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Reinhard Kaiser-Mühlecker

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Beschreibung

Nach seinem erfolgreichen Roman ›Fremde Seele, dunkler Wald‹, der auf der Shortlist des deutschen Buchpreises stand, schreibt Reinhard Kaiser-Mühlecker über die Umbrüche unserer Gegenwart. Nach Jahren auf Reisen kehrt ein Journalist in den Ort seiner Kindheit zurück, an dem er nie heimisch war. Er schreibt für das kriselnde Lokalblatt, er beginnt eine Affäre und arbeitet auf dem Hof eines Mastbauern, dessen Land enteignet wurde. Rätselhaft und faszinierend sind sie, Ines, Hemma, Flor, und sie ziehen ihn hinein in die Kämpfe um ihr Leben, das ihnen weggenommen wird. Ein existentieller und aufwühlender Roman darüber, wie diese Welt im Umbruch unsere Gefühle und Beziehungen verändert. Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt von einer Zeit tiefer Verunsicherung – er erzählt von unserer Gegenwart.

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Reinhard Kaiser-Mühlecker

Enteignung

Roman

FISCHER E-Books

1

Es war Sommer, und seit Wochen drückte eine Hitze auf den Landstrich, wie ich sie hier nie zuvor erlebt hatte. Nur abends kam hin und wieder leichter Wind auf, und dann setzte ich mich mit offenem Hemd auf die oberste Stufe der kurzen Treppe in den Garten und trank ein Bier und atmete auf in der frischeren Luft.

In die Redaktion fuhr ich lediglich, wenn es sich nicht anders machen ließ. Zum einen war es in der Stadt noch drückender, zum anderen ging mir Parker seit einiger Zeit auf die Nerven. In einem fort versuchte er zu rechtfertigen, dass er jetzt mit der Rechtspartei zusammenarbeiten musste – seit der letzten Wahl, die noch nicht sehr lange zurücklag, stellte sie den Bürgermeister in der Fünfzigtausend-Einwohner-Stadt. Ich hatte den Eindruck, er rechtfertige sich vor allem vor mir, weniger den anderen Kollegen, dabei hatte ich ihm bereits mehrfach gesagt, dass er das nicht brauche, denn es war mir vollkommen gleichgültig, was er tat.

»Sie gefallen mir nicht«, sagte ich, »und sie werden mir nie gefallen. Aber du bist der Chefredakteur, und du kannst es ja halten, wie du willst.«

»Du verstehst es nicht«, sagte er.

»Können wir nicht über etwas anderes sprechen?«

»Mach einen Vorschlag.«

Ja, worüber? Nichts geschah in jenem Sommer. So oft ich konnte, fuhr ich auf den Flugplatz im Norden der Stadt und startete eine Maschine und flog nach Süden, bis zu den Seen, kehrte über dem Gebirge um und flog bis an das waldreiche Grenzgebiet im Norden. Manchmal war mir, als werde das Fliegen mir langweilig, und das beschäftigte mich. Was bliebe mir? Ich hatte, das Lesen, das Facebooken und Telefonieren mit meinen über die Welt verstreuten Freunden und Bekannten – Kollegen bei den Zeitungen und Zeitschriften, für die ich gearbeitet hatte –, meinetwegen auch meinen alten Ford Mustang ausgenommen, nichts sonst, das mir die freie Zeit vertrieb. Dann dachte ich wieder, dass ich nicht zu befürchten brauchte, was ich hin und wieder befürchtete: dass mir die Leichtigkeit, dass kaum etwas mich wirklich beschweren konnte, abhandenkam. Nein, sagte ich mir, es ist bloß eine Art Melancholie, welche die trägemachende, tatsächlich alles niederdrückende Hitze in mir ausgelöst hat, nichts weiter, sie wird vergehen, sobald die Hitze nachlässt.

Nicht immer ging ich ins Büro, wenn ich in der Stadt war. Mitunter hockte ich mich auch bloß in ein Lokal in der Altstadt und trank einen Kaffee und machte der Kellnerin – einer schwarzhaarigen Albanerin, die immer sehr enge Sachen trug – schöne Augen und fragte sie, ob sie es sich überlegt habe, worauf sie lachte und mir ihre Hand mit dem schmalen goldenen Ring, auf dem ein durchsichtiger Stein saß, entgegenhielt.

»Hast du ihn immer noch nicht verlassen?«, fragte ich jedes Mal wieder.

