Fremdlinge - Anna Katharina - E-Book

Fremdlinge E-Book

Anna Katharina

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Beschreibung

Ein Arzt erklärt der Autorin überraschend, dass es Leben in ihr gibt. Sie hat einen Sohn, nun ist sie wieder schwanger. Mit Zwillingen. Viele Diskussionen später entscheidet sie sich gegen einen Abbruch. Und erkennt, dass eine Zwillingsschwangerschaft öffentliches Eigentum zu sein scheint: Ärzte und Verwandte, wildfremde Menschen und Freundinnen, die Yogalehrerin und die Arbeitskolleg*innen – alle bewerten, beraten und befühlen auch gerne den wachsenden Bauch. Radikal subjektiv und mit unerschütterlichem Humor ergründet Anna Katharina Laggner das Mysterium, drei in eins zu sein, und führt Buch über ihr Leben mit und unter "Fremdlingen", über erotische Durststrecken und gesellschaftliche Zumutungen, über ihre Ängste und über die große Freude, die da auch ist, immer wieder.

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Anna Katharina Laggner

Fremdlinge

Residenz Verlag

Die Arbeit an diesem Buch wurde unterstützt durch ein Arbeitsstipendium des österreichischen Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport sowie ein Projektstipendium der Stadt Wien/MA7 Kultur.

Der Verlag dankt für die Unterstützung

© 2023 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: buero 8/Thomas Kussin unter Verwendung eines Entwurfs und Fotos von Siegfried A. Fruhauf

Lektorat: Jessica Beer

ISBN eBook 978 3 7017 4707 8

ISBN Print 978 3 7017 1777 4

Do shrimps make good mothers?

Paul McCartney

Ich ist nur ein brauchbares Wort für jemanden,den es nicht wirklich gibt. Aber vielleicht hat sichein bisschen Wahrheit daruntergemischt.

Virginia Woolf

Das Offene denken bedeutet, das Leben,das Lebbare, das Gangbare anders zu denkenals im Modus der Quantität und der Habgier.

Felwine Sarr

INHALT

I.   TRIMESTER

II.  TRIMESTER

III. TRIMESTER

I. TRIMESTER

SSW 5+5

Nachts, Freistadt, Hotelzimmer. Alex ist noch unterwegs, wir mussten nicht diskutieren, wer früher nach Hause geht.

Ich bin im Bett, lese zufrieden.

Luis schläft, wie Kinder schlafen: tief.

Draußen ist es heiß, das Fenster steht offen, weit entfernt noch Musik, unten auf der Straße telefoniert jemand, eine männliche Stimme, laut, aufgebracht:

»Extra wegen dir bin i nach Freistadt gfahrn, wüst mi verorschen?«

Pause

»Hallo! Hallo! Was is los mit dir?! I bin extra nach Freistadt gfahrn, jetzt steh i do wi a Trottel!«

Das ist mein Vorteil: In meinem Zustand passiert mir so etwas nicht (und ich tu’s auch niemandem an). Mein Zustand verhindert, dass ich wegen irgendwelcher Leute nachts in der Gegend herumstreunen müsste. Mein Zustand hat diese Konten für mich geschlossen. Ich bleibe bei mir.

Aber trotzdem, ob ich da, wo ich gerade bin, richtig gewesen sein werde, weiß ich jetzt noch nicht.

SSW 5+6

Abtrieb: Butter, Zucker, Eier, sehr lange mixen.

SSW 6+0

»Hallo Busenwunder«, sagt Alex in der Früh zu mir.

Bleierne Müdigkeit, totale Hirnlähmung, keine Inspiration.

SSW 6+3

Der italienische Arzt im Landkrankenhaus könnte ein Model sein, so klassisch ebenmäßig sind seine Züge. Ich habe schon lange nicht mehr ein so schönes Gesicht gesehen. Er selbst starrt nur restlos fasziniert auf den Bildschirm des Ultraschallgeräts. So wenig ausgeliefert habe ich mich noch nie gefühlt, nicht einmal bei einer Frauenärztin. Dabei wollte ich nie wieder zu einem Frauenarzt. Aber siehe da, der junge Italiener sieht mich, und was in mir wächst, nur als Wunder. »Ich sehe zwei Fruchthöhlen«, sagt er und mir scheint, ich höre nicht recht. Mein allererstes Gefühl ist: Das ist jetzt ein Scherz, wenn auch ein schlechter.

Der junge Arzt sagt mir, für eine Abtreibung müsse ich nach Linz, das wüsste ich wohl, »Wien«, sage ich, »Wien gibt’s auch.«

»Aber«, sagt er in seinem lustigen Italodeutsch: »Es gibt Leben.«

Abends sitzen Alex und ich vor dem Stall, trinken Wein und Prosecco, rauchen Zigaretten und besprechen unsere verzweifelte Lage.

Es fallen die Sätze:

»Über ein Kind wäre ich unglücklich. Über zwei Kinder bin ich todunglücklich.«

Dabei habe ich es noch als Scherz empfunden. Wenn auch als schlechten.

SSW 7+0

Der Wiener Stadtschulrat fördert, wenn die Kinder in der Schule nur Wasser trinken.

Luis sagt, das Wasser in der Schule sei ungenießbar, viel zu warm.

Auch mich hat das System Schule tendenziell immer provoziert.

SSW 7+3

Dass Schwangerschaft mit SS abgekürzt wird, in allen Internet-Foren, und sich niemand daran stört!

Da wird gratuliert: »zu deiner SS (dir steht was Wunderbares bevor)«, da hat jemand »eine supertolle SS« (bis auf ein bisschen Übelkeit), da werden Bücher empfohlen, »ganz nett zum Lesen in der SS«, da ist jemand die ganze SS über sehr entspannt, es wird allerdings geraten, bei einer Zwillings-SS Experten aufzusuchen, denn »es gibt da einfach viel mehr zu beachten als bei einer Einlings-SS«, da haben Frauen auch mal Beschwerden oder gar Blutungen »in der SS«. Nachsatz: »Ist nervig, geht aber wieder weg.«

So ist das mit der SS, ein vorübergehendes Unbill.

Mich hat die trübe Stimmung verlassen. Bin zuversichtlich, wenn auch nicht unbelastet. Wie entscheide ich mich richtig? Wie weiß ich, ob die jetzige Entscheidung auch in fünf Jahren noch die richtige sein wird? Oder auch übermorgen? Mein Gefühl sagt mir, dass ich nicht abbrechen werde, nicht von mir aus, gleichzeitig macht mich der Gedanke, dass es natürlich abgehen könnte, auch nicht unzufrieden.

Ich gebe die Schlagworte Zwillingsgeburten und Zwillingsstillen ins Internet ein, und was ich lese, klingt unbeschreiblich anstrengend. Mittlerweile ist es mir manchmal fast lieber, es bleibt bei Zwillingen, und nicht, dass sich einer verabschiedet. Das Vanishing Twin Syndrome, ich kannte das bis jetzt gar nicht. Passiert scheinbar in den ersten SS-Wochen, wobei ich grad nicht sicher bin, ob es besser ist, der vanished oder der left-over twin zu sein. Letzterer scheint Gefahr zu laufen, sein ganzes Leben unter Verlustschmerzen zu leiden, immer für zwei arbeiten zu müssen und sich (trotzdem) irgendwie ungenügend zu finden. Ich, als Schwangere, stelle mir nun vor: Ich verliere einen Fötus und verbringe die restliche Schwangerschaft mit Sorgen über die psychische Labilität des Hinterbliebenen. Das Internet ist schon eine ziemlich große Angst-Maschine. Fear-factory. FF.

Ich bin allein mit Luis in Wien, das tut gut, diese Trennung.

Alex und ich sind fatalistisch.

Wenn wir einander nicht verstehen müssten, wäre alles einfacher.

Ich bin ihm gegenüber wie ein Nichts.

Er steigt in Hundescheiße (»die Stadt hat mich schon richtig begrüßt«). Scheint nie munter zu sein. In der Früh schon entnervt.

Unsere Energie bringt Steine zum Weinen.

Die Übelkeit begleitet mich oft. Aber gleichzeitig ein recht gutes Körpergefühl, irgendwie stark.

Am kommenden Samstag hätte ich einen Termin am Fleischmarkt. Der Wiener Fleischmarkt, dort führen sie »Abtreibungen« durch, das wusste ich schon als Schülerin, das hat sich zu uns durchgesprochen in die Provinz, tradiertes Wissen. Der Fleischmarkt, natürlich auch ein recht eingängiger Straßenname, ist ein Begriff. Dank einschlägiger Berichte in meiner Vorstellung ein unwirtlicher Platz voller Autos, auf dem Abtreibungsgegner*innen den Frauen, die in die Klinik wollen oder aus ihr herauskommen, den Weg versperren und mit blutigen Plastikföten oder Holzkreuzen vor ihren Gesichtern herumfuchteln. Ich fand das eher abschreckend. Und nun habe ich selbst einen Termin dort.

»Damit Sie sehen, wie es sich hier anfühlt«, hat die Telefonfrau gesagt. Dabei brauche ich wirklich nicht zu wissen, wie es dort, wo ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen wird, ausschaut oder sich anfühlt. Wenn ich mich zu dieser Entscheidung durchgerungen habe, hat sich’s fürs Erste aus-gefühlt.

Tatsache ist, dass ich es seit drei Tagen vor mir her schiebe, den Termin abzusagen. Ich will dort nicht einmal anrufen. Jetzt mach ich’s. War nicht schwer. Beim ersten Anruf bin ich eine halbe Stunde in der Warteschleife gehangen und hatte den ganzen restlichen Tag einen Ohrwurm vom Schwangerschaftsabbruchskliniktonband. Jetzt ging’s ganz flott, ich bin ohne Umweg über das Tonband durchgekommen. Um acht Uhr in der Früh braucht vielleicht noch niemand eine Abtreibung.

Ich bin auf alle Fälle schwankend. Wenn ich abbreche oder es natürlich abbricht, »abgeht«, sagt man, dann wäre ich sehr frei, dann würde ich zwei Monate überhaupt niemanden mehr sehen wollen. Es wäre herrlich, ich wäre so frei wie seit Jahren nicht mehr. Wenn ich nicht abbreche, muss sich auch viel ändern, nicht zuletzt die Tatsache, dass ich hier an einem Kinderschreibtisch sitze und arbeite. Immerhin mit schönem Blick auf die Straße.

Ob Kinder oder nicht Kinder, ich werde Raum zurückerobern.

Was gut ist: der Herbst, eine besondere Zeit, da habe ich immer so viel Energie.

SSW 7+6

Wir sollten das ganze Wochenende tun, was uns Freude macht, hat die Psychotherapeutin gesagt.

Ich weiß gar nicht mehr, was mir Freude macht.

Und sie hat gesagt: »Es gibt keine richtigen Entscheidungen.« Es sei eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Wie sollen wir uns da für das Bessere entscheiden? Ich verstehe die Phrase, finde sie aber unpassend. Bei Pest und Cholera weiß ich, was ich bekomme. Bei Kindern nicht.

SSW 8+0

Von Zuversicht kann überhaupt keine Rede mehr sein. Ich habe diese Nacht kaum geschlafen, drehe mich nur in Kreisen im Hirn durch die kurzen Phasen der Zufriedenheit der letzten Jahre, die sich mit den langen Phasen der Unsicherheit und des Gefühls, nicht bei mir zu sein, abgewechselt haben.

Familie ist ja oftmals unerträglich. Alex und ich spielen das totale Drama. Es muss in einer Katastrophe enden. Und es wirkt für mich gerade nicht wie ein Spiel. Die destruktive Kraft der Nachtgedanken, heute frisst sie sich in den Tag hinein. Verbeißt sich.

Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass ein Abbruch auch ein Ende unserer Beziehung wäre. Das ist freilich absurd, wir leben ja nicht nur zusammen, um Kinder zu zeugen und großzuziehen. Ich kann nicht mehr zwischen Wünschen und Erwartungen unterscheiden. Oft habe ich mir ein zweites Kind gewünscht, aber als ich vor einem Jahr schwanger war und sich dieser Zellhaufen in den ersten Wochen aus eigenen Stücken verabschiedet hat, war ich überhaupt nicht traurig. Eher befreit, ich habe die verbleibenden Monate meiner Nicht-Schwangerschaft ziemlich gefeiert.

Ich denke an ein Fernsehinterview mit der feinsinnigen Sophie Rois, in dem es um Liebe geht, die härter ist als Beton. Der Interviewer, der im Bild nicht zu sehen ist, sagt, Karl Marx wäre »einen Moment lang« davon ausgegangen, man könnte die Familie auflösen. »Ja, ja«, sagt Rois enthusiastisch, »was für ein interessanter Gedanke«, den hätten wir ganz verloren. Jede Gesellschaft, die er kenne, sagt der Interviewer, bestehe aus lauter kleinen Köhlerhütten, in denen Liebe und Zuwendung gekocht würden. Was für ein schönes Bild, er hat auch eine sehr angenehme Art zu sprechen. Dabei, sagt er, wäre die Familie gänzlich ungeeignet für die Idee des Sozialismus; für eine gesellschaftliche Fabrik, die Menschen mache, die daran interessiert seien, gleich zu sein, müsse die Familie überwunden und durch etwas anderes Liebevolles ersetzt werden.

Die Auflösung der Familie ist tatsächlich undenkbar heute, eine Diskussion darüber findet nicht statt, vor allem nicht tagsüber. Das Interview mit Sophie Rois ist ein von Klaviermusik begleitetes Nachtprogramm. In den Gängen von Büros wird so etwas nicht besprochen.

Woran ich auch denke und mich erinnere und sowieso immer denke, ist die Erkenntnis, dass sich der österreichische Staat bis zu Luis’ Geburt nicht für mich interessiert hat, ich war irrelevant gewesen und dadurch frei von Vorschriften, die über die Grundvereinbarungen hinausgehen. Diese Erkenntnis überraschte mich am meisten, diese Freiheit wurde mir erst bewusst, als ich sie nicht mehr hatte. Was die Gesellschaft alles von Eltern erwartet! Damit meine ich weniger die ungeschriebenen Gesetze und Regeln, wie sich Mütter und Väter zu verhalten haben, sondern ganz handfestes Zeug: Wir müssen zu Untersuchungen gehen, werden Teil und ausführendes Organ der Volksgesundheit. Ärztliche Untersuchungen sind Bedingung dafür, dass wir Geld vom Staat bekommen, bares Geld nämlich, und Kinder wirken sich steuermindernd aus. Ich denke aber, dass Schwerarbeiter*innen-Zulagen und Nachtarbeitszuschläge lukrativer sind. Eltern-Sein ist in dem Sinn kein attraktiver Job, auch wenn es gar kein Beruf ist. Was ist es?

Es ist auf jeden Fall ein Vertrag, er ist unbefristet und unkündbar, er kann in den Wahnsinn treiben, ins totale Verderben, das stellt auch Sophie Rois fest, Eltern können ihrem Kind nicht kündigen, das Kind kann den eigenen Eltern nicht kündigen, »die einzige Möglichkeit, da raus zu kommen, ist, sich gegenseitig umzubringen«, sagt sie. Aber selbst dann wirkt der Vertrag nach.

Warum ist dieses Verhältnis nicht aufkündbar, ohne das Strafrecht zu verletzen? Wieso herrscht die Meinung vor, wir dürften unsere Kinder nie verlassen, obwohl es durchaus denkbar wäre, dass ich einem Kind das Leben schenke und es so lange wohlwollend, schützend und liebend begleite, bis es selbständig Spaghetti mit Tomatensauce kochen, die Schuhe zubinden und bei Grün über die Kreuzung gehen kann? Dann sage ich: »Kind, ich habe dir das Leben geschenkt, mach nun daraus, was du willst, geh, wohin du willst, lebe, wonach dir ist. Ich bin jetzt weg.« Das wäre doch plausibel und würde sicherlich auch nicht mehr gestörte Menschen hervorbringen, als nun aus den Köhlerhütten kommen, sondern, positiv betrachtet, von Zwängen und Erwartungshaltungen befreite Menschen. Und die Eltern erst! Wenn unsere Kinder uns, vielleicht auch nur temporär, kündigen oder uns in ein Sabbatical schicken könnten. Wenn es eine Art Elternklappe gäbe, in die Kinder, die ihren Eltern nicht gerecht werden können, selbige hineinstecken und sagen könnten: »Übernehmt die mal, die sind überfordert und haben ein Problem mit sich selbst, helft denen, dann können sie wieder nach Hause kommen, ich komm so lang alleine klar.«

Am Freitag habe ich zu Alex gesagt, ich würde gerne mit ihm schlafen. Er hat mich nur gefragt, wieso ich das sage. Was für eine Frage! Es hätte mir Freude gemacht, mir vielleicht Beruhigung verschafft, ich bin schwanger und habe ein Verlangen gespürt, ganz einfach. Aber nun ist es zu spät und das Wochenende ist vorbei, ohne dass ich gemacht hätte, was mir Freude machen hätte können.

Ich bin verzweifelt.

SSW 8+1

Ich werde in die Schule bestellt, weil mein Sohn »ständig an etwas anderes denkt«. Das ist eine seltsame Formulierung, denn wer kommt auf die Idee, dass es das Eigentliche, an das mein Sohn denken sollte, gibt? »Wir empfinden das als ignorant«, sagt Luis’ Lehrerin.

Meine Zuversicht nimmt wieder ein wenig zu. Wir waren am Fleischmarkt bei einer, wie sie das nennen, Entscheidungsberatung. Davor hatte ich das Gefühl, gar nicht sprechen zu können, ohne sofort zu weinen, dann ging’s aber. Wahrscheinlich auch, weil die Entscheidungsberaterin so planmäßig ihre vorbereiteten Fragen vorgetragen hat. So dass der Anspruch, die Klientinnen auf keinen Fall zu beeinflussen, gerade noch an der Automatisierung vorbeischrammt.

Es ist gut, dass sich hier nichts anfühlt, auf der Straße waren keine mit Kreuzen oder Plastikföten fuchtelnden Menschen, niemand betete am Eingang, dafür regnete es in Strömen. Das ist natürlich auch nicht harmlos.

Die Beraterin hat mir Fragen gestellt wie: Was war Ihr erstes Gefühl, als Sie festgestellt haben, dass Sie schwanger sind? Wann hat sich dieses Gefühl geändert? Wenn Sie sich vorstellen, in einem Jahr zwei Kinder zu haben, wie ist das dann? (Vielleicht hat sie gefragt: Können Sie sich das vorstellen? Das weiß ich nicht mehr.) Unter welchen Umständen können Sie sich vorstellen, die Kinder zu bekommen? Als ich gesagt habe, ich hätte Angst, zu bereuen, hat sie gefragt, ob ich eher Angst habe, zu bereuen, die Kinder zu bekommen oder einen Abbruch gemacht zu haben. Und nachdem ich gesagt habe, eher habe ich Angst, einen Abbruch zu bereuen, hat sie gefragt, was ich glaube, dass ich dann bereuen könnte. Sie wollte wissen, ob ich in irgendeine Richtung tendiere, ob mein Bauch etwas anderes sagt als mein Kopf.

In Wien ist es einfach, Hilfe zu bekommen. Die Entscheidungsberatung, gratis, auch die Pest-und-Cholera-Psychotherapeutin in einem anderen Privatambulatorium, gratis, beide Termine innerhalb von kürzester Zeit. Es ist nicht falsch, in dieser Stadt zu leben. In anderen Ländern sind solche Beratungen verpflichtend, und das ist noch das geringste Übel. In anderen Ländern muss eine Frau sich die Herztöne des Fötus anhören, bevor der Abbruch durchgeführt werden darf. Ich hoffe, es gibt dort Ärzt*innen, die auf das Gesetz pfeifen. In vielen anderen Ländern müssen Frauen, die über ihren Körper bestimmen wollen, darauf hoffen, Ärzt*innen zu finden, die auf das Gesetz pfeifen. Und selbst bei uns, in diesem guten Land, sind die Möglichkeiten in der Provinz (was in Österreich, wie jeder Mensch weiß, alles außer Wien ist) eher karg. Da kann ich froh sein, dass mich das Schicksal nicht etwa im Südburgenland ausgespuckt hat, wo weit und breit weder Beratungen noch medizinische Eingriffe verfügbar sind und der öffentliche Verkehr nicht viel mehr ist als eine gute Idee. Heute bin ich mit dem Fahrrad zwischen zwei Arbeitsterminen (ich arbeite ja auch noch, nebenbei) zum Fleischmarkt in die Innenstadt gefahren, übrigens ein interessanter Straßenzug, vor allem der leerstehende Schwindhof hat es mir angetan. Ich wurde zwar nass, aber das ist harmlos im Vergleich zu der Vorstellung, dass mir jemand, nachdem ich im Sündenpfuhl der Sexualität »nicht richtig aufgepasst« habe, »Fleischmarkt« als fernen Mythos ins Ohr flüstert, zu dem ich alsdann einen Canossagang anzutreten hätte. Es ist nicht falsch, in dieser Stadt zu leben, die sich mir nicht anbiedert, aber da ist, wenn ich sie brauche.

Davor, als Alex und ich uns zu Hause getroffen haben, meinte er, »weißt du, wenn wir das mit dem Abbruch nicht schaffen, dann ziehen wir das eben durch. Das Leben ist sowieso irre, das schaffen wir auch noch.« Ich meinte, dass ich vor allem Angst hätte, dass unsere Beziehung einen Abbruch nicht verkraften würde.

Weil ich über Jahre hinweg das Gefühl hatte, meine Bedürfnisse kämen viel zu kurz, würden nicht wahrgenommen und nicht ausgelebt, könnten nicht einmal formuliert werden. Ich mache Alex daraus in hellen Momenten keinen Vorwurf, er trägt keine Schuld, dass ich mich nicht wichtig genug nehme, meine Bedürfnisse überhaupt zu formulieren, aber nachts – und vorgestern war so eine Nacht – bin ich gurkensauer auf ihn und verrenne mich in der Idee, dass er über Jahre hinweg, wie mir in so einer Nacht scheint, nie für mich da war. Ich habe mir schon oft vorgenommen, die destruktiven Impulse der Nacht gar nicht zuzulassen, aber das hier ist jetzt ein Zustand, in dem ich mich kaum unter Kontrolle habe. Dabei haben wir versucht, Liebe aus ehrlichem Beton zu mischen, wir waren ganz kurz zusammen, als ich ihm sagte, ich möchte auf jeden Fall Kinder, irgendwann. Und er sagte, er wolle keine Kinder. Aber wenn, dann mit mir. Als er Vater wurde, war er wie eine Mutter.

Nur jetzt gerade, in diesem totalen Drama, habe ich keine Großzügigkeit, zwischen Abbruch oder nicht gibt es nur ein Dilemma. Daraus wachsen Wut und Verzweiflung.

Eines der größten Probleme mit dieser Entscheidung: Ich habe mir lange ein weiteres Kind gewünscht, dann wollte ich es nicht mehr, nun könnte ich es doch wollen, und Alex, dieser liebevolle Vater, kann man ihm das antun wollen? Ein ziemlicher Brainfuck.

Bei der Entscheidungsberatung habe praktisch nur ich gesprochen, sämtliche Fragen wurden mir gestellt, Alex war Zuhörer, fast eine Randfigur. Natürlich: Die Frau entscheidet über ihren Körper, das ist fix, denn jeder Mensch muss das Bestimmungsrecht über den eigenen Körper haben, und das ist nicht nur eine feministische Haltung. Es ist aber sehr wohl eine ganz zentrale Forderung im Feminismus, dass der Mann als Vater die Konsequenzen dieser Autonomie mitträgt. Ob er ein Kind bekommt oder nicht, entscheidet trotzdem die Frau. Gut, ganz unschuldig wird niemand zum Vater.

Ich habe einmal während einer philosophischen Veranstaltung, bei der es um die Hölle ging, beim Rauchen einen Türsteher kennengelernt, der mir sagte, er werde sich einer Vasektomie unterziehen, denn er hasse Kinder, er hasse alle Kinder, und er habe außerdem keine anderen aspirations (so sagte er) im Leben, als Türsteher bei dieser philosophischen Veranstaltung zu sein. Ein Mensch, der weiß, was er will, das kommt mir nicht so oft unter.

Alex meinte nach der Entscheidungsberatung, nun sei ihm zum allerersten Mal bewusst geworden, dass das definitiv wäre, dass wir, wenn wir nun abbrechen, wirklich kein Kind mehr bekommen würden. Als Mann hätte er ja nie dieses Bewusstsein entwickeln müssen, dass es irgendwann nicht mehr gehe, aber nun sei ihm eben konkret bewusst geworden, dass es dann damit vorbei sei (weil er, das hat er nicht dazugesagt, aber das weiß ich, nicht damit rechnet, mit einer anderen Frau ein Kind zu bekommen, obwohl das praktisch und technisch kein Problem wäre).

Ich bin für die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs, aber für mich selber ist er nie in Frage gekommen. Ich war noch ganz jung, ich habe mich schon in der Schulzeit, kann ich mich erinnern, selbst als Frau mit Kindern gesehen, in der Zukunft natürlich, denn es gab damals und über die Schulzeit hinaus kaum eine größere Angst, als schwanger zu werden (jeden Monat konnte diese Angst auftreten, ein Horror!). Aber das Bild war immer da, ich, irgendwann mit eigenen Kindern, als Mutter, ich habe das nicht hinterfragt. Nie habe ich mich gefragt, ob so eine Mutterschaft mit meinem Bedürfnis nach Freiheit, nach Unabhängigkeit, nach Spontaneität vereinbar wäre. Ob ich als Individuum weiterexistieren könnte. Auch als ich mit Luis schwanger war, war für mich klar, ich bleibe die Gleiche. Aber wer ist die Gleiche? Zu wem werde ich, wenn meine Bedürfnisse brachliegen, wenn ich die eigenen Wünsche nicht mehr erfüllen, sie mir nicht einmal mehr eingestehen kann, wenn ich mit Rollenbildern bombardiert werde, wenn das Leben anders wird und mich zu einer anderen formt? Es ist mir sehr lange sehr schwergefallen, zu akzeptieren, dass sich das Leben mit Kind und der Mensch, der das Kind bekommt, verändern. Absurd.

Vor etwas über einem Jahr diagnostizierte eine chinesische Ärztin meine Seele als »nicht angstfrei« und räucherte sie daraufhin aus (wovon ich Kribbeln in den Fingern bekam). Sie sagte mir, dass das, was ich täte, hauptsächlich zu schreiben nämlich, »seelenadäquat« sei. Außerdem sagte sie, ich hätte immer Kinder um mich gehabt. Ich war verdutzt, dachte an meine spärlichen, lähmenden Erfahrungen als Au-pair oder als Babysitterin, dachte an die Partys, auf die ich nicht gegangen bin, weil explizit Kinder eingeladen waren. Aber, so stellte sich heraus, ich hatte nicht weit genug gedacht. In all meinen »früheren Leben«, sagte die Ärztin, hätte ich immer schon Kinder um mich gehabt. Es beruhigt mich und meinen zweifelnden Geist bis heute, dass in mir eine Seele wohnt, die »immer schon« Kinder um sich hatte.

Anders als viele hatte ich nie einen Kinderwunsch. Ich hatte eine Kindergewissheit. Nur dumm, dass ich auch noch jenen Teil meiner exzentrischen Seele zu befrieden habe, der immer schon mit Worten gehandelt, der immer schon geschrieben hat.

Ich weiß, dass Kinder meinen Bewegungsradius auf eine Art einschränken, die mir sicherlich nicht guttut.

Auf die Frage, ob ich mir vorstellen kann, noch zwei Kinder zu bekommen, kann ich nur positiv antworten. Ich kann es mir vorstellen, ich hatte das Bild immer vor Augen, und ich würde vielleicht sogar glücklich sein, weil Kinder glücklich machen. Punkt. Zu sagen, Kinder machen unglücklich, ist nicht erlaubt. Gleichzeitig musste ich auf die Frage der Entscheidungsberaterin auch antworten, dass ich weiß, dass ich mich auch mit einem Kind sinnlos fühlen kann. »Die schönste und herausforderndste Aufgabe« stand auf einer Glückwunschkarte, die ich zu Luis’ Geburt bekam. Herausforderndst, kaum zu artikulieren, dieses Wort.

Manchmal muss ich an ein Gespräch denken, das ich mit Pensionistinnen geführt habe, die sagten, es sei ein Nullsummenspiel. Ich verstehe nach wie vor nicht ganz, was sie damit gemeint haben, vielleicht, weil Vergleiche immer hinken und mathematische Vergleiche in Bezug auf Gefühle lahmen. Aber ich arbeite daran. Diese Frauen sagten, sie seien mit ihren Kindern glücklich gewesen und könnten sich nicht vorstellen, diese Kinder nicht zu haben, aber hätten sie sie nicht, sie würden ihnen nicht abgehen. So ist es auch bei uns: Wenn wir die Kinder nicht bekommen, werden wir nie erfahren, was uns dadurch entgangen sein könnte. Wir werden nur das kennen, was uns glücklich (oder unglücklich) gemacht haben wird.

Daher, meinte die Entscheidungsberaterin, sollte ich meine Entscheidung irgendwann einmal bereuen, in zehn Jahren, in zwanzig Jahren (was für eine entfernte Vorstellung!), dann müsste ich mir ganz konkret vor Augen führen, was damals die Gründe gewesen wären. Deswegen muss ich protokollieren, minutiös.

Auf die Frage, was ich an der Entscheidung für einen Abbruch bereuen könnte, ist mir nicht wirklich viel (Substantielles) eingefallen. Ich habe nur wiederholt, dass ich mich sicher auch mit Kindern sinnlos fühlen kann. Was hat diese Entscheidung überhaupt mit Sinn zu tun? Warum herrscht die Annahme vor, Kinder seien sinnstiftend? Tatsächlich ist es so: Kinder machen Arbeit, Neugeborene, Säuglinge, Babys müssen betreut werden. Dass ich während dieser Tätigkeiten nachdenke, mir die eine oder andere Frage stelle, könnte für mich zu einem Problem werden. Kinder füllen die Zeit aus, mit Sinn muss ich sie selber füllen. Ich kann mir allerdings auch vorstellen, dass ich mit zwei Kindern in den ersten Jahren gar nicht bis zu dieser Sinnfrage komme. Sondern vorher einschlafe.

Während alle anderen saufen, habe ich nicht das geringste Bedürfnis nach benebelnden Substanzen. Einordnen unter: wofür ich der SS dankbar bin.