Brennende Felder - Reinhard Kaiser-Mühlecker - E-Book

Brennende Felder E-Book

Reinhard Kaiser-Mühlecker

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Beschreibung

Hinter der ländlichen Idylle lauert der Abgrund Spannend und wendungsreich erzählt Reinhard Kaiser-Mühlecker in »Brennende Felder« von einer Frau, deren Unruhe mit dem Leben zusammenstößt.   Als Luisa Fischer erfährt, dass ihr Vater Bob nicht ihr leiblicher ist, und sie feststellen muss, dass die Zuneigung, die sie für ihn empfindet, über Familienliebe hinausgeht, verlässt sie die Heimat und die Familie. Nach unruhigen Jahren in verschiedenen Städten lässt sie sich in Hamburg nieder. Dort steht plötzlich ihr Stiefvater vor der Tür, auch er hat sich gegen die Familie und für ein Leben mit ihr entschieden. Bald darauf ziehen die beiden zurück in die österreichische Heimat, wo Bob den Verstrickungen in die Vergangenheit nicht entkommen kann. Verstrickt ist auch der alte Bekannte aus Kindheitstagen Ferdinand, der alleine mit seinem Sohn Anton lebt und dem sich Luisa annähert. Doch immer wieder bricht sich Zweifel an der Aufrichtigkeit des jeweils anderen Bahn, beide belauern sich – die Spannungen spitzen sich zu. Lassen sich die Schatten und die Lasten der Vergangenheit ablegen? Und ist es möglich, sich selbst in jeder neuen Lebensphase neu zu erfinden? Wer sind wir, wenn wir uns von unserer Vorgeschichte lossagen? Luisas Antwort auf all diese Fragen ist der Entschluss, Schriftstellerin zu werden, und sie beginnt ihre eigene Geschichte zu erzählen. »Einer der größten lebenden deutschsprachigen Autoren.« Christoph Schröder, Hessischer Rundfunk »Reinhard Kaiser-Mühlecker verwandelt seine Lebenswelt in stille und zugleich großartige Literatur.« Rainer Moritz, Neue Zürcher Zeitung

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Seitenzahl: 423

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Reinhard Kaiser-Mühlecker

Brennende Felder

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Sobald sie volljährig ist, verlässt Luisa Fischer ihr Elternhaus und ihre Familie in der österreichischen Provinz, zieht von europäischer Großstadt zu Großstadt, und doch gelingt es ihr nicht, Wurzeln zu schlagen und Heimat zu finden. Erwachsen geworden kehrt sie zurück in die Region ihrer Kindheit. Ihr Leben aber findet keine ruhige Bahn: Es brodelt unter der Oberfläche, alte Kränkungen und belastete familiäre Bande wirken bis in die Gegenwart und lassen Luisa kaum Freiräume. Also verschafft sie sich diese selbst und setzt sich über Moralvorstellungen und Konventionen hinweg – für ihre Unabhängigkeit und ihre Ziele ist sie bereit, fast alles zu tun.

 

Voller Spannung und unvorhersehbarer Wendungen führt Reinhard Kaiser-Mühlecker die Erkundung seines ländlichen Österreichs fort und erzählt mit Luisa von einer Frau, die in ihrer inneren Unruhe immer unberechenbar bleibt. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Reinhard Kaiser-Mühlecker wuchs in Eberstalzell (Oberösterreich) auf, studierte in Wien und führt den Betrieb seiner Vorfahren. Er verfasste zahlreiche Romane und einen Band mit drei Erzählungen. »Fremde Seele, dunkler Wald« (2016) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, »Wilderer« war für den Österreichischen und Deutschen Buchpreis nominiert und erhielt den Bayerischen Buchpreis.

Inhalt

[Motto]

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

Was mir auch Schlimmes zustieß, ich habe es vergessen.

Czesław Miłosz

1

Wie nach Landregen oder Sturm sah der Himmel aus; er war hoch und weit und von einem einheitlich frischen, hellen Blau. Scharf gezeichnet standen die Berge im ausladenden Halbkreis am Horizont, und im dicht bewaldeten Vorgebirge konnte man die Wipfel einzelner dürrer Fichten ausmachen. Nur im Osten zog sich ein Wolkenband durch das Blau, an den Rändern geriffelt wie das helle Innere einer Muschel, so dass man’s am liebsten hätte berühren und herausfinden wollen, ob es sich auch so weich und geheimnisvoll anfühlte. Noch durch die Gläser der Sonnenbrille schien dieses Band einen intensiven Ton zwischen Orangefarben und Rosarot zu haben, den der Himmel in den Abendstunden dieser ungewöhnlich warmen Herbsttage jeweils annahm, allerdings nicht im Osten, sondern im Westen.

Alle paar Minuten fuhr zwischen anderen Fahrzeugen – Autos, Motorrädern, Mopeds und anhängerziehenden Traktoren – ein tiefroter Lastwagen vorbei, und es war, als erregten nur diese LKWs ihre Aufmerksamkeit, zumindest nahm sie nur ihretwegen den Blick vom Himmelsgewölbe, sah ihnen hinterher, wie sie randvoll mit lehmiger, rostfarbener Erde beladen nordwärts, Richtung Ebene, davonbrausten, um leer wiederzukehren und weiter vorne, am Kreisverkehr, der außerhalb ihres Sichtfelds lag, zu verschwinden. Sie wusste nicht, weshalb sie ausgerechnet ihnen hinterherschaute, und bemerkte lange Zeit nicht einmal oder nur halb, dass sie’s überhaupt tat.

Allmählich verlor sich das Licht, als wanderte es zurück in die Dinge oder den Himmel oder die Erde oder überallhin zugleich. Das Geläut der Kirchenglocken holte sie heraus aus dem namenlosen Zustand, in dem sie die vergangene Stunde – oder waren es zwei, oft vergaß sie die Zeit dabei, vergaß mitunter sogar, welches Jahr gerade war – verbracht hatte, und sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk und danach auf ihren Arm: Die Bräune des Sommers war noch nicht ganz verschwunden; auch wenn die Sonne schon schwach war, frischten die Stunden im Freien sie noch einmal ein wenig auf. Sie erhob sich und verließ die Terrasse oder was es war: eigentlich bloß das mit Bitumenbahnen geflämmte Flachdach der ans Haus angeschlossenen Garage, das über eine Balkontür zu erreichen war und auf dem zwei neu aussehende Liegestühle aufgeklappt standen. Bevor sie über die Schwelle stieg, stützte sie sich an der unverputzten, da und dort jedoch schon bröckeligen Ziegelmauer ab und streifte sich die Fußsohlen ab: winzig kleine Steinchen klebten daran. Dann ging sie den Flur entlang und stieg die lange, freischwingende und unter keinem Schritt knarzende Treppe hinab.

Fast erschrak sie, als sie ihn im Anzug, schwarzen Hemd und blitzblank polierten Schuhen, die Hände auf dem Bauch gefaltet, auf der Couch liegen sah, als wäre er es, den es zu betrauern galt. Doch im Näherkommen stellte sie fest, dass er die Augen offen hatte und seine Augäpfel langsam hin und her wanderten, über das Dorf hin, das sich jenseits der verglasten Wand unter ihnen ausbreitete.

»Fertig?«, fragte er, ohne mit seinem Schauen, in dem weder Suchen noch Ungeduld waren, aufzuhören oder auch nur auszusetzen.