Aber nicht einmal diese Wortwechsel machten mir noch rechte Freude. Ich überlegte schon, ein paar Tage zu verreisen – irgendwohin, wo es weniger heiß war; ich dachte an die Ostsee oder überhaupt gleich Skandinavien, in einer Beilage hatte ich etwas über Südschweden gelesen –, als ich Ines kennenlernte.

Ich hatte sie ein paarmal bisher gesehen und hatte mitbekommen, dass sie Lehrerin war und hergezogen aus der Hauptstadt vor noch nicht sehr langer Zeit, aber mehr hätte ich über sie nicht anzugeben gewusst. Und vielleicht lag es an meiner eigenartigen Stimmung, dass ich sie ansprach, oder es lag an dem Bedürfnis, diesen grausamen Sommer durch irgendetwas, irgendein Ereignis rascher vergehen zu lassen. Warum sonst hätte ich sie ansprechen sollen? Sie war hell, blond, und mir gefielen eher die Dunklen; und dann: Etwas mit einer aus dem Dorf anzufangen war mir noch nie in den Sinn gekommen.

Sie schob ihren Einkaufswagen quer über den Parkplatz direkt auf mich zu. Zuerst sah es aus, als gehörte der trotz der Hitze anzugtragende Mann, der nicht weit hinter ihr ging, zu ihr, aber auf einmal blieb er stehen und machte kehrt. Es war der Baubeauftragte der Gemeinde, mit dem ich vor längerem einmal zu tun gehabt hatte und den ich auch auf dem Flugplatz manchmal sah. Unverkennbar seine Frisur, die wie ein Helm saß. Es war das Eröffnungswochenende des Supermarkts. Ein Hähnchenbrater stand davor – ein halbes Grillhuhn plus Bier um 5,50 –, und neben dem Eingang dröhnte der Kompressor, der Luft in eine gelbrote, neben den Toren für die Anlieferung aufgestellte Hüpfburg pumpte, in der eben noch ein paar Kinder herumgetobt waren. Ihr Auto war neben meinem geparkt; die beiden rechten Räder standen auf der weißen Markierungslinie. Im Supermarkt hatte ich sie nicht gesehen, hatte aber überhaupt nicht sehr viel mehr bemerkt, als dass reger Zustrom herrschte – vor allem in der Fleisch- und der Getränkeabteilung war viel los gewesen; auch ich hatte mich mit Bier eingedeckt. Ich hätte sie nicht ansprechen müssen, hätte sie nicht einmal grüßen müssen. Hier machte man das zwar noch, man grüßte auch den Auswärtigen, aber ich, in den vergangenen Jahren fast nur in großen Städten lebend, hatte diese Gewohnheit abgelegt.

»Ist der auch im Angebot?«, fragte ich und zeigte auf den Inhalt ihres Einkaufswagens.

»Was?«, sagte sie.

»Der Gin«, sagte ich. »Ist der auch im Angebot? Das Bier ist dreißig Prozent herabgesetzt.«

Sie runzelte die Stirn und räumte die sechs oder sieben gelbetikettierten Flaschen und den Träger Tonic Water in den Kofferraum.

»Nein, ich glaub nicht«, sagte sie.

Sie schlug den Kofferraumdeckel zu, der beim ersten Mal nicht hielt, brachte den Einkaufswagen zurück und warf mir ein kurzes, bedeutungsloses Lächeln zu, bevor sie in ihr Auto stieg. Ich lehnte immer noch an meinem Mustang. Er war Baujahr 74, ich hatte ihn in Amerika gekauft und später hierher mitgenommen und war sehr stolz auf ihn und vermisste den Wagen wie einen Hund, wenn er, was derzeit leider allzu oft vorkam, in der Werkstatt stand.

Es ging gegen sechs, und es kamen immer noch welche angefahren, obwohl der Markt schon bald schloss. Der Hähnchenbrater hatte angefangen, seine Arbeitsplatte zu reinigen, nur noch ein paar letzte kleine Hähnchen drehten sich langsam am Spieß und schienen, obwohl kein Tropfen Fett mehr von ihnen fiel, mit jeder Umdrehung noch kleiner zu werden. Ich überlegte, noch an den Fluss zu fahren und mich ins Wasser zu werfen – das Einzige, was die Hitze für eine Zeit erträglich machte. Da die Autos so nah aneinanderstanden, wartete ich mit dem Einsteigen, bis die Lehrerin weggefahren wäre. Ich warf einen Blick auf mein Telefon: keine Anrufe, keine Nachrichten; ich steckte es wieder weg. Alle waren im Urlaub … Ich wusste, dass ich später wieder in die Stadt fahren würde, zuerst bei der Albanerin etwas trinken und danach Christina anrufen würde, und mich ermüdete der Gedanke an ihre Stimme, die sagen würde: Ja, ich bin zu Hause … oder: Ja, ich bin noch wach … Auch diese Müdigkeit war neu, und wieder dachte ich: Wenn nur diese Hitze endlich vorüber wäre … Jemand, der eben über den Parkplatz ging, rief mir etwas zu, rief meinen Namen, und ich sah aus dem Augenwinkel, dass er die Hand zum Gruß gehoben hatte, und ich rief »Hallo«, ohne hinzusehen, und hob die Hand ebenfalls.

»Kannst du mir dein Handy leihen?«

Ich hatte nicht bemerkt, dass sie wieder ausgestiegen war.

»Klar«, sagte ich, holte das Telefon hervor, entsperrte es und gab es ihr. »Brauchst du was?«

Die Brauen zusammengezogen, wählte sie eine Nummer und hielt das Telefon an ihr Ohr.

»Einen Mechaniker«, sagte sie und warf mir einen Blick zu.

»Was hat’s denn? Springt er nicht an?«

Sie nahm das Telefon vom Ohr und gab es mir zurück.

»Nein«, sagte sie.

»Lass es mich versuchen.«

»Das war noch nie.«

»Ich versuche es.«

»Darf ich das Telefon noch einmal haben?«

Während sie erneut eine Nummer tippte, stieg ich in ihr Auto und betätigte den Anlasser, aber es tat sich nichts. Ich stieg wieder aus.

»Zu dumm, dass ich die Starterkabel nicht dabeihabe«, sagte ich. »Normalerweise habe ich sie immer mit.«

»Ich muss nach Hause«, sagte sie.

Im Moment war niemand auf dem Parkplatz zu sehen. Eine noch junge Frau kam aus dem Supermarkt, gefolgt von einer zweiten mit Kleinkind im Tragetuch; beide schoben vollgeräumte Einkaufswagen, und auf einmal tauchten zwei Schwarze auf und nahmen ihnen die Wagen ab, lachend und scherzend, um sie für die Frauen zu schieben, ihnen beim Ausräumen zu helfen und später die Münze zu behalten, die drinsteckte – aber die Frauen, nach einer Schrecksekunde, entrissen ihnen die Wagen wieder und liefen daraufhin fast zu ihren Autos, und die beiden Männer riefen ihnen irgendetwas hinterher, lachten wieder und gingen zu ihren Rucksäcken im Schatten neben dem Eingang – waren die auch zuvor da gewesen? – zurück.

»Aber irgendwer wird bestimmt Kabel haben«, sagte ich, dabei an den Gemeindemann denkend. »Ich gehe fragen.«

Ein paar Minuten später stand ich wieder neben ihr und zuckte mit den Schultern. »Es scheint keiner welche zu haben. Aber ich kann dich nach Hause bringen, wenn du willst.«

Ich blickte noch einmal Richtung Eingang und fragte mich, wohin der Mann von der Gemeinde verschwunden war; ich hatte ihn nicht mehr gesehen.

 

Sie wohnte in einer Neubausiedlung, die an den Friedhof grenzte und in der ich noch nie gewesen war, weil es sie in meiner Kindheit nicht gegeben hatte. Damals, zu jener Zeit, als ich hier so gut Bescheid gewusst hatte wie nie wieder an einem Ort, waren an der Stelle Wiesen gelegen, die niemand je gemäht hatte. Ich kannte die Siedlung nur vom Vorbeifahren. Die Häuser unterschieden sich lediglich in der Farbe – grellgelb oder blitzblau. Als ich langsam durch die Straße fuhr, spiegelte sich das Licht der Abendsonne in den vielen Glasflächen.

»Hier links«, sagte sie am Ende der Straße. Ich hielt. Auch dieses Haus sah aus wie alle anderen, nur dass es weiß war. Es war umgeben von einem winzigen Garten, sah aus, als säße jemand auf einem zu kleinen Handtuch. Eine Sonnenliege mit umgeklappter Lehne, ein durchgesessenes Modell aus den Siebzigern oder Achtzigern, stand nah am Gartenzaun, und überall lag Spielzeug herum.

»Was machst du morgen Abend?«

Sie griff nach ihrer Tasche.

»Gehst du mit mir essen?«

»Nein«, sagte sie.

»Und übermorgen?«

Sie lachte kurz auf. »Danke für deine Hilfe.«

Sie stieg aus, und ohne sich noch einmal umzudrehen, ging sie ins Haus, dessen Tür nicht verschlossen war.

Ich legte den Gang ein und fuhr an; kurz nachdem ich hochgeschaltet hatte, knallte es im Auspuff – eine Fehlzündung, wie sie von Zeit zu Zeit vorkam.

Zu Hause wartete der Kater auf mich. Er saß auf den Hinterbeinen und stand auf, sobald er mich sah. Er kam, einmal verhalten maunzend, mit mir ins Haus, und ich öffnete eine Dose und kippte den Inhalt in seine Schüssel neben der Garderobe, und während er sich über das Fressen hermachte, strich ich ihm ein paarmal über den Kopf.

Dann holte ich mir eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und machte die Tür in den Garten auf und setzte mich auf die Treppe und hörte dem fast lautlosen Rauschen der Bäume zu. Kein Geräusch drang von den Häusern der Nachbarn zu mir. Nach einer Weile kam der Kater, hockte sich vor mich und begann, sich langsam und ausführlich zu putzen. Ich sah ihm zu und meinte mich plötzlich zu erinnern, dass die Lehrerin Ines hieß. Als das Bier zur Neige ging, kam mir eine Idee für meine wöchentliche Glosse, und ich trank aus und stellte die Flasche weg und holte mein Notebook, setzte die Kopfhörer auf, öffnete das Programm und begann zu diktieren: »Was täten wir – oder die gesamte Menschheit, die solch brütender Hitze ausgesetzt ist wie wir in diesen Wochen – nur ohne die segensreiche Erfindung des Kühlschranks …« In zehn Minuten war der Text fertig, ich las ihn durch, fügte einen Satz ein, kürzte einen anderen und schickte das Dokument an die Redaktionsassistentin. Danach räumte ich den Computer weg und setzte mich wieder. Schläfrig geworden, hörte und sah ich dem Blättertanz zu, den kleinen Füßchen in der Luft, als die sie mir da erschienen. Der Kater hatte sich hingelegt und schnurrte leise. Als ich endlich aufstand, stand auch er auf und streckte sich. Ich stieg die knarzende Treppe hoch ins Obergeschoß, in dem Schlafzimmer und Bad lagen. Kaum wäre ich vor fünf Jahren hierher zurückgekehrt, hätte mir meine Tante nicht dieses Haus hinterlassen, in dem ich jeden Winkel kannte, weil ich, das Waisenkind, der Einzige, der das Bootsunglück überlebt hatte, hier aufgewachsen war.

 

Am nächsten Morgen weckte mich ein Anruf von Parker. Ich sah auf die Uhr, es war kurz nach sieben. Die Sonne schien, und das Licht drang in den dichten, schweren Stoff der Vorhänge und verlieh ihnen eine Farbe, eine Weichheit, die sie sonst nie hatten und die mich an das Aufwachen an gewissen, feierlichen Tagen in der Kindheit erinnerten.

»Es ist Sonntag, Parker«, sagte ich, räusperte mich und richtete mich auf.

»Ich weiß«, sagte er.

»Was willst du dann?«

Es war ein Unfall geschehen. Ein alter Mann, über achtzig, war in der Nacht irgendwo hinabgestürzt und gestorben; das hatte sich hier bei uns ereignet, und Parker wollte, dass ich hinfuhr.

»Warum ist das so dringend? Und wieso hinfahren? Ich spreche einfach noch einmal mit der Polizei«, sagte ich. »Mit wem hast du telefoniert?«

»Ich will ein Foto«, sagte Parker. Ich hörte, dass es ihm schwerfiel, das zu sagen, oder es kam mir zumindest so vor.

»Sind die Zeiten so schlecht?«

»Sie sind, wie sie sind. Wir müssen das Beste draus machen.«

»Und was soll ich fotografieren? Die Leiche?«

Ich lachte, weil es mir so abwegig vorkam; eben waren wir noch eine halbwegs seriöse Zeitung gewesen.

»Nein«, sagte Parker, als wäre es eine ernstgemeinte Frage. »Die Stiege. Verstehst du mich?«

»Meine Güte«, sagte ich.

»Ich brauche die Geschichte bis drei.«

Ich war nicht verstimmt, weil er mich so früh geweckt hatte, nicht einmal, weil er mir eben mitgeteilt hatte, dass wir von nun an wohl reißerischer schreiben würden, sondern weil mein geplanter Flug damit ins Wasser fiel.

Ich stand auf, zog die Vorhänge zurück und stieg in die Leinenhose, die am Hosenboden und an den Oberschenkeln fadenscheinig wurde. Ich ging nach unten in die Küche und kochte Kaffee; dann öffnete ich die Haustür, ließ den Kater hinaus und entriegelte die Katzenklappe, damit er jederzeit zurückkonnte. Während ich den Kaffee trank, kam er schon wieder, und ich stellte die Tasse weg und gab ihm zu fressen.

Der Name, den Parker genannt hatte, sagte mir etwas, aber ich war mehr als zwanzig Jahre weg gewesen, und es dauerte, bis mir in den Sinn kam, einen Klassenkameraden gehabt zu haben, der so geheißen hatte. Allerdings – und vielleicht dauerte es deshalb so lang – hatten wir ihn anders gerufen, ihn, weshalb, wusste ich vielleicht damals genauso wenig, Flor genannt. Ich versuchte, mich an ihn zu erinnern, aber es gelang mir schlecht. Ich wusste nur noch, dass ich ihn nicht sonderlich gemocht hatte, dass niemand ihn sonderlich gemocht hatte, ohne dass ich mich noch hätte erinnern können, weshalb nicht. Keiner hatte sich viel mit ihm abgegeben, und in den Pausen war er immer nur für sich gestanden. Kurz gesagt, ich hatte nicht das Gefühl, es verberge sich mir etwas, als er mir ein paar Stunden nach Parkers Anruf mit einer riesigen, nur die Augen freilassenden stark verschmutzten Staubmaske gegenüberstand.

Als ich gekommen war, fehlte nicht viel auf Mittag, und ich hatte gedacht, man sei womöglich gerade beim Essen, und hatte an der Haustür geklopft. Niemand hatte jedoch geöffnet, also war ich um das Gebäude – ein für die Gegend typischer, gut instandgehaltener Bauernhof mit weithin sichtbaren Funkantennen auf dem Dach, neben dem sich eine Anzahl weiterer Gebäude befand – gegangen. Die Tür zu einem der Ställe stand offen, ich näherte mich und konnte zwei Menschen bei der Arbeit sehen, beide in blauen Overalls, beide eine Kappe auf dem Kopf, beide den gleichen Mundschutz, und im ersten Augenblick erkannte ich nicht, dass es Mann und Frau waren. Freilich war es schwer, das zu erkennen, auch wegen des dichten, fast unerträglich beißenden Gestanks, der aus dem Stall drang und mir sogar auf die Augen schlug. Sobald Flor mich sah, kam er rasch auf mich zu und warf die Tür hinter sich zu, als wolle er nicht, dass ich hineinschaute; die Tür fiel satt, wie angesaugt, ins Schloss. Er blieb vor mir stehen und sagte etwas, das ich nicht verstand. Dann erst zog er die Maske von seinem Gesicht. Tief hatte sich der Gummi in die Haut gedrückt, die dadurch wie tätowiert oder vielmehr seltsam gebrandmarkt aussah. Die weißen Abdrücke wurden langsam so rot wie der Rest des Gesichts – eine erhitzte, nahezu glühende Röte, die einen Stich ins Bläuliche hatte –, blieben aber bestehen und erinnerten mich jetzt an den ausgetrockneten Flusslauf, den ich einmal in Spanien gesehen hatte.

Er hatte keine Ähnlichkeit mit dem Kind, das er gewesen war und das ich vorhin auf dem Abschlussfoto unserer Klasse betrachtet hatte. Ich hätte ihn niemals wiedererkannt, und auch er schien mich nicht wiederzuerkennen.

»Brauchst du was?«, fragte er.

»Ich bin von der Zeitung«, antwortete ich.

Es war ihm nicht anzumerken, was er davon hielt. Er schaute mich nur stumm an.

»Ich komme wegen dem Unfall.«

Plötzlich meinte ich, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Es musste noch einen geben, der hieß wie er. Würde Flor sonst so unbewegt hier stehen, würden sie sonst so vor sich hin arbeiten, wie sie es wohl immer taten, als wäre nichts geschehen?

»Oder ist das etwa gar nicht hier passiert?«

»Doch, doch. In der Nacht.«

Es war keine Verwechslung, und ich stellte mir vor, wie fassungslos meine Tante sich über ein solches Verhalten gezeigt hätte. »Man muss doch die Form wahren«, hatte sie immer gesagt, »alles andere ist vulgär und sonst gar nichts.«

»Dein Vater?«, fragte ich.

»Ja.«

»Wie alt war er?«

»Siebenundachtzig.«

»Und deine Mutter?«

Es fiel mir schwer, diese Fragen zu stellen, die der Grund waren, weshalb ich hier war, weshalb Parker mich geschickt hatte, jedoch weniger schwer als gedacht, bestimmt auch, weil er nicht die geringste Rührung zeigte. Für den Moment fühlte ich mich zurückversetzt in die Zeit meiner journalistischen Anfänge; damals, bevor ich ins Außenpolitische gewechselt war, hatte ich einige Monate für das Chronik-Ressort einer überregionalen Zeitung geschrieben und war immer wieder – in der Erinnerung sehr häufig – mit Unfällen, Morden und Diebstählen konfrontiert gewesen.

»Lebt schon lange nicht mehr.«

»Ich würde gern ein Foto machen, wenn ich darf.«

»Ein Foto? Er ist nicht mehr da.«

»Nicht von der … nicht vom Verstorbenen. Von der Stiege, auf der es passiert ist.«

»Warum das?«

»Geht es nicht?«

Er schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Wenn’s nicht lange dauert.«

»Nur eine Minute.«

Er ging voraus, und ich folgte ihm. Ohne sich die schmutzigen Stiefel auszuziehen oder auch nur abzutreten, betrat er das Haus, in dem es angenehm kühl, fast kalt war. Von der Küche, in der auf dem Tisch, der Anrichte und in der Abwasch selbst eine Menge ungespültes Geschirr herumstand, auf dem die Fliegen in Schwärmen saßen wie festgeklebt und die sich auch bei unserem Eintreten nicht bewegten, und deren Fenster in den leeren, blankgefegten Innenhof gingen, führte ein Flur zu einer sehr steilen Treppe ins Obergeschoß. Er blieb davor stehen.

»Hier?«, fragte ich.

»Ja«, sagte er.

»In der Nacht, hast du gesagt?«

»So um elf, ja.«

»War da oben seine Wohnung?«

»Sein Zimmer ist da.«

»Mein Beileid, übrigens«, sagte ich plötzlich.

Es war hier etwas wärmer als im Vorhaus. Die Luft war stickig. Die Räume waren niedrig und trotz der Helligkeit draußen dunkel. Nur das Summen der Fliegen war zu hören: wenn sie sich die Flügel putzten; und wenn sie sich paarten.

»Kann ich hinaufgehen? Für das Foto wäre es besser von oben«, sagte ich, »auch wegen des Lichts«, und ich überlegte, ob ich die Schuhe ausziehen sollte oder nicht, aber noch bevor er etwas antworten konnte, winkte ich ab. »Egal, es geht auch so. Ich mach’s von hier.«

Ich packte die Kamera aus, stellte das Automatikprogramm ein und drückte aufs Geratewohl ein paarmal ab.

Er hatte einige Schritte weg gemacht und sich dann neben der Tür zum Vorhaus an die Wand gelehnt; er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte größer als zuvor. Jetzt erst sah ich die Verbindung zur Stube.

»Fertig?«, fragte er.

»Ja«, sagte ich und packte die Kamera ein. Er ging hinaus, und wieder folgte ich ihm. Ich warf einen Blick in die Stube, die von der Küche durch eine Schiebetür getrennt war, die halb offen stand; es gab dort noch weniger Licht als in der Küche, und mehr als einen Tisch, vor dem ein einziger Stuhl stand, konnte ich darin nicht ausmachen.

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte ich.

»Meine Frau«, sagte er, ohne sich umzudrehen.

»Und du?«

»War im Stall.«

»So spät noch?«

»Das ist nicht spät.«

Sollte ich noch mit der Frau sprechen? Vor dem Haus blieben wir stehen. Die Luft hier, auch wenn sie heiß und trocken war und stank, war nicht so klebrig wie im Haus, und ich empfand sie als eine Wohltat. Vom Dorf aus hatte man einen Blick auf das Gebirge; hier, ein gutes Stück weiter südlich und damit näher, sah man nur das bewaldete Vorgebirge, das man vom Dorf aus eher übersah, außer wenn Föhn herrschte und einem selbst die Kilometer entfernten Dinge wie unter einer Lupe entgegentraten.

»Noch etwas?«

»Wie? Nein. Es wird nur ein kurzer Bericht.«

Mein Blick war auf einem Hügel hängengeblieben, der mir zuerst nicht aufgefallen war. Aber weshalb eigentlich nicht? Er stach heraus. Seine Kuppe war wie abrasiert, und eine schnurgerade, leuchtend braune Schneise führte von unten hinauf, die erst vor kurzem geschlagen worden sein musste, in den Wochen, in denen ich nicht geflogen war. Je länger ich hinsah, umso mehr war mir, als sei dort oben etwas zu lesen, als sei ein Schriftzug angebracht; vielleicht war es aber auch bloß eine Luftspiegelung, die mich täuschte; überall flirrte die Luft in diesen Tagen. Als ich mich wieder Flor zuwandte, wirkte er verändert; er sah mich an wie einen Eindringling.

»Wahrscheinlich bringen wir’s schon morgen«, sagte ich.

Er zog kurz die Brauen hoch und ging ein paar Schritte Richtung Stall, bevor er sich umdrehte und die Hände in die Hüften stemmte.

»Wiedersehen«, sagte ich und stieg in meinen Wagen. Kaum schneller als im Schritttempo entfernte ich mich auf der langen geschotterten Zufahrtsstraße, die von alten, knorrigen, von Misteln bewachsenen und teils laublosen Obstbäumen gesäumt war, und im Rückspiegel konnte ich hinter dem Staub, den meine breiten Reifen trotz der langsamen Geschwindigkeit aufwirbelten, Flor noch eine Zeitlang sehen, bis er auf einmal weg war.

Den Nachmittag verbrachte ich in der Redaktion, schrieb den Artikel und ordnete hinterher meinen Schreibtisch, auf dem das Licht in Streifen lag. Das Geräusch, welches die auf Höchststufe laufende Klimaanlage machte, schien von sehr weit weg zu kommen. Draußen auf dem Hauptplatz war kaum jemand unterwegs, und auch das Büro war, von der Assistentin, dem neuen Praktikanten, einem etwas feisten Mitte Zwanzigjährigen mit Hornbrille, wie sie gerade noch Mode gewesen waren, und mir abgesehen, leer. Parker hatte sich den ganzen Tag noch nicht blicken lassen. Nie hätte ich gedacht, dass es mehr sein würde als ein Versuch: hier zu bleiben, hier zu arbeiten. Ich war sicher gewesen – und das hatte einen Teil des Reizes ausgemacht –, es wäre bloß eine Episode, die eine Geschichte ergeben würde, die ich bis an mein Lebensende erzählen könnte: Aber, wisst ihr, es wurde mir dann doch irgendwann zu langweilig in diesem Kaff … Gegen fünf rief ich Christina an, aber sie ging nicht ran. Ich verabschiedete mich und fuhr nach Hause und verbrachte den Abend im Garten. Vor dem Zubettgehen versuchte ich es noch einmal bei Christina, wieder ohne Erfolg.

 

Am nächsten Tag erschien die Zeitung mit meinem Artikel als Aufmacher. Das Foto nahm ein Drittel der Seite ein, und schon allein dadurch sah das Blatt ziemlich verändert aus. Die folgenden Ausgaben wirkten zwar wieder weniger reißerisch – oder musste man das trotz Blitz zu dunkel geratene Bild einer abgetretenen Holztreppe, auf der weiter nichts zu erkennen war, nicht einfach bloß reichlich eigenartig nennen? –, das hatte aber vor allem den Grund, dass nichts geschah. Vollkommene – fast vollkommene – Ereignislosigkeit. Die Hitze ließ nicht nach, und ich war sogar zu matt, um zum Flugplatz zu fahren; dabei hätte ich jeden Tag fahren können, das Wetter war ideal, und ich hatte Zeit. Ob es auch anderen so ging, oder weshalb war sonst kaum einer in der Luft? Immer erst abends, wenn es etwas auffrischte – die Blätter des Baumes wie Tausende winzige Fächer –, belebte ich mich, und meistens versuchte ich es dann bei Christina. Doch ich erreichte sie nicht mehr, und nach – ich zählte mit – ein Dutzend vergeblichen Versuchen löschte ich ihre Nummer. Und schon nach wenigen Minuten bemerkte ich, als hätte ich auch das gelöscht, wie ihr Gesicht mir aus dem Gedächtnis entschwand. Es gelang mir nicht mehr, sie mir vorzustellen, ihre Züge verschwammen mir, als laufe Wasser über sie und bedecke sie mehr und mehr, leicht von Wind bewegtes Wasser.

Es war Erntezeit, und über dem Landstrich hing von morgens bis abends gelber Staub. Früher hatte man in diesen Wochen überall Menschen gesehen, jetzt sah man nur noch Schemen hinter riesigen getönten Windschutz- und Seitenscheiben, die einem, kamen sie einem auf der Straße entgegen, erscheinen konnten als übergroße Vögel in der Dämmerung.

 

Als ich vor ihrem Haus hielt, lag sie, das Gesicht dem Himmel zugewandt, in kurzen sandfarbenen Shorts und Bikinioberteil auf der Liege im Garten und hielt ein Glas in der Hand, aus dem ein bunter Strohhalm ragte. Sie trug keine Sonnenbrille und sah erst in meine Richtung, als ich ausgestiegen war und mich an den Zaun gestellt hatte; aber nur für einen Moment. Dann schaute sie wieder mit lediglich leicht zusammengekniffenen Augen in den Himmel, als ob das Licht ihr nichts ausmachte.

»Ich wollte nur einmal nachfragen, ob das Auto wieder geht«, sagte ich.

»Ja«, sagte sie.

»Was war es?«

»Keine Ahnung.«

»Die Batterie wahrscheinlich.«

»Sind die Sommer hier immer so?«, fragte sie nach einer Weile.

»Nicht immer. Aber ich weiß es nicht, ich bin selbst erst seit ein paar Jahren wieder hier.«

»Es ist unerträglich«, sagte sie. »Sogar für die Kinder.«

Ich war überrascht. Zwar hatte ich das Spielzeug gesehen, aber gedacht, es sei von einem anderen Mieter.

»Hast du denn welche?«

»Keine zehn Pferde bringen sie bei dieser Glut raus.«

Ich sagte nichts darauf und begriff, dass es keine weiteren Bewohner gab und dass das Haus ihr vielleicht sogar gehörte.

»Keine Lust mehr, mich zum Essen einzuladen?« Jetzt drehte sie den Kopf zu mir her und lächelte. »Macht nichts. Mich wundert nur, dass du’s nicht wusstest.«

»Woher auch?« Ohne es zu wollen, hob ich verteidigend die Hand.

»Ja, woher auch.« Sie sog an dem Strohhalm. »Tommy!«, rief sie.

In der Haustür tauchte ein Bub auf, sieben oder acht Jahre alt, dunkel und schlank, der zuerst mich, dann sie ansah.

»Was ist?«

Er steckte die Hände in die Hosentaschen.

»Komm her, Tommy.«

Er setzte sich leicht unwillig in Bewegung und schlenderte durch den kleinen Garten auf sie zu. Sie zog ihn zu sich, und er, die Hände aus den Taschen ziehend, ließ sich neben sie auf die Liege fallen.

»Was macht ihr?«

»Spielen.«

»Hast du mich vorhin nicht gehört?«

»Nein.«

»Machst du mir noch so etwas?«

»Was denn?«

»Du weißt schon. Niemand kann das so gut wie du. Nicht einmal der Barkeeper in Venedig. Kannst du dich noch an den erinnern, Tommy?«

»Das fragst du mich jedes Mal.«

»Und?«

»Wer ist das?«, fragte er und sah zu mir.

»Er hat mir geholfen, als das Auto kaputt war«, sagte sie. »Hier, Tommy, sei so lieb.«

Das Kind nahm das Glas und stand auf und ging. Ich sah ihm nach, wie er im Haus verschwand; dann blickte ich wieder zu ihr, die jetzt erneut in den Himmel schaute: zarte, wie das Innere einer Muschel geriffelte Wolken hier und da in dem hohen, klaren Blau; oder wie Wellblech.

»Und, was hast du heute noch vor?«

Ich war froh, dass sie es mir so einfach machte. Eine Frau mit Kindern war wirklich nicht das, was ich brauchte.

»Nichts Besonderes. Vielleicht fahre ich noch rasch ans Wasser«, sagte ich und stieß mich vom Gartenzaun ab.

»An welches Wasser?«

»Es gibt ein paar ganz schöne Stellen am Fluss.«

»Immerhin«, sagte sie.

»Und du? Was machst du noch?«

»Ach«, sagte sie und winkte ab.

»Also dann«, sagte ich.

»Wo sind diese Stellen?«

»Wenn du willst, zeige ich sie dir einmal.«

»Warum nicht«, sagte sie.

»Ja, warum nicht«, sagte ich.

Ich ging zum Wagen und zog die Tür auf. Als ich mich noch einmal umwandte, stand sie am Zaun.

»Warum eigentlich nicht gleich?«

Tommy kam wieder, in der Hand das randvolle Glas. Sie nahm es ihm ab und trank einen großen Schluck. Ich roch den Gin in der heißen Luft.

»Hm?« Sie hielt mir das Glas hin.

»Nein, danke.«

Sie nahm noch einen Schluck, dann gab sie das Glas wieder dem Kind.

»Stellst du’s in die Küche, Tommy? Ich fahre kurz weg, bin aber bald wieder zurück.«