Richtung Haus. Bei jedem Schritt sanken sie ein, und ein beständiges Schmatzen begleitete sie. Einmal drehte sich Jakob nach Markus um und warf einen Blick auf dessen Schuhe. Sie erreichten das Haus. Die Lampe über der Tür brannte. Markus’ Motocross stand vor dem Haus, gelb und schwarz lackiert; der ebenfalls schwarz-gelbe Helm hing auf dem Rückspiegel, wie immer, Markus setzte ihn nie auf.
»Wie spät ist es?«, fragte Jakob.
Markus zog sein Telefon aus der Hosentasche. »Viertel nach sechs«, sagte er.
»Ich muss hinein«, sagte Jakob.
»Weshalb ich gekommen bin«, sagte Markus, als falle es ihm gerade wieder ein. »Ich habe einen neuen Zylinder. Wenn ich alleine fahre, geht die Maschine« – er meinte sein Moped – »fünfundneunzig. Ich würde gerne ausprobieren, wie viel sie schafft, wenn man zu zweit fährt. Was sagst du? Drehen wir eine Runde?«
Bei den ersten Malen, wenn Markus ihn dergleichen gefragt hatte, war ihm noch der Gedanke gekommen, dass er sich früher um eine solche Einladung geprügelt hätte. Inzwischen dachte er nicht mehr daran, was er früher getan hätte.
»Ein andermal vielleicht«, sagte er, was er immer sagte.
»Sie geht jetzt wirklich wie die Feuerwehr«, sagte Markus.
Jakob setzte sich auf die Türschwelle, trat sich die Gummistiefel von den Füßen und stellte sie neben die Tür. Er zog die Socken hoch und zupfte feine Halme von ihnen. Wieder fiel sein Blick auf Markus’ Schuhe; die Hose war sogar bis zu den Waden hinauf schmutzig. Er beugte sich vor und nahm die Wurzelbürste, die neben der Tür lag, und hielt sie Markus hin.
»Willst du sie dir putzen?«, fragte er.
»Wofür denn das?«, fragte Markus und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das soll meine Mutter tun.«
Er zog die Nase hoch und spuckte aus. Ohne ein weiteres Wort stieg er auf das Moped und startete es. Er gab einmal kräftig Gas. Man konnte sofort hören, dass ein größerer Zylinder eingebaut war. Als der Gang eingelegt wurde, krachte es. Markus hob einen Finger zum Gruß, ließ die Kupplung los und fuhr laut knatternd davon. Jakob, die Bürste zwischen den Händen drehend, blieb auf der Schwelle sitzen, schloss die Augen und sog den Geruch von verbranntem Öl und Benzin ein, und erst, als er ihn nicht mehr wahrnehmen konnte, schlug er die Augen wieder auf, warf die Bürste weg, die, kaum federnd, auf den verdrehten und harten Borsten landete, erhob sich und ging, am klemmenden Reißverschluss des Overalls nestelnd, ins Haus.
Außer Alexander, der an der Abwasch lehnte, saßen schon alle um den Tisch und aßen. An einem Ende, dicht nebeneinander, saßen der Großvater und die Großmutter. Nie trat ihr unterschiedliches Äußeres stärker zutage als da: Er klein und hager und sonnengegerbt, die Haare pechschwarz, sie groß und fleischig-üppig und mit weißer Haut und weißem Haar. Sein Gesicht war stets frisch rasiert und glatt, nur die Stirn war zerfurcht, während auf ihrem von Jahr zu Jahr mehr Warzen und Haare wuchsen. Er trug mit Ausnahme des Sonntags immer blaue Arbeitskleidung, sie war nie in etwas anderem als Bluse, Wollrock und Wollstrumpfhosen zu sehen. Sie wirkte ein wenig gestaucht, was daher kam, dass sie die Beine auf einem Hocker unter dem Tisch hochgelagert hatte. Ihnen gegenüber saß die Mutter. Der Platz des Vaters war gedeckt, aber frei. Der Großvater war eben dabei gewesen, etwas zu sagen, brach aber ab, als er seinen Enkel bemerkte.
»Setz dich«, sagte er. »Und greif zu.«
Jakob setzte sich und nahm sich. Er war hungrig.
»Was treibst du dich so lange draußen herum«, schimpfte die Mutter, »du weißt doch, wann es zu essen gibt. Wer war das überhaupt? Schon wieder der Berger-Bub?«
»Ja«, sagte Jakob mit vollem Mund.
»Er sollte sein Moped lieber reparieren lassen, anstatt damit herumzufahren. Man wird ja fast taub davon!«
»Reparieren?«, fragte die Großmutter. »Dafür wird kein Geld sein. Die haben ja auch alles verkaufen müssen.«
»Doch schon vor einem Jahr«, sagte der Großvater.
»Ja«, sagte die Großmutter. »Aber jetzt sogar die Maschinen.«
Der Großvater sah sie überrascht an. Nicht öfter als ein paarmal im Jahr verließ sie das Haus, dennoch blieb ihr nichts verborgen, sie wusste die Neuigkeiten immer vor den anderen; warum, war ein Rätsel.
»Kein Wunder«, sagte der Großvater, seine Überraschung überspielend. »Es ist im Grunde nie ein Wunder.«
»Das ist kein guter Umgang für dich«, sagte die Mutter. »Ich habe es dir schon einmal gesagt. Es heißt, dass er raucht und trinkt.«
Jakob gab keine Antwort, und die Mutter beharrte nicht.
»Daran zeigt sich Charakter, Jakob: ob die Umstände einen verändern oder nicht«, sagte der Großvater. »Freunde, Frauen, Macht, Geld … diese Dinge.«
Auch darauf antwortete Jakob nicht. Allzu gut kannte er diese Sätze. Nur kurz hob er den Blick und sah in die kleinen, grauen, undurchdringlichen Augen des Großvaters, der auf sich zeigte.
»Ich«, sagte er, »ich war immer gleich. Immer genau gleich. Vor fünfzig Jahren und vor vierzig und vor dreißig und vor zehn auch. Frag deine Großmutter. Und er« – er richtete sich an seine Schwiegertochter und deutete dabei auf Jakob – »er ist genauso. Er gerät nach mir. Da musst du keine Angst haben.«
Die Mutter setzte zu etwas an, winkte aber ab – als wolle sie etwas vielfach Gesagtes nicht noch einmal wiederholen. »Will noch wer Salat?«, fragte sie stattdessen. »Es gibt noch.«
»Ja«, sagte der Großvater und gab damit keine Antwort auf die Frage der Mutter, sondern nahm das unterbrochene Gespräch mit Alexander wieder auf, »jedenfalls verstehe ich nicht, was du redest.«
»Ich sage doch nur, dass sie Mitglied der NATO sind. Deshalb haben sie auch ein Kontingent dort.« Alexander schob sich den letzten Bissen in den Mund und spülte ihn mit Bier hinunter.
»Aber wie kann das sein? Wie können die verdammten Polen Mitglied der NATO sein? Diese verfluchten Hunde?«
»Sie sind es ganz einfach. Und zwar seit bald fünfzehn Jahren. Seit der Osterweiterung neunundneunzig«, sagte Alexander. »Was ist daran so schwer zu verstehen?«
»Was daran so schwer zu verstehen ist, willst du wissen?«, rief der Großvater aus. »Hast du in der Schule nicht aufgepasst? Fehlt nur noch, dass wir beitreten.«
»Die Zeiten haben sich geändert«, sagte Alexander.
»Sieht ganz so aus«, sagte der Großvater verächtlich und kreuzte sein Besteck auf dem Brett. »Du hättest Pfarrer werden sollen. Als Soldat redest du nur Unsinn.«
»Ich rede Unsinn?« Alexander lachte.
»Ja. Du hast keine Ahnung.«
Wieder lachte Alexander und schüttelte den Kopf.
»Was lachst du da? Man müsste dir – ach, vergiss es! Einem Esel kann man nichts beibringen.«