»Ja«, sagte sie, »sofort«, kehrte um und stieg wieder ins Obergeschoss hoch, nahm ein kariertes dunkelblaues Kleid aus dem Schrank und ging damit ins Schlafzimmer und zog es über den Bikini. Dann ging sie ins Badezimmer und trug etwas Rouge auf, nur so ein bisschen an den Wangenknochen, dann noch ein wenig mehr; da hörte sie, wie die Haustür aufging und wieder zufiel. Sie legte den Pinsel und die Dose weg, schlüpfte in Schuhe mit kleinem Absatz, nahm ihre Handtasche und verließ das Haus.

Er saß schon im Auto, und der Motor lief. Sie stieg in den silberfarbenen Audi, der dem Großvater gehört hatte, und zog die Tür zu.

»Wir sind zu spät«, sagte er und fuhr los.

»Ja«, sagte sie; sie konnte den Geruch von Kölnisch Wasser riechen.

Inzwischen war es dunkel geworden, und die Straßenlaternen warfen ihr gelbes Licht, in dem da und dort ein Schwarm Mücken schwirrte, auf den Asphalt. Sie parkten, stiegen aus, gingen raschen Schritts durch die kühle, feuchte Abendluft zur Kirche und betraten sie – er vor ihr – durch den Hintereingang.

Sie waren tatsächlich zu spät; die Andacht hatte bereits begonnen. Sie setzten sich in die letzte Reihe, und obwohl der eine oder andere kaum merklich den Kopf drehte, war es, als hätte niemand ihr Kommen bemerkt.

Hier und da stockend, als könne er ein Wort nicht entziffern, las der Vorbeter mit eintöniger Stimme von einem Zettel ab, was die Familie des Verstorbenen ihm – oder dem Pfarrer – von jenem erzählt hatte. Und seltsam war, dass in diesem Reden von einem abgeschlossenen Leben öfter als von Menschen – die zwar vorkamen: Eltern, Frau, die fünf Kinder – von Baustellen und Maschinen die Rede war, von Dingen, die im Zusammenhang mit dem landwirtschaftlichen Betrieb standen, dessen Besitzer der Verstorbene lange Zeit gewesen war. Auf eine vor dem Tabernakel aufgestellte und die Sicht auf ihn verdeckende Leinwand wurden Bilder von den erwähnten Dingen projiziert: dem neuen Maststall mit dreihundert Plätzen, später dem Zuchtstall, »weil man geschlossen sein wollte«, dem Steyr-Traktor aus dem Jahr vierundsiebzig mit dem damals neuartigen Getriebe, der aus der DDR importierten Ballenpresse und dem Rückewagen, der aus der Konkursmasse eines abgehausten Händlers herausgekauft worden war von dem geschickten Verstorbenen – »für fast nichts«.

Den unwillkürlich auftauchenden Gedanken, was eines fernen Tages bei ihrer eigenen Beerdigung gesagt werden würde, welche Bilder gezeigt werden würden – falls auch bei ihrer Beerdigung jemand so geschmacklos sein sollte und Bilder zeigen würde –, verscheuchte sie und dachte stattdessen darüber nach, dass sie an diesen Mann, der während vieler Jahre ihr Nachbar gewesen war, keine Erinnerung hatte. Sie wusste nicht einmal, wie er ausgesehen hatte, und das Bild, das sie auf dem Altar aufgestellt hatten, löste keine Erinnerung in ihr aus; vielleicht einfach nur, weil es zu weit weg stand und sie es nicht scharf sehen konnte; nur die Glatze konnte sie erkennen, die Brille und eine leuchtend gelbe Krawatte. Vielleicht nicht nur deshalb; denn zwar hatte sie mit Widerwillen auf die projizierten Bilder geschaut, aber als sie vor ein paar Tagen gehört hatte, dass er gestorben war, hatte sie an kein Gesicht gedacht, an keine Stimme, sondern an nichts anderes als an ebendiese Dinge.

Nachdem das Ablesen beendet war, faltete der Vorbeter den dabei flatternden Zettel zusammen, räusperte sich und hob an, den Rosenkranz zu beten, und schon nach dem Kreuzzeichen fiel die versammelte Menge ein – vierzig, fünfzig Menschen, bis auf die bei den Kindern des Verstorbenen in den vorderen Reihen sitzenden Enkel und Urenkel kaum einer nicht weiß- oder zumindest grauhaarig, und nicht einer im Anzug oder Kleid, sondern alle in Jeans und Anoraks –, und auf einmal war der eben noch hallende Raum von einem dunklen Dröhnen erfüllt, das noch in den letzten Winkel drang. Und nach einem Moment fielen auch sie beide unwillkürlich ein, und die an- und abschwellenden Gesätze machten sie schläfrig. Wie zwei große, gleichmäßig herannahende Wellen, die sie schon lange nicht mehr durch sich hindurchrollen gespürt hatte, so fühlte es sich an, wie Atemzüge eines anderen, größeren Wesens, das für einen atmete und dem man sich überlassen konnte … Es war, als würde sie zurück in die Kindheit getragen und als wäre sie dort, damals – Zeit und Ort waren eins –, geborgen gewesen. Und war sie das denn nicht irgendwie auch, zumindest ganz am Anfang ihres Lebens? Vielleicht; wahrscheinlich; aber sie konnte sich eigentlich kaum noch daran erinnern, wusste nur noch, dass diese Kindheit schier endlos gedauert hatte und sie sich zunehmend wie in etwas gefangen fühlte, einer Welt, in der es beständig Veränderungen gab, an allem und an allen, während nur bei ihr selbst alles gleich blieb und nichts sich änderte, nichts Wesentliches, auch nicht, als sich etwas hätte ändern müssen. So lange hatte ihre Kindheit gedauert, dass man in der Schule schon gespottet hatte über sie, und dann, an ihrem fünfzehnten Geburtstag, hatte sie doch so jäh geendet. Erst von da, von diesem Ende an, hatte sie wirkliche Erinnerungen, als wäre das Ende ein Anfang, als hätten Nebel sich gelichtet.

Der Rosenkranz war vorbei. Die Leinwand wieder weiß. Es war warm in der Kirche; ihr war warm. Es war wie ein Erwachen unter dicken Daunen, in das hinein Gesang ertönte:

»Herr, ich bin dein Eigentum, / dein ist ja mein Leben. / Mir zum Heil und dir zum Ruhm / hast du mirs gegeben. / Väterlich führst du mich / auf des Lebens Wegen / meinem Ziel entgegen.«

Nach dem Ende des Lieds trat der Vorbeter, der sich gesetzt hatte, wieder an den Ambo, bedankte sich im Namen der Trauerfamilie für die Teilnahme an der Andacht, die hiermit beendet sei, und entfaltete erneut einen Zettel. Der Verstorbene würde dann und dann zu seiner letzten Ruhestätte geleitet, im Anschluss daran würden persönlich Geladene sowie die Folgenden zur Zehrung geladen, worauf er eine Reihe an Namen oder eher Funktionen ablas. Danach verabschiedete er sich, faltete den Zettel zusammen und verschwand mit eingezogenem Kopf durch die Seitentür zur Sakristei.

»Gehen wir«, flüsterte er ihr zu – von oben herab, denn er stand bereits.

»Ja doch«, sagte sie lauter als beabsichtigt und stand ebenfalls auf.

Meinte er denn, sie wolle bleiben? Musste er sie deshalb fast aus der Bank schieben? So oft hatte sie die Messe nicht besucht als Kind, als dass ihr die Abläufe von Aufstehen, Hinsetzen und Knien in Fleisch und Blut übergegangen wären, wie es offenbar bei allen anderen der Fall war, aber dass man eine Kniebeuge machte und sich bekreuzigte, bevor man sich in die Bank setzte und nachdem man sie verlassen hatte, das wusste sie, selbst wenn sie den Kniefall beim Kommen in der Eile nur angedeutet hatte, und das tat sie jetzt ebenfalls, während auch in den anderen Reihen die Ersten ihre Plätze verließen. Flüchtig beugte sie das Knie und warf einen Blick nach vorne, und da, mitten in der Beuge, sah sie, dass einer es noch eiliger hatte als sie und dass er ihretwegen seinen Schritt verlangsamen und sogar abbremsen musste. Sie kannte ihn nicht, oder erkannte ihn nicht wieder, wie es ihr mit vielen hier ging, mit den meisten, dennoch war es ihr unangenehm, ihren Kniefall ausführen zu müssen, ja schon ausgeführt zu haben mit Blick genau auf ihn, diesen Fremden ihres Alters, als gälte die Demutsgeste ihm, und es war ihr unangenehm, dass er das sehr genau wahrnahm, gar nicht anders konnte, als es sehr genau wahrzunehmen, wenn er nicht wegschauen oder die Augen schließen wollte, und dass er, wenn auch kaum merklich, lächelte, machte es ihr noch unangenehmer. Das alles dauerte nur wenige Sekunden, oder auch nur eine einzige, jedenfalls vollzog die Situation sich viel zu rasch und unerwartet, als dass sie Gedanken dazu hätte haben können, und dann schon spürte sie, wie er, der gar nicht Fremde, an ihr vorbeidrängte und den Weg, den sie gekommen waren, nach draußen eilte, und sie eilte ihm hinterher.

Sie war froh, als sie ins Auto einsteigen konnte. Sie wollte nichts als nach Hause. Obwohl es noch nicht spät war, sehnte sie sich nach dem Bett. Es war die Jahreszeit, die sie immer schon ermüdete. Oder gar nicht die Jahreszeit, sondern das Fehlen von Licht, das Fehlen einer bestimmten Anzahl heller Stunden war es, das ihr jede Energie raubte, daran änderte auch das Liegen auf der Terrasse bei jeder Gelegenheit nichts, und kündigte sich noch dazu eine Kaltfront an, so wie im Moment, war die Erschöpfung noch tiefer.

Nach einem kurzem Stück Fahrt bemerkte sie, dass er eine andere Richtung als nach Hause eingeschlagen hatte und südwärts aus dem Ort rausfuhr.

»Wo fahren wir hin?«

Die Luft, die durch das offene Fenster hereindrang, trug einen leicht süßlichen, beinah exotischen Geruch, und immer wieder hörte man von irgendwoher ein Piepsen, und erst als sie – ganz langsam, fast im Schritttempo; sie fuhren auf einer Schotterstraße, und sie hatte nach einer Vielzahl an Abbiegemanövern die Orientierung verloren – an einem Maisfeld vorbeikamen, das gerade abgeerntet wurde mit einem ungeheuer großen und lauten, rundum beleuchteten weiß-grünen Mähdrescher und an dessen Rand, in der Dunkelheit nur als Umriss erkennbar, ein Traktor stand mit einem Gespann aus zwei Anhängern, verstand sie, woher der Geruch und das Piepsen kamen.

»Kennst du den?«

Oder warum lehnte er sich aus dem Fenster mitten im Nirgendwo?

»Hallo!«

»Was denn?«

»Was machen wir hier?«

»Was wir hier machen? Nichts.«

2

In der Anzeige hatte es »Villa« geheißen, auch wenn das Gebäude sich von denen der Nachbarschaft in Bauart und Form nicht besonders unterschied, nur dass es vielleicht eine Spur größer als die meisten anderen war, und sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass vielleicht vor allem diese Bezeichnung es gewesen war, die den Ausschlag gegeben hatte, dass sie in den Kauf eingewilligt hatte.

Sie schaltete den Wasserkocher ein, während er sich wieder auf das Sofa legte, die Hände auf dem Bauch faltete und hinaussah. Er hatte keine Lampe angemacht, und durch die Glasscheibe konnte man die Lichter des Dorfes sehen wie einen ganz eigenen Sternenhimmel, ab und zu durchzogen von einer sehr langsamen und sehr hellen Sternschnuppe – einem Auto. Sie ging ins Bad hinauf, zog sich Kleid und Bikini aus und den Schlafanzug an, wusch sich und putzte sich die Zähne. Dann ging sie wieder nach unten und goss das heiße Wasser in eine Tasse, gab einen Teebeutel – irgendeinen, der ihr gerade in die Hand kam – hinein und trat ans Sofa.

»Ich muss ins Bett«, sagte sie und blies auf den Tee, so dass der heiße Dampf sich auf ihre Wangen legte. »Ich bin todmüde.«

»Geh schlafen, Luisa«, sagte er.

»Ja«, sagte sie, und während sie ins Schlafzimmer ging und spürte, wie der Dampf auf ihren Wangen kalt wurde und nass, dachte sie darüber nach, wie unwahrscheinlich es war, dass sie immer tat, was er sagte, wie das folgsame Kind, das sie nie gewesen war, dass sie immer nur »ja«, sagen konnte, nichts anderes oder fast nichts: Ja, ich bin fertig. Ja, von mir aus. Ja, du hast recht. Ja, ziehen wir zurück. Denn sie hatte doch eigentlich gar nicht zurückgewollt hierher, wo sie zwar geboren und aufgewachsen war, aber nichts verloren hatte, es hatte ihr lange Zeit genügt, ein oder zwei oder drei Mal im Jahr »vorbeizuschauen«, wie sie es nannte. Freilich, dieses daheim, auf dem Hof, Vorbeischauen, wie es einem gerade einfiel, ging nicht mehr, nach allem, was geschehen war. Und vielleicht hatte es doch auch ihr ein wenig gefehlt, ohne dass sie das eigentlich gemerkt hatte und ohne dass sie bedacht hatte, dass es nie das Dorf gewesen war, das mit dem Wort oder dem Gefühl »daheim« gemeint war, sondern nur der kleine Umkreis, in dem sie gelebt hatte, sodass es leicht gewesen war oder zumindest nicht ganz schwer für ihn, sie mit seiner Begeisterung für dieses halbfertige Haus anzustecken.

Auf dem Parkettboden, der aus sibirischer Lärche gefertigt war, stellte sie die Tasse ab und setzte sich aufs Bett. Sie strich mit der flachen Hand über das Leintuch. Wie weich es war. Sollte sie noch etwas lesen? Wie viel sie in der Kindheit gelesen hatte. Sich in Büchern verkrochen wie in einer Höhle, zu der niemand sonst Zutritt hatte, ja von der niemand sonst wusste und niemand sonst wissen wollte. Und später, in den Jahren, die sie im Ausland gelebt hatte, in Schweden und Dänemark vor allem, war ihr das Lesen, waren ihr Bücher bisweilen als die einzige Heimat vorgekommen, die sie je gehabt hatte. Und auch in letzter Zeit war ihr in Momenten wieder so. Warum aber las sie dann so selten? Seit Wochen oder sogar Monaten war sie, als könne man auch das Lesen verlernen, nicht vorangekommen in dem Roman, der auf dem Nachtkästchen lag, so lange, dass sie schon gar nicht mehr recht wusste, wovon er handelte. Ja, sicher, ein Krimi war es, und gleich am Anfang wurde jemand in einem Park ermordet, und zwar von einem Polizisten oder jemandem, der als Polizist verkleidet war, aber wie war die Geschichte dann weitergegangen? Sie konnte sich nicht erinnern. Und wie es aussah, würde sie es auch heute nicht herausfinden. Egal. Das Buch lief nicht weg. Sie würde einfach noch einmal von vorne anfangen, vielleicht ja schon morgen auf der Terrasse. Ja, das war eine schöne Vorstellung. Sie legte sich hin, zog die Tuchent über sich und griff nach dem Handy. Sie entsperrte es und öffnete den Browser und surfte ein wenig herum, las hier eine Schlagzeile, dort eine, überflog die Postings zu den Artikeln, die sie interessierten, klickte manchmal auf eine Werbung, die aufpoppte – und dazwischen lauschte sie immer wieder, ob Schritte zu hören waren. Aber nein, da war nichts; er kam nicht, obwohl er gesagt hatte, er komme gleich, nachdem sie noch einmal aufgestanden und nach unten gegangen war und, kurz zögernd beim Anblick der angebrochene Bierflasche, gefragt hatte, ob er nicht müde sei.

Sie legte das Telefon weg und schaltete das Licht aus und schloss die Augen, konnte aber nicht schlafen. Immer noch war dann und wann das Piepsen eines zurücksetzenden Mähdreschers zu hören. Seltsam, dass sie dieses nervtötende Geräusch bisher nicht wahrgenommen hatte, immerhin musste die Maisernte schon eine Zeitlang in Gang sein. Sie begriff nicht, weshalb sie das nicht bei Tag machten. Auch wenn dieser Herbst sehr verregnet gewesen war bisher, gab es doch immer wieder ausreichend Perioden ohne Niederschlag. Aber was verstand sie schon davon? Im Grunde wenig, auch wenn ihre Herkunft bäuerlich war, was ihr oft genug in ihrem bisherigen Leben nicht abgenommen worden war, wobei sie jeweils einen gewissen Hochmut oder Stolz und zugleich eine Art Empörung empfunden hatte, mal das eine, mal das andere stärker. Jetzt spielte das alles keine Rolle mehr. Ja, warum denn eigentlich Hochmut oder Stolz, weshalb Empörung? Mochten sie doch alle denken, was sie wollten. Auch das hatte sie von ihm gelernt: dass es gleichgültig war, was die anderen über einen dachten, dass es einen nicht einmal etwas anging, ob sie etwas über einen dachten. Es war, wie er sagte: Nur das war wirkliche Freiheit. Wieder lauschte sie; nichts als dieses Piepsen, von dem man nicht einmal sagen konnte, ob es von nah kam oder von fern, ob von einer einzigen Erntemaschine oder von mehreren. War es denn nicht normal, dass er nicht schon um halb zehn oder wie spät es sein mochte, jedenfalls noch nicht sehr spät, ins Bett wollte? Sie musste es nicht persönlich nehmen, wusste schließlich, dass er mit wenig Schlaf auskam, dass ihm vier Stunden völlig reichten, so ganz anders als ihr, und dass er es nicht mochte, nachts schlaflos zu liegen und deshalb lieber später ins Bett ging. Nein, nein, es war völlig normal. Es war nur nicht normal, dass sie sich solche Sorgen machte in letzter Zeit und in einem fort befürchtete, er könnte ihrer überdrüssig werden. Sicher, diese Angst war schon in Hamburg mitunter aufgetaucht, aber da war sie fast süß gewesen, fast so, dass man verschämt dazu hätte lächeln können. Und wie als Beweis dafür, dass sie um die Nichtigkeit dieser Angst gewusst hatte, hatte sie sie ihm in zärtlichen Momenten gestanden, worauf er jeweils gesagt hatte, das sei Unsinn, sie brauche keine Angst zu haben. Die roten Lastwagen, die sie am Nachmittag gesehen hatte, fielen ihr ein. Sie hatte sie nicht zum ersten Mal gesehen, sie sah sie, seit sie wieder hier waren. Und doch war heute etwas anders gewesen, irgendwie hatten sie sie heute gereizt, geärgert, ohne dass sie gewusst hatte, weshalb. Und auch jetzt fand sie keine Antwort. Es waren einfach nur irgendwelche Lastwagen, die mit ihr nichts zu tun hatten, so wenig wie alle anderen Fahrzeuge, die da unten auf der Landstraße unterwegs waren, woher auch immer kommend, wohin auch immer fahrend, verbunden mit ihr durch rein nichts. Sie war überspannt, das war es wohl. Und das eigentlich grundlos. Denn es war doch alles normal. Und normal war auch, dass sie immer weniger häufig miteinander schliefen, nachdem es ein, fast eineinhalb Jahre lang kaum etwas anderes gegeben hatte. Warum sollte es bei ihnen anders sein als bei allen anderen. Beziehungen wandelten sich, gingen von einer Phase in die nächste über, und auch wenn ihre Beziehung gewiss reichlich außergewöhnlich war, gab es selbst bei ihnen diese Phasen. Es fiel ihr schwer, sich das einzugestehen, aber einfacher, nicht gekränkt zu sein, dass sein zunächst schier grenzenloses, einer Gier gleichkommendes Begehren langsam, aber stetig nachließ, war es, wenn sie sich sagte, das sei schlicht und ergreifend Biologie, nichts weiter, das sei bei Männern so, so traurig sie diese Tatsache – zum ersten Mal in ihrem Leben – auch finden mochte. Noch einmal lauschte sie, und dann schlief sie ein.

3

Jedes Kind liebt seinen Vater. Und Mädchen verehren ihre Väter oft geradezu, die in sie bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Mädchen die zahllosen Schwächen der Väter zu sehen beginnen, längst eine Art makelloses Urbild eingeprägt haben, gegen das die späteren Männer zu kämpfen haben. Auch Luisa hatte ihren Vater, als sie ein Kind war, geliebt, ganz natürlich tat sie das und zugleich wie im Geheimen, als wäre doch etwas daran nicht ganz in Ordnung, was auch damit zusammenhängen mochte, dass Alexander, ihr älterer Bruder, sich schon früh von den Eltern abgewandt hatte. Oft dachte sie daran, ihren Vater eines Tages, wenn die Mutter nicht mehr leben würde, weil sie an irgendeiner schrecklichen, sie ans Bett fesselnden Krankheit früh zugrunde gegangen wäre, zu heiraten, und stellte sich die Zeremonie in aller Ausführlichkeit vor. Sie würden in einer von zwei Schimmeln, von denen der eine einen Stern auf der Stirn trug, der andere eine Flocke, gezogenen Pferdekutsche durch das Dorf fahren, unter der Musik des achtfachen Hufgeklappers den Berg hinab und den Berg wieder hinauf, und direkt an der Kirche würde der in einen dunklen Umhang gehüllte Kutscher, mit einem weitkrempigen Hut auf dem Kopf, der das Gesicht verbarg, durch ein Zungenschnalzen die Pferde zum Halten durchparieren, und eine große und feierliche Menge würde sie erwarten, und vom Kirchturm würde es unaufhörlich rote und weiße Rosenblüten herabregnen. Solche Vorstellungen waren nicht ungewöhnlich bei kleinen Mädchen, und ungewöhnlich war wohl ebenso wenig, dass sie im Vergleich zu ihrem Vater ihre Brüder nichts als lächerlich und peinlich und jedenfalls durch und durch unmännlich fand, sogar schon Jakob, den Kleinen, vor allem aber natürlich Alexander, der nach Jahren im Internat, unter Kuttenträgern, denen er nachgeeifert hatte, als gäbe es nichts Schöneres, als eine solche Kutte zu tragen, seine Unmännlichkeit auf einmal durch eine Soldatenuniform kaschieren wollte und durch das andauernde Zurschaustellen seiner in der Tat plötzlich sehr muskulösen Arme, als würde das irgendetwas belegen. Und Jakob, auch wenn er noch so klein war, dem schien ohnehin nicht zu helfen, der war und würde immer sein weder Männlein noch Weiblein, war einfach nur ein zurückgebliebenes Irgendwas. Nein, das alles war nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich war einzig, dass es auch noch so war, als sie doch endlich zu einer Frau wurde, als ihr Körper, ihre Stimme, ihr Blick auf die Welt sich veränderten. Und als die Mutter ausgerechnet an Luisas fünfzehntem Geburtstag einen Streit mit ihr anfing und ihr an den Kopf warf, sie habe hier eigentlich gar nichts verloren, sie gehöre im Grunde gar nicht hierher, sei eigentlich nicht einmal Teil dieser »verfluchten Familie«, weil Bert gar nicht ihr wirklicher Vater und sie ein »Rauschkind« sei, das Produkt einer schnellen Nummer zweier Betrunkener auf einem Maskenball beziehungsweise dem Parkplatz hinter dem Ballsaal, zweier Besoffener, von denen einer sie gewesen sei, die da als Rauchfangkehrer verkleidete Mutter, die sich an Bert hatte rächen wollen, weil er auf ihrer Hochzeit, der eigenen Hochzeit, irgendeine Kellnerin »geknallt« hatte, traf sie das anders, als die Mutter es beabsichtigt hatte, falls sie überhaupt irgendetwas beabsichtigt hatte und es nicht einfach mit ihr durchgegangen war. Es dauerte, bis sie ihre Gedanken und vor allem Gefühle sortiert und sich daran gewöhnt hatte, nicht mehr Papa oder Papi zu sagen oder zu denken, sondern Bert oder Robert oder Rob oder auch Bob, was ihr mit der Zeit immer besser gefiel, weil es verdammt cool klang, nach Amerika, und weil niemand sonst ihn je so genannt hatte. Als die neue Situation nicht mehr ganz neu für sie war, suchte sie einen Moment, um mit ihm zu reden, und als sie ihn endlich fand an einem regnerischen Nachmittag, den er im Schuppen verbrachte bei dem alten, mit Schrott beladenen, aufgebockten Miststreuer, dem die Reifen fehlten, weil sie irgendwann für etwas anderes gebraucht worden waren, gestand sie ihm unumwunden, dass sie ihn liebte. Er schwieg einen Moment, bevor er sagte, sie spinne, und gehen wollte, ohne sie noch eines weiteren Blicks zu würdigen, aber sie fasste nach seiner Hand und hielt sie fest und erzählte ihm, was sie wusste, was die Mutter ihr erzählt hatte, und bat ihn, mit ihr wegzuziehen, »irgendwohin«, und ein neues Leben anzufangen. Wieder sagte er nur, sie spinne und wenn sie nicht sofort seine Hand loslasse, haue er ihr eine runter, und dann sagte er noch, dass sie sich sofort etwas Ordentliches anziehen solle, bevor er sich losmachte und ging und daraufhin tagelang nicht mehr auffindbar war, und als er wieder auftauchte, mied er sie. Sie war aufgewühlt und wäre am liebsten verschwunden, konnte aber nicht, wohin sollte sie auch? Dann beruhigte sie sich, sagte sich, sie hätte ihren Teil getan und bräuchte nun nichts weiter zu tun, als zu warten, bis er käme, und das würde sie tun, und wäre es ihr restliches Leben lang. Einmal noch versuchte sie, mit ihm zu reden, und da verpasste er ihr tatsächlich eine. Und auch von der Mutter fasste sie eine aus, denn zwischen ihnen war im Zuge dieser Entwicklungen eine wahre Feindschaft entstanden, und als die Mutter ihr mitteilte, sie hielte es für besser, wenn sie, Luisa, nicht länger hier wohnen bliebe und stattdessen zu einer Freundin ins Dorf ziehe, deren Vater gerade gestorben war, antwortete Luisa, es sei erstaunlich, dass auch dumme Menschen mitunter gute Ideen haben konnten. Da hatte die Mutter zugeschlagen, sehr fest und so rasch, dass Luisa nicht einmal schützend ihre Hand heben konnte. Dabei hatte sie es ernst gemeint: eine gute Idee. Auch ihr war es schließlich lieber, nicht nur die Mutter, sondern auch ihn nicht mehr täglich zu sehen. Was gesagt war, war gesagt; kein Geheimnis mehr; er wusste Bescheid, und es lag jetzt an ihm.

Und dann vergingen zwanzig Jahre, bis er auf einmal vor ihr stand, an der Tür ihres Hamburger Appartments im dritten Stock eines Eppendorfer Miethauses, eine prallgefüllte violett-rosafarbene Adidas-Sporttasche aus den Neunzigern über der Schulter, als hätte er erst jetzt verstanden, was sie ihm gesagt hatte, und anfangs war sie damit ganz und gar nicht einverstanden. Natürlich nicht. Sie hatte ihr Leben ohne ihn gelebt und sich längst damit abgefunden, dass er nicht der Teil ihres Lebens sein würde, den sie sich damals so sehnlichst gewünscht hatte. Ja, damals. Wie lange war das her, und wie wenig war es noch wahr. Und doch stand gemeinsam mit ihm alles damals Gesagte, nie Widerrufene im Raum. Sie fühlte sich überrumpelt und konnte nicht damit umgehen, dass auf einmal alles anders sein sollte, als es immer gewesen war. Seine Anwesenheit war ein Schock für sie, noch bevor er überhaupt formuliert hatte, weshalb er da war. So oft war sie zu Hause gewesen und hatte auf irgendein Zeichen seinerseits gewartet, das aber nie kam, weil er sich benahm, als hätte sie nie etwas gesagt oder als wäre das, was sie gesagt hatte, ohne Bedeutung, ohne Gewicht, weil die Mutter ihm geschworen hatte, dass es nicht stimme … Aber irgendwann, als es um die Erbschaft ging, war die Wahrheit doch ans Licht gekommen, und von da an hatte er sie tatsächlich anders betrachtet, es war ein Begehren in seinen Blick gekommen, und da spürte sie, wie ihr so viele Jahre lang gehegter Wunsch sich aufzulösen begann, und in der folgenden Zeit hatte sie kaum noch an ihn gedacht.

»Was willst du hier?«

»Du weißt, was ich will.«

»Weiß ich nicht!«

»Ich will, was du willst.«

Sie lachte auf, wusste nicht, wo sie hinschauen sollte.

»Ich will eigentlich nur, dass du abhaust.«

»Liebst du mich?«

»Natürlich, du bist mein Vater.«

»Nein, Luisa, das bin ich nicht. Und du bist nicht meine Tochter.«

Das – die ausgesprochenen Worte – verschlug ihr die Sprache, als würde, was sie so lange schon wusste und auch er inzwischen eine ganze Weile lang, erst in diesem Moment wahr. Die Vergangenheit, ihr Warten, ihre sie dabei beständig begleitenden Gedanken, es sei Wahnsinn, was sie sich wünsche, und dass sie wohl tatsächlich spinne, weil sie ihr Leben vergeudete wegen eines kranken Traums, während sie es doch nach außen hin einigermaßen normal führte – es fühlte sich an wie ein unüberwindlicher Abgrund.

»Lass mich rein.«

»Du kommst zu spät.«

»Unsinn. Solange man lebt, ist nie etwas zu spät.«

Sie ließ ihn ein, zögernd, unsicher, misstrauisch – gegen sich selbst und gegen ihn – und voller Angst. Ihr Herz schlug bis zum Hals, sie zitterte fast, und um das zu verbergen, schwieg sie. So viel einfacher wäre es gewesen, die Tür wieder zu schließen, weiterzuleben wie bisher, so viel weniger riskant.

Aber bald schon war – unzählige momenthafte Empfindungen ausgenommen – von alldem nichts geblieben. Freilich dauerte es, bis sie ihre bisherigen Rollen, welche auch immer das gewesen waren, gänzlich aufgeben konnten. Sie waren nicht verwandt – und er hatte sich eigentlich nie wie ein Vater benommen, nicht nur ihr, sondern auch ihren Halbgeschwistern gegenüber nicht –, aber viele Jahre lang hatten sie dennoch so gelebt, als wären sie es. Auf eine Weise mussten sie beide lernen, sich neu zu sehen, sich neu kennenzulernen, und das taten sie, ein jeder auf seine Art, mit Neugier und Freude, und das nicht heimische, unwissende und gleichgültige Umfeld in Hamburg war dazu ideal. Am Ende dieses Prozesses hatten sie sich etwas Neues geschaffen, etwas, das nur ihnen gehörte, einen eigenen Raum voller Erlebnisse und Erinnerungen, und alles, was außerhalb dieses Raumes war, kam ihnen wie etwas sehr Fremdes vor, das nichts mehr mit ihnen zu tun hatte. Das Frühere war weder schön noch hässlich, und es war weder mit der Gegenwart verbunden noch mit der Zukunft.

Es begann eine herrlich unbeschwerte Zeit, und auch wenn Luisa in fast jedem Moment klar war, dass sie einmal enden würde, weil es unwahrscheinlich war, dass sie lange dauerte, weil auch bisher nichts gedauert hatte, tat sie vor sich selbst, als wäre es nicht so, als würde es nie mehr anders werden, als es geworden war.

Vielleicht auch deshalb war sie zunächst verstimmt, als er eines Morgens von einem Umzug zu sprechen anfing. Sie las es als Unzufriedenheit, ja als Zurückweisung, und war gekränkt. Gefiel ihm ihre Wohnung denn etwa nicht? Freilich, sie war nicht allzu groß, womöglich auch nicht wirklich schön eingerichtet, aber das konnte man ändern, wenn es denn das war, das ihn störte, und die Lage – Eppendorfer Landstraße – war schließlich gut, es gab unzählige Bars und Restaurants in der Nähe und sogar ein Kino. Das sei es nicht, sagte er, am Fenster stehend und auf die Straße hinabblickend, ihm fehlten einfach die Bäume. Die Luft hier bringe ihn um, er habe das Gefühl, zu wenig Sauerstoff zu bekommen. Sie verstehe, sagte sie, anfangs sei es ihr in den Städten auch so gegangen, zumindest empfand sie das plötzlich so, und dabei fiel ihr ein, dass er zu Hause kaum einen der alten knorrigen, mistelbewachsenen, aber nur zum Teil dürren Obstbäume hatte stehen lassen, sie mit einem eigens dafür ausgeliehenen Radlader einen nach dem anderen umgerammt und es Jakob überlassen hatte, sie aufzuarbeiten. Sie begannen, nach einer anderen Wohnung zu suchen, die Suche entfernte sich immer weiter von Eppendorf, aber war das eigentlich wichtig? Es gab doch auch anderswo Bars und Restaurants und Kinos. Sie war sich sicher, dass es kein Plan von ihm gewesen war, dass sie immer noch weiter entfernte Wohnungen und Häuser anschauten, sondern dass ihn nur einfach das Heimweh gepackt hatte wie ein kleines Kind und dass er das nicht zugeben wollte, weder vor ihr noch vor sich selbst, und auf eine Weise fasste sie das an. Was sprach denn wirklich dagegen, heimzukehren, wenn er sich hier nicht am Platz fühlte, zumindest nicht dauerhaft? Jeden Tag sah er die Todesanzeigen von zu Hause durch … Eigentlich, dachte sie manchmal und wunderte sich nicht einmal, dass sie das dachte, sprach nichts dagegen, so viele Freunde hatte sie hier nicht, eigentlich kaum wen, nein, es gab niemanden, den sie regelmäßig traf, und als er eines Tages – es war der eine so bitterkalte Tag, an dem die Gastherme ausfiel – mit der Anzeige der Villa daherkam, sagte sie es:

»Wir können sie uns ja einmal anschauen.«

Nein, sie war nicht seine Tochter, und er war nicht ihr Vater, und somit gab es höchstens etwas Verwirrendes, aber nichts Skandalöses daran, dass sie das Haus kauften und es bald schon bezogen. Wer auch hätte sich daran stören sollen? Obwohl es immer noch kein großer Ort war, lebten die Leute hier mehr und mehr städtisch oder vielmehr vorstädtisch, und damit war nicht gemeint, dass es inzwischen sogar eine Dönerbude gab, sondern dass sie ohne rechte Beziehung zueinander lebten oder mit immer schwächer werdender Beziehung, weil es nicht notwendig war, miteinander verbunden zu sein, weil man ohnehin mehr als genug Verbindungen hatte in alle Gegenden, und wenn man in den Supermarkt ging, wusste man nicht, ob die anderen Kunden Bewohner des Dorfes waren, irgendwelche Arbeiter oder Angestellte der sich Jahr für Jahr weiter ins Umland – die schwere, fruchtbare Erde, die dabei auf immer und ewig versiegelt wurde – fressenden Betriebe oder nur Leute, die für ein paar Minuten von der Autobahn abgefahren waren, um sich etwas zu essen zu kaufen und sich die Beine zu vertreten.

Sie kannte auch hier kaum wen, und kaum wer kannte sie. Freilich gab es noch so etwas wie einen alten Kern, eine Art Gemeinschaft, in der man sich kannte und die in sich geschlossen war, nur dass sie für die allermeisten keine Rolle mehr spielte, weil sie weder etwas von ihr, dieser Gemeinschaft, brauchten, noch sonst auf sie angewiesen waren. Ab und zu begegnete Luisa einem Blick, der ihr merkwürdig vorkam, aber das war überall so gewesen, wo sie gelebt hatte, das geschah jedem, das war normal, und sie maß dem keine Bedeutung bei.

Niemand hier war ihr je nahe gewesen, nicht nur der Verstorbene nicht, an dessen Totenwache sie teilgenommen hatten, und im Grunde war ihr auch nirgendwo sonst je einer nahe gewesen oder nicht länger als für einen Moment, eine Aufwallung, auch keiner der Männer, mit denen sie gelebt hatte, auch nicht die Väter ihrer Kinder, und manchmal dachte sie: nicht einmal die Kinder selbst. Andererseits zerriss es sie jedes Mal fast vor Sehnsucht, wenn sie ein oder zwei Mal in der Woche für ein paar Minuten videotelefonierten, und das sagte sie den Kindern auch – nur dass hinterher von dieser Sehnsucht nie etwas blieb, lediglich ein schales Gefühl, das umso schaler wurde, als die Kinder immer weniger auf ihre Sätze reagierten, je älter sie wurden.

»Hörst du denn nicht, Eric? Ich liebe dich, mein Baby! Ganz bald komme ich wieder zu dir.«

»Ja, Mama. Ich muss jetzt trotzdem aufhören, es gibt Essen.«

Nähe. Mein Gott, wie viel Zeit hatte sie in ihrem Leben damit verbracht, darüber nachzudenken, weshalb sie sie nicht empfinden konnte. Wie fern andere waren. Fern wie Sterne. Aber nicht nur andere. Stand sie vor dem Spiegel, konnte sie oft nicht glauben, dass das wirklich sie sein sollte. So gut wie alles an sich missfiel ihr, zumindest in manchen Momenten, obwohl ihr oft genug vermittelt worden war und nach wie vor vermittelt wurde, selbst hier, dass sie anziehender aussah als die meisten anderen. Nackt mied sie den Spiegel inzwischen ganz, und wenn ihr Blick beim Anziehen der Strümpfe doch einmal auf ihre weich gewordenen Schenkel fiel, hätte sie manchmal fast weinen können vor Traurigkeit und Wut. Ins Schwimmbad ging sie schon lange nicht mehr, denn dort, angesichts alter Frauen, bekam sie auch noch zu sehen, dass es noch schlimmer werden würde. War das aber möglicherweise doch auch eine Art von Nähe? Müsste es ihr ansonsten nicht einfach gleichgültig sein, wie ihre Schenkel aussahen oder aussehen würden? Nur zu dem Kind, das sie gewesen war und das im Nebel ihrer Erinnerung stand, empfand sie Nähe und unverbrüchliche Zuneigung, und manchmal war ihr, als wäre sie im Grunde nie jemand anderes geworden, wäre immer noch dieses Kind, dieses süße kleine Mädchen, zu dem sie oft Zuflucht nahm. Er gab niemanden, mit dem sie darüber hätte sprechen können. Einmal hatte sie es versucht, aber es war misslungen. Was sie, der die Männer in Scharen nachliefen, überhaupt wolle, hatte es da geheißen. Keiner verstand sie. Denn auch wenn es stimmte, was die Person gesagt hatte, half das ja nichts. So viel Energie verwandte sie, seit sie denken konnte, darauf, Männer – irgendwelche Männer, wahllos bisweilen fast, irgendwo kennengelernt – für sich einzunehmen, ohne dass sie eigentlich je gewusst hatte, weshalb sie das tat, weil ja doch nichts davon blieb und nie geblieben war, nur die allzu kurze, allzu flüchtige Befriedigung darüber, auch diesem, auch jenem mehr als nur zu gefallen. War es da nicht unwahrscheinlich, dass sie tatsächlich Nähe zu ihm, Bob, empfinden sollte, zu einem einzigen Menschen auf der Welt wirkliche und dauerhafte Nähe? Konnte das mehr sein als bloßes Wunschdenken, bloße Träumerei, ja Phantasterei? Und wenn es so wäre, was sie hoffte und fürchtete zugleich: Wäre es dann nicht das Grausamste, das Allergrausamste auf dieser Welt, die so öd und leer war, die sie so sehr ausschloss, wenn er anders als sie empfand oder – tick, tick, tick – zu empfinden begänne und sie irgendwann fallen ließe wie die sprichwörtliche heiße Kartoffel oder als wäre sie nur eine seiner »Ideen« gewesen, von denen er im Lauf der Jahre zahllose gehabt hatte und aus denen doch nie viel geworden war und aus denen nie viel werden würde, gewiss auch aus der jüngsten nicht, oder wer brauchte schon eine Seilbahn über das Dorf?

4

Aber so oft lag sie gar nicht mehr auf der Terrasse in den letzten Wochen. Zwar hätte sie es gern getan, doch es war im Ganzen betrachtet ein überaus regenreicher Herbst, so regenreich und mild wie seit Beginn der Aufzeichnungen nicht, und vielleicht war es deshalb, dass sie noch einmal erschöpfter war als sonst zu dieser Zeit. »Es regnete den ganzen September lang«, stand in einem der vielen angelesenen Bücher neben dem Bett, und der Satz, den sie sich mit dem Fingernagel markiert hatte, weil er ihr in seiner Schlichtheit so schön vorgekommen war im Moment des Lesens – und sie hatte den Gedanken gehabt, wie wunderbar es sein müsste, seine Zeit damit zu verbringen, solche Sätze zu schreiben, ein Gedanke, den sie sehr oft hatte –, hätte auch von ihr stammen können, und sie hätte ihn noch erweitern können um den Oktober und den November: Es regnete den ganzen September, den ganzen Oktober und den ganzen November lang … Obwohl der November noch lange nicht vorbei war. Vielleicht kam es auch daher, dass sie überreizt war, schließlich konnte einem ein Zuviel an Dunkelheit ebenso zusetzen wie ein Zuviel an Licht. Sie brauchte nur an die Sommer in den nordischen Ländern zu denken, die sie fast wahnsinnig gemacht hatten, weil es, kaum war es einigermaßen dunkel geworden, schon wieder hell wurde und der Körper sich monatelang nie wirklich erholen konnte. Stand nicht sogar in der Tierschutzverordnung, dass Tiere zumindest acht der vierundzwanzig Stunden in Dunkelheit verbringen mussten? Irgend so was hatte sie unlängst aufgeschnappt beim Blättern in einer der Landwirtschaftszeitungen, die am Frühstückstisch herumlagen. Von acht Stunden konnte man da oben bloß träumen im Sommer. Und doch hätte sie viel dafür gegeben, vor einem solch ewig langen Sommertag zu stehen, wenn es auch nur ein einziger wäre, anstatt neuerlich vor einem solch trüben Spätherbsttag wie dem, der sich vor den sprossenlosen Kunststofffenstern abzeichnete, als sie aufstand.

Beim Runtergehen dachte sie daran, wie oft sie in dem einen Café am Gammel Strand gesessen war, mit Eric oder alleine, das gleißende Licht auf dem Pflaster, und sie dachte an den einen Alten, der jeweils kurz vor elf kam, ein bernsteinfarbenes Bier und einen Schinken-Käse-Toast bestellte und sich eine Pfeife stopfte, und an den anderen, der eine halbe Stunde später dazustieß und dasselbe bestellte und, sobald er das Bier hatte, sich eine Zigarre anzündete, und sie dachte daran, dass sie den Geruch des Rauches immer schon eine Zeit davor ersehnt hatte, vielleicht nur deshalb sitzen geblieben oder überhaupt nur deshalb um diese Zeit gekommen war und nicht früher oder später, und dass die beiden ihr stets so beneidenswert erschienen waren, weil sie zufrieden wirkten. Sie war nie zufrieden, oder immer nur im Nachhinein, wenn etwas vorbei war, dann konnte sie denken: Ah, damals, das war doch wirklich schön … Das war das Leben … Aber in der Gegenwart fühlte sie immer vor allem Unrast und, ja, Unzufriedenheit. Die vergangenen Jahre waren die große Ausnahme gewesen, aber allmählich spürte sie, wie diese Unrast und diese Unzufriedenheit zurückkehrten. Sie konnte es, wenn sie genau schaute, sogar in ihrem Gesicht sehen, um den Mund und um die Augen, es sah aus wie eine Art Verbitterung. Sie dachte freilich, dass es diesmal nicht an ihr lag, nicht an ihrem Wesen oder nicht an ihm allein, sondern daran, dass Bob sich so seltsam verhielt seit einer Weile. Nicht sofort und von Anfang an zwar, aber nach und nach war diese Veränderung eingetreten. Nicht nur, dass sie nicht mehr oft beieinanderlagen, weil er das Schlafzimmer überhaupt kaum noch betrat, weil er kaum noch zu schlafen schien, sondern er mied sie richtiggehend, zumindest kam es ihr so vor, er redete auch nicht mehr viel, war tief in sich versunken und schien in einem fort über etwas nachzugrübeln, von dem sie freilich nicht wusste, was es war. Wenn sie ihn fragte, tat er, als wüsste er nicht, was sie meinte. Was hieß, er sei anders? Was hieß, er sei seltsam? Da schwieg sie, weil sie keinen Streit anfangen wollte. Nie hatten sie gestritten, seit sie ein Paar waren, und manchmal hatte sie schon gedacht, es sei unmöglich, dass sie es je tun würden. Und hatte er nicht recht? Er verhielt sich schließlich tatsächlich nicht anders als früher, als sei er in ein altes Muster zurückgefallen, denn dass die Luft es war oder die Sternenkonstellation über einem Ort oder sonst etwas, das den Menschen prägte und sein Verhalten bestimmte, wie die Esoteriker meinten, das konnte sie aussschließen, sie hatte an ausreichend Orten gelebt, um zu wissen, dass man sich überallhin mitnahm mitsamt seinem unausweichlichen Inneren, mitsamt seinen unausweichlichen Gedanken. Fest stand, dass Bob ihr entschwand und dass ihr nichts einfiel, was sie dagegen tun konnte, und das versetzte sie in eine Art Lähmungszustand, und bisweilen spürte sie sogar ihre Hände nicht mehr, wenn sie feststellte, dass er wieder einmal nicht ins Bett kam oder überhaupt weg war und auch das Telefon nicht abnahm.

Auch jetzt war er nicht da. Es kurz nach halb neun. Sie nahm eine Tasse aus dem Schrank und drückte sich einen Kaffee herunter und setzte sich an den kleinen Tisch. Der Kaffee war heiß, und sie blies hinein, bevor sie einen kleinen Schluck nahm und die Tasse wieder abstellte. Kaum Platz dafür. Sie schob die Zeitungen beiseite; eine fiel zu Boden. Weshalb erhielt er sie überhaupt noch, weshalb hatte er sie jemals erhalten, zumal die Landwirtschaft ihn doch nie wirklich interessiert hatte? Sie hob die Zeitung auf und blätterte sie durch. Es war ein »Journal« voller gebrauchter Landmaschinen, und sie sah, dass manches Inserat mit einer Markierung – einem schwarzen X – versehen war. Sie dachte nicht darüber nach, woher die Kreuze stammten, nahm aber nicht an, dass er sie gemacht hatte. Nein, sie dachte eigentlich gar nie darüber nach, was er den Tag über tat, das hatte sie nie gemacht. Und dass er darüber nachdachte, was sie tat, wenn sie nicht zusammen waren, glaubte sie ebenso wenig. Zugleich wirkte er in letzter Zeit auf eine Weise unzufrieden mit ihr, die ihr neu war und die sie nicht deuten konnte; nicht nur in der Kirche, als er sie fast von der Bank gestoßen hatte, sehr oft war ihr neuerdings, als passe etwas an ihr ihm nicht, und zwar etwas Grundlegendes, das sie nicht einmal ändern könnte, wenn sie wüsste, was es war. Sicher waren diese Empfindungen übertrieben, sicher waren sie haltlos; er hatte wohl einfach eine seltsame Phase, und das hatte mit ihr nichts zu tun. Hatte er nicht gesagt, und nicht nur ein Mal, er würde sie niemals verlassen? Dennoch: Nie im Leben hätte sie gedacht, jemals an einen solchen Punkt zu gelangen, an dem sie einem anderen so vollkommen ausgeliefert war. Ihre beiden Ex-Männer, die Väter ihrer Kinder, waren schrecklich gewesen, der eine wie der andere, in gewisser Hinsicht eigentlich richtige Monster, von denen sich zu trennen ihr in ihrem Innersten nicht schwergefallen war. Aber auch bei anderen Männern war ihr das nie schwergefallen, und es war schließlich immer sie gewesen, die gegangen war, nachdem sie eine einfache Rechnung angestellt, Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen hatte, und sobald die Nachteile überwogen hatten, hatte sie ihre Sachen gepackt. Wahrscheinlich aber war, dass nicht das Wetter oder die Sterne und auch nicht Bobs Verhalten, sondern das verdammte Nachdenken es war, was sie verrückt machte. In Hamburg hatte sie sich leichter ablenken können, war ins Kino gegangen oder in irgendeine Ausstellung, es gab immer etwas, das sie noch nicht kannte, noch nicht gesehen oder gehört hatte, etwas, womit sie sich die Zeit vertreiben und auf andere Gedanken kommen konnte, wenn sie das nötig hatte. Hier gab es nichts. Nicht einmal irgendwelche Leute, die sie anrufen konnte, die sie auf einen Kaffee oder sonst etwas treffen konnte. Manchmal dachte sie daran, dass sie bis vor ein paar Jahren noch oft stundenlang mit ihrer Mutter telefoniert hatte, mit der sie sich irgendwann wieder versöhnt hatte, weil sie beide niemanden hatten, mit dem sie besser reden konnten in schlechten Momenten, und ab und zu versetzte diese Erinnerung ihr einen Stich, über den sie aber nur den Kopf schütteln konnte. Es war notwendig gewesen, sich mit der Mutter wieder zu versöhnen, denn sonst hätte sie gar nicht mehr heimkommen können und in seiner Nähe sein. Und weil sie sich bei der Mutter entschuldigt und beteuert hatte, ihre jugendliche Verwirrung längst überwunden zu haben, war die Versöhnung einfach gewesen. Jetzt freilich … Luisa legte die Zeitung zusammen und zu den anderen, stand auf und ging, die Tasse stellte sie auf dem Weg nach oben irgendwo ab. Sie zog sich die Laufsachen an. Eine Runde Joggen und eine ausgiebige heiße Dusche hinterher: Das würde sie auf andere Gedanken bringen.

Das erste Stück war wie immer eine Qual, viele hundert Meter, während derer sie nichts mitbekam, nicht die Häuser und nicht den Verkehr und nicht einmal den sehr grellen Schrei irgendeines Kindes aus einem offenen Fenster, nichts wahrnahm als das Rauschen des Blutes in ihren Ohren, das sich vermischte mit jenem der Autobahn, die sie nach einer Weile unterquerte, und den hämmernden Puls. Sie lief zu schnell, das war es; das war’s immer; erst nach zehn Minuten, auf dem Schotterweg am Beginn des Waldstücks, wo die roten Früchte des Schneeballs leuchteten, fand sie in ihren Rhythmus; der Atem beruhigte sich, das Blut floss langsamer, und sie konnte den satten, würzigen Fichtenduft riechen, der sie an ein bestimmtes Wellnesshotel in Dalarna erinnerte, in dem sie – in einem anderen Leben – mit Hjalmar manchmal gewesen war. Dann kam die Schonung mit den eingezäunten Jungfichten, dann der Jägerstand und dahinter die alte, moosbewachsene und laubbedeckte, an einer Seite offene Blechhütte mit den Schneestangen darin, zu der kein Weg führte. Als sie das Waldstück aber hinter sich gelassen hatte, waren ihre Beine mit einem Mal so schwer, dass sie stehen bleiben und verschnaufen musste. Was war los? Sie ging regelmäßig laufen. Zudem hatte sie lang geschlafen und fühlte sich nicht krank. Sie sah zu den Bergen hin, die über Nacht weiß geworden waren. Ganz anders sahen sie aus als am Vortag, schroff und erhaben, wirkten außerdem näher und größer als sonst. Auch das Vorgebirge war bis weit herunter weiß angestaubt und trat dadurch so plastisch hervor wie sonst nur bei Föhn. Es regnete nicht, aber die Luft war feucht, und es ging ein scharfer Wind, den sie erst jetzt, in der offenen Landschaft, wahrnahm, und um nicht auszukühlen, ging sie raschen Schritts weiter. War es der Wetterumschwung, der sie erschöpfte? Die Höfe, die sie sehen konnte, wirkten verwaist, und nicht einmal der süßliche Geruch nach Schweinedung, der sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit über der Gegend lag, war wahrzunehmen. Verwaist wirkte auch der kleine Bagger da vorne neben der übermannshohen hölzernen Kabeltrommel am Wegrand. Kein Wunder, dass sie, wie Bob gesagt hatte, einfach nicht fertig wurden mit dem Verlegen der Glasfaserkabel, wenn sie nie arbeiteten. Wie lange stand der Bagger schon hier? Es mussten Monate sein. Nur die gelb-grünen Busse des Unternehmens sah man jeden Tag, wie sie von Haus zu Haus, von Hof zu Hof fuhren, die Vertreter, die Verträge abschlossen, wie sie schließlich auch mit