Friesendämmerung - Sandra Dünschede - E-Book

Friesendämmerung E-Book

Sandra Dünschede

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Beschreibung

Eine grausige Entdeckung am frühen Morgen ruft Kommissar Thamsen auf den Plan. Mitten auf dem Golfplatz in Stadum liegt die Leiche von Johannes Petersen. Der Chef eines Entsorgungsunternehmens ist offensichtlich keines natürlichen Todes gestorben. Verdächtige gibt es viele, standen die Gläubiger doch bei ihm Schlange. Hat einer die Geduld verloren? Ein mutmaßlicher Täter ist schnell gefunden. Als dieser sich selbst richtet, scheint die Schuldfrage geklärt. Nur Thamsen plagt das Gefühl, etwas Entscheidendes übersehen zu haben …

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Sandra Dünschede

Friesendämmerung

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Jenny Sturm / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7628-0

Widmung

Für Holger

Zitat

»Wenn es im Inneren eines Menschen eine dunkle Stelle gibt, beim Golf tritt sie zutage.«

Paul Gallico

1. Kapitel

»Fore!« Wolfgang Jensen stieß den Warnruf für seinen verschlagenen Golfball nicht besonders lautstark aus. So früh am Morgen dürfte sich kaum ein anderer Spieler auf dem Platz befinden, vermutete er, nicht zuletzt, weil sein Wagen der einzige war, der auf dem Parkplatz stand, als er vor gut zwei Stunden angekommen war. Kein Wunder, denn das Wetter präsentierte sich nicht gerade von seiner besten Seite. Die Temperatur bewegte sich in den Niederungen der Gradskala und stieg von dort ähnlich langsam auf wie der Frühnebel, der noch über dem Fairway lag.

Wolfgang Jensen liebte diese Tageszeit und spielte bevorzugt, dass es hell wurde. Er genoss die Ruhe auf dem Platz, die Einsamkeit. Nichts hasste er mehr beim Golf, als am Abschlag darauf warten zu müssen, bis die Spieler vor ihm nach gefühlten hundert Schlägen endlich das Grün erreichten oder aber ein Golfer mit wesentlich besserem Handicap ihm auf der Bahn im Nacken saß. Daher fuhr er regelmäßig zum Sonnenaufgang nach Stadum auf den Golfplatz und absolvierte eine 18-Loch-Runde, ehe andere Mitglieder des Clubs die Anlage bevölkerten.

Wolfgang Jensen steckte sein Eisen in sein Golfbag und schob seinen Caddy zum Waldrand. Er suchte kurz den Ball, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Sollte er etwa einen Dressel1 geschlagen haben? Er schaute zurück auf die Bahn, doch der graue Schleier über dem Gras machte es unmöglich, etwas auszumachen. Wolfgang droppte einen Ball und machte einen Probeschwung, ehe er erneut ausholte, um zu schlagen, als er plötzlich in der Bewegung innehielt. Was war das? Er kniff die Augen zusammen und schärfte seinen Blick Richtung Grün. Kurz vor dem Loch hatte sich der Nebel aufgelöst und er sah eine dunkle Erhebung auf der Bahn.

Lag da ein Tier? Oder war das …? Wolfgang schluckte und spürte, wie ihm trotz der frostigen Temperaturen warm wurde. Sein Shirt, das aufgrund der vorangegangenen Bewegung bereits leicht feucht war, klebte von jetzt auf gleich an seinem Körper. Er ließ seinen Schläger sinken und ging zögerlich auf den dunklen Haufen zu. Nein, das war kein Tier, wurde ihm mit jedem Schritt vorwärts bewusster. Er hatte doch nicht …? Konnte das sein? Rasch blickte er sich um, aber außer ihm war niemand auf der Bahn. Er richtete seine Augen wieder nach vorn, begann zu laufen.

»Hallo, Entschuldigung. Geht es Ihnen gut?«

Je näher er kam, desto deutlicher stachen die Konturen eines Menschen aus dem Nebel. Keuchend blieb er kurz vor dem am Boden liegenden Mann stehen. O mein Gott, das war doch nicht ich? Das war doch nicht mein Ball, schoss es Wolfgang durch den Kopf, als er sich neben den reglosen Körper kniete und ihn an der Schulter fassen wollte. Im letzten Moment zuckte er jedoch zurück und verlor dabei das Gleichgewicht. Die Nässe des Grases fraß sich rasch durch seine Hose, doch er fühlte sich ebenso bewegungsunfähig wie der Mann vor ihm. Er starrte auf dessen blasses Gesicht, aus dem ihm schreckgeweitete Augen entgegensprangen. Wolfgang spürte, wie ein Feuer aus seinem Magen mit einem Brennen die Speiseröhre hinaufstieg. Ihm blieb die Luft weg. Wie in einem Vakuum gefangen saß er auf dem Fairway und nur ein einziger Gedanke drehte sich wie in einer Endlosschleife in seinem Kopf: Ich habe ihn umgebracht!

1 Dressel: Ein nach einem Mitglied des Golf Clubs Hof Berg benannter Fehlschlag, bei dem der Ball beispielsweise von einem Baum zurückprallt und auf der Spielbahn zum Liegen kommt, von wo aus er problemlos weitergespielt werden kann.

2. Kapitel

Dirk Thamsen öffnete langsam seine Augen und blinzelte. Das schemenhafte Geschöpf vor seinem Bett blieb, wo es war. Er hörte ein leises Atmen, das mit einem leichten Luftzug seinen Arm streifte. Unerwartet bildete sich eine Lichtquelle auf Höhe der Bettkante und schickte geisterhaftes Licht aufwärts in das Gesicht der Gestalt – Lotta. Dirk Thamsen seufzte.

»Hier«, sie streckte ihm sein Handy entgegen, »Mama sagt, ich soll es dir bringen. Es klingelt immerzu.«

Er nahm ihr das Telefon ab und blickte aufs Display. Schon kurz vor acht Uhr! Er fuhr aus seinem Kissen hoch, während Lotta aus dem Schlafzimmer ging. Durch die Tür drang das Geklapper von Geschirr und ein feiner Kaffeeduft lag in der Luft. Er hatte tatsächlich verschlafen. Das war ihm wie lange nicht mehr passiert? Er erinnerte sich nicht. Dirk schwang die Beine aus dem Bett und stand auf.

»Guten Morgen, Langschläfer!« Dörte begrüßte ihn mit einem Grinsen.

»Morgen«, entgegnete er und drückte ihr einen Kuss in den Nacken, während er gleichzeitig über sie hinweg nach der Kaffeekanne langte. Er brauchte unbedingt Koffein.

»Ich hätte dich ja noch schlafen lassen, aber dein Telefon hat in einer Tour geklingelt. Viel-leicht etwas Wichtiges?« Sie drehte sich zu ihm und schaute ihn an, wobei sie die Braue über dem rechten Auge nach oben zog.

Wie sie das nur machte, fragte Dirk sich. Nur die eine Braue zu bewegen. Er verzog selbst ein wenig das Gesicht, krauste die Stirn.

»Solltest du nicht erst einmal zurückrufen?«, schlug Dörte vor, da sie offensichtlich seinen Versuch, sie zu imitieren, missverstand. Kein Wunder, er beherrschte die Kunst des unabhängigen Brauenliftens nun einmal nicht – egal, wie oft er es bereits im Spiegel geübt hatte, stets hoben sich beide Haarstriche und er machte dabei ein ziemlich dümmliches Gesicht.

»Hast recht«, entgegnete Dirk und goss sich trotzdem zunächst einmal einen Becher Kaffee ein. Mit der dampfenden Tasse ließ er sich auf einen der Stühle am Frühstückstisch fallen und nahm einen ersten großen Schluck. Das war genau das, was er jetzt brauchte, dachte Dirk und spürte, wie seine müden Lebensgeister langsam ihre Glieder ausstreckten. Er trank ein weiteres Mal, ehe er sein Handy entsperrte und die Anrufliste öffnete. Sechs Anrufe in Abwesenheit. Viermal hatte seine Dienststelle versucht ihn zu erreichen, die letzten beiden Anrufe stammten von seinem Mitarbeiter Ansgar Rolfs. Dirk entschied, direkt Rolfs zurückzurufen.

»Chef«, hörte er seinen Mitarbeiter nach dem zweiten Klingeln, »gut, dass du dich meldest.«

»Was gibt’s?«

»Wir haben einen Leichenfund!«

Dirk sprang von seinem Stuhl auf und war prompt hellwach. »Wo?«

»Auf dem Golfplatz in Stadum. Die Kollegen aus Leck haben uns angerufen und gebeten dazuzukommen.«

»Ja, und wie … und was …?« Dirk verließ mit schnellen Schritten die Küche und eilte zurück ins Schlafzimmer.

»Zuerst ging man von einem Unfall aus, aber der Notarzt hat dann die Dienststelle in Leck informiert und …«

»Unfall auf dem Golfplatz?«

»Ja, nein, also der Arzt meint, dass der Tote da schon länger liegen muss.«

Dirk hörte, wie eine Autotür klappte.

»Ich bin jetzt da, kommst du?«

»Mach mich sofort auf den Weg. Leite du alles Notwendige in die Wege.«

»Mach ich. Soll ich auch die Husumer …?«

»Nein, um die Kripo kümmere ich mich.« Dirk legte auf und griff sich seine Jeans und einen Pullover. Im Bad putzte er sich rasch die Zähne und sprühte etwas Deo in seine Achselhöhlen. Der Mix aus Bergamotte und Moschus hüllte ihn ein, während er in seine Sachen schlüpfte.

»Muss los«, rief er Dörte aus dem Flur zu, die gleich darauf den Kopf aus der Küche streckte.

»Ist was passiert?«

»Leichenfund«, entgegnete er und griff nach dem Autoschlüssel. Er wusste, dass es keiner weiteren Worte bedurfte, dafür waren sie lange genug ein Paar.

Er stieg in sein Auto und gab Gas. Eine Leiche auf dem Golfplatz, kein Unfall, ließ er das Telefonat Revue passieren. Gut, was sollte es auch für einen Unfall beim Golf geben?

Zusammenstoß mit einem Caddy? Wahrscheinlicher erschien es ihm, dass sich zwei Rivalen mit ihren Schlägern duelliert hatten. Aber war Golf nicht eher eine ruhige Sportart, bei der jeder gegen sich selbst spielte? Völlig in Gedanken schüttelte er den Kopf, als er auf die B 5 Richtung Klixbüll abbog. Er kannte sich in dem Sport zu wenig aus, um das beurteilen zu können. Sein Bild von Golf bestand aus Karohosen, Polohemden und Tiger Woods, der kunstvoll Bälle über eine grüne Landschaft schickte.

Er setzte den Blinker und schlug den Weg nach Leck ein. Wer trieb sich überhaupt derart früh auf dem Golfplatz herum, grübelte er weiter, als er die B 199 entlangfuhr. Mit wem hatten sie es zu tun? Und wer war der Tote? Am besten, er machte sich zunächst einmal ein eigenes Bild von der Lage, ehe er die Kollegen in Husum anrief. Die Beamten waren vermutlich um diese Zeit ohnehin noch nicht im Büro.

Wenig später bog er von der Bundesstraße in die kleinere Nebenstraße ein, die durch ein Waldstück zum Golfplatz führte. Die Gegend wirkte sehr idyllisch, das frühe Sonnenlicht drang sanft durch die Bäume und hüllte den Weg in eine friedliche Atmosphäre. Dieses Bild löste sich schnell auf, als er die Anlage erreichte. Das Blaulicht der Kollegen blitzte, etliche Leute eilten vor dem Clubgebäude hin und her. Er parkte seinen Wagen und stieg aus.

»Hier entlang«, hörte er augenblicklich die Stimme eines Kollegen, der neben dem Peterwagen stand und ihm mit einer fuchtelnden Armbewegung zu verstehen gab, er solle ihm folgen. Dirk kannte den jungen Polizisten kaum, der ein wenig kopflos auf ihn wirkte. Leichenfunde hatten sie nicht allzu häufig in ihrem Zuständigkeitsbereich, dennoch musste man gerade in solchen Situationen als Polizist Ruhe bewahren.

»Moin«, begrüßte er den anderen, der sich jedoch schon abgewandt hatte und mit großen Schritten auf das Gebäude zustürmte. Wo die Leiche wohl lag, fragte Dirk sich. Der Platz war weitläufig, schätzte er. Bestand ihm nun eine lange Wanderung über die Anlage bevor oder würde ihn jemand in einem Caddy zum Fundort kutschieren? Vielleicht der junge Kollege, der vor ihm gerade um die Ecke des Clubhauses verschwunden war? Er stieß einen kurzen Seufzer aus, ehe er dem anderen folgte. Hätte er doch seinen Kaffee ausgetrunken.

Nur wenige Schritte später sah er jedoch bereits eine Gruppe Menschen auf dem Rasen stehen – unter ihnen Ansgar Rolfs. Der junge Polizist vor ihm passierte gerade das rot-weiße Flatterband, das am Boden lag. Dirk runzelte die Stirn, als er selbst darüber hinwegstieg.

»Kommissar Thamsen ist da!« Die Köpfe der Anwesenden wurden ihm ruckartig zugewandt.

Er konnte die Blicke der anderen nicht deuten, dennoch hatte er den Eindruck, als hätte man nur auf ihn gewartet.

»Moin!« Dirk trat neben Ansgar Rolfs. Direkt vor ihnen im Gras befand sich in Mann, etwa Ende fünfzig, Anfang sechzig, schätzte Dirk, und irgendwie kam ihm das Gesicht bekannt vor, auch wenn es sich ihm leichenblass präsentierte und einen Kontrast zu dem saftig grünen Rasen bildete.

»Wissen wir, wer das ist?«

Seine Frage war eigentlich an Ansgar gerichtet, es antwortete stattdessen jedoch Stefan Lützen, der ältere der beiden Lecker Kollegen: »Johannes Petersen aus Leck, hat dort ein großes Entsorgungsunternehmen.«

Daher kannte Dirk das Gesicht. Er hatte den Mann neulich auf Bildern von Lottas Klassenausflug gesehen. Die Kinder hatten sich im Zuge eines Umweltprojektes mit dem Thema »Müll« beschäftigt und den Recyclinghof in Leck besucht. Dörte hatte ihm abends mit Lotta zusammen einige Bilder gezeigt. Auf denen war auch Johannes Petersen abgelichtet gewesen, erinnerte er sich.

»Und was ist genau passiert?«

»Kann man nicht sagen«, erklärte Stefan Lützen. »Wolfgang Jensen hat ihn vor gut einer Stunde gefunden. Hat gedacht, er habe ihn mit einem Golfball getroffen und getötet.«

»Aber?«, hakte Dirk nach, während er sich neben den Toten kniete.

»Na ja, der Notarzt meint, dass die Wunde unmöglich von einem Golfball stammen könne, weil sie viel zu groß sei. Er meint, dass da mehrmals zugeschlagen wurde, und empfiehlt uns, einen Rechtsmediziner hinzuzuziehen.«

»Und?« Dirk beugte sich weiter über den Toten und besah sich die Wunde, die auch ihm zu groß für einen Golfball erschien. Vielleicht doch ein Golfschlägerduell, blitzte es kurz in seinem Kopf auf.

»Keine Ahnung«, Stefan Lützen blickte ihn an. »Wir wissen nicht so recht, was tun, und haben gedacht, weil ihr ja schon öfter …« Er verstummte.

Dirk erhob sich langsam. »Also, ich verständige die Spusi und einen Leichenwagen, und in der Kieler Rechtsmedizin kann ich auch schon Bescheid geben. Die Husumer Kollegen«, er nickte Stefan Lützen zu, »sind dein Job. Die informierst du.«

3. Kapitel

Haie war an diesem Morgen mit bester Laune aufgestanden. Gut, dass er Toms Rat befolgt und gestern Abend nach einem Glas Rotwein früh ins Bett gegangen war. Er hatte tief und fest geschlafen und die Kopf- und Gliederschmerzen, die ihn seit mehreren Tagen geplagt hatten, waren wie weggeblasen. Pfeifend hatte er das Frühstück zubereitet und sich dabei viel Mühe gegeben. Gekochte Eier, frisches Obst und ofenfrische Brötchen. Nach denen langte Niklas auch gleich, nachdem er mit einem müden »Morgen« die Küche betreten hatte, und griff dann wie gewohnt zu dem Nutella-Glas.

»Willst du nicht ein bisschen Obst nehmen? Das ist gut für dich. Schreibt ihr nicht heute die Mathearbeit?«

»Genau, da brauch ich Nervennahrung.« Niklas strich daumendick die Nuss-Nugat-Creme auf eine der Hälften, die sich auf dem ofenwarmen Brötchen verflüssigte und auf das Frühstücksbrettchen tropfte. Schnell schleckte Niklas sie mit der Zunge auf.

Haie merkte, wie seine gute Laune die Flucht ergreifen wollte. Hiergeblieben, rief er ihr gedanklich zu. Heute war so ein schöner Tag, den würde er sich nicht vermiesen lassen.

»Dann packe ich es dir für die Pause ein.« Er nahm eine Tupperdose und legte die Apfel- und Birnenspalten hinein.

»Wie lange hast du heute Schule?«

»Lang, komme erst mit dem Bus um zehn vor zwei nach Hause.« Niklas stand auf, ging mit der klecksenden Brötchenhälfte Richtung Bad und stieß dabei an der Küchentür beinahe mit seinem Vater zusammen.

»Hoppla«, kommentierte Tom den knapp entgangenen Anschlag des Nutella-Brötchens auf sein weißes Hemd und stolperte in die Küche. »Oh, ist heute ein besonderer Tag? Habe ich irgendwas vergessen?« Tom ließ den Blick über den Tisch schweifen, wandte sich dann zu Haie um. »Aber Kaffee gibt es heute keinen?«

»Kaffee?« Haie zuckte zusammen. Hatte er tatsächlich vergessen, Kaffee zu kochen? »Mach ich gleich, war noch nicht so weit.« Hastig griff er nach der Kanne und füllte sie mit Wasser.

»Kann vorkommen, ist doch nicht schlimm«, entgegnete Tom und griff nach einem Brötchen. »Ich muss heute nach Flensburg, Treffen mit einem Kunden, und was hast du Schönes vor?«

Haie konzentrierte sich darauf, das Pulver in den Filter zu schütten. Nicht dass ihm beim verspäteten Kaffeekochen noch ein Fehler unterlief. Nicht auszudenken. Wie lange trank er jeden Morgen Kaffee? Seit der Lehre? Die hatte er mit sechzehn begonnen – also seit einundsechzig Jahren. Wie hatte ihm nicht auffallen können, dass etwas fehlte? Er schüttelte den Kopf.

»Ich ruhe mich heute mal ein bisschen aus. Mache vielleicht eine Tour mit dem Fahrrad.«

Nachdem Tom und Niklas das Haus verlassen hatten, ließ Haie sich auf einen der Küchenstühle fallen. Sollte er heute wirklich einmal ein wenig ausspannen, den Tag langsam angehen? Die Schmerzen der vergangenen Tage hatten ihm anscheinend mehr zugesetzt, als er gedacht hatte. Frische Luft und ein wenig Bewegung würden ihm sicherlich guttun.

Draußen roch es nach Frühling. Es wehte ein frischer Wind, aber die Sonne schien und entlockte dem Boden erstes blühendes Leben. Auch die Bäume schlugen bereits aus, bemerkte Haie, als er sein E-Bike aus dem Fahrradschuppen holte und durch den Garten zur Steege schob.

Er hatte kein Ziel, fuhr zunächst Richtung Wehle und dann weiter hinaus in den Herrenkoog. Auf den Weiden sah er die ersten Lämmer, die Luft war erfüllt vom Rufen des Kiebitzes und dem Geschnatter der Gänse. Kurz vor der Lecker Au machte er Halt und ließ seinen Blick über den Bottschlotter See schweifen. Wellen kräuselten sich auf der dunkelblauen Wasseroberfläche, die am Horizont nur durch einen grünen Streifen vom Himmel getrennt schien. Haie atmete tief ein – ja, hier war er zu Hause.

Er stieg wieder aufs Rad und fuhr weiter nach Ockholm, hielt sich dann Richtung Langenhorn. Kurz vor dem Ort bog er nach Efkebüll ab, wählte den Weg über den Alten Außendeich wieder zurück nach Risum. Als er am Sparmarkt vorbeiradelte, bemerkte er, wie sein Magen knurrte. Jetzt eine von Helenes hausgemachten Frikadellen, schoss es Haie durch den Kopf, und er bremste abrupt. Oder lieber eine von den guten Rauchwürsten? Oder beides?

Er stellte sein Fahrrad vor dem Laden ab und betrat gedanklich beschäftigt mit der Frage nach der Wahl seines Mittagsessens den kleinen Supermarkt an der Dorfstraße.

Und was sollte er dazu essen? Brot? Oder Kartoffelsalat? Haie schnappte sich einen Korb und steuerte zunächst auf die Fleischtheke zu. Dort stand Helene hinter dem Tresen und bediente eine Kundin.

»Moin«, grüßte Haie und inspizierte die Auslage.

Helene wog gerade Hackfleisch ab. »Darf’s ein bisschen mehr sein?« Sie schaute Maren Nissen fragend an.

»Oh, lieber nicht, weißt du …« Die Frau wandte den Blick zu Haie. »Bin ich schon dran?«

»Wenn Sie wollen?« Sie trat einen Schritt zur Seite.

»Wat?«, erhob Helene die Stimme. »Nee, nun mach ich erst mal deine Bestellung fertig. Das Hack liegt doch nu schon auf der Waage.«

Haie verfolgte, wie die Kundin wieder näher an die Theke rückte. »Ja, Helene«, sie räusperte sich, »ich wollte fragen, ich … Es wäre nur kurz …«

Helene kniff die Augen zusammen. »Willst du allwedder anschrieven?«

Haie sah, wie Maren Nissen bei Helenes Worten zusammenzuckte und schluckte.

»Nur, ich meine, ja also, bis Sönkes Lohn …«

»Dat war letzten Monat eine Ausnahme, dat hatte ich ja wohl deutlich gesagt.«

Die Frau nickte. Einen kurzen Augenblick herrschte absolute Stille, ehe Maren Nissen ihre Tasche anhob und ohne ein weiteres Wort Richtung Ausgang ging.

»Dat gibt es echt nicht«, schimpfte Helene, während sie das Hack von der Waage hob und energisch mit einem schmatzenden Geräusch zurück in die Schale in der Auslage klatschte. »Bin ich eine Bank, oder was?«

Haie zuckte mit den Schultern. Er hatte selbst nie viel Geld verdient, aber anschreiben lassen oder um einen Kredit bei der Bank bitten hatte er zum Glück nie müssen. Er wusste jedoch, dass im Dorf etliche Leute lebten, die finanziell nicht so gut dastanden. Arbeitsplätze waren in der Gegend rar. Das Leben auf dem Land verlief nicht immer so idyllisch, wie es sich oftmals auf den ersten Blick präsentierte. Öffentlicher Nahverkehr war so gut wie gar nicht vorhanden, daher brauchte man hier in Risum schon ein Auto, wenn nicht sogar zwei. Und wer kein Eigentum besaß, zahlte mittlerweile auch ordentlich Miete, denn die sogenannten Sylt-Flüchtlinge, wie man hier im Dorf die Leute nannte, die sich die Insel nicht mehr leisten konnten und deshalb aufs Festland zogen, hatten in den letzten Jahren die Preise in die Höhe getrieben.

Er musste an seine Exfrau Elke denken, die seit der Scheidung auch jeden Euro zweimal umdrehen musste. Er hatte ihr zwar das gemeinsame Haus überlassen, aber weil er ihr deswegen keinen Unterhalt zahlte, konnte Elke sich finanziell keine großen Sprünge leisten. Das nannte man dann wohl Altersarmut, vermutete Haie. Die gab es auch in Risum. Und soweit er wusste, arbeitete Sönke Nissen, hatte einen Job bei einer großen Firma in Leck. Wieso musste seine Frau anschreiben lassen?

»Na, hat Petersen wieder keinen Lohn gezahlt?« Meta Lorentz hatte sich beinahe lautlos von hinten an Haie angeschlichen. Völlig überrascht fuhr er herum und blickte die kleine, runzelige Frau an. Sie war der lebende Beweis, dass sehr wohl gut situierte Rentner im Dorf lebten. Hineingeboren in eine reiche Bauernfamilie, hatten Meta und ihr Mann Hof und Ländereien zu einem günstigen Zeitpunkt verkauft. Seitdem lebten sie in einem kleinen, aber sehr exklusiven Reetdachhaus an der Dorfstraße von ihrem Vermögen, über dessen Höhe in Risum schon oft spekuliert worden war. Über den genauen Betrag schwiegen Meta und ihr Mann jedoch stets.

»Wieso wieder?«, hakte Haie nach und wunderte sich, woher Meta davon wusste.

»Na, letzten Monat gab es auch schon Probleme«, mischte sich nun Helene ein, die wie immer über die Begebenheiten im Dorf gut informiert war. »Angeblich ein Systemfehler bei der Bank.« Die Kaufmannsfrau grinste ihn schief an und tippte sich dabei mit dem Zeigefinger an die rechte Schläfe.

»Wieso?«, warf Haie ein. »Kann doch sein, oder?«

»Das glaubst du ja wohl selbst nicht. Also, was darf’s sein?« Helene schien kein Interesse zu haben, weiter über die Angelegenheit zu reden, was Haie verwunderte. Sonst konnte die Kaufmannsfrau nie genug bekommen, sich über Derartiges zu ereifern. Unermüdlich arbeitete sie daran, die Dorfbewohner auf dem Laufenden zu halten, und prüfte dabei selten den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen. Schon oft war Haie sauer aufgestoßen, wenn Helene Gerüchte verbreitete. Denn wenn sie aus ihren Kunden nicht genügend Informationen herausquetschen konnte, erfand sie einfach die fehlenden Teile und hatte dadurch nicht schon selten dazu beigetragen, dass aus einer Gewichtszunahme eine Schwangerschaft oder aus einem Beinbruch eine Querschnittslähmung geworden war.

Der Appetit war ihm vergangen, dennoch fühlte er sich von Helenes aufforderndem Blick genötigt, etwas zu kaufen.

»Ich nehme dann das Hack von Maren Nissen«, sagte er schließlich und musste sich ein Grinsen verkneifen, als Helene ihn argwöhnisch musterte, während sie langsam nach dem Fleisch griff.

»Hett jem all hört?« Vom Eingang drang eine atemlose Stimme zu ihnen. Gleich darauf schoss Willi Sörensen um das Regal mit Obst- und Gemüsekonserven. Sein offener Parka schlackerte um seinen Körper, die Sohlen seiner Gummistiefel quietschten über den Steinboden, als schlidderte ein Auto durch eine rutschige Kurve.

»Watt denn?«, erkundigte sich Helene sofort, die aufgrund Sörensens Auftritt sensationelle Nachrichten witterte.

»Johannes Petersen ist tot! Wolfgang Jensen hat ihn heut Morgen auf dem Golfplatz funnen. Angeblich is he umbröcht worn!«

Helenes Unterkiefer klappte herunter und aus Meta Lorentz entwich geräuschvoll Luft.

Mord, fuhr es Haie durch den Kopf. Das Wort löste bei ihm nicht nur eine Gänsehaut aus, sondern weckte sofort seinen Ermittlerinstinkt. Er war sehr gut mit Kommissar Dirk Thamsen befreundet, hatte bereits einige Male geholfen, Verbrechen in der Gegend aufzuklären. Ganz so friedlich, wie die nordfriesische Landschaft sich präsentierte, war sie nämlich nicht. In den vergangenen Jahren hatte es den einen oder anderen Mordfall gegeben, und Haie hatte mehrmals entscheidende Hinweise geliefert, um den Täter zu überführen. Einige Dorfbewohner sahen in ihm mittlerweile eine Art Hilfssheriff, deshalb war es nicht verwunderlich, dass Willi Sörensen ihn erstaunt anblickte, als Haie fragte: »Und weiß man schon was Genaueres?«

»Nee«, erwiderte Sörensen zögernd. »Hast du denn noch nicht Bescheid?«

»Bisher nicht.«.

»Woher weißt du davon?«, erkundigte sich nun Helene, die ihre Sprache wiedergefunden hatte. Sie beugte sich leicht über die Fleischtheke, sodass ihre üppige Brust über die Ablage quoll, und widmete ihre volle Aufmerksamkeit Willi Sörensen.

»Nu, Gunnar, mein Neffe, hat mich angerufen, der hilft doch hin und wieder auf dem Platz aus.«

»Und?«, wollte Helene wissen.

»Ja, was meinst du? Riesenaufregung. Petersen, tot auf dem Golfplatz. Kannst dir ja wohl vorstellen, was da los ist. Überall Polizei.«

»Ich sach ja immer, Sport ist Mord«, warf Meta Lorentz ein.

»Na, ob das wirklich am Sport lag?«, mutmaßte Helene. »Ich wiederhol noch mal: ›Angeblich ein Systemfehler bei der Bank.‹ Dass ich nicht lache!«

*

Stefan Lützen hatte mit einem gequälten Ausdruck im Gesicht genickt, aber nichts weiter auf seine Anweisung erwidert. Gut so, befand Dirk zufrieden, so hatte er das unangenehme Gespräch mit den Husumern wenigstens vom Hals.

»Wo ist denn dieser Wolfgang Jensen?«

»Sitzt drinnen«, antwortete Ansgar, der bereits sein Handy herausgeholt hatte und die ersten Anrufe tätigte. Dirk nickte ihm zu und ging hinüber zum Clubhaus, vor dem mittlerweile eine Schar Mitglieder stand und mit neugierigen Blicken das Geschehen am Fundort beobachtete.

»Hier gibt es nichts zu sehen. Gehen Sie nach Hause, der Platz ist für heute gesperrt.«

»Was? Warum denn? Was ist denn mit Johannes?«, hörte Dirk hinter sich die Leute fragen, setzte seinen Weg jedoch fort, ohne zu antworten. Anders als sonst konnte er das Interesse der Leute ein Stück weit verstehen. Viele von ihnen sahen in dem Club vermutlich ein zweites Zuhause, Johannes Petersen war einer von ihnen. Natürlich wollten sie wissen, was geschehen war.

Thamsen würde sich vom Manager eine Liste geben lassen und die Leute befragen. Zum jetzigen Zeitpunkt, wo sie selbst so wenig über den Fall wussten, mussten alle Ermittlungsansätze genutzt werden. Wolfgang Jensen saß im Restaurant des Clubgebäudes an einem der Tische und stierte in ein Glas Wasser. Als er Dirks Schritte hörte, blickte er auf.

»Herr Jensen? Dirk Thamsen, Polizei Niebüll.«

Jensen erhob sich, und sofort stach Dirk die Kleidung des Mannes ins Auge. So unscharf war sein Bild von Golfern wohl doch nicht. Jensen trug eine braun-beige Karohose. Thamsens Mundwinkel zuckten leicht nach oben.

»Sie haben also Johannes Petersen gefunden?«

Jensen ließ sich langsam zurück auf den Stuhl sinken und nickte dabei. Dirk trat an den Tisch, schob einen der Stühle mit einem scharrenden Geräusch zurück und nahm Platz.

»Können Sie mir bitte ganz genau erzählen, wann und wie Sie den Toten aufgefunden haben? Jedes Detail, an das Sie sich erinnern, ist wichtig.«

Wieder nickte Jensen, blieb aber weiterhin stumm. Von draußen hörte Dirk Stimmen. Sicherlich waren die Mitglieder seiner Aufforderung nicht gefolgt, sondern befanden sich nach wie vor hinter dem Gebäude und unterhielten sich über den Leichenfund.

»Also?«, hakte Dirk nach.

»Ja, es ist …« Wolfgang Jensen räusperte sich, trank einen Schluck aus seinem Wasserglas. »Wissen Sie, ich habe noch nie einen Toten gesehen, es ist …«

Dirk verstand, was der Mann zum Ausdruck bringen wollte. Er erinnerte sich gut an seine erste Leiche und das Gefühl, das ihn damals erfasst hatte. Es war zwar bereits etliche Jahre her, aber den Schauer spürte er immer noch, der ihm damals über seinen Rücken gelaufen war, als er in das bleiche Gesicht geblickt hatte und der starre Blick der Toten bei ihm eine Atemlosigkeit ausgelöst hatte. Mittlerweile fühlte er sich meist nicht mehr derart gelähmt vom Anblick eines toten Menschen, aber ein Leichenfund war dennoch nicht zur Routine für ihn geworden. Der Tod war und blieb ein Ausnahmezustand, dem er sich jedes Mal aufs Neue stellen musste.

»Ja, das kann einen sehr mitnehmen«, brachte er sein Verständnis zum Ausdruck. »Wann haben Sie ihn gefunden?« Er versuchte zunächst, einen Zugang zu Jensen herzustellen, mit der seiner Ansicht nach einfacheren seiner beiden Fragen. Mit Erfolg.

»So gegen sieben, vielleicht etwas früher, so genau kann ich das nicht sagen, hab nicht auf die Uhr geschaut.«

»Sieben Uhr? Sie sind immer so früh auf dem Golfplatz?«

»Ja, fast jeden Morgen. Für mich die perfekte Zeit.«

»Und Sie waren der Einzige auf dem Platz?«

»Ich glaube schon. Jedenfalls habe ich niemanden gesehen.«

»War irgendetwas anders als sonst?«

Jensen schaute ihn mit einem verständnislosen Blick an. »Die Leiche?«, entgegnete er zaghaft.

»Natürlich.« Dirk nickte zustimmend. »Aber gab es zusätzlich etwas, das Ihnen aufgefallen ist? War da vielleicht ein Auto auf dem Parkplatz oder …?« Dirk überlegte, was Wolfgang Jensen aufgefallen sein könnte.

»Nein, mir ist nichts aufgefallen. Alles war wie immer, außer …« Nun war es Jensen, der stockte.

Dirk hielt den Atem an, spürte, wie seine Muskeln sich anspannten. »Ja?«

»Der Schrank von Oke stand offen.«

»Oke? Welcher Schrank?«

»Oke Reuters. Ja, es war sein Schrank.« Jensen schaute ihn plötzlich mit festem Blick an. »Wir haben im Nebengebäude Bag-Schränke, die der Club vermietet, damit man nicht jedes Mal seine komplette Ausrüstung hin und her schleppen muss.«

Zur Abwechslung war es nun Dirk, der nickte. »Und Sie sind sich sicher, dass es sein Schrank war?«

»Ja doch!« Jensens Starre hatte sich gelöst. »Oke Reuters’ Schrank stand offen.«

4. Kapitel

Haie hatte mit den Neuigkeiten im Gepäck den Sparmarkt verlassen. Vor der Tür hatte er überlegt, was er tun sollte. Dirk anrufen und sich nach dem Leichenfund erkundigen? Sein Freund hatte sicherlich alle Hände voll zu tun und wäre nicht sonderlich erfreut, wenn er störte. Er könnte auch nach Stadum zum Golfplatz radeln, aber das käme aufs Gleiche raus, hatte er befunden.

Schlauer wäre es, wenn er sich im Dorf schon mal umhörte, hatte er beschlossen und Maren Nissen als erste Anlaufstelle ausgewählt. Nicht zuletzt, weil ihr Haus fast auf seinem Heimweg lag, nur ein Stück weiter Richtung Maasbüll. Maren und Sönke Nissen wohnten, soweit er sich erinnerte, in Spätland. Er stoppte sein Fahrrad vor dem Haus, stieg ab und schob es den buckeligen Plattenweg zum Eingang hinauf.

Maren Nissen öffnete, kurz nachdem er geklingelt hatte. Haie sah ihr an, wie überrascht sie über seinen Besuch war. Sie hatten eigentlich so gut wie nichts miteinander zu tun. Die Redewendung »Guten Tag und guten Weg« beschrieb ihr Verhältnis treffend. Maren und Sönke Nissen waren nicht nur jünger als er, sondern auch kinderlos, sodass sich auch keine Verbindung über Niklas zu der Familie ergab.

»Hier, ich habe gedacht …« Haie hielt ihr die Tüte mit dem Hackfleisch hin. Er hatte dazu noch Nudeln und Tomatensoße gekauft.

Maren Nissen starrte stumm auf die ihr entgegengereichte Plastiktasche, griff wie in Zeitlupe danach. »Danke«, flüsterte sie.

»Nicht dafür«, entgegnete Haie. »Tut mir leid, dass es mit Sönkes Arbeit so schlecht läuft, und nun wird es sicherlich nicht einfacher.«

»Wieso?«

»Hast du es noch nicht mitbekommen? Johannes Petersen ist tot, wahrscheinlich ermordet.«

Haie beobachtete, wie aus Maren Nissens Gesicht sämtliche Farbe wich, als hätte man den Stöpsel einer gefüllten Badewanne gezogen. Ihre Unterlippe begann zu zittern, sie fasste sich mit der freien Hand an den Hals. »O mein Gott!« Sie drehte sich um und ließ Haie vor der geöffneten Haustür stehen.

»Maren?« Haie verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein und streckte seinen Hals vor, da die Tür sich mit einem leicht quietschenden Geräusch langsam zu schließen drohte. Maren Nissen verschwand am Ende des Flurs um die Ecke. Haie kratzte sich am Kopf. Sollte er einfach hineingehen?

Er schob die Tür wieder auf, wobei die Scharniere geradezu nach Öl kreischten. Haie verzog das Gesicht, während er sich die Schuhe am Vorleger abputzte und anschließend in den Flur trat.

»Maren? Hallo?«

Er folgte dem Gang, warf einen Blick ins Wohnzimmer, das sehr aufgeräumt wirkte, und nahm am Ende die Tür rechts. Maren Nissen stand in der Küche. Sie hatte die Tüte mit den Lebensmitteln auf den Küchentisch gelegt und hielt ihr Handy am Ohr. Als sie Haie entdeckte, fuhr sie herum. Aus ihrem Blick sprang ihm Angst entgegen.

»Er geht nicht dran«, sie schaute aufs Display, »nur die Mailbox. Er wird doch nicht …?«

»Du meinst …?« Er hielt die Luft an.

Maren Nissen zuckte mit den Schultern. »Sönke war gestern Abend so wütend, als ich ihm erzählt hab, dass wieder kein Lohn überwiesen worden ist. Er hat gesagt, dass er sich Petersen vorknöpfen will.«

Haie musste schlucken. Ihm war plötzlich sehr warm. »Meinst du etwa, Sönke könnte etwas mit dem Tod von Petersen zu tun haben?« Er wusste, welch unglaubliche Frage er stellte. Sönke war Marens Mann. Konnte sie sich von dem Menschen, mit dem sie Tisch und Bett teilte, eine solch ungeheuerliche Tat vorstellen?

Haie selbst hatte die Erfahrung gemacht, dass man den Partner nur bis zu einem gewissen Grad wirklich kannte, egal, wie lange man zusammenlebte. Man konnte sich noch so nahe stehen, es blieb immer ein Punkt, an dem kein Platz für den anderen war. Da war nur Raum für die eigene Person, für die eigenen Befindlichkeiten.

Hatte Sönke Nissen diesen Punkt erreicht und Johannes Petersen ermordet? Hatte seine Wut die Oberhand gewonnen? War aus ihm herausgebrochen, was er vielleicht seit einiger Zeit unter großer Anstrengung versucht hatte zurückzudrängen? Scham, Demütigung, Hilflosigkeit? Gefühle steuerten viele Handlungen – führten auch zu Mord.

Maren Nissen drückte die Wahlwiederholung. »Geh ran, geh ran, geh ran!« Ein verzweifelter Seufzer folgte.

Haie sah, dass sie zitterte.

»Ich fahre in die Firma!« Maren Nissen rannte aus der Küche, griff nach dem Autoschlüssel, der auf dem kleinen Sideboard im Flur lag.

»Warte«, rief Haie, »ich komme mit.«

Maren Nissen erwiderte nichts, wirkte abwesend, wie in einer Gedankenspirale gefangen. Er sprang keuchend auf den Beifahrersitz, ehe sie Gas gab und mit durchdrehenden Reifen von der Auffahrt schoss. Haies Blick wanderte zur Seite und im selben Augenblick fragte er sich, ob es eine gute Idee war, dass er hier neben Maren Nissen saß. Bekam sie von ihrer Umwelt überhaupt etwas mit? An die Geschwindigkeitsbegrenzung im Dorf hielt sie sich jedenfalls nicht. Verschwommen huschten die Häuser entlang der Dorfstraße an der Seitenscheibe vorbei.

Haie tastete nach seinem Telefon, fingerte es aus seiner Jackentasche und wählte Dirks Nummer.

»Haie, momentan ist wirklich ganz schlecht«, meldete sich sein Freund.

»Nee, Dirk, es ist ganz wichtig. Ich fahre gerade mit Maren Nissen in die Firma von Johannes Petersen. Sie glaubt, ihr Mann habe etwas mit dem Mord zu tun.« Haie bemerkte, wie Maren Nissen neben ihm zusammenzuckte, als er aussprach, was vermutlich in ihrem Kopf vor sich ging.

»Was? Nee, also …« Er hörte, wie Dirk seufzte. »Gut, wir treffen uns da, aber du unternimmst nichts, bis ich vor Ort bin.«

»Soll ich nicht …?

»Nein, Haie, warte auf mich. Verstanden?«

*

Dirk Thamsen beendete das Telefonat. Er betrat das an das Clubhaus angrenzende Gebäude und sah, wie ein Kollege von der Spurensicherung von einem offen stehenden Bag-Schrank zurücktrat.

»Auf den ersten Blick erscheint mir der Inhalt normal für solch ein Schließfach.« Er drehte sich zu dem Golfbag um, einer Ballröhre und einer Tasche, in der sich Schuhe und Regenzeug befanden. »Außer das hier vielleicht.« Er reichte ihm einen Spurensicherungsbeutel. Dirk strich das Plastik glatt, um den Inhalt besser betrachten zu können.

»Ein Schuldschein?«

Der Kollege im weißen Overall wog den Kopf. »Steht auf jeden Fall Petersens Name drauf.«

Das schon, dachte Dirk bei sich, aber wer bewahrte so etwas in einem Schrank voller Golfschläger auf? »Okay, ich muss los.« Er reichte den Schuldschein zurück. »Schickt ihr den Bericht an mich?«

Der weiße Schutzanzug raschelte, als sein Kollege nickte.