Freundliche junge Damen - Mary Renault - E-Book

Freundliche junge Damen E-Book

Mary Renault

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Beschreibung

Ein Hausboot auf der Themse in den schillernden Dreißigerjahren. Dort geht es um Freundinnen, Schwestern, die Liebe und das turbulente Leben. Unwiderstehlich unterhaltsam erzählt uns Mary Renault über Lebensentwürfe jenseits der Schubladen und Konventionen. «Freundliche junge Damen» ist ein charmanter und intelligenter Roman über Männer, Frauen und Freiheit – eine Wiederentdeckung der besonderen Art. Elsie ist behütet und naiv – und sie ist unglücklich. Die Eltern und das düstere Dorf im Cornwall erdrücken die Siebzehnjährige regelrecht, sodass es nicht verwundert, dass sie sich in den ersten präsentablen Mann verliebt: Peter. Der Arzt aus London rät ihr, von zu Hause abzuhauen und nach London zu ihrer Schwester Leonora zu gehen. Dort staunt Elsie nicht schlecht: Leo lebt auf einem Hausboot auf der Themse und schreibt Western, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und sie teilt Boot und Bett  mit einer Frau. Als Peter auf das Boot zu Besuch kommt und seine Aufmerksamkeit von einer freundlichen jungen Dame zur nächsten schweifen lässt, hat das für alle überraschende Folgen ...  Endlich auf Deutsch: Mary Renaults Roman ist ein moderner Klassiker und ein frühes Beispiel für Literatur mit LGBTQ-Themen. 

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Seitenzahl: 547

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Mary Renault

Freundliche junge Damen

Roman

 

Herausgegeben von Magda Birkmann und Nicole Seifert

 

Aus dem Englischen von Gertrud Wittich

 

Über dieses Buch

Ein Hausboot auf der Themse in den Dreißigerjahren

 

Elsie ist behütet und naiv – und sie ist unglücklich. Die Eltern und das düstere Dorf in Cornwall erdrücken die Siebzehnjährige regelrecht, sodass es nicht verwundert, dass sie sich in den ersten präsentablen Mann verliebt: Peter. Der Arzt aus London rät ihr, von zu Hause abzuhauen und nach London zu ihrer Schwester Leonora zu gehen. Dort staunt Elsie nicht schlecht: Leo lebt auf einem Hausboot auf der Themse und schreibt Western, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und sie teilt Boot und Bett mit einer Frau. Als Peter zu Besuch kommt und seine Aufmerksamkeit von einer freundlichen jungen Dame zur nächsten schweifen lässt, hat das für alle überraschende Folgen …

Humorvoll, charmant, unkonventionell: ein moderner Klassiker über Freundinnen, Schwestern, die Liebe und das turbulente Leben.

 

«Ich bin gebannt von Renaults Kunstfertigkeit.» The Observer

 

«Eine sehr lebendige und menschliche Geschichte.» The New York Times Book Review

Vita

Mary Renault, geboren 1905 in London, besuchte die Oxford University, bevor sie eine Ausbildung zur Krankenschwester an der Radcliffe Infirmary in Oxford machte. Dort lernte sie ihre Lebenspartnerin Julie Mullard kennen. 1939 erschien Mary Renaults erster Roman. Nachdem sie den mit 25000 Dollar dotierten MGM Prize für ihren Roman «Return to Night» gewonnen hatte, emigrierten sie und ihre Partnerin 1948 nach Südafrika, wo Renault 1983 starb. Bekannt war die Autorin vor allem für ihre historischen Romane aus der Antike, u. a. für die fiktiven Porträts von Sokrates, Plato oder Alexander dem Großen.

 

Gertrud Wittich hat auf dem Sprachen & Dolmetscher Institut München Englisch mit Zweitsprache Spanisch studiert. Sie liebt Bücher, die Oper und die Musik der Seventies. Sie lebt in München und hat unter anderem Werke von Stella Gibbons, Jojo Moyes, Virginia Ironside und Sophie Kinsella ins Deutsche übertragen.

 

Magda Birkmann ist seit ihrer Jugend begeisterte Schatzsucherin in Bibliotheken, Antiquariaten und auf Bücherflohmärkten, seit 2018 teilt sie diese Begeisterung für Literatur als Buchhändlerin in der Berliner Buchhandlung Ocelot und als freiberufliche Literaturvermittlerin auch regelmäßig mit der Öffentlichkeit. 2021 war sie für den Börsenblatt Young Excellence Award nominiert.

 

Nicole Seifert ist gelernte Verlagsbuchhändlerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin. Sie lebt in Hamburg und arbeitet frei als Autorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin. Ihr Literaturblog nachtundtag.blog wurde 2019 vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels als bester Buchblog ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei Kiepenheuer & Witsch ihr Buch «FRAUEN Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt».

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1944 unter dem Titel «The Friendly Young Ladies» bei Longmans, Green and Co. Ltd, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«The Friendly Young Ladies» Copyright © 1944 by Mary Renault

Redaktion Susann Rehlein

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung United Archives/Lämmel/Bridgeman Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01767-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

1

Elsie blickte sich vorsichtig um, ohne ihren dünnen jungen Hals oder die rundlichen Schultern zu bewegen. Ihr Blick huschte zunächst zur Terrassentür, die in den Garten führte, dann maß sie die Distanz bis zur Wohnzimmertür. Sie tat es instinktiv wie eine Maus, hatte sich das angewöhnt, seit sie krabbeln konnte. Obwohl es ihr jetzt wenig nützte, denn die Wohnzimmertür befände sich direkt im Gesichtsfeld des Vaters, falls sie diesen Fluchtweg wählen wollte. Soeben sagte er: «Es sollte doch eigentlich dem Dümmsten klar sein – zumindest außerhalb dieses Haushalts –, dass …»

Die Eltern hatten ihre Sessel an den Kamin gerückt, denn es war erst März, und die Familie Lane verfügte über ein gemütliches Heim. Elsie hatte einmal im Schulunterricht gesagt, sie «finde Heizkörper schön», was ihren Ruf, ein wenig verschroben zu sein, nur weiter zementierte. An solche Heizkörper musste sie jetzt denken, während sie mit dem Polsterhocker, auf dem sie saß, diskret ein wenig abrückte, um, falls nötig, hinter dem Sessel der Mutter zur Terrassentür flitzen zu können.

Dabei fiel ihr ein, wie ihre große Schwester Leonora früher, als sie noch zu Hause gewohnt hatte, bei solchen Gelegenheiten immer mit drei raschen Sprüngen an der Tür gewesen war und sie hinter sich zugeschlagen hatte, ja halbwegs den Strand erreicht hatte, ehe jemand auch nur ein Wort hervorbrachte. Elsie war und blieb unfähig, ihrem Beispiel zu folgen. Genauso gut hätte sie sich Flügel wachsen lassen können. Immer war sie es gewesen, die zurückblieb und sich die giftigen Kommentare und Repliken anhören musste, während Leo längst zu Ted und Albert hinuntergelaufen war, die am Hafen in den kleinen Cottages der Küstenwächter wohnten und mit denen sie den ganzen Tag lang in den Höhlen unterhalb der Klippen nach Treibgut fahndete. Elsie hatte ihr Ted und Albert nicht geneidet, im Gegenteil, sie musste der Mutter zustimmen, die beiden waren ungehobelt und unpassend. Sowieso war das inzwischen so lange her, dass Elsie nur noch selten daran dachte, die große Schwester zu beneiden. Nein, jetzt, wo bloß noch sie übrig war, stand es ihr frei, eigene Methoden zu ersinnen. Leo, die früher sogar imstande gewesen war, den Streit der Eltern auch noch anzuheizen, wurde in diesem Hause nicht mehr erwähnt. Elsie dachte nur noch ganz selten an sie.

Die Mutter sagte gerade: «… so mit mir zu reden! In meinem eigenen Haus.» Jetzt oder nie, dachte Elsie, bevor die Mutter «und das vor meinem eigenen Kind» hinzufügen konnte, denn dann wäre es zu spät. Behutsam, als wollte sie den Schlaf eines geliebten Menschen nicht stören, klappte sie ihr Buch zu, klemmte es sich unter den Arm und erhob sich auf langen dünnen Fohlenbeinen, an denen warme Winterstrümpfe Falten warfen. Ihre Schuhe waren fleckig von den Salzspritzern des Meeres. Elsie war ein unauffälliges Mädchen, eine graue Maus, schreckhaft und nicht sonderlich intelligent. Fast konnte man meinen, dass sie Angst hatte, erwachsen zu werden, weil das unweigerlich Aufmerksamkeit auf sie lenken würde. Sie hatte sich eine Tarnung zugelegt, die sie unsichtbar machte. Nicht ganz, aber beinahe.

«Da siehst du, was du angerichtet hast», verkündete die Mutter triumphierend, «mit deiner ständigen üblen Laune und deinem Gepolter, Arthur. Jetzt hast du die arme Elsie vertrieben. Dabei hat sie kaum diese schlimme Erkältung überstanden.»

Der Vater, der sich hinter der Times verbarrikadiert hatte und seine Bemerkungen wie Handgranaten darüber hinwegwarf, riss die Zeitung herunter, was passenderweise ein dramatisches Rascheln hervorrief. Elsie, deren Haltung ohnehin schlecht war, sank über dem Türknauf noch mehr in sich zusammen, und der Ausdruck auf ihren noch ungeformten Gesichtszügen wirkte dümmlich-leer, fast blöde. Schon ging es wieder los, sie spürte es, schon krampfte sich ihr der Magen zusammen, Elsie wehrte sich nicht gegen Schuld und Scham, genauso wenig wie ein junger Afrikaner das Tabu infrage stellt, das er im Dunkeln angeblich übertreten hat. Bemüht fragte sie sich: Was hätte ich tun können, um es richtig zu machen? Aber sie war zu schwach und verfolgte den Gedanken daher nicht weiter. Was sich gerade abspielte, hatte sich so schon tausendmal abgespielt. Also starrte Elsie nur mit eingezogenem Kopf auf den rot gemusterten türkischen Teppich.

«Also, das übersteigt wirklich alles», brüllte der Vater. Er hob den Blick zum sepiafarbenen Burne-Jones an der Wand gegenüber, eine dürre Dame, die eine Lilie in der Hand hielt und deren verzweifelter Gesichtsausdruck Elsie ein Abbild ihres eigenen Zustands zu sein schien. «Reicht es denn nicht, dass ich hier tagein, tagaus euer Gemecker ertragen muss, ohne dass mir diese Zurschaustellung eines Martyriums auch noch angelastet wird?» Er pfefferte die Times auf den Boden. Elsies Blick fiel zufällig auf die Schlagzeile, jemand hatte offenbar die Liga verlassen. Abwesend fragte sie sich, welche Liga wohl gemeint sein mochte, Genf oder Fußball.

«Elsie», sagte der Vater, «komm her.»

Elsie, die sich an den Türknauf geklammert hatte wie an einen Rettungsanker, ließ diesen wohl oder übel los und schlurfte näher heran.

«Überlege bitte das nächste Mal, wenn deine Mutter dich wieder auf mich hetzt. Nur mal kurz nachdenken, das ist alles, worum dich dein Vater bittet. Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder? Frag dich einfach, was wäre, wenn dein Vater, obwohl er im eigenen Haus wie ein Aussätziger behandelt wird, jawohl, wie ein Aussätziger», wiederholte er, «wenn dein Vater nicht trotz allem willens wäre, dich zu ernähren und dafür zu sorgen, dass du ein Dach über dem Kopf hast? Und Taschengeld? Überleg dir das bitte mal und versuch, deiner Mutter begreiflich zu machen, dass sie dasselbe tun sollte.»

Elsie war im Vorjahr ohne Abschluss von der Schule abgegangen. Ihre Hausarbeiten seien einfallslos und sie sei ständig unkonzentriert, war ihr von einer Lehrerin nach der anderen mitgeteilt worden, und sie sei sicherlich eine Enttäuschung für ihre Eltern; eine Prognose, die von den Zeugnissen leider immer wieder bestätigt wurde. Die sich daraus speisenden Schuldgefühle kamen noch zu jenen hinzu, die sie im Alltag ohnehin ständig empfand. Ja, es stimmte, wo wäre sie ohne ihn? Wie hypnotisiert sah sie sich mit schleppenden Schritten auf ein Fabriktor zugehen, eine Schiffermütze auf dem Kopf oder in ein Schultertuch gehüllt. Was das Aussehen der Fabrik betraf, musste sie wohl oder übel ihre Fantasie zu Hilfe nehmen, denn sie war noch nicht weit herumgekommen.

«Und, Elsie?», fragte der Vater herausfordernd.

Wenn so etwas geschah oder Elsie es vorausahnte, dann betete sie stets innerlich: «Bitte, lieber Gott, mach, dass ich wenigstens nichts sagen muss.» Die Zunge schien in ihrem Mund anzuschwellen. Vielleicht, wenn sie noch einen winzigen Moment abwartete …

«Arthur, wie kannst du das arme Kind nur so abkanzeln?», rief die Mutter mit schriller Stimme. «Ist es meine Schuld, dass sie deine Anwesenheit offenbar kaum noch ertragen kann? Mach dir nichts draus, Schätzchen, morgen, wenn dein Vater weg ist, machen wir es uns richtig schön, dann unternehmen wir was, nur wir beide.» Die Stimme der Mutter bebte.

Elsie rückte erneut in Richtung Türknauf vor und hielt sich daran fest. Wenn sie doch nur rechtzeitig etwas gesagt hätte. Sie wusste zwar nicht, was, aber irgendwas musste es doch geben. Jetzt hatte sie den Vater zornig gemacht und die Mutter zum Weinen gebracht.

«Eine solche Einstellung habe ich erwartet. Das ist die Art Gemeinheit, der ich hier täglich ausgesetzt bin. Irgendwann ertrag ich das nicht länger, und dann werdet ihr ja sehen. Eine Tochter ist bereits auf die schiefe Bahn geraten. Würde mich nicht wundern, wenn auch noch die zweite ihren Weg in die demi-monde findet.»

«Arthur.» Es war ein entsetztes Flüstern. «Wie gemein von dir. Wie kannst du nur so etwas sagen, noch dazu in Anwesenheit eines unschuldigen jungen Mädchens.» Die Mutter erhob sich, das Strickzeug an den Bauch gepresst. Elsie konnte sehen, wie ihr dabei ein paar Maschen von der Nadel rutschten, was alles noch schlimmer machte. Die Mutter schluchzte auf. «Hätte ich doch nur einen Sohn bekommen – nie würde er zulassen, dass man mich in meinem eigenen Hause derart beleidigt.»

«Hätte ich einen Sohn», brüllte der Vater, «dann könnten sich die Weiber in diesem Haushalt wenigstens nicht mehr gegen mich verschwören!»

Elsies Hand um den Türknauf wurde feucht. Eine Erinnerung war in ihr aufgestiegen, an das Schlimmste, was sie je in diesem Haus erlebt hatte. Zwar war es fast neun Jahre her, aber es kam ihr vor wie gestern. Elsie war damals noch so klein gewesen, dass sie sich unter Möbelstücken versteckt hatte, und sie war bei einer ähnlichen Gelegenheit gerade noch rechtzeitig unter den Tisch gekrochen. Leo jedoch hatte an der Tür gestanden, so wie sie jetzt. Sie war etwa im selben Alter gewesen wie Elsie. Elsie hatte von unter dem Tisch aus sehen können, wie sich das schmale, sonnenverbrannte Gesicht der Schwester unter dem zerzausten dunklen Haarschopf plötzlich verfinsterte. Man hatte den Eindruck gehabt, es befände sich ein dritter Erwachsener im Raum, noch viel beängstigender als die beiden anderen. Breitbeinig hatte Leo dagestanden, die Fäuste in die Taschen ihres schäbigen Tweedkostüms geschoben, und laut und deutlich gesagt: «Wenn ich ein Mann wäre, dann wäre ich längst nicht mehr hier. Und ich wünschte verdammt noch mal, ich wäre einer.» Die Stille, die daraufhin eingetreten war, ließ den vorherigen Sturm wie ein laues Lüftchen erscheinen. Und in dieser Stille war Leo hinausgegangen, ganz ruhig und ohne die Tür zuzuknallen.

Wenn Elsie daran dachte, kam ihr der jetzige Streit schon fast gewöhnlich vor.

Da sagte der Vater: «Das reicht, du kannst jetzt gehen, Elsie.» Er sagte es in einem Ton, als habe man ihn so tief gekränkt, dass es sich mit Worten nicht mehr gutmachen ließe. Aber obwohl er mit dieser Methode oft derartige Debatten beendete, hatte Elsie das Gefühl, dass auch er sich erinnert hatte. Da nicht ausgeschlossen war, dass er seinen Worten ein «Aber denk dran …» folgen lassen könnte, verschwand Elsie blitzschnell. Sie achtete darauf, die Tür leise zuzumachen und nicht ins Schloss zu knallen, weil sie deswegen schon einmal zurückgepfiffen worden war und sich den Streit der Eltern eine weitere Viertelstunde lang hatte anhören müssen (diesmal zum Thema Türenknallen).

Bereits auf halbem Weg zur Treppe hörte sie, wie es drinnen im Wohnzimmer wieder losging. Das entschied die Sache – Elsie wagte es nicht, erst noch nach oben zu laufen, um ihren Mantel zu holen. Einmal war sie beim Herunterkommen nämlich der Mutter begegnet, die gerade aus dem Wohnzimmer getreten war und unbedingt über den letzten Streit hatte sprechen wollen. Dass sie, Elsie, dem aus dem Weg gehen wollte, war zwar wieder gemein und herzlos, aber so kannte sie sich inzwischen.

Es war bisher ein sehr milder Frühling, selbst für Cornwall, aber draußen war es kühler als erhofft. Der Vormittag war angenehm gewesen, und eine bleiche Sonne hatte auf das spiegelglatte, türkisblaue Meer geschienen. Aber nun war die Sonne verschwunden, und es war kurz nach vier. Vom Meer her wehte ein schwerer, feuchter Wind, Nebelstreifen hingen dampfig an den Hecken, die den Weg säumten. Die dornigen Zweige trieften, ebenso die Natursteinmauern. Die Erdbrocken, die die Mauersteine zusammenhielten, waren dunkelbraun von der Nässe.

Elsie verschränkte die Arme vor ihren flachen Mädchenbrüsten, wegen der Kälte und um das Buch zu schützen, das sie dabeihatte. Widerwillig gestand sie sich ein, dass es zu kühl war, um sich irgendwo hinzusetzen und zu lesen. Vielleicht würde die Sonne ja noch einmal hervorkommen, sie konnte in der Zwischenzeit schneller gehen, um sich warm zu halten. Elsie war natürlich klar, dass die Sonne in kaum einer Stunde sowieso untergehen würde, dennoch klammerte sie sich an diese sinnlose Hoffnung. Weil sie mehr im Moment nicht hatte, selbst wenn ihr das nicht bewusst war.

Ihre Handflächen waren mittlerweile rotfleckig, was schlimmer aussah, als es war, denn die Farbe stammte von den allmählich aufweichenden Buchdeckeln des scharlachroten Siegels von Baroness Orczy. Abwesend wischte sie die Handflächen an ihren Wollstrümpfen ab. Die Buchdeckel hatten aufgrund vorheriger Exkursionen im salzigen Nieselregen bereits ihren Glanz verloren. Elsie war ein großer Fan von Liebesromanen. Ihr absoluter Favorit war Idylls of the King von Alfred Lord Tennyson, natürlich wollte sie anschließend auch Sir Thomas Malory lesen, Die Geschichten von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde, und hatte wochenlang gespart, um sich die Volksausgabe der Everyman’s Library zu besorgen. Aber die Vorstellungswelt des Mittelalters und die allgegenwärtige Männlichkeit hatten Elsie vollkommen unvorbereitet getroffen. Erst kürzlich war sie mit erschütternden Details des Lebens konfrontiert worden. In der Schulgarderobe zwischen den Mänteln hatte ihr Gladys Hunter flüsternd erzählt, was sich zwischen Mann und Frau abspielte, und das Ganze war Elsie so schockierend, so bizarr und beängstigend vorgekommen, dass sie es hatte glauben müssen, denn nicht einmal Gladys hätte sich so etwas ausdenken können. Der Gedanke, ihre Eltern würden das miteinander tun (und sie, Elsie, war ja der lebende Beweis dafür), war so entsetzlich, dass sie hinterher wie ein Gespenst umhergeschlichen war. Schließlich war selbst der Mutter etwas aufgefallen, und sie hatte Elsie eines Abends vor dem Schlafengehen gefragt, was denn los sei. Ein Mörder, der feststellen muss, wie man den Teich absucht, in dem er die Leiche versenkt hat, hätte nicht erschrockener sein können als Elsie in jenem Moment. Hastig hatte sie irgendetwas zusammengestammelt – ihre Mathematikhausaufgaben seien zu schwer. Daraufhin hatte die Mutter (nach einer hässlichen Szene mit dem Vater) an Elsies Lehrerin geschrieben. Elsie wurde in Mathematik eine Stufe zurückversetzt und durfte sich künftig viermal pro Woche daran erinnern lassen, wie sündig und verlogen sie sein konnte. Dabei war sie erst im Monat zuvor konfirmiert worden. Und jedes Mal, wenn sie danach ihre Kommodenschublade geöffnet hatte, lag da anklagend das kleine rote Firmungsbüchlein, das sie vom Bischof geschenkt bekommen hatte. Und jetzt wusste sie ja überhaupt erst, was mit «unreinen Gedanken» gemeint war, vor denen darin gewarnt wurde. Am Ende versteckte sie es unter ihrem besten Unterrock, denn die Gebete für solche Gelegenheiten kannte sie inzwischen ohnehin auswendig. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand so schlimm und sündig sein könnte wie sie selbst.

Aber das war fünf Jahre her, und diese Entdeckung, so unangenehm sie auch gewesen sein mochte, hatte inzwischen einiges an Schrecken verloren. Elsie hatte nun ein Alter erreicht, das der Mutter erlaubte, stillschweigend davon auszugehen, dass Elsie wusste, warum sie sich nicht von fremden Männern ansprechen lassen sollte. Solche Warnungen erhielt Elsie regelmäßig, manchmal sogar noch üblere, da war von einer bösen Frau die Rede, die jungen Mädchen beim Einkaufen auflauerte, als Krankenschwester verkleidet, und ihnen weismachte, ihre Mutter habe einen schweren Unfall gehabt und liege im Krankenhaus. Sie könne sie gleich mitnehmen und hinbringen, draußen warte ein Taxi. Und wenn man dann in dieses Taxi einstieg (dessen Fenster verhängt waren), bekam man eine Betäubungsspritze in den Arm. Nie wäre Elsie auf den Gedanken gekommen, sich zu fragen, ob sie, blass und unscheinbar, mit den braunen Augen eines geprügelten Welpen und ihren Streichholzbeinen mit den knubbeligen Knien eigentlich die Art Beute war, auf die es böse, lasterhafte Menschen abgesehen hatten. Sie lebte in ständiger Angst vor Verführung oder Vergewaltigung, und einmal, als sie mit der Mutter in Truro gewesen war und sich allein verlaufen hatte, war sie lieber eine Stunde lang herumgeirrt, bis sie einen Polizisten fand, den sie nach dem Weg fragen konnte, anstatt jemanden anzusprechen, den sie nicht kannte.

Die Tatsache, dass sie nirgends hinging, nur mit den Bekannten der Mutter zusammenkam und ansonsten ganz in ihrer Fantasie lebte, führte dazu, dass Elsie im Grunde immer noch ein Kind war und nicht erwachsen werden konnte. Mit ihren siebzehn Jahren hatte sie eine Lebensauffassung, die der Hierarchie bei Madame Tussauds glich: In den oberen Stockwerken befand sich das Reich der romantischen Liebe, repräsentiert durch Könige und Königinnen, durch Samt und Seide. Die fleischliche Liebe, Sex und all das, war dagegen in die Folterkammern im Keller verbannt worden. Gewöhnlich gelang es Elsie, mit ihrer Träumerei von höfischer Liebe das Reich da unten zu verdrängen. Dass Das scharlachrote Siegel jetzt so abfärbte (der Nebel war in Nieselregen übergegangen), war für Elsie beinahe tröstlich. Ein Stallknecht aus der nahen Reitschule, der einem der Tiere Auslauf verschaffte, ritt an ihr vorbei, grau vor einem grauen Himmel. In ihrer Fantasie sah Elsie ihn in einem wallenden schwarzen Umhang, mit schwarzer Maske und glänzenden Pistolen im Halfter, verfolgt von einer Schar blutrünstiger Rotröcke. Und auf einem Hügel im Hintergrund ragte auf einmal ein prächtiges Schloss auf, in dem eine junge Heldin aus Sorge um ihn heiße Tränen vergoss. Wenn nur der Himmel aufrisse und sie sich ein wenig hinsetzen und lesen könnte, ginge es ihr bestimmt gleich wieder besser. Aber das abscheuliche Wetter und ihre Niedergeschlagenheit lasteten auf ihr wie ein schwerer nasser Mantel. Wie stets in diesen Situationen war Elsie davon überzeugt, dass sich nie etwas an ihrem Unglück ändern würde. Es schien keinen denkbaren Grund zu geben, warum in zehn, zwanzig Jahren nicht alles noch genauso sein würde wie jetzt. Miss Matthews aus dem Pfarrhaus zum Beispiel war schon über vierzig und lebte immer noch bei den Eltern.

Ein dicker, kalter Wassertropfen rann Elsie hinten in den Kragen. Jetzt merkte sie auch, dass sie vollkommen durchnässt war und dass sie fror wie ein Schneider, obwohl sie so schnell ging, wie sie konnte. Sie sollte besser nach Hause gehen, sagte sie sich. Aber wenn sie in diesem Zustand dort auftauchte, würde man sie ausschimpfen. Vielleicht hörte es ja gleich wieder auf zu regnen, dann könnte sie warten, bis sie wieder einigermaßen trocken war, und dann rasch nach oben auf ihr Zimmer laufen und sich umziehen, ohne dass die Eltern etwas davon mitbekämen.

Auf jeden Fall wollte sie jetzt noch nicht nach Hause. Das war ein besonders schlimmer Nachmittag gewesen, und plötzlich fiel ihr auch wieder ein, wieso. Weil der Vater das über Leo gesagt hatte. Elsie hatte es wohl schon lange dumpf geahnt, aber es kam ihr so unfassbar vor, dass sie sich eingeredet hatte, sie müsse sich irren. Vielleicht, so hatte sie sich gesagt, hatte Leo den Vater irgendwann so schlimm provoziert, dass er sie des Hauses verwiesen hatte. Es wäre der Schwester, so wie sie sie in Erinnerung hatte, durchaus zuzutrauen. Aber dann würde die Mutter sie doch wenigstens ab und zu erwähnen (und dem Vater Vorwürfe machen). Außer natürlich, sie hatte sich etwas wirklich Schlimmes zuschulden kommen lassen. Und da kam eigentlich nur das eine infrage.

Aber selbst jetzt, wo sie wusste, dass es wahr sein musste, kam ihr das Ganze vor wie ein böser Traum. Von so etwas hörte man manchmal, das passierte nicht im eigenen Bekanntenkreis und schon gar nicht in der eigenen Familie. Aber nun war es passiert. Wenn sie die Mutter zum Tee bei den Matthews oder den Garaways begleitete, erkundigten diese sich nie nach Leo wie nach anderen Verwandten. Nie fragten sie, wie es ihr gehe und was sie so mache. Jetzt wusste Elsie plötzlich, warum. Alle wussten es. Alle Anstrengung war vergebens. Sie, Elsie, würde nie sein wie andere Menschen. Selbst wenn es ihr gelänge, ihre sündigen Gedanken mit inbrünstigen Gebeten in Schach zu halten, selbst wenn sie alt genug wäre, um ihr eigenes Kleidergeld zu bekommen, selbst wenn die Mutter ihr endlich erlauben würde, sich eine Dauerwelle legen zu lassen, selbst wenn sie endlich zu einer Tanzveranstaltung gehen dürfte. Sie würde trotzdem nie so sein wie alle anderen. Denn ihre Eltern stritten, sie stritten ständig und selbst in der Öffentlichkeit. Und ihre große Schwester lebte in Sünde.

Elsie versuchte, sich vorzustellen, wie Leo jetzt wohl aussah. Sie war ja inzwischen schon sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig, also schon ziemlich alt. Inzwischen war sie sicher nachts auf den Straßen unterwegs und sprach wildfremde Männer an. Die Mutter hatte Elsie hinter vorgehaltener Hand erklärt, dass alle Frauen, die auf die schiefe Bahn gerieten (oder sich von falschen Krankenschwestern in Taxis locken ließen), früher oder später so endeten. Bestimmt hatte sich Leo das Haar färben lassen. (Elsie war so naiv zu glauben, dass man sich nur aus zwielichtigen Gründen die Haare färben ließ, und dann natürlich immer in einem schrillen Orange- oder Rotton, und so stellte sie sich die Schwester vor). Es war schwer, das alles mit Leo in Verbindung zu bringen, denn Elsie erinnerte sich noch gut an sie, obwohl sie erst neun gewesen war, als die Schwester plötzlich verschwand. Leo hatte ihr Taschengeld nie für Puder oder für Rouge ausgegeben, sondern für Teleskop, Taschenkompass und Taschenmesser oder für eine Art Zange, mit der man Pferdehufe sauber kriegte. Oder für Landkarten und Wanderkarten. Oder sie half im Gestüt aus. Selbst als sie endlich ein Kleidergeld von zwanzig Pfund im Jahr bekam, gab sie es nicht für Spitzenkrägen und Seidenstrümpfe aus, sondern kaufte sich ein robustes Tweedkostüm, das sie dann aber keineswegs für Sonntage aufhob, sondern jeden Tag trug und dessen Taschen sie mit Äpfeln, Schnüren oder Ähnlichem ausbeulte.

Elsie hatte sich immer ein bisschen vor Leo gefürchtet. Sie hatten sich nie gegenseitig ihre kleinen Geheimnisse anvertraut. In den Schulferien trieb Leo sich fast ausschließlich unten im Dorf herum, in St Trewillian, bei Tom Fawcett und seiner Bande von Jungs. Sie kam dann meist erst gegen Abend zurück, zerzaust und dreckig, mit seltsamen Trophäen wie Vogeleiern oder einem Brocken Braunspat. Sie hatte Löcher in den Strümpfen, aufgeschürfte Knie und einmal sogar ein blaues Auge, dessen Herkunft sie wenig überzeugend erklärt hatte. Wenn ihr zwischendurch einfiel, dass es ja noch Elsie gab, war sie nett zu ihr, aber auf eine zerstreute Art. Oben auf dem Speicher stand heute noch ihr altes Puppenhaus mit den Möbeln, die Leo selbst angefertigt hatte, teils aus Schilf geflochten oder aus Holz geschnitzt. Und auch in ihrem letzten Jahr, bevor sie verschwand, war Leo hauptsächlich alleine in der Gegend herumgestreift, jedenfalls soweit Elsie sich erinnern konnte (aber was wusste sie schon?). Tom hatte zu der Zeit bereits einen Posten bei der Elephant Line bekleidet und war zur See gefahren.

Elsie sah Leos schmales, sonnenverbranntes Gesicht vor sich, mit diesen seltsam schräg stehenden Zügen – die dunkelbraunen Augenbrauen, die hellbraunen Augen, die hohen Wangenknochen. Dazu ein breiter Mund und ein schmales Kinn. Die Schwester hatte oft eine abgetragene alte Seidenbluse getragen, am Kragen offen stehend. Mit einiger Mühe versuchte sich Elsie die Schwester mit splissigem, rot gefärbtem Haar vorzustellen, dazu bleiche, verlebte Gesichtszüge, die Wangen stark mit Rouge bepudert. Da brach ganz plötzlich die Verzweiflung aus Elsie heraus, und sie begann, heftig zu schluchzen. Der feine, salzige Nieselregen, der ihr auch im Haar hing, vermischte sich mit ihren Tränen und rann ihr kalt in den Mund. Das Unterhemd klebte ihr nass wie ein Badeanzug am Rücken, der Wind machte es nur noch schlimmer. Elsie, deren Zähne zu klappern begannen, hatte das Gefühl, dass Nässe und Kälte ihr bis in die Knochen drangen. Das scharlachrote Siegel in den schleimigen roten Buchdeckeln an sich gedrückt, tastete sie mit der anderen Hand unter ihren Rocksaum, um ihr Taschentuch unter dem Gummibündchen ihres Schlüpfers hervorzuholen. So stand sie einen Moment lang reglos, eine linkische, untröstliche Gestalt, deren einzige Gesellschaft eine braune Kuh war, die auf der anderen Seite der Hecke am Grassaum zupfte. Sie wandte sich ab und machte sich auf den Heimweg.

2

Elsie schluckte gegen die brennenden Halsschmerzen an. Den Mantel bis oben hin zugeknöpft, folgte sie der Mutter nach draußen. Sie wollten den Weg über die Klippen nehmen und auf einem der Bauernhöfe frische Eier kaufen. Elsie rechnete sich aus, dass ihre Nase erst morgen zu laufen anfangen würde, und bis dahin kam hoffentlich keiner mehr auf den Gedanken, sie zu fragen, ob sie gestern auch wirklich ihren Regenmantel angehabt hatte. Der Wind fuhr ihr mit eisigen Fingern in die Ärmel und unter den Kragen, aber da die Mutter meinte, es sei heute gar nicht mehr so kalt, sagte sie nichts, es hätte nur Fragen aufgeworfen.

Elsie hätte die Eier lieber im Dorf besorgt, denn der Weg dorthin lag geschützter. Da die Mutter den Weg über die Klippen aber nur ihr zuliebe einschlug, konnte sie schlecht Einwände machen. Denn in der Regel war sie lieber draußen in der Natur als im Dorf, das in gewisser Weise eine Verlängerung ihrer häuslichen Situation darstellte. Mehr als die Hälfte der Häuser war in den letzten zehn Jahren entstanden und inzwischen mehr oder weniger mit dem großen Badeort, drei Meilen entfernt, zusammengewachsen. Mr Lane war der hiesige Architekt, etwa ein Drittel der Häuser hatte er entworfen, der Rest war Marke Eigenbau, windschiefe Hütten oder Häuschen, die in den Sommermonaten zu horrenden Preisen als Ferienwohnungen an Touristen vermietet wurden. Und die karge Landschaft Cornwalls, verletzlich wie ein verarmter Grandseigneur, bot gegen die Schäbigkeit der Bauten weder Deckung noch eine gnädige Verhüllung. Wie Krätze besiedelten sie die freien Flächen, und sie bestanden zudem samt und sonders aus Material, das mit der Zeit keineswegs schöner wurde. Jedes Jahr brach auf einem der nackten Hügel ein neuer Herd aus, in Schiefergrau, Gelb oder Rot. Auf der aufgerissenen Erde ringsum wucherte Unkraut, die Brachen dienten als Müllhalde für rostige Dosen und sonstigen Abfall.

Mr Lanes Häuser dagegen gehörten ihren Eigentümern, das waren keine Mietshäuser. Alles an ihnen war solide, bis hinein in die Eingeweide aus Rohren und Kabeln, und ihre Gärten wurden Jahr für Jahr von den gleichen Besitzern gepflegt. Aber wenn man deshalb vielleicht meinte, sie würden sich gut in ihre Umgebung einpassen, war man im Irrtum. Die von Mr Lane entworfenen Häuser gehörten zu der Sorte, die selbstgefällig wirkt, wenn sie zu viel Fürsorge und Pflege erfährt, so wie manche Frauen. Sie sollten sich gar nicht in die Landschaft einfügen, im Gegenteil, es waren Häuser für die aufstrebende Mittelschicht und somit Bastionen gegen die Unterklasse, genauso wie der täglich zelebrierte Fünfuhrtee. Mr Lane selbst war kein Mensch, der sich gerne in seine Umgebung einpasste, dementsprechend entwarf er mit viel Enthusiasmus jedes Haus so, dass es sich kräftig von seinen Nachbarn unterschied. «Sankt Justinus» zum Beispiel besaß eine Haut aus Kieselrauputz und einen Windfang mit Rundbogen sowie eine derart wuchtige Giebelfront, dass das ganze Gebäude rhombenförmig wirkte. «Sankt Anton» bestand aus rotem Backstein und verfügte über einen Portikus mit Säulen, die wie Tudor-Schornsteine aussahen. Sie waren nicht gerade pflegeleicht, diese Häuser. Nie wäre es Mr Lane in den Sinn gekommen, sich in jene hineinzudenken, die dafür sorgten, dass alles hübsch sauber und ordentlich blieb. Wie auch, er kannte diese Leute nicht.

Und Elsie wiederum wäre nie auf die Idee gekommen, diese Häuser nicht geschmackvoll und bereichernd für die Gegend zu finden, denn nicht einmal die Mutter stellte dies infrage. Dagegen zählten die aus grauem Naturstein errichteten Höfe der kornischen Bauern eigentlich gar nicht als richtige Häuser, sie kamen Elsie eher wie Auswüchse der Natur vor, von Felsen und Klippen. Elsie mochte sie trotzdem, was vor allem daran lag, dass bei den Mahlzeiten nie über sie gestritten wurde. Als sie den Bauernhof erreichten und die warme Küche betraten, stiegen in Elsie, die zuvor noch fürchterlich gefroren hatte, regelrechte Hitzewellen auf. Gleichzeitig graute ihr davor, hinterher wieder in die Kälte hinauszumüssen.

Der Wind kam auf dem Rückweg frontal von vorne, und Elsie verspürte beim Atmen jetzt ein Stechen im oberen Brustbereich. Es war anders als das Seitenstechen, das man bekam, wenn man zu schnell gerannt war und für das sie sowieso zu langsam gingen. Die Mutter erzählte munter von den Leuten im Dorf und machte Elsie hie und da auf die ersten Anzeichen des Frühlings aufmerksam. Ihre rundlichen Wangen waren rosig vom Wind und von der Bewegung an der frischen Luft, und ihre gute Laune schien wiederhergestellt. Irgendwann meinte sie, es wäre doch jammerschade, schon wieder nach Hause zu gehen, und sie schlug einen ausgedehnten Umweg vor.

Elsie stimmte zu, ja, das wäre nett, und konnte sich nicht einmal etwas auf ihre Selbstlosigkeit einbilden, denn sie tat es nur, um jeglicher Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen, die sie in ihrem sich verschlimmernden Zustand nicht ertragen hätte. Sie fürchtete sich vor Äußerungen wie: Aber Schätzchen, wieso hast du das nicht schon heute früh gesagt? Bei diesem Wind rausgehen, wenn man krank ist, also wirklich. Du musst mir das sagen, wenn dir etwas fehlt, Liebes … Elsie wusste selbst nicht, wieso sie weiterhin in dumpfer Ergebenheit einen Fuß vor den anderen setzte. Es wäre die normalste Sache der Welt gewesen, etwas zu sagen. Anstatt sich wegen ihres hartnäckigen Schweigens auch noch schuldig zu fühlen. Aber das alles änderte nichts.

«Du bist so still, Elsie, Liebes», sagte die Mutter irgendwann. «Bedrückt dich etwas?»

«Nein, Mama, natürlich nicht, wie lieb, dass du fragst. Guck mal, die süßen Lämmer.»

Das war noch einmal gut gegangen, Elsie kannte die Gefahr. Fast mehr noch als vor den täglichen Auseinandersetzungen der Eltern graute es Elsie davor, wenn sich die Mutter hinterher bei ihr aussprechen wollte. Dabei konnten sie einander sowieso nicht helfen, da ihnen für einen klaren Blick die nötige Distanz fehlte. Solche Gespräche waren, als würde man an straff gespannten Saiten zupfen, die zur Ruhe gekommen wären, sobald man die Finger davon ließ. Aber das war nicht das Einzige, was Elsie heute fürchtete. Eine neue Angst kam hinzu: dass die Mutter sich nämlich entschließen könnte, mit Elsie über das zu reden, was wirklich mit Leo vorgefallen war. Schon ein paarmal davor, wenn die Mutter Elsie wieder einmal vor fremden Männern warnte, hatte diese das Gefühl gehabt, dass der Mutter eine Beichte auf der Zunge lag. Und jetzt, da sie die Wahrheit zu kennen glaubte, verstärkte der Gedanke an so eine Aussprache in Elsie noch das Bruststechen und den Schüttelfrost.

Mrs Lane ließ sich von dem Hinweis auf die Lämmer ablenken, wirkte aber ein wenig enttäuscht. Obwohl die Erfahrung das Gegenteil nahelegte, war Mrs Lanes Devise, dass alles gleich viel besser wurde, wenn man nur darüber redete. Elsie zwang sich, über Schafe, über Vögel, über den Tregarrock-Hof zu plappern, während sie vom Schüttelfrost und von der nervlichen Anspannung regelrecht durchgeschüttelt wurde.

Es war beinahe schon Zeit für den Lunch, als sie endlich wieder zu Hause eintrafen. Elsie schälte sich nur ungern aus Schal und Mantel, am liebsten hätte sie beides den ganzen Tag lang anbehalten. Stattdessen versuchte sie, sich warm zu halten, indem sie einen kurzärmeligen Pullover unter ihren dicken, langärmeligen anzog. Die Doppelschicht polsterte ihren dürren jungen Körper zwar ein wenig aus, doch sah sie jetzt, da sie ohnehin kaum Busen hatte, völlig amorph aus, wie sie mit einem apathischen Blick in den Spiegel feststellte, ehe sie zum Lunch nach unten ging.

Der Geruch von Steak mit gebratenen Zwiebeln schwappte ihr beim Betreten des Esszimmers in einer Welle entgegen. Unwillkürlich drehte es Elsie den Magen um. Sie fragte sich, ob sie überhaupt etwas herunterkriegen würde und wie viel von ihrer Portion sie, unter Messer und Gabel versteckt, auf ihrem Teller lassen könnte. Darin war sie mittlerweile sehr geschickt, denn ihr wurde während der Mahlzeiten nicht selten übel, und zwar meist dann, wenn es am Tisch mal wieder zu hitzigen Debatten kam. Aber dass ihr schon schlecht wurde, bevor sie überhaupt mit dem Essen begonnen hatte, war noch nie vorgekommen.

Jetzt betrat auch der Vater den Raum. Er beklagte sich über die Kälte und über ein paar Leute, die ihn geärgert hatten. Zu Elsies Erleichterung zeigte die Mutter, aufgemuntert durch den Spaziergang, Mitgefühl, anstatt ihrem Gatten zu empfehlen, doch das Gute im Menschen zu suchen. Leider fügte sie einen Nachsatz an, aus dem hervorging, dass sie gar nicht richtig zugehört hatte. Mr Lane zögerte nicht, seine Gattin darauf aufmerksam zu machen, gefolgt von der Bemerkung, das Steak sei zäh, weil zu sehr durchgebraten.

«Arthur, also wirklich.» Mrs Lane war es gelungen, sich einzureden, dass das Steak völlig in Ordnung sei. «Nie bist du zufrieden! Das ist doch ein gutes Steak, nur eben ein bisschen mehr durch als beim letzten Mal, aber da hat’s dir ja auch nicht geschmeckt, weil es angeblich noch roh war. Elsie schmeckt es doch auch, stimmt’s nicht, Elsie?»

Elsie führte daraufhin widerwillig die Gabel mit dem Stück Fleisch, die sie vorhin entmutigt hatte sinken lassen, erneut in Richtung Mund.

«Meinst du? Ja, sieht ganz danach aus. Zwing dich nicht, Liebes, du musst das nicht essen, ich lasse meins auch stehen», riet ihr der Vater.

«Ich frage mich, wieso ich mir überhaupt so viel Mühe gebe», empörte sich die Mutter. «Tagaus, tagein mühe ich mich ab, damit der Haushalt läuft. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, wie ich es allen schön machen kann. Und was ist der Dank? Man ermutigt meine Tochter auch noch, alles, was ich tue, zu kritisieren und herabzusetzen.»

Mrs Lanes Augen, die sich jetzt mit Tränen füllten, richteten sich auf Elsie. Und Elsie schob sich ergeben die Gabel voll Fleisch in den Mund. Mit einem Stoßgebet begann sie zu kauen und schluckte. Aber offenbar fehlte es ihr an Gottvertrauen, denn nur einen Moment später sprang sie vom Tisch auf und rannte aus dem Zimmer, während die Eltern, die bereits jeder eine Replik auf den Lippen hatten, ihr erschrocken nachblickten. Elsie, die gehofft hatte, es bis hinauf ins Bad zu schaffen, erbrach sich spektakulär auf der Treppe.

 

Mit der freudigen Überraschung derjenigen, deren Körper über den Willen gesiegt hatte, gelang es Elsie, sich mit dem Essen auch jeder Last und Sorge zu entledigen, die sie niedergedrückt hatten. Es machte ihr daher wenig aus, dass die Mutter das Fieberthermometer, als sie es ihr aus dem Mund zog, mit kaum verhohlenem Entsetzen begutachtete. Und auf die Frage (mit der Elsie gerechnet hatte), wieso um alles in der Welt sie denn nicht gesagt habe, dass sie krank sei, antwortete sie gelassen und ohne Scham, sie habe es nicht bemerkt. Bereitwillig ließ sie sich in einen warmen Schlafanzug und ein angewärmtes Bett stecken, und dort lag sie dann und blickte zufrieden zur Decke, an der die Schatten eines frisch entfachten Kaminfeuers tanzten. Der Vater schaute ebenfalls herein, mit einem Armvoll Bücher aus seinem Arbeitszimmer. Er wirkte überfreundlich, und da wusste Elsie, dass ihn wegen des Mittagessens das schlechte Gewissen plagte. Normalerweise wäre ihr das peinlich gewesen, doch jetzt nahm sie die Bücher mit gerade ausreichend Dankbarkeit entgegen und tat hinterher, als ob sie müde wäre, damit er gehen konnte.

Sie rollte sich zusammen, eine samtüberzogene Wärmflasche an ihrer schmerzenden Wirbelsäule, und fragte sich, wieso sie sich eigentlich so gegen diesen gottgesandten Ausweg gewehrt hatte, gegen diese Zuflucht vor den Prüfungen des Lebens. Wie angenehm war es, krank zu sein; man war von jeder Verantwortung entbunden, man begab sich bereitwillig in die Obhut anderer. Elsie war ohnehin eine Träumerin, sie lebte in ihrer Fantasie, und das bedeutete, dass sie nichts außer dem begehrte, was ihr die Mutter ohnehin täglich ungefragt hochbringen würde und was in der Summe zu dem führte, wonach sich Elsie am meisten sehnte: ein Sich-in-Luft-Auflösen aller Probleme, aller physischen und psychischen Belastungen. Hoffentlich blieb sie noch lange krank. Ihr kleines Refugium kam ihr plötzlich völlig neu und völlig anders vor, was vor allem an den tanzenden Schatten des Kaminfeuers lag, die den Raum in ein wundersames Licht tauchten, aber auch an diesem seltsamen Schwebezustand, in den man durch hohes Fieber versetzt wird. Vom Bett aus nahm Elsie ihre zahlreichen Schätze in Augenschein: das Bücherregal mit den roten Twopenny-Ausgaben der Romane von Baroness Orczy, von Dornford Yates, von Gene Stratton-Porter; an den Wänden die geliebten Bilder: Pan mit der Flöte und Peter Pan; auf dem Kaminsims die kleinen blauen Porzellanhäschen und darüber das eingerahmte und illuminierte Gedicht mit Anstandsregeln für junge Mädchen, das sie von der Mutter zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Diese Umgebung hüllte Elsie schützend ein, ebenso ihre rosa Daunendecke. Die sichere Welt der Kindheit hieß sie mit ausgebreiteten Armen willkommen und entband sie von jeder Schuld. Elsie verfiel in einen unruhigen Schlaf, sie träumte lebhaft, von Flucht und von einem Fluss, der sie die Treppe hinauf verfolgte.

Am Nachmittag erwachte sie kurz und konnte die Mutter und den Vater unten im Flur streiten hören, aber es hörte sich an, als ob sie es mehr aus Gewohnheit täten als aus echter Überzeugung. Die Mutter sagte gerade: «Das mag ja sein, Arthur, aber Dr. Sloane versteht Elsie viel besser. Denk doch nur, wie fabelhaft er war, als sie diesen Keuchhusten hatte. Ach, wie dumm, dass es ausgerechnet in diesem Monat passieren musste.» Was der Vater entgegnete, konnte Elsie nicht verstehen, er schien von weiter weg zu sprechen. Wie schön, dass alles so fern war. Und sie war froh, dass Dr. Sloane Urlaub machte oder was auch immer. Er hätte nämlich möglicherweise gesagt, sie könne am nächsten Tag schon für eine Weile aufstehen. Elsie schlief lieber wieder ein, aber sie schlief nicht mehr so tief, wurde zwischendurch immer wieder wach, blieb aber in Träumen gefangen, deren Logik sie nicht hinterfragte. Lawrence von Arabien kam auf einem weißen Hengst angaloppiert und rettete sie vor aufständischen Nomaden. In Elsies Vorstellungswelt war er ein Kondensat aus allem, was sie in der Boulevardpresse und einschlägigen Biografien über diesen wahrheitsliebenden Helden gelesen hatte, der ein Leben lang von einer Obsession zur anderen geeilt war. In seliger Ignoranz bedankte sie sich im Traum bei ihrem Retter, der ihr kühle Bewunderung entgegenbrachte. Doch dann wurde sie geweckt, weil die Tür aufging und jemand ins Zimmer trat. Elsie wälzte sich herum. Ein junger Mann stand an ihrem Bett.

Er war schmächtig und braunhaarig und hatte wache, herausfordernde, blaue Augen. Elsie, die sich erst mühsam aus angenehmen Träumen befreien musste, ging es wie nach einem Besuch im Filmtheater, wenn man blinzelnd in die Sonne hinaustritt. Am liebsten wäre sie unter ihrer Bettdecke abgetaucht, doch fiel ihr glücklicherweise rechtzeitig ein, dass sie kein Kind mehr war, sondern schon siebzehneinhalb. Daher blinzelte sie lediglich und versuchte, den Besucher genauer zu fokussieren.

Die Mutter, die jetzt von Elsie überhaupt erst bemerkt wurde, sagte: «Elsie, Schätzchen, das ist Dr. Bracknell, er möchte nach dir sehen. Er kümmert sich um Dr. Sloanes Patienten, nur bis zu dessen Rückkehr natürlich.» Ihr höflicher Ton enthielt Missbilligung und Ärger. Doch der junge Mann strahlte sie an, als habe sie ihm ein Kompliment gemacht. Errötend und gleich ein wenig freundlicher fügte die Mutter hinzu: «Nett von Ihnen, dass Sie am Ende Ihrer Runde noch bei uns vorbeischauen.»

«Aber selbstverständlich. Erst heute früh hatte ich mich darüber beklagt, dass ich eigentlich gar nicht genug zu tun habe.» Seine Stimme ähnelte ganz dem Ausdruck seiner Augen: forsch und wach. Man hatte das Gefühl, als würde man vom Strahl einer Taschenlampe gestreift, mit der sich jemand in einem dunklen Zimmer suchend umsieht. Der Strahl richtete sich ohne Vorwarnung auf Elsie. Diese versank blinzelnd und unauffällig, wie sie hoffte, in ihrem Schlafanzug. «Also dann, junge Dame. Du hörst dich ein bisschen asthmatisch an. Warst wohl ohne Regenmantel draußen, wie?»

Elsie hatte sofort das Gefühl, es nicht anders verdient zu haben. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, eine Antwort zu geben. Sie lag da, blickte mit großen Augen über den Rand der Bettdecke und wartete darauf, womit er sie wohl als Nächstes konfrontieren würde.

«Nein, bestimmt nicht», sagte die Mutter entsetzt. «Seit sie diesen schlimmen Keuchhusten gehabt hat, ist Elsie immer ganz besonders vorsichtig.»

Der junge Arzt sah Elsie ihre Erleichterung an, womit diese fast schon gerechnet hatte. Aber dass er sie sehen ließ, wie sehr ihn das amüsierte, überraschte sie doch.

«Ja, derzeit grassiert die Grippe», erklärte er, «tut’s irgendwo weh, beim Ein- und Ausatmen?»

«Nur ein bisschen, hier oben in der Brust.» Elsies Stimme war im Verlauf des Tages immer heiserer geworden, und darüber war sie froh, denn sie ahnte, dass sie schon aus Nervosität heiser geklungen hätte. Das verwirrte sie und verursachte vage Schuldgefühle. Elsie kannte kein anderes Leben, und es kam ihr daher auch nicht außergewöhnlich vor, dass sie, abgesehen vom Kaplan und ein, zwei Verkäufern, nie mit Männern in Kontakt kam und dass dieser junge Arzt seit Jahren der erste Mann zwischen sechzehn und vierzig war, mit dem sie sich unterhielt.

«Wann war denn das mit diesem Keuchhusten?», erkundigte er sich bei der Mutter, nahm ein Thermometer aus einem kleinen Metallbehälter und schob es Elsie unter die Zunge.

«Ach, das ist schon eine Weile her, sie war damals erst zehn. Aber Dr. Sloane hat ihr eine warme Weste verschrieben, die vor Lungenentzündungen schützt, und wir sind seitdem ja auch wirklich vorsichtig.»

«Dürfte ich kurz den Puls fühlen?» Er setzte sich auf die Bettkante. Elsie, die seitlich liegend die Knie angezogen hatte, musste rasch die Beine ausstrecken, um ihm Platz zu machen. Mit kühlen, festen Fingern umfasste er ihr Handgelenk. Dann holte er ein Stethoskop hervor und fuhr damit unter ihr Schlafanzugoberteil, horchte ihre Brust ab. Elsie war das schrecklich peinlich, aber sie hustete brav auf Kommando, atmete ein und wieder aus und sagte «neunundneunzig», als er sie dazu aufforderte. Er war ihr so nahe, dass auch sie seine ganz gleichmäßigen Atemzüge hören konnte. Sie atmete auf, als er sich wieder aufrichtete und das Stethoskop wegsteckte.

«Das ist dann also ungefähr vier Jahre her? Das mit dem Keuchhusten?»

Mit einer Empörung, die Elsie selbst überraschte, sagte sie: «Ich bin nicht vierzehn. Ich bin schon fast siebzehneinhalb.»

«Soso.» Er trat an die Waschkommode und säuberte das Thermometer in der Wasserschüssel. Elsie fühlte sich durch seinen munteren Ton und seine unpersönliche Freundlichkeit ein wenig beruhigt. Doch während er das Thermometer am Handtuch abwischte, warf er ihr einen kurzen Blick zu, seltsam, fast besitzergreifend, als sei er hier auf ein zwar nicht unbedingt schönes, aber seltenes und interessantes Sammlerobjekt gestoßen und frage sich jetzt, wo man es aufhängen könnte. Aber dieser unbehagliche Eindruck verflüchtigte sich sogleich wieder und machte der für Heranwachsende so typischen Scham Platz, Elsies ständiger Begleiterin – wie eine Hautirritation, an die man sich so gewöhnt hat, dass man sie nur noch am Rande wahrnimmt. Der junge Arzt hatte seinen Blick ja auch schon wieder abgewandt und steckte das Thermometer in das Behältnis zurück. Elsie beobachtete sein Profil. Wie unbeteiligt, wie selbstsicher er wirkte, sie kam sich regelrecht töricht vor.

Die Mutter sagte beiläufig kokett: «Ja, die Leute wundern sich oft, wenn sie erfahren, wie alt Elsie schon ist. Aber ich habe ja praktisch direkt von der Schulbank weg geheiratet, wissen Sie.»

Elsie brauchte fast eine halbe Minute, bis ihr klar wurde, wie unpassend, ja peinlich, diese Bemerkung der Mutter war. Sie dachte an ihre Schwester Leonora, die jetzt ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt sein musste und die sie im tröstlichen Zustand ihres Krankseins vorübergehend vergessen hatte. Dr. Bracknell gab einige Anweisungen und verabschiedete sich dann.

Als Elsie wieder allein war, fragte sie sich unwillkürlich, was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass sie eine solche Schwester hatte.

Dieser Gedanke verstörte sie so sehr, dass sie sich unter der Decke verkroch, obwohl sie inzwischen längst wieder allein war.

3

Mrs Lane war mit ihrer Geduld am Ende. Das sagte sie ihrem Mann, ehe sie den Raum verließ, und sie wiederholte es nochmals, während sie allein im Flur stand und sich die Augen trocknete. Eine solche Deklaration markierte stets den Siedepunkt auf der ehelichen Temperaturskala und ereignete sich etwa einmal pro Woche. Aber Mrs Lane empfand es stets als endgültig, ganz ähnlich wie die auf der Weide unten beim Dorf festgekettete Ziege, die jedes Mal aufs Neue überrascht und empört war, wenn sie das Ende der Kette erreichte, die sie an Ort und Stelle hielt. Dann zog und zerrte sie minutenlang zornig daran, bis sie es wieder vergaß und sich erneut innerhalb ihres begrenzten Radius ans Grasfressen machte. Mrs Lanes Krisen hielten ein wenig länger an, und auch die Erkenntnis setzte später ein.

Die Eheleute stritten sich gar nicht mehr im eigentlichen Sinne, dieses Reservoir hatten sie schon in den ersten beiden Ehejahren ausgeschöpft. Alle darauffolgenden Auseinandersetzungen – selbst jene im Anschluss an die peinlichen Versöhnungsversuche, deren Ergebnis Elsie gewesen war – stellten nur ein Potpourri des Vorausgegangenen dar. Es gab nichts mehr, womit sie einander noch schockieren konnten, da waren nur die aufgewärmte alte Verzweiflung und Verbitterung. Arthur Lane wusste, dass seine Frau seine messerscharfen Sentenzen über Menschen und aktuelle Ereignisse für kleinliches Geschimpfe hielt, fand es ungerecht, in so ein Licht gerückt zu werden, noch dazu von einer Frau, die ihm intellektuell nicht das Wasser reichen konnte, und wehrte sich nach Kräften. Maude Lane wiederum hatte noch nie verstanden, weder nach zwei noch nach siebenundzwanzig Ehejahren, was ihn daran störte, dass sie gerne heitere Bücher über angenehme Menschen las anstatt solche, die in ihren Augen düster, verdorben und morbide waren. Und wieso störte es ihn, dass sie die Welt nun einmal so sah, wie sie sie sehen wollte, selbst wenn es dafür wenig Veranlassung gab? In Wahrheit hatten sie nie einander geliebt, sondern nur eine Wunschvorstellung vom jeweils anderen, basierend auf Büchern und Konventionen. Nie hatte es einen Moment der Ernüchterung, der Klarsicht, des Über-sich-selbst-Lachens gegeben, in dem sich der eine dem anderen so offenbart hätte, wie er war. Der dazu nötige Funke war nie übergesprungen, einfach weil es beiden an Leidenschaft fehlte, physisch und intellektuell. Daher konnte Maude Arthur nicht mildern, im Gegenteil, an ihr schärften sich seine Kanten; und Arthur gelang es ebenso wenig, Maude wachzurütteln und aus ihren Illusionen herauszuholen, ja seine Einstellung veranlasste sie dazu, logisches Denken mit Kälte und Desillusionierung gleichzusetzen, Sentimentalität dagegen mit Rechtschaffenheit und Freundlichkeit. Und weil er kein Vertrauen in ihr Fundament hatte und sie keins in seines, war es wenig überraschend, dass sie auch in kleinen Fragen nicht nachzugeben bereit waren wie etwa bezüglich der Einrichtung, der Mahlzeiten, der gesellschaftlichen Verpflichtungen. Ihre Meinungsverschiedenheiten in diesen Fragen waren wie die Fragmente eines zerbrochenen Spiegels, sie reflektierten die große zentrale Unzufriedenheit des Paars, waren aber viel zu trivial, als dass er oder sie die unterschwelligen Ursachen dafür hätte aufdecken können. Nicht einmal Leonoras Flucht hatte die beiden aufgerüttelt oder zur Selbstreflexion veranlasst. Jeder sah die Tochter als das Anhängsel des jeweils anderen und somit als einen lebenden Vorwurf an sich selbst. Schon damals stritten sie längst nicht mehr wirklich, es gab nur noch Gezänk um alltägliche Nichtigkeiten.

Und jeder der beiden versuchte auf seine Weise, damit fertigzuwerden. Mrs Lane war eine optimistische Natur, hatte stets eine rosa Wolke von Wunschvorstellungen im Kopf, glaubte fest an eine wundersame Besserung ihrer Lage, an einen völlig unerwartet eintretenden, unwahrscheinlichen Glücksfall. Sie war wie Elsie eine Träumerin, doch träumte sie nicht von einer romantischen Begegnung, sondern davon, dass ein Fremder (oder eine Fremde), dem sie einst eine Gefälligkeit erwiesen hatte, ihr nach seinem Ableben eine hübsche Summe vermachen würde. Oder dass sie eine charmante, nette Familie kennenlernen würde, wohlhabend, aber nicht so reich, dass es peinlich gewesen wäre, die Elsie und sie auf einen ausgedehnten Besuch auf ihren Landsitz einladen würde oder auf eine Kreuzfahrt um die Welt. Nur selten kam es vor, dass diese oder andere Vorstellungen nicht den rosigen Hintergrund ihrer Gedanken bildeten und ihre unglückliche Ehe als vorübergehendes Ärgernis erscheinen ließen. Und weil sie in solchen Tagträumen schwelgte, erholte sie sich schneller als Elsie von den diversen Szenen, obwohl diese nur Zeugin und nicht selbst beteiligt war. Und übrigens erholte sie sich auch schneller als ihr Gatte, dessen Methode darin bestand, sich in seiner Arbeit zu vergraben. So kam es, dass sie nach siebenundzwanzig Ehejahren zehn Jahre jünger aussah als ihr Gatte, obwohl sie etwa im selben Alter waren.

Aber gelegentlich gab es Momente, in denen Maude Lane zwar nicht aufhörte, auf ein Wunder zu hoffen, aber von Panik befallen wurde beim Gedanken, wie lange es noch auf sich warten ließe. Dies war einer jener Momente. Nur ein einziger Trost war in Reichweite: hinaufzugehen und sich bei Elsie, der lieben kleinen Elsie, auszusprechen. Man war in den letzten Tagen schließlich so vorsichtig und rücksichtsvoll gewesen, während sie krank war, man hatte alles von ihr ferngehalten, aber sie war schließlich ein einfühlsames Kind, gewiss ahnte sie ohnehin etwas … Und Dr. Bracknell war bei der letzten Visite zuversichtlich gewesen, und er war ja auch so ein intelligenter, erfahrener junger Mann. Nur einfach kurz reden und dann hinaus an die frische Luft …

Kaum eine Minute, nachdem sie die Esszimmertür hinter sich zugeknallt hatte, war sie oben bei der Tochter und eine halbe Stunde später auf dem Weg ins Dorf, das verweinte Gesicht überpudert, die gute Laune schon fast wiederhergestellt. Gladys hatte heute ihren freien Nachmittag, aber der Krämer war ja bereits da gewesen, und falls sonst jemand klingeln sollte, musste eben Arthur an die Tür gehen.

Zwanzig Minuten später – Mr Lane, den es nicht interessierte, wann Gladys freihatte und wann nicht, hatte sich auf den Weg zu einem Klienten gemacht – fuhr Peter Bracknell in Dr. Sloanes Coupé vor und klopfte forsch an die Tür.

Als sich nichts tat, nahm er an, dass sämtliche Hausbewohner von der Influenza ans Bett gefesselt seien, das hatte er heute schon bei zwei Visiten erlebt. Und da er die Tür unverschlossen fand, trat er kurzerhand ein. Er machte sich keine Gedanken darüber, was die Bewohner davon halten mochten, denn er hielt nichts von Konventionen, wie er gern betonte. Nachdem er seinen Mantel im Flur aufgehängt hatte, lief er munter nach oben und klopfte an der Tür seiner Patientin. «Hallo, darf ich reinkommen?», fragte er und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

Elsies rotes, verweintes Gesicht tauchte erschrocken aus den Kissen auf, es war kein schöner Anblick. Sie weinte sich seit einer halben Stunde die Augen aus, und so etwas ließ sich beim besten Willen nicht verbergen. Ohne nachzudenken, suchte sie Zuflucht in einer alten Gepflogenheit aus Schulzeiten: Wenn jemand sich nicht anmerken ließ, dass er, wie offensichtlich dies auch immer war, geweint hatte, ging auch das Gegenüber stillschweigend darüber hinweg. Auf diese Weise konnte man seine Würde wahren, selbst wenn die Situation noch so peinlich war.

«Guten Abend, Dr. Bracknell», stammelte sie daher mit belegter Stimme, aber doch so viel Stolz, wie sie aufbringen konnte. «Es tut mir leid, aber Mutter ist derzeit außer Haus.» Einer plötzlichen Eingebung folgend, fügte sie hinzu: «Mein Schnupfen ist heute besonders schlimm.»

Peter trat näher und setzte sich auf die Bettkante. Automatisch zog sie eine feuchte, erhitzte Hand unter der Bettdecke hervor und hielt sie ihm hin, damit er den Puls fühlen konnte. Er ergriff sie stattdessen mit beiden Händen.

«So schlimm, was?», fragte er leise und sandte ein aufs Zärtlichste mitfühlendes Lächeln direkt in ihre Augen.

Elsies Reaktion darauf war so unvermeidlich wie die Verfärbung, die entsteht, wenn man einer chemischen Lösung das entsprechende Reagens hinzufügt. Ihr Atem stockte, einmal und noch einmal, dann brach ein gewaltsames Schluchzen aus ihr hervor. Sie warf sich herum und verbarg das Gesicht in den Kissen. Peter, der ihre Hand nicht losließ, fand diese irgendwo unter ihrer flachen Brust eingeklemmt. In dem Bemühen, keine peinlichen Laute von sich zu geben, erlaubte sie lediglich ihren Schultern zu zucken. Peter beugte sich über sie und streichelte mit seiner freien Hand ihr Haar, das ganz zerdrückt und zerzaust war vom langen Liegen.

«Ich hab sofort gewusst», sagte er, «dass du mir irgendwann alles erzählst. Ich dränge in solchen Fällen nie, das passiert von allein, wenn die Zeit reif ist.»

Elsie hörte auf zu schluchzen und rührte sich nicht. Ein Moment der Stille entstand, ein perfekter Moment für beide, wie die Verbindung zwischen einem virtuosen Geiger und seinem gebannten Publikum während einer besonders ergreifenden Passage. Weder Peter noch Elsie waren sich, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, der Besonderheit des Moments bewusst.

«Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst, weißt du», bemerkte Peter mit perfektem Timing.

«Ich hab mir schon gedacht, dass Sie’s wissen. Alle, die herkommen, merken es früher oder später. Das ist ja das Schlimme. Aber bei Ihnen, da macht’s mir nichts aus. Sie dürfen’s wissen. Irgendwie bin ich sogar froh.»

«Das hatte ich gehofft.»

Ein wässriges Lächeln huschte über Elsies Gesicht. Was sie betraf, waren weitere Erklärungen überflüssig.

Das hätte in eine Sackgasse führen können, aber nicht mit Peter. Der Annahme, er verstünde schon, begegnete er oft, von hier kam er problemlos überallhin. Mit einer noch tieferen Stimme also zuvor und in einem warmen, intimen Ton, der Elsie unwillkürlich erschaudern ließ, weil er so verstörend anders klang als die teilnahmsvollen Reaktionen von Mutter oder bester Freundin, sagte er: «Erzähl’s mir trotzdem. Mich würde es freuen, und dir würde es bestimmt guttun. Ich möchte dir gerne helfen, weißt du.»

Und das wollte er wirklich, das spürten beide, und beide freuten sich daran.

«Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich finde es einfach nur furchtbar. Ich frag mich, ob das normal ist. Dass sich die eigenen Eltern nicht gut verstehen, meine ich.»

«Ach, du armes Kind.» Peter, der bis dato keine Ahnung von der Sachlage gehabt hatte, war nichtsdestotrotz sofort der Überzeugung, es von Anfang an gewusst zu haben. «Na ja, leider ist das nicht selten, so sind die Menschen nun mal. Aber dem einen schlägt es mehr aufs Gemüt als dem anderen, vor allem wenn man so sensibel ist wie du. Sei deswegen nicht zu traurig. Es ist, alles in allem, besser darunter zu leiden, als es gar nicht zu spüren, wenn du weißt, was ich meine.»

So hatte das Elsie bisher noch nie betrachtet. Auf einmal erschien ihr Leiden in einem ganz neuen, geradezu magischen Licht. Ein junger Mensch, der sich zum ersten Mal wichtig und interessant fühlen darf, ist wie eine Katze, die zum ersten Mal Fisch probiert, wie ein Schauspieler nach seinem ersten Applaus oder wie ein Junge, der zum ersten Mal eine lange Hose tragen darf. Peter konnte sehen, wie sich der erste Hauch von Selbstwertgefühl auf diesem zutiefst verzweifelten Gesicht ausbreitete, und das entzückte ihn. Eine seiner sympathischsten Eigenschaften war, dass er sich nie selbst erhöhte, indem er andere niedermachte. Er war ein geselliger Mensch, er mochte es, in seinem Empyreum Gesellschaft zu haben. Selbstverständlich war sein Haupt der Sonne immer ein wenig näher als die der anderen – wie bei der Scheitelfigur auf einem Gemälde von Raffael, was aber seiner Auffassung nach nur richtig war und von ihm nicht infrage gestellt wurde.

«Ich weiß es schon, seit ich klein war. Aber ich hab’s noch nie jemandem erzählt, Sie sind der Erste.» Ein schöneres Kompliment hätte sie ihm gar nicht machen können, selbst wenn sie einen ganzen Tag lang überlegt hätte. Peter drückte ihre Hand. Elsie, der das Herz dabei bis zum Hals schlug, erwiderte den Druck.

«Nun gut, was stimmt denn hier nicht, worum geht’s genau? Um Untreue? Eine Affäre?»

Elsie schnappte entsetzt nach Luft, ließ aus Versehen sogar seine Hand los, so schockiert war sie.

«Nein, nein. Das nicht, ganz bestimmt nicht. Ich meine … nein, so was würden sie nie tun.»

«Hm, nein, natürlich nicht. Obwohl ihnen das wahrscheinlich guttäte.»

Elsie starrte Peter mit einer Mischung aus Entsetzen und Bewunderung an, beides flackerte über ihr vollkommen unverstelltes Gesicht wie über eine Filmleinwand.

«Es wäre nur menschlich», bemerkte Peter mit der grenzenlosen Toleranz seiner achtundzwanzig Lebensjahre. «So ist nun mal die Natur des Menschen, weißt du. Du solltest vor allem verstehen, dass du nicht die Einzige bist, die so was durchmacht. Ich will dir was sagen, falls das hilft: Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich fünfzehn war. Ich saß im Schulunterricht, als es in den Zeitungen erschien. Ich musste dann die Schule wechseln.»

«Ach, wie schrecklich, das tut mir aber leid.» Elsie hatte das Gefühl, seit Peters Erscheinen um Jahre gereift zu sein. Hier saß sie und besprach mit ihm all diese schrecklichen Dinge, und er redete mit ihr wie mit einer Erwachsenen.

Peter lächelte schief. «Tja, schön war’s nicht. Später haben beide wieder geheiratet, und jetzt sind sie mehr oder weniger gute Freunde. Ich verstehe mich mit beiden Paaren.»

In Elsies Kreisen waren Geschiedene kaum besser als Mädchen, die sich auf der Straße von fremden Männern ansprechen ließen. Sie hatte das Gefühl, dass sich ihr begrenzter Horizont in alle Richtungen ausdehnte. Ihre Aufregung war enorm, und sogar das Blut strömte jetzt mit einer ganz anderen Geschwindigkeit durch ihren Körper.

«Meine Eltern halten nichts von Scheidung», gestand sie.

Peter nickte. «Das ist ja das Schlimme. Lieber in einer unhaltbaren Situation verharren. Und du bist die Leidtragende.»

«Wenn ich’s nicht mehr aushalte, gehe ich spazieren, das lenkt mich ab.»

«Und dabei hast du dir wohl diese Bronchitis zugezogen, stimmt’s?»

«Möglich. Ich war jedenfalls pitschnass.»

«Mein Gott, du armes Kind.»

Er streichelte sanft ihre dünne, runde Schulter. Sollte er sie küssen? Wäre doch eigentlich eine Schande, es nicht zu tun, es würde sie wahrscheinlich für den Rest des Tages glücklich machen. Sie sah jetzt auch schon nicht mehr ganz so unattraktiv aus. Alles, was sie brauchte, war ein wenig Medizin von der Art, die es nicht in Pillenform gab. Doch selbst Peters laxes Berufsethos stieß hier an seine Grenzen. Ihm war im Gegensatz zu Elsie, die überhaupt nicht an so etwas dachte, bewusst, wie unschicklich es war, als junger Arzt mit einer jungen Patientin allein zu sein. Also strich er ihr lediglich das Haar aus dem Gesicht. Was fast genauso stark wirkte.

«Von jetzt an wirst du die Dinge anders sehen, ja?»

«Ja», flüsterte sie, «ja, ich glaube, das werde ich.»

«Ganz bestimmt. Ich werde noch drei Wochen lang hier sein, weißt du. Wir könnten mal einen Spaziergang machen, noch mal gründlich über alles reden. Was sagst du dazu? Aber jetzt muss ich wirklich gehen. Ich denk an dich, versprochen.»

Die Sonne war herausgekommen. Elsie lag, nachdem er gegangen war, noch lange da und sah zu, wie das flirrende Rechteck an der Wand gegenüber vom Fenster langsam weiterwanderte. Draußen zwitscherte eine Amsel, Elsie kam es vor, als hörte sie so etwas überhaupt zum ersten Mal.

Peter brauste mit offenem Verdeck die Landstraße entlang und pfiff dabei den Soldatenchor aus der Oper Faust. Höchst zufrieden mit sich selbst, atmete er tief die würzige Seeluft ein.

Beide hatten einander sehr, sehr glücklich gemacht.

4