Friesengroll - Sandra Dünschede - E-Book

Friesengroll E-Book

Sandra Dünschede

4,8

Beschreibung

Eigentlich wollte Dirk Thamsen bei seinem Klassentreffen in Niebüll nur einen fröhlichen Abend im Kreis früherer Schulkameraden verbringen und von der Polizeiarbeit abschalten. Doch die holt ihn schneller ein als erwartet: Die ehemalige Deutschlehrerin Rita Hansen liegt erdrosselt auf der Damentoilette. Thamsen ist erschüttert, leitet aber sogleich eine Ermittlung in die Wege. Schon am nächsten Morgen gibt es einen weiteren Toten. Um den Fall zu lösen, muss Thamsen, unterstützt von seinem Freund Haie, tief in die Vergangenheit eintauchen.

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Sandra Dünschede

Friesengroll

Ein Fall für Thamsen & Co.

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Kilometer 151 (2017), Friesennebel (2017), Kofferfund (2016),

Friesenmilch (2016), Knochentanz (2015), Friesenschrei (2015),

Friesenlüge (2014), Friesenkinder (2013), Nordfeuer (2012),

Todeswatt (2010), Friesenrache (2009), Solomord (2008),

Nordmord (2007), Deichgrab (2006)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Dominika Sobecki

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Matauw/fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5616-9

Widmung

Für Bernadett, Anna, Greti und Jonas, die mittlerweile zu wahren Nordlichtern geworden sind.

1. Kapitel

Einladung zum Treffen anlässlich des 40-jährigen Abi-Jubiläums

Hallo, ihr Jubilare!!!

Unglaublich, aber wahr: Es ist jetzt ziemlich genau 40 Jahre her, dass wir das Abitur gemacht haben.

Genau das wollen wir feiern – mit einem gemeinsamen Stufentreffen am 03.09.2011, ab 19.30 Uhr im legendären »Friesenkrug«.

Den meisten wird das Lokal noch bestens bekannt sein. Schließlich haben wir dort bisher jedes Treffen veranstaltet.

Eingeladen sind die Abiturienten des Jahres 1971!

Genauso willkommen sind natürlich alle Ehemaligen der Stufe sowie alle Lehrer!

Damit wir die Reservierung planen können, bitten wir um eine kurze Mail bis zum 20.08.2011, ob ihr kommt oder nicht.

Ebenso könnt ihr auch Fragen oder Anregungen senden. Wir freuen uns auf eure Nachricht.

Informiert uns bitte, wenn ihr eine neue E-Mail-Adresse habt oder wenn ihr wisst, dass jemand anderer eine neue hat!

Wir freuen uns auf eine rege Teilnahme.

 

Anja Struck, Markus Lorenz und Ingrid Boldt

 

Dirk Thamsen las zum wiederholten Mal die Nachricht seiner ehemaligen Mitschüler. Er freute sich bereits seit Erhalt dieser Mail auf das geplante Abi-Treffen, wenngleich es ihm sein Älterwerden mehr als deutlich vor Augen hielt. 40 Jahre – meine Güte, wie schnell waren die vergangen. Irgendwie hatte er das gar nicht mitbekommen, jedenfalls kam es ihm so vor. Die Zeit schien gerast zu sein.

Natürlich war in der Zwischenzeit eine Menge geschehen – er hatte eine Ausbildung gemacht und sich mittlerweile zum Dienststellenleiter der Polizei in Niebüll hochgearbeitet, geheiratet, eine Familie gegründet, sich scheiden lassen, noch zwei Kinder mit Dörte bekommen, seiner jetzigen Lebenspartnerin. So gesehen hatte er viel geschafft und erlebt.

Anne und Timo, seine Kinder aus erster Ehe, waren mittlerweile so gut wie erwachsen; allein daran konnte er sehen, wie die Zeit verging. Dennoch fühlte er sich aufgrund seiner beiden Nachzügler Lotta und Hanno wie ein junger Vater, obwohl er in zwei Jahren bereits seinen 60. Geburtstag feiern würde.

Thamsen seufzte, schloss die Mail und fuhr den Computer herunter.

Es wurde Zeit, sich fertig zu machen. Duschen, anziehen, von der Familie verabschieden. Dies sollte der erste Abend seit Langem sein, den er für sich allein hatte. Der erste freie Abend wohlgemerkt, denn beruflich war Dirk oft abends und nachts unterwegs.

Das Abi-Treffen war etwas Besonderes – auch in dieser Hinsicht.

Er stand auf und ging ins Bad, das, gelinde gesagt, einem Schlachtfeld glich. Dörte hatte die Kinder gebadet, die den Raum dabei komplett unter Wasser gesetzt hatten. Vorsichtig tapste er durch die Lachen, um nicht auf den Fliesen auszurutschen, und hörte dabei die aufgeregten Kinderstimmen aus dem Wohnzimmer, wo Dörte mit Lotta und Hanno über die Dauer der Fernsehzeit diskutierte. Erst wenn der Apparat lief, würde sie einen Augenblick zum Durchatmen finden.

Thamsen duschte kurz und trat dann vor den Spiegel, wischte den Wasserdampf mit der feuchten Hand weg und warf einen Blick auf sich selbst. Forschend betrachtete er sein Gesicht, das die 40 Jahre aus der Einladung zu bestätigen schien. Schnell griff er zur Zahnbürste, putzte sich die Zähne, ehe er sich die Haare föhnte und anschließend etwas Aftershave auflegte.

Nackt sprang er über den Flur ins Schlafzimmer und schlüpfte in die bereitgelegten Klamotten. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel und er eilte ins Wohnzimmer, um den Kindern einen Gutenachtkuss zu geben und sich von Dörte zu verabschieden.

»Ui, du siehst aber schnittig aus«, bemerkte sie. »Hast du etwas Größeres vor?«

»Na, du kennst das doch – auf seine ehemaligen Schulkameraden will man einen guten Eindruck machen.«

»Kameraden? Warst du auf einer reinen Bubenschule?« Dörte zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Nee, die gab es zu meiner Zeit nicht mehr. So alt bin ich doch noch nicht!« Dirk grinste schief, dabei wusste er genau, worauf Dörte hinauswollte. Sie fragte sich bestimmt, ob Iris – Thamsens Exfrau – auch zu dem Treffen kommen würde. Schließlich waren er und Iris schon zur Schulzeit ein Paar gewesen und hatten, gleich nachdem Dirk die Polizeischule absolviert hatte, geheiratet.

»Nee«, entgegnete Dörte, »siehst noch ganz knackig aus. Verdreh den Mädels auf der Feier bloß nicht den Kopf.«

Thamsen seufzte innerlich. Dörte wollte nicht weiter auf das Thema eingehen, dennoch stellte es ein Problem dar, für dessen Analyse Dirk jedoch keine Zeit blieb. Schnell gab er ihr einen Kuss und flüsterte: »Vielleicht bist du später noch wach.« Er zwinkerte ihr zu, obwohl er wusste, dass Dörte vermutlich tief und fest schlafen würde, es sei denn, Hanno hatte wieder Albträume oder Lotta Bauchweh.

»Na, sieh schon zu, dass du loskommst.« Dörte schubste Dirk in Richtung Flur, und er griff sich dort seine Jacke vom Garderobenhaken und nahm seine Autoschlüssel.

»Tschüss, ihr Lieben«, rief er beim Verlassen des Hauses, war gedanklich allerdings bereits beim Abi-Treffen, noch ehe die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Wer wohl heute Abend alles kommen würde? Klaus und Marion hatte er bereits gestern kurz in der Stadt gesehen. Zwar waren einige Ehemalige in der näheren Umgebung geblieben so wie er, aber etliche hatte es auch weiter weg verschlagen.

Renate zum Beispiel und Lina. Ach, Lina, dachte er und fragte sich, ob sie kommen würde.

Die Rothaarige war damals der Schwarm sämtlicher Jungen auf dem Gymnasium gewesen. Auch Thamsen hatte auf die rassige junge Frau gestanden. Schnell warf er einen Blick in den Rückspiegel. Ähnlich wie er dürften sich die anderen verändert haben. Beim letzten Treffen vor fünf Jahren hatte er nicht dabei sein können, daher war es schon zehn Jahre her, dass er die Mitschüler getroffen hatte. Zehn Jahre – was sich da alles verändern konnte. Er brauchte nur sein Leben als Beispiel zu nehmen.

Er wischte die schwitzigen Hände an seiner Hose ab und lenkte den Wagen in die Bahnhofstraße. Kurz darauf erreichte er den »Friesenkrug«. Der Parkplatz war bereits gut belegt. Ob auch normaler Betrieb herrschte oder das alles Ehemalige waren?

Dirk parkte, stieg aus und holte tief Luft, ehe er auf den Eingang zuging.

2. Kapitel

»Na, Großer, alles klar?«, begrüßte Tom seinen Sohn, als der vom Fußballspiel der E-Jugend nach Hause kam. Er hatte die abwehrenden Bewegungen Haies nicht gesehen, erkannte aber an Niklas’ Reaktion, dass seine Frage überflüssig war. Auch ohne eine Antwort konnte er erkennen, dass die Mannschaft nicht erfolgreich gewesen war.

»Ach, das wird schon«, versuchte Tom, Niklas zu trösten, der kommentarlos an ihm vorbei in sein Zimmer schlich.

»So schlimm?«, erkundigte er sich bei Haie, als der Achtjährige außer Reichweite war.

»Ach, hör mir auf«, winkte der Freund ab und ließ sich in der Küche auf einen der Stühle plumpsen. »10 : 0 – ein Desaster!«

»Aber wie kommt das denn? Bei den letzten Spielen hat seine Mannschaft doch ganz gut dagestanden.«

Haie zuckte lediglich mit den Schultern. Auch er hatte wenig Lust, über das katastrophale Spiel zu sprechen. »Ich habe Brigitte Schuhmann getroffen«, versuchte er daher, das Thema zu wechseln.

»Brigitte wer?« Tom hob die Augenbrauen. Im Gegensatz zu Haie kannte er die Leute im Dorf nicht besonders gut, obwohl er bereits einige Jahre hier lebte. Außerdem interessierten ihn die anderen nicht besonders. Haie hingegen war in Risum geboren und aufgewachsen; verständlich, dass er mit seinen 70 Jahren beinahe jeden Bewohnern beim Namen kannte. Außerdem war Haies zweiter Vorname Neugierde.

»Na, die ist mit Dirk zur Schule gegangen. Hat sich aber nicht so gut gehalten wie unser Freund«, schmunzelte Haie.

»Aha«, kommentierte Tom den Zustand der unbekannten Frau. Er wusste von dem befreundeten Kommissar, dass er ein Klassentreffen hatte, und vermutete, dass diese Brigitte deshalb in der Gegend war. Warum sonst schien das für Haie etwas Neues? »Und was hat das mit dem Spiel zu tun?«

»Ihr Neffe war bei den Niebüllern Torjäger«, verknüpfte Haie kurz beide Themen, lenkte das Gespräch dann aber wieder auf Brigitte Schuhmann. »Solch ein Treffen ist bestimmt spannend. Ich würde meine Schulkameraden auch gern einmal wiedersehen.«

»Aber die meisten wohnen doