Frevlerhand - Ines Thorn - E-Book

Frevlerhand E-Book

Ines Thorn

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Beschreibung

Wenn die Gräber sich auftun, ist die Hölle nah. Ein mysteriöser Prediger schlägt die Bürger Frankfurts mit dunklen Reden in seinen Bann. Besorgt sieht die Richterswitwe Gustelies, wie sogar ihre Freundin Jutta zu einer Jüngerin des glutäugigen Fremden wird. Als plötzlich in der Stadt Tote auftauchen – in offenen Gräbern, gehüllt in weiße Gewänder –, gerät der Höllenprediger sofort in Verdacht. Verkündet er nicht stets, die Erde sei in Wahrheit die Hölle? Wieder einmal muss Gustelies ermitteln – und kommt dem Mörder näher, als ihr lieb ist. Band 4 der beliebten historischen Krimireihe von Ines Thorn.

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Ines Thorn

Die Verbrechen von Frankfurt. Frevlerhand

Historischer Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43
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Kapitel 1

Frankfurt, im Frühsommer 1533

Gustelies erwachte – und war auf der Stelle schlecht gelaunt. Missmutig erhob sie sich aus ihrem Bett, stieß die Holzläden vor ihrem Fenster auf und prallte zurück. Die Sonne ging gerade auf und färbte den Himmel rosa. Ein paar Lerchen lärmten in den Bäumen, zwei Katzen stritten sich mitten auf dem Liebfrauenberg um eine tote Ratte.

«Mistviecher», brummte Gustelies, kniff die Augen zusammen und machte Anstalten, sich zu strecken.

«Guten Morgen, Nachbarin!» Die Stimme sprühte geradezu vor Fröhlichkeit. Gustelies ließ die Arme wieder sinken und hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Stattdessen beugte sie sich ein wenig aus dem Fenster, verzog den Mund zu einer Art Lächeln und rief: «Ebenfalls einen guten Morgen, Nachbarin. So guter Stimmung heute?»

Die Posamentiererin Gundel lachte und lockerte ihr Haar. «Der Herrgott hat uns einen wunderschönen Tag geschenkt. Wie sollte ich da schlechter Stimmung sein?»

Gustelies winkte ein wenig, hob dann das dicke, schwere Federbett ins Fenster und schlüpfte in ihre Hausschuhe.

Sie stieg die Treppen hinunter in die Pfarrhausküche, entzündete das Herdfeuer, holte zwei Eimer Wasser vom Brunnen und wusch sich. Dann schlüpfte sie in ihr schlichtes blaues Tuchkleid, zog und zerrte eine Bürste durch ihr noch immer dickes, dunkles Haar, steckte es zu einem Knoten auf und zog sich die weiße Haube darüber. Schließlich band sie eine Schürze vor ihr Kleid, schüttete Buchweizen und Milch in einen Topf und rührte heftig in dem Brei.

«Der Herrgott hat uns einen wunderschönen Tag geschenkt», äffte sie die Nachbarin nach. «Wie kann man da schlechter Stimmung sein?» Wütend fuhr sie mit dem Holzlöffel im Topf herum, achtete nicht darauf, dass ein wenig von der Buchweizengrütze über den Topfrand und in die Feuerstelle schwappte. «Die hat gut reden, die Neue dort drüben», schimpfte Gustelies weiter. «Sie lebt da mit ihrem Schwager, einem feschen Mannsbild, das nur darauf aus ist, ihr eine gute Stimmung zu machen. Die Sonne ist kaum untergegangen, da schlägt sie schon die Läden vor ihrer Schlafkammer zu. Und ich? Ich hocke hier im Pfarrhaus mit dem Pater, der keinen Tag vergehen lässt, ohne mir das Leben schwerzumachen. Und die Jutta ist mir auch kein Trost mehr. Seit sie ihren Fuhrmann hat, geht sie bei ihm eingehakt sonntags am Mainufer spazieren und erzählt allen, die es nicht wissen wollen, von ihrem Glück. Wie er ihr den Türstock repariert hat, der Liebste. Und was für geschickte Hände er auch sonst so hätte. Und dabei kichert sie wie ein Backfisch. Ekelhaft ist das. Wahrlich ekelhaft. Sie näht sich bunte Bordüren an ihre Kleider, die sie bei der Nachbarin kauft. Und ich kann durchs Kammerfenster sehen, wie sie tuscheln und kichern.» Gustelies schüttelte empört den Kopf. «Kein Anstand, keinen Anflug von Moral und Sitte. Und in die Kirche gehen die beiden Glücksweiber auch nur noch selten. Wen wundert es, wenn da die Tugend brachliegt und das Land verkommt?»

Gustelies war so ins Schimpfen vertieft, dass sie nicht hörte, wie der Pater Nau in die Küche kam.

Er stand hinter ihr, die Hände brav vor dem Bauch gefaltet, und fragte: «Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen? Seit Tagen schon zeterst du wie ein Rohrspatz.»

«Huch!» Gustelies fuhr herum, den Löffel in der Hand. Der blieb am Topf hängen, riss ihn um, sodass die Buchweizengrütze mit einem Zischen ins Herdfeuer klatschte.

«Jetzt sieh dir an, was du gemacht hast!», herrschte sie ihren Bruder an. Wütend warf sie den Löffel auf den Küchentisch. «Und was sollen wir jetzt zum Frühstück essen? Ich stehe jeden Tag vor Tau und Tag auf, um dir ein gutes Mahl zu bereiten, und du kommst einfach so daher und machst meine ganze Arbeit zunichte.»

Der Pater duckte sich und zog die Schultern ein. «Aber ich habe doch gar nichts gemacht», warf er eingeschüchtert ein.

Gustelies stemmte die Fäuste in die Hüften. «Ach? Nichts gemacht?» Ihre Stimme schraubte sich in die Höhe, der Busen bebte, das Kinn war nach vorn gereckt. «Nichts gemacht? Schleichst hier herum wie ein Dieb und erschreckst mich zu Tode! Das hast du gemacht. Das machst du IMMER!»

Der Pater verzog den Mund und betrachtete seine Schwester, als hätte er sie noch nie gesehen. «Was ist mit dir?», fragte er mit leiser Besorgnis in der Stimme. «Seit Tagen schon hast du eine grauenvolle Laune, die du an mir auslässt. Was habe ich dir getan?»

Gustelies, noch immer in Rage, reckte das Kinn noch weiter nach vorn, als wäre sie ein Huhn, das Körner picken will. «Sommer ist, wenn du es genau wissen willst. Und während sich die anderen den Genüssen der lauen Lüfte hingeben, versauere ich hier in deinem Pfarrhaushalt.»

Pater Nau riss die Augen auf. «Was heißt das?», fragte er alarmiert. «Gefällt es dir hier nicht? Möchtest du lieber irgendwo allein leben? Ohne mich?»

Er schüttelte den Kopf, als könne er sich das überhaupt nicht vorstellen, doch Gustelies hob die Hand und winkte ab. «Frage nicht und setz dich hin. Ich mache neue Grütze.»

Sie fühlte sich mit einem Schlag alt. Schlurfend holte sie Milch aus der Vorratskammer, füllte den Topf erneut damit, streute Buchweizen hinein. Der Löffel lag ihr so schwer in der Hand, dass sie kaum damit rühren konnte. Sie glaubte, jeden Knochen in ihrem Leib spüren zu können. Ängstlich sah sie an sich herab. Ihre Leibesmitte war in den letzten Jahren fülliger geworden, aber der Busen war noch prall, wenn auch nicht mehr so fest wie früher. Sie hatte noch fast alle Zähne und nur wenig Grau im Haar. Aber die Haut an den Oberarmen! Schlabberig wie ein Putzlumpen. Von den Dellen an den Schenkeln ganz zu schweigen. Und seit neuestem zogen sich auch noch Krampfadern ihre Waden hinauf. Außerdem tat ihr oft der Rücken weh, und ihre Füße schwollen an, sobald sie irgendwo längere Zeit stand. Seit einigen Wochen hatte sie überdies bemerkt, dass sie endgültig aus dem Alter heraus war, in dem Frauen Kinder bekommen können. Die Leinenbinden für die Mondblutung hatte sie ewig nicht mehr gebraucht, dafür trug sie nun ein mit Minzwasser getränktes Tuch bei sich, das ihr Linderung verschaffen sollte, wenn die Hitze sie übermannte.

Ich werde alt, dachte Gustelies. Auch wenn ich mich im Herzen noch jung fühle. Das ändert nichts daran, dass ich eine Großmutter bin. Die schönste Zeit meines Lebens liegt hinter mir. Alles, was jetzt noch kommt, verlangt Demut und die Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und einen Augenblick lang hatte sie den Eindruck, um etwas Wichtiges im Leben betrogen worden zu sein.

Viel zu früh riss sie den Topf vom Herd und füllte die Teller mit dem Brei.

Der Pater nahm einen Löffel voll und kaute darauf herum, als hätte ihm jemand ein zähes Stück Altfleisch auf den Teller gelegt. «Schmeckt gut!», log er und wischte sich den Mund ab.

Gustelies aber feuerte ihr Mundtuch auf den Tisch, schob den Brei von sich und stand auf. «Ich gehe auf den Markt», verkündete sie. «Hast du auf etwas Besonderes Appetit?»

Pater Nau überlegte. «Huhn. Ja. Huhn würde ich gern einmal wieder essen. Brathuhn. Aber wenn du etwas anderes willst – ich bin mit allem zufrieden.»

Er wusste genau, dass Huhn eine von Gustelies’ Lieblingsmahlzeiten war. Gustelies kniff die Augen ein wenig zusammen. Sie hob die Hand und strich ihrem Bruder einmal über das lichte Haar. «Ist schon gut», sagte sie. «Letztlich kannst du ja auch nichts dafür. Mach dir keine Sorgen.»

Pater Nau sah seine Schwester mit großen Augen an, und Gustelies wusste, dass er gern erfahren hätte, wofür genau er nichts konnte, doch ihr Blick verbot ihm den Mund. Also stand der Pater auf, machte eine ziellose Handbewegung und erklärte: «Ich muss die Predigt für den Sonntag vorbereiten. Es gibt noch viel zu tun bis dahin. Und am Nachmittag kommt Bruder Göck. Wir haben einen theologischen Diskurs über Judas Ischariot.»

«Ich kann mir schon denken, dass der Mönch einiges über den Verräter zu sagen hat!» Gustelies zog die Stirn in Falten, als sie den Namen des Antonitermönches hörte, der sich als bester Freund des Paters ausgab und ihm auch schon aus mancher Patsche geholfen hatte. Doch Gustelies und Bruder Göck standen in letzter Zeit ein wenig auf Kriegsfuß miteinander. Der Antoniter trank den guten Dellenhofener Wein und naschte von Gustelies’ Kuchen, ohne dafür, wie Gustelies im Stillen meinte, eine Gegenleistung zu erbringen. Eine einzelne Blume vielleicht, oder ein Kompliment über ihr schönes Haar. Irgendetwas. Aber der Mönch tat, als wäre Gustelies ein Ding, das in die Küche gehörte wie der Herd oder die Kupferpfanne.

«Hmm», brummte sie, doch ehe ihr eine ausführlichere Antwort einfiel, war Pater Nau schon die Treppe hinauf zu seinem Studierzimmer gehuscht.

Noch immer missmutig räumte Gustelies den Tisch ab, streute ein wenig Sand darauf und fuhr energisch mit der Bürste über die abgewetzte Platte, dann holte sie den Weidenkorb aus der Kammer, richtete ihre Haube und verließ das Haus. Vor der Tür blieb sie einen Augenblick stehen und hielt das Gesicht in die Sonne. Die wärmte bereits, kaum dass sie aufgegangen war, und Gustelies genoss diese Wärme, die durch ihren dünnen Tuchkittel hindurch bis in die Knochen drang. Ein paar Vögel lärmten in den Bäumen, die letzten prallen Kirschen waren an den Zweigen zu sehen, die Luft war lind und duftend.

Gustelies eilte ein paar Schritte über den Liebfrauenberg. Vor der Kirchentür stand ein altes Mütterchen mit einem Korb voller Sommerblumen und Kräuter. «Na, Gustelies, ein Blumengruß für die gute Stube?», fragte das Mütterchen.

«Jetzt nicht, Gevatterin. Ich muss erst zum Markt. Die Blumen könnten geknickt werden dabei. Ich kaufe Euch etwas ab, wenn ich zurückkomme.»

Das Mütterchen nickte, dann kicherte es und zeigte mit dem Finger auf ein junges Ding, eine Magd vielleicht, die mit Strohhalmen in den Haaren aus einer Seitengasse gerannt kam.

«Schaut an, schaut an», kicherte die Alte. «Da hat es aber eine eilig. Die Sommerhitze ist ihr unter den Rock gerutscht. Na ja, wir waren ja alle mal jung.»

Gustelies betrachtete das dralle Ding mit den rosigen Wangen, der feinporigen Haut und den glänzenden Augen, die über den Platz rannte und dann in Richtung Fahrgasse verschwand. Neid schoss heiß durch ihren Körper. «So schamlos wie die waren wir allerdings nicht», zischte sie, griff sich ihren Weidenkorb und ging weiter.

Der Markt war viel voller als gewöhnlich. Obwohl gerade keine Messe vor der Tür stand, waren zahlreiche Händler und Gäste aus allen Teilen Europas in der Stadt. Außerdem lag das Heer des Landgrafen Philipp I. vor den Toren Frankfurts. Mit dreitausend Mann, zweihundert Wagen und sechzig Büchsen war es bei Griesheim über den Main gekommen, um dem Herzog von Württemberg zu Hilfe zu eilen, dessen Besitzungen durch kaiserliches Edikt dem Hause Habsburg unterstellt waren.

Ein Werber des Landgrafen hatte seinen Karren direkt neben dem Markt aufgestellt. Er war gut gekleidet, das Wams spannte leicht über seinem Bauch, die Wangen waren rosig. Alles in allem erweckte der Werber den Anschein, dass das Söldnerleben ein Zuckerschlecken wäre.

«Kommt zu den Landsknechten, Männer. Beweist Kraft und Mut, zeigt eure Stärke. Der Landgraf braucht euch.» Er hielt einen Beutel mit Gulden hoch und klimperte damit herum. Schon eilten zwei Lehrjungen zu seinem Stand. Gustelies sah sie miteinander reden. Weitere Männer kamen. Einige davon trugen abgerissene Kleider, andere hatten hohle Wangen und hungrige Augen. Die letzten Jahre waren hart gewesen, es hatte schlechte Ernten gegeben, Krankheiten, den Türkenkrieg. Es hieß, einige hätten dabei ihr Glück gemacht. Sie wären nach der Belagerung von Wien wiedergekommen mit Säcken voller Gold. Von denen, die dort auf dem Schlachtfeld geblieben waren, sprach niemand.

Gustelies seufzte. Sie wusste genau, dass viele von denen, die sich dieser Tage um die Karren der Landgraf’schen Werber drängelten, sterben würden, aber wer könnte sie aufhalten? Wer könnte den Krieg aufhalten?

Die Posamentiererin Gundel, nun auch mit dem Marktkorb am Arm, stellte sich neben Gustelies. «So ein Krieg, das ist es, was die Männer brauchen. Der meine ist gegen die Türken gezogen, um Geld für eine größere Werkstatt zu kriegen. Nun sitzt er im Tollhaus und hat nichts mehr vor sich als den Tod.»

Gustelies reichte der Gundel ein Taschentuch. Die trocknete sich die Augen damit und sagte: «Was haben wir mit den Türken zu tun? Kannst du mir das sagen? Oder jetzt, mit dem Ulrich von Württemberg. Warum ziehen unsere Männer für den in die Schlacht? Sie kennen ihn doch gar nicht. Warum halten sie für wildfremde Leute die Köpfe hin, während ihre Familien allein zu Hause bleiben und sehen müssen, wie sie sich durchschlagen? Weißt du das, Gustelies?»

Gustelies schüttelte den Kopf. «Mein Mann, Gott hab ihn selig, der sagte, dass Krieg Männersache ist. Ein Ding, von dem die Weiber nichts verstehen. Doch mir scheint, dass Württemberg wieder lutherisch werden soll, nachdem die Habsburger alles zurück zum katholischen Glauben gedreht haben.»

«Das kann schon sein», erwiderte Gundel. «Der Krieg ist Männersache. Politik auch. Da hat er recht, dein Seliger, aber was nützt das denn, wenn wir es doch sind, die die Kriegsfolgen ausbaden müssen?»

Sie winkte ab, zog die Nase hoch und ging ihrer Wege. Gustelies sah ihr hinterher. Es ist, wie sie sagt, dachte sie. Die Männer führen Kriege aus Gründen, die ich nicht verstehe, aber am Ende sind es die Frauen, die als Witwen, und die Kinder, die als Waisen zurückbleiben. Was haben wir mit dem Landgrafen Philipp zu tun? Was mit dem Württemberger Ulrich? Nichts, rein gar nichts.

Gustelies drehte dem Karren den Rücken zu, wollte nicht länger die jungen Männer sehen, die drauf und dran waren, in ihr Unglück zu rennen.

Das strahlende Wetter hatte auch die Patrizierinnen aus ihren prächtigen Häusern mit den Butzenfenstern gelockt. Hochmütig stolzierten sie durch die Reihen der Marktbuden, befingerten da eine Bordüre, dort ein Stück edlen Stoff, und anderswo probierten sie einen neuen Kamm oder eine silberne Schnalle und waren ängstlich darauf bedacht, nur keinen Sonnenstrahl auf ihre feine weiße Gesichtshaut fallen zu lassen. Einige hatten sich mit Bleiweiß die Wangen bestrichen, um ihre Blässe noch zu betonen, andere versteckten sich unter Schleiern und seidenen Tüchern. Ihre Mägde folgten ihnen, nicht ohne den feschen Händlern und Reisenden verstohlene Blicke zuzuwerfen. Sie hatten keine Angst vor der Sonne, manche von ihnen hatten ihre Brusttücher so weit gelockert, dass die Männerblicke auf festes weißes Fleisch fielen.

Gustelies schüttelte sich, als sie das sah. «Schamlos», murmelte sie vor sich hin. «Einfach schamlos. Die Sitten verfallen, und niemand tut etwas dagegen. Das kommt nur durch diese Glaubensstreitereien. Als alles noch beim Alten war und der Papst für jedermann der Stellvertreter Gottes auf unserer Erde, da gab es noch Regeln. Jeder wusste, was gottgefällig war und was nicht. Heutzutage ist alles durcheinander. Würde mich nicht wundern, wenn eines Tages die ganze Stadt versinkt wie Sodom und Gomorrha.»

Sie machte an einem Stand mit Geflügel halt. In einem riesigen Korb lagen ein halbes Dutzend Hühner über- und nebeneinander, die Beine mit Stricken gefesselt und ihren Protest über diese Behandlung laut in die Welt gackernd. Auf dem Tisch befanden sich etliche Hahnenkämme, ein Eimer war bis zum Rand mit gelben Hühnerfüßen gefüllt.

«Na, Gevatterin, soll es ein Huhn sein? Schön fett, mit gutem Korn gefüttert?»

Der Händler, ein vierschrötiger Mann mit bis zu den Ellbogen aufgekrempeltem Hemd, hielt Gustelies ein gefesseltes Huhn vor die Nase. «Seht nur, die Schenkel. Ganz zart, ganz frisch. Oder braucht Ihr ein Huhn für die Suppe? Dann nehmt das. Ein bisschen älter, ein bisschen billiger, aber noch voll im Saft. Aus dem könnt Ihr eine gute Brühe machen.»

Gustelies wich dem hackenden Hühnerschnabel aus. «Ein jüngeres Huhn brauche ich. Ein Brathuhn. Zart und saftig. Dazu ein Pfund von den Hahnenkämmen für die Suppe.»

Gustelies trat näher an den Stand heran und beäugte die Hühner. Dann zeigte sie mit dem Finger auf eines, das ganz hinten lag. «Da. Den Hinkel gebt mir.»

Der Geflügelhändler beugte sich zu dem Korb, hielt aber kurz inne. «Ich habe auch noch zwei Kapaune. Schön fett. Wollt Ihr lieber einen Kapaun?»

Gustelies schüttelte den Kopf. «Ein gewöhnliches Huhn zum Braten brauche ich. Mehr nicht.»

Seufzend brachte der Mann das Huhn nach oben und warf es auf den Stand. Gustelies betrachtete das Gefieder und nickte zufrieden. «Das nehme ich.»

Der Händler packte das Tier und wollte es Gustelies über den Tisch reichen, doch die verschränkte die Arme vor der Brust. «Was denkt Ihr Euch? Soll ich mit dem gackernden Vieh meine weiteren Einkäufe machen? Dreht ihm den Hals um, aber rasch, ehe ich es mir anders überlege und zum nächsten Stand gehe.»

Wieder seufzte der Händler, packte dann das Vieh zwischen seine Knie, bog den Tierkopf nach hinten und trennte ihm mit einem raschen Schnitt seines Messers den Kopf ab. Das Huhn zappelte, entwischte dem Mann und rannte kopflos einige Schritte, ehe es taumelnd zusammenbrach.

«Mistviech!», brüllte der Händler, rannte seinem Huhn hinterher, schüttelte das Blut ab, sodass es auf das Kleid einer kreischenden Magd spritzte, dann packte er eine Handvoll Stroh in Gustelies’ Korb und das kopflose Huhn obendrauf. Er raffte ein Dutzend Hahnenkämme zusammen und warf sie dem Huhn hinterher. «Lasst es Euch gut schmecken», brummte er, nahm Gustelies’ Geld in Empfang und wischte sich die blutverschmierten Hände an seiner Schürze ab.

Gustelies rümpfte die Nase, packte ihren Korb und durchschritt weiter die Marktgänge. Sie kaufte ein paar Mohrrüben und eine Sellerieknolle, dazu zwei Handvoll Rapunzeln und dachte eben darüber nach, ob sie sich eine neue Schließe für ihren Umhang leisten sollte, als ihre beste Freundin, die Geldwechslerin Jutta Hinterer, an ihr vorüberstürmte.

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Kapitel 2

Gott zum Gruße. Siehst du mich denn nicht?», rief Gustelies ihr nach. Auf der Stelle hielt Jutta inne, eilte zurück und packte Gustelies beim Arm. «Komm schnell zum Römer. Dort ist ein junger Prediger, der wahrhaft neue Dinge zu berichten weiß.»

Gustelies zog die Stirn in Falten. «Ein neuer Prediger? Meinst du nicht, dass ich mit Pater Nau und Bruder Göck genügend geistliche Ansprache habe?»

Jutta verdrehte die Augen zum Himmel. «Das ist nicht einfach irgendein Prediger. Er sagt wahrlich neue Dinge. Und dazu sieht er auch noch himmlisch aus.»

Gustelies zögerte, doch Jutta zwinkerte ihr zu und meinte: «So ein bisschen geistliche Ansprache zusätzlich hat noch niemandem geschadet.»

Und schon packte die Geldwechslerin die Freundin bei der Hand und zog sie hinter sich her.

Auf dem Römer hatte sich rund um den Gerechtigkeitsbrunnen bereits eine ansehnliche Menschenmenge versammelt. Auf den ersten Blick sah Gustelies, dass es hauptsächlich Frauen waren. Ganz vorn standen ein paar Waschweiber, die Arme vor der Brust verschränkt, dahinter drückten sich die Mägde aneinander. Direkt neben dem fremden Prediger aber hatten sich zwei Patrizierinnen breitgemacht und versperrten mit ihren prächtig verzierten Hauben den Hinteren die Sicht. Gustelies stand zwischen Jutta und einer Haubenstickerin eingezwängt, den Weidenkorb mit den Hahnenkämmen und dem toten Huhn zu ihren Füßen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Fremden besser sehen zu können, doch es gelang ihr nicht. Vor ihr standen zwei Männer mit großen Baretten auf dem Kopf. Nur seine Stimme hörte sie klar und deutlich:

«Am Anfang der Welt, am Anfang allen Seins, da füllte der Unendliche die Welt mit göttlichem Licht und Glanz. Der Unendliche aber ist in solchem Maße erhaben über uns, dass kein Wort, kein Begriff, kein Bild ihn jemals beschreiben könnten. Der Unendliche steht über allen Dingen, und es ist dem Menschen nicht angemessen, ihn bei einem Namen zu nennen. Und es ist dem Menschen nicht angemessen, ihn, den Unendlichen, mit kleinlichen Sorgen des Alltags zu behelligen …»

Gustelies schüttelte den Kopf. Die beiden Männer vor ihr taten dasselbe, dann drängelten sie sich aus der Menge.

Gustelies stieß Jutta Hinterer in die Seite: «Was redet der da? Man soll sich keinen Begriff machen? Kein Wort kann ihn beschreiben? Und an wen soll sich der geplagte Mensch denn sonst wenden mit seiner Last?»

Jutta maß sie mit strafendem Blick. «Jetzt höre doch erst einmal zu, ehe du zu schimpfen beginnst. Sieh dir lieber seine Augen an, das Gesicht. Himmlisch, einfach himmlisch.»

Gustelies betrachtete Jutta Hinterer von der Seite. Fehlt nur noch, dass sie sich die Lippen leckt, dachte sie, und im selben Augenblick tat Jutta das auch.

«Das ist ein Mannsbild, nicht wahr?», krähte eine Stimme aus dem Hintergrund, und schon schob sich Mutter Dollhaus zwischen Jutta und Gustelies. «Fesch, sehr fesch. Hach, wenn ich allein an die Muskeln denke da unter seinem Hemd.»

«Mutter Dollhaus!» Gustelies ließ ihren Zeigefinger vor dem Gesicht der alten Frau tanzen. «Hat Euch der Pater nicht die unzüchtigen Gedanken verboten? Müsst Ihr in Euerm Alter schon wieder nach den Männern schauen?»

Mutter Dollhaus grinste und winkte mit der Hand ab. «Erregt Euch nicht so, Pfarrhausköchin. Ich bete heute Abend zehn Rosenkränze, zehn Vaterunser und nehme eine kalte Waschung vor. Euer Bruder, der Pater, würde mir keine andere Strafe aufbrummen.»

Mit den Ellbogen drängelte die alte Frau so, dass sie in Windeseile zwei Reihen weiter vorn war. Jutta schob sich hinterher.

«Uns allen hat man erzählt, wir würden nach einem gottgefälligen Leben in den Himmel kommen, aber weit gefehlt, liebe Freunde …»

«Was? Was spricht dieser Mensch?» Gustelies packte ihren Weidenkorb und drängelte sich ebenfalls nach vorn.

«… das, was wir unser Leben auf dieser Erde nennen, das ist in Wahrheit die Hölle. Die Anzeichen dafür sind vorhanden. Und ich sage Euch: Die Erde ist in Frevlerhand.»

Gustelies schüttelte wieder den Kopf. «Dem Manne täte ein Studium der Heiligen Schrift ganz gut», behauptete sie, doch Jutta maß sie nur mit einem bösen Blick. «Sei doch einmal still, ich bitte dich. Dieser Mann spricht aus, was wir alle denken.»

«Und sieht dabei noch so gut aus», mischte sich Mutter Dollhaus dazwischen. «Seht Ihr seine Augen? Wie Glutkirschen! Und erst der Mund. Früher hieß es, wenn ein Mann einen solchen Amorbogen hat, dann ist er vom Gott der Liebe höchstselbst gesegnet. Wenn Ihr wisst, was ich meine.»

Gustelies verzog angewidert den Mund, aber Jutta stieß Mutter Dollhaus in die Seite, und beide kicherten.

Jetzt trat ein Weib, welches bisher hinter dem Brunnen verborgen gewesen war, hervor. Sie war so groß wie ein Schlachtross, hatte Schultern wie ein Auflader und ein Gesicht, so breit und großflächig, dass man darauf hätte malen können. Das Haar hing ihr in wirren Strähnen um den Kopf herum, die Bluse war zu eng und reichte nicht bis zu den Handgelenken. Ihre klobigen, säulenartigen Beine steckten in plumpen Holzpantinen, aber ihr Mund war rot geschminkt, und sie trug ein handtellergroßes Holzkreuz um den Hals.

«Wir können der Hölle nur durch eines entgehen», rief der fremde Prediger nun. «Durch die Liebe! Allein die Liebe vermag uns zu erretten.» Die Weiber drängten weiter nach vorn. Der Prediger hob die Hand. «Die Hölle hat sich die Erde untertan gemacht. In Nürnberg herrscht die Pest. Über fünftausend Menschen sind dahingerafft. Wie lange dauert es noch, bis die Seuche hier in der Stadt ankommt?»

Einige in der Menge stöhnten auf. Gemurmel setzte ein. «Es stimmt, was er sagt», flüsterte Mutter Dollhaus. «Mein letzter Messegast hat es mir erzählt. Er ist durch Nürnberg gefahren. Eine Geisterstadt, so hat er gesagt. Überall in den Gassen lagen Leichen. Mütter schlugen sich auf die nackten Brüste, weil ihre Kinder gestorben waren. Weiber schrien und klammerten sich an die Holzkarren, mit denen ihre toten Männer weggekarrt wurden. Und so manches junge Ding ging in den Fluss, weil es den Liebsten dahingerafft hatte.»

Ein Stellmacher mischte sich ein. «Ich habe auch davon gehört. Bis nach Frankfurt sind die Heiler und Apotheker gekommen, um hier ein wenig Guajakholz als Medizin zu kaufen. Auch in unserer Stadt gibt es nun nichts mehr davon. Beten sollten wir, dass uns die Pest verschont. Der da vorn spricht wahr.»

Gerade packte der Prediger das große Weib, legte ihm eine Hand auf dem Rücken und presste es an sich. Mutter Dollhaus stöhnte leidenschaftlich auf, während Jutta sich in lüsternem Schrecken die Hand vor den Mund hielt.

Gustelies beobachtete mit nach unten gezogenen Mundwinkeln, wie er seinen Mund auf die Lippen des Weibes presste, sich an ihnen festsog und sie so begehrlich küsste, dass ihr ein Schauer den Rücken hinabrann.

«Jetzt reicht es!», verkündete sie und packte ihren Weidenkorb.

Aber schon ließ der Prediger das Weib los, breitete beide Arme aus und rief: «Nur die Liebe kann uns retten. Küsse sind unsere Gebete, sind unser Segen. Kommt zu mir und lasst Euch von mir segnen.»

Eine Magd stürzte nach vorn, küsste den Fremden, dann kam die nächste mit einem Juchzer herbei. Gustelies schüttelte sich und machte, dass sie davonkam. Es wäre ihr unheimlich peinlich gewesen, hätte sie mit ansehen müssen, dass auch Jutta Hinterer und Mutter Dollhaus sich von dem Fremden küssen ließen.

Noch missmutiger als am Morgen eilte sie die Krämergasse hinauf auf den Liebfrauenberg. Unterwegs traf sie auf den alten Heumüller, der mit einer Kiepe voller Kienspäne aus der nahen Heide kam. «Was ist denn, Gevatterin?», rief er. «Die Weiber rennen alle wie von Sinnen auf den Römerberg. Verteilt da jemand Naschwerk? Ist ein neues Schiff aus Italien angekommen? Meine Alte konnte gar nicht schnell genug springen. Und dabei hat sie es doch im Kreuz.»

Gustelies schüttelte den Kopf. «Schlimmer, Heumüller, viel schlimmer. Auf dem Römer steht einer und verteilt Küsse.»

«Was?» Der Heumüller riss sich die Kappe vom Kopf. «Küsse? Aus Zuckerwerk?» Seine Augen blickten ungläubig drein.

«Pah! Zuckerwerk! Mit dem Mund küsst er. Seht zu, dass Ihr runter zum Berg kommt, Heumüller. Vielleicht könnt Ihr Euer Weib noch zurückhalten.»

Der Mann nickte und eilte die Gasse so schnell hinab, dass die Späne aus seiner Kiepe flogen.

Gustelies sah ihm nach. Sie hatte plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund und das unbedingte Bedürfnis, die Bitternis mit einem Lebküchlein zu vertreiben. Sie blieb vor einer Lebkuchenbäckerei stehen, kaufte sich einen handtellergroßen Kuchen und verschlang ihn noch auf der Gasse. Zugleich hörte sie die Worte ihres Mannes, des verstorbenen Richters Kurzweg, in ihren Ohren klingen: «Ein anständiges Weib isst und trinkt nicht in der Öffentlichkeit. Tut sie es doch, so zeigt sie damit an, dass sie gierig ist. Und Gier ist eine Todsünde!»

Gustelies verschluckte sich beinahe am letzten Bissen, wischte sich dann ihren Mund ab und klopfte die Krümel von ihrem Kleid. «So weit ist es schon mit mir gekommen», schalt sie sich. «Und wer ist schuld? Jutta und der fremde Prediger.»

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Kapitel 3

Im Pfarrhaus angekommen, hatte Gustelies noch immer ein schlechtes Gewissen. Sie stellte den Weidenkorb auf den Tisch, stopfte eine vorwitzige Haarsträhne zurück unter die Haube und spülte sich dann eilig den Mund mit Minzsud aus. Als das nicht half, griff sie zwei Nelken und kaute darauf herum.

Der Pater kam die Treppen herab. «Was gibt es Neues in der Welt?», fragte er, schaute seine Schwester prüfend an und duckte sich in Erwartung neuer Vorwürfe.

«Die Welt ist in Frevlerhand», erklärte Gustelies müde. «Und sie kann nur durch Küsse gerettet werden.»

Der Pfarrer ließ sich am Küchentisch nieder. «Meine Rede!», sagte er nickend. «Die Erde ist in Frevlerhand. Wie oft habe ich das schon von der Kanzel gepredigt. Zeit wird es, dass die Leute es begreifen.»

«Aber du willst sie nicht durch Küsse retten, oder?»

Der Pater verzog angewidert den Mund und fuhr sich mit dem Ärmel seiner Soutane über die Lippen. «Igitt, wer macht denn so was?», fragte er mit gelindem Entsetzen in der Stimme.

Gustelies klaubte die Hahnenkämme aus dem Korb und gab sie zum Einweichen in einen Topf mit Wasser. «Der neue Prediger. Auf dem Römer steht er und verteilt Küsse. Du solltest die Frauen sehen: Ganz wild sind sie nach ihm. Und allen voran Mutter Dollhaus und die Geldwechslerin.»

«Deine Freundin Jutta?»

Gustelies nickte. «Ich dachte, sie hätte einen Liebsten. Ich dachte, der Fuhrmann wäre ihr Herzensdieb, aber nein.»

«Sie hat den Fremden geküsst?» Pater Naus Augen wurden immer größer.

«Na ja», lenkte Gustelies ein. «Gesehen habe ich nur, wie er zwei Mägde geküsst hat. Dann bin ich gegangen, konnte das Übel nicht mit ansehen.»

«Hmm», machte der Pater und kratzte sich nachdenklich am Kinn. «Ich muss wohl mit Bruder Göck darüber sprechen, muss ihn fragen, ob Liebe und Küsse dasselbe sind.»

Gustelies lachte auf. «Da wollen wohl zwei Blinde über Farben reden! Oder meinst du, Bruder Göck hätte seine Erfahrungen mit Küssen? Und wie sieht es eigentlich mit dir aus, Paterchen? Hast du schon einmal geküsst?»

Jetzt wurde es Nau zu viel. Mit hochrotem Kopf erhob er sich. «Genug von dem Geschwätz. Ich muss arbeiten, meine Predigt schreiben.»

Gustelies wischte sich die Hände an der Schürze ab. «Wozu schreibst du eigentlich noch eine Predigt?», fragte sie. «Der Rat der Stadt hat seit dem 21. April alle katholischen Gottesdienste verboten. Frankfurt ist evangelisch. Sogar im Bartholomäusdom predigt man jetzt nach der lutherischen Art. Und der Almosenkasten, der vor St. Nikolai hängt, der gehört jetzt auch den Lutherischen. Sie haben den Armen der Stadt ein Stück Stoff mit dem Wappen Frankfurts gegeben, damit sie sich das an die Kleidung nähen. Nur damit bekommen sie etwas von der Armenspeisung. Der neuen lutherischen, versteht sich.»

Der Pater setzte sich wieder und zupfte am Ärmel seiner Soutane. «Aha, Frankfurt ist also evangelisch. Der Rat hat es beschlossen und die Armen auch gleich mit evangelisiert.» Er kicherte.

«Was gibt es da zu lachen?», verlangte Gustelies zu wissen. «Dein Amt steht auf dem Spiel. Wenn das so weitergeht, nehmen sie auch dir die Kirche weg und das Pfarrhaus, und dann kannst du sehen, wo du bleibst.»

Pater Nau winkte belustigt ab. «Kannst du mir den Unterschied zwischen einem guten alten katholischen und einem evangelischen Gottesdienst erklären? Kannst du das?»

«Wie denn? Woher soll ich wissen, was die Lutherischen treiben? Es heißt, sie gehen nicht zur Beichte, sondern sprechen direkt mit unserem Herrn. Aber sonst?»

«Siehst du! So wie dir geht es den meisten Leuten. Sie haben keine Ahnung von den Unterschieden. Selbst du, als Pfarrhaushälterin, weißt nichts. Und so groß werden die Unterschiede wohl auch nicht sein, schließlich haben wir dieselbe Bibel. Also habe ich dem Rat angezeigt, dass die Liebfrauenkirche evangelisch geworden ist.» Er breitete die Arme aus. «Alles ist gut, du musst dich nicht sorgen!»

Gustelies seufzte tief auf und verdrehte die Augen zum Himmel. «Herr, warum strafst du mich so?», wollte sie wissen, dann wandte sie sich an ihren Bruder. «Und du denkst, der Erzbischof von Mainz ist dumm genug, deine Schelmerei nicht zu bemerken? An wen führst du die Kollekte ab? Wem schuldest du Rechenschaft? Und vor allem: Wer zahlt dir deinen Lohn?»

«Kein Problem. Ich habe für alles eine Lösung», prahlte Pater Nau. «Ich teile die Kollekte in zwei Hälften und gebe jedem Rechenschaft. So einfach ist das. Vielleicht bekomme ich ja nun von zwei Seiten meinen Lohn.» Er rieb sich die Hände. «Ich bin ein Mann Gottes, und ich bin sicher, dass es dem Herrn vollkommen gleichgültig ist, ob ich ein evangelischer oder ein katholischer Geistlicher bin. Meine Aufgabe ist es, das Evangelium zu verkünden, Seelsorge zu betreiben, egal, ob im Beichtkasten oder andernorts.»

Gustelies nickte. «Dann lass uns beten, dass auch deine weltlichen Herren so denken, wie du es dem Herrgott unterstellst.» Sie schaute bekümmert. «Hoffentlich, Bernhard, bringst du uns damit nicht in Teufels Küche. Unser Leben hängt an dem, was du tust. Ich habe wirklich keine Lust, mich auf meine alten Tage noch einmal zu verändern. Als ob das Leben nicht schon schwer genug wäre! Jetzt fängst du auch noch an, Schlawinereien zu begehen! Ist denn die ganze Welt verrückt geworden?»

Von der Straße her war lautes, ausgelassenes Gelächter zu hören, und schon stand Gustelies am Fenster und blickte hinaus. «Komm schnell, Bernhard, das musst du dir mit eigenen Augen ansehen.»

Draußen hatten sich drei Mägde untergehakt und tanzten um den Brunnen herum. Ein Bürger im ordentlichen Wams blieb stehen: «Habt ihr nichts zu tun, Weibsvolk? Wartet niemand auf euch? Schert euch zu euren Dienstherren und dankt Gott, wenn die nichts von eurer Frivolität erfahren.»

Eine der Mägde streckte dem braven Bürger die Zunge heraus. «Wisst Ihr denn nicht, dass wir alle längst in der Hölle sind?», rief sie ihm zu und lachte, dass man all ihre Zähne sah. Ihre Gefährtin leckte sich über die Lippen. «Unsere Gebete sind die Küsse, denn nur die Liebe kann uns erlösen.» Dann warf sie dem Mann eine Kusshand zu. Der schüttelte sich und machte sich mit empörter Miene davon. Die Weiber aber lachten, bespritzten sich mit dem kalten Brunnenwasser, sodass ihre Mieder schon bald ganz nass waren.

«Pfui!» Der Pater bekreuzigte sich. «Was soll das denn? Ist die Wollust ausgebrochen? Was treiben die Weiber denn da? Der gute Mann hat recht. Haben die nichts zu tun?»

Gustelies wandte sich zu ihrem Bruder um. «Da kannst du sehen, was der neue Prediger anrichtet. Die Weiber geraten außer Rand und Band. Es wird Zeit, dass der Rat der Stadt eingreift.»

Der Pater beugte sich weit vor, um noch einen Blick auf die durchtränkten Mieder der drei Mädchen zu erhaschen, doch Gustelies schob ihn weg. «Bist du nicht besser als diese Kebsweiber? Hast du auch nichts zu tun?»

Sie wandte sich wieder ihrem Weidenkorb zu, und der Pater stapfte ohne ein weiteres Wort die Treppe hinauf.

Gustelies zerrte das Huhn, das mittlerweile gut ausgeblutet war, aus dem Korb, warf das triefende Stroh weg und tauchte es zuerst in kochendes Wasser und anschließend in einen Eimer kaltes Brunnenwasser. Dann hängte sie es an ein Pfannengestell und machte sich daran, es zu rupfen. Sie riss so heftig an den Federn, dass das Huhn zweimal vom Gestell krachte, aber Gustelies war so wütend auf Pater Nau, den Prediger, Mutter Dollhaus, Jutta, den Sommer und die Welt im Allgemeinen, dass sie sich einfach nicht beruhigen konnte. Als sie das Tier fertig gerupft hatte, riss sie einen Kienspan an und sengte die letzten Reste der Federkiele ab. Endlich lag das Huhn nackt vor ihr. Aber so, wie Gustelies sich heute fühlte, erinnerte sie die Nacktheit nur ein weiteres Mal daran, dass in ihrem Leben etwas Entscheidendes fehlte.

Sie hielt inne, betrachtete das Huhn und ließ sich auf einen Küchenstuhl plumpsen. «Bin ich wirklich schon so alt?», flüsterte sie vor sich hin. «Werde ich gar bald eine von denen sein, deren Mundwinkel nach unten hängen, die nichts Schönes mehr erblicken können und die Mitmenschen mit Hader und Neid verfolgen?»

Tränen stiegen in Gustelies auf, doch bevor sie ihr über die Wangen rollten, hatte sie sie schon mit der Schürze abgetupft.

«Ich bin alt», erkannte sie. «Die Blüte meines Lebens liegt hinter mir. Ich war verheiratet, habe ein Kind geboren, nun bin ich Witwe und Großmutter. Das heißt doch aber noch lange nicht, dass ich keine Frau mehr bin. Ich habe noch Bedürfnisse, sehne mich nach einem, der mich in den Arm nimmt und nachts mein Bett wärmt. Ist das Sünde? Ist das Schamlosigkeit? Darf sich eine Frau in meinem Alter nicht mehr nach der Liebe sehnen? Ich bin doch ein anständiges Weib, bin es immer gewesen. Nicht zu vergleichen mit den drei Dirnen da draußen.» Für einen Augenblick schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie sie den Prediger auf dem Römerberg geküsst hätte. Sie konnte seine Hand auf ihrem Rücken spüren und richtete sich kerzengerade auf. Sie fühlte seine Lippen auf ihrem Mund, weich und warm und so sanft wie der Schlag eines Schmetterlingsflügels. Sie sah ihn vor sich: die dunklen Glutkirschenaugen, die gerade Nase, darunter der ausgeprägte Amorbogen. Das dunkle Haar, das er zum Zopf gebunden trug und das offen sicher bis auf seine Schultern reichen würde. Die breiten Schultern, gemacht dafür, ein Fass mit einem Mal zu stemmen, der breite Brustkorb mit viel Platz für einen Frauenkopf, die schmalen Hüften. Wie alt er wohl war, der Prediger? Um die vierzig Jahre herum? Nur ein wenig jünger als sie selbst? Oder doch viel jünger?

Das Klappen der Tür oben riss sie aus ihren Gedanken. «Du bist eine Gans», schalt sie sich und stand auf. «Bist nicht besser als die dümmste Magd.»

Sie nahm das nackte Huhn, schnitt quer in den Halsstumpf hinein, löste die Haut und nahm Kropf, Schlund und Gurgel heraus. Dann drehte sie das Huhn einmal von unten nach oben und schnitt auch den Afterring weg, den sie in den Eimer zu ihren Füßen warf. Vom After aus führte sie das Messer durch die Bauchhaut, bis sie auf den Knochen stieß. Anschließend löste sie vorsichtig von allen Seiten das Fett ab und konnte dabei einfach nicht verhindern, dass sie an die Fettschichten dachte, die sich im Laufe der Jahre um ihre Knochen herum gebildet hatten. Bin ich zu dick?, fragte sie sich und wühlte mit beiden Händen in dem Tier herum. Ich dachte immer, wahre Männer lieben es, wenn bei einer Frau ein bisschen Speck an den richtigen Stellen sitzt. Mein Mann – Gott hab ihn selig – sagte stets: Ich muss doch etwas zum Anpacken haben. Wenn sie sich aber jetzt die jungen Dinger, die jungen Mägde, besonders aber die jungen Patriziertöchter, anschaute, so sah sie nur Haut und Knochen. Kaum eine, die das Brusttuch so richtig ausfüllte. Und die Hinterteile, meine Güte, zu ihrer Zeit waren auch die prächtiger gewesen.

Gustelies fasste mit Mittelfinger und Zeigefinger der rechten Hand in das Huhn hinein und zog vorsichtig den Magen mit den Därmen und der Leber heraus. Ihre Zungenspitze wanderte vor Aufmerksamkeit auf ihren Lippen herum, denn die Sache brauchte Fingerspitzengefühl. Wurde die Galle verletzt, so ergoss sich deren Inhalt in das Huhn, und es war bitter und verdorben. Danach löste sie die Därme vom Magen und überlegte, ob sie sie reinigen und für eine spätere kräftige Suppe aufheben sollte, doch dann warf sie die Innereien alle in den Abfalleimer und wusch das Huhn gründlich mit warmem Wasser aus. Ordentlich schnitt sie die gelben Füße über dem ersten Gelenk ab, drehte die Flügel auf den Rücken, steckte sie mit einem Holzstäbchen fest, tat dasselbe bei den Schenkeln, rieb das Huhn mit etwas Salz und Pfeffer ein und holte ein Stück Bauchspeck aus der Speisekammer. Sie spickte das Huhn, bepinselte es mit ausgelassenem Speck und legte es in einen großen, gusseisernen Bräter. Als das Huhn darin brutzelte, wusch sie sich die Hände, setzte sich an den Küchentisch und seufzte. Egal, was sie heute tat, ihre Stimmung wurde immer schlechter. Schon wieder und so ganz ohne Grund traten Gustelies die Tränen in die Augen. Sie dachte an ihren verstorbenen Mann, Hellas Vater, und an ihr gemeinsames Leben. Leicht war es nicht immer gewesen, denn Richter Kurzweg war ein strenger Mann gewesen, der sehr auf Anstand und Sitte geachtet hatte. Ein nachlässig gebundenes Brusttuch hatte ihn erzürnen können, eine lose Bemerkung, ein zu lautes Lachen. Trotzdem. Gustelies hatte ihn liebgehabt. Vielleicht nicht von Anfang an, denn er war ihr ausgesucht worden. Doch im Laufe der Jahre hatte sie verstanden, dass Richter Kurzweg ein verlässlicher Mann von geradem Charakter war. Gustelies seufzte und schloss die Augen. Sie vermisste ihn gerade heute auf das schmerzlichste und dachte daran, wie vor fünfundzwanzig Jahren alles zwischen ihnen begonnen hatte.

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Kapitel 4

Sie war gerade achtzehn Jahre alt geworden und hatte die Mädchenschule bei den Karmeliterinnen hinter sich. Sie hatte lesen und schreiben, rechnen und sticken, nähen und haushalten gelernt und war nun – wie ihr Vater und Mutter versicherten – bereit, zu heiraten. Wenn sie schlank und rank durch die Frankfurter Gassen lief und ihr dichtes braunes Haar wie ein Seidenschleier hinter ihr her wehte, dann zog sie die Blicke der Männer auf sich. Und sie selbst, sie brannte darauf, die Liebe kennenzulernen. Wie war es wohl, sich nach einem anderen Menschen zu verzehren? Wie anders war diese Liebe zu dem, was sie für ihre Eltern verspürte? Gustelies konnte den nächsten Maientanz kaum erwarten. Zwar hatte sie noch keinen Liebsten, aber einen, der ihr gut gefiel. Seit Kindertagen kannten sie sich schon, der Henn Goldschlag und sie, denn der junge Mann war der Sohn ihrer Tante, der Neffe der Mutter. Vetter und Base hätte man sie nennen können, doch die Tante war nicht die richtige, sondern die Stiefmutter des Henn. Zweimal hatten sie sich schon heimlich am Main getroffen und waren ein wenig am Ufer entlangspaziert. Und beim letzten Mal, da hatte der Henn zaghaft ihre Hand gegriffen und sie mit seinen rauen Fingern gestreichelt.

«Zum Maientanz, da sehen wir uns, nicht wahr?», hatte der Henn gefragt. Und Gustelies hatte genickt. Der Maientanz. Da wurde genau geschaut, wer mit wem tanzte. Und wenn ein Mann sich mit einem Mädchen dreimal hintereinander drehte, dann galten sie schon als so gut wie verlobt. War der letzte Satz von Henn also so etwas wie eine Bitte, ein Antrag gewesen?

«Wir tanzen zusammen unter dem Maienbaum?» Gustelies’ Stimme zitterte, als sie die Worte aussprach. Aber der Henn, der hatte nichts erwidert, sondern sie nur ganz leicht auf die Wange geküsst.

«Bis ganz bald, schönste aller Hauslehrertöchter», hatte er gerufen. Und Gustelies hatte vor Glück kaum atmen können. Das Herz galoppierte in ihrer Brust wie ein Pferd beim schnellen Lauf. Und sie fühlte sich so glücklich wie nie zuvor in ihrem Leben.

Sie war aufgeregt, schon Tage vorher. Die Magd hatte ihr Haar mit Essigwasser gespült, damit es schön glänzte. Von ihrer Mutter hatte sie sich ein wenig Wangenrot geliehen, und das neue Kleid aus taubenblauem Musselin schwang wie eine Wolke um ihre Beine. Ins Haar hatte sie sich Bänder gebunden und an das Kleid eine Blume gesteckt. Auf dem Festplatz gelang es ihr kaum, die Füße still zu halten. Sie wollte tanzen, sich drehen und sehen, wie der Rock ausschwang. Doch sie musste brav sitzen und warten, bis jemand kam, um sie zum Tanz zu holen. Der Erste, das war ein Fischer, bei dem sie schon öfter für die Mutter Flusskrebse gekauft hatte. Doch der Vater schüttelte den Kopf. Nein, mit einem Fischer konnte und sollte sie nicht tanzen. Der war nicht gut genug für sie.

«Vater, dein letztes Wort?»

«Ja, Gustelies. Ich weiß, was ich tue. Und ich tue es nur zu deinem Besten.»

Der Nächste war Lehrling in einem Handelskontor. Mit dem durfte sie sich unter dem Maienbaum drehen. Doch als der Vater sah, wie die Hand des Kontorlehrlings auf Gustelies’ Rücken langsam hinunterrutschte, da schritt er auf die Tanzfläche und zerrte seine Tochter zurück auf die Bank neben die Mutter.

Da saß sie nun, eingekeilt zwischen den Eltern, und sah den Mägden wehmütig zu, wie sie sich von den jungen Burschen in die Luft werfen ließen. Doch niemand kam mehr zu ihr. Ihr Blick huschte über die Burschen, die in Grüppchen beieinanderstanden. Schon eine Stunde lang wurde zum Tanz aufgespielt, aber der Henn, der war noch immer nicht da. Gustelies schäumte vor Wut und Verzweiflung. Der Vater, der hatte ihr alles verdorben! Den einen weggeschickt, den anderen auf der Tanzfläche stehen lassen. Kein Wunder, dass sich keiner mehr traute. Kein Wunder, dass selbst der Henn die Flucht ergriffen hatte.

Die Mutter beugte sich zu ihr und flüsterte: «Hab keine Sorge, gleich wird jemand dich holen.»

Dann zwinkerte sie Gustelies’ Tante zu. War Henn jetzt da? Würde er sie endlich von dieser Schmach hier erlösen? Sie wagte nicht aufzublicken. Gustelies wollte vor Scham im Boden versinken. War sie so hässlich, dass nur einer mit ihr tanzte, der den Eltern durch Verwandtschaft verpflichtet war? O Gott. War der Henn etwa nur mit ihr spazieren gegangen, weil seine Stiefmutter es ihm aufgetragen hatte? Hatte er sie deshalb ohne Antwort am Mainufer stehen lassen? Hatte sie sich nur eingebildet, er wäre ein wenig verliebt in sie? Sie schlug die Hände vor das Gesicht, doch die Mutter zog sie weg. Und schon stand er da, der Tantenstiefsohn, und lächelte sie an. Er war groß, beinahe einen Kopf größer als sie selbst, und seine Schultern waren vom Goldschlagen so breit wie die eines Aufladers.

Er sah aus wie immer mit seinem breiten Gesicht und den Haaren von der Farbe getrockneten Heus. Aber Gustelies schien es, als sähe sie ihn heute zum ersten Mal. Sie hatte nicht gewusst, wie gut Henn aussah. Erst jetzt, zwischen den anderen Tänzern, stach er aus ihnen hervor wie eine stolze Tanne im Birkenwald. Wenn er lachte, entblößte er große, kräftige Zähne. Und zupacken konnte er! Er schwang Gustelies herum, als wäre sie nicht schwerer als ein Federbett. Einmal warf er sie sogar ein Stück nach oben und lachte, als er ihr erschrockenes Gesicht sah. Und einmal, als niemand zu ihnen schaute, da strich er mit seinen rauen Fingern so sanft über ihre Wange, dass es sich anfühlte, als hätte ein Schmetterling sie gestreift. Gustelies fühlte sich wohl in seinen Armen. Sicher und geborgen. Und sie lachte mit ihm. Er war spaßig, machte Bemerkungen über die anderen Mädchen, die nicht weh taten, sondern den Punkt trafen.

«Schau», sagte er zum Beispiel. «Da drüben, da tanzt Haubenmachers Liesel. Sie hüpft wie ein Reh. Wenn ihr Tänzer nicht aufpasst, läuft sie ihm noch davon.» Oder: «Sieh nur, der Franz aus der Kannengießergasse. Er stampft um sein Mädchen herum, als wolle er den Boden neu besorgen.» Und Gustelies lachte und ließ es geschehen, dass der Goldschläger Henn eine Hand auf ihre Schulter legte und sie ein wenig drückte. Und in seinen Blicken konnte sie sich spiegeln, konnte sehen, wie jung und schön und begehrenswert sie war.

«Ich hatte schon Furcht, du kämst nicht mehr», flüsterte sie.

«Ach was. Ich musste noch eine Arbeit fertig machen. Niemals im Leben hätte ich dich allein zum Tanz gehen lassen. Ich mag dich nicht mit anderen Männern teilen. Weißt du, ich wollte dich heute etwas fragen …»

«Ja?» Gustelies hielt die Luft an. War das der Augenblick aller Augenblicke? Würde sie gleich den Satz hören, nach dem sich alle jungen Mädchen verzehrten? Ihr Herz klopfte so wild in ihrer Brust, als wollte es durch die Rippen brechen. «Ja?», hauchte sie noch einmal.

Aber da kam der Vater wieder auf die Tanzfläche gelaufen und packte sie beim Arm, zog sie einfach weg von Henn, weg von ihrem Glück. «Der Richterssohn, der Kurzweg, der hat mich um deinen nächsten Tanz gebeten.» Nur kurz wandte er sich an den Neffen. «Du gestattest doch, nicht wahr? Gustelies ist nicht nur wegen dir heute gekommen.»

Gustelies flehte den Vater mit Blicken an, sie doch beim Henn zu lassen, aber der zerrte an ihrem Arm. Und der Henn, der zerrte am anderen Arm.

«Ist sie nicht alt genug, um selbst zu sagen, mit wem sie tanzen mag?», fragte er.

Gustelies’ Vater kniff die Augen zusammen und blitzte den jungen Mann empört an. «Ich bin der Vater. Mein Wort gilt. Wenn nicht für dich, so schon noch für meine Tochter.»

Und Gustelies hatte es nicht gewagt, dem Vater zu widersprechen. Der zog sie zu sich und raunte ihr zu: «Ein Richterssohn, der selbst schon bald Richter wird. Zu so einem kann man nicht nein sagen. Nicht zu so einem. Was willst du mit einem Goldschläger? Immer nur Arbeit und Mühe und Dreck und Gestank im Haus. Ein Richter, das ist ein feiner Herr, der macht sich die Hände nicht dreckig. Der hat sogar mit dem Rat zu tun.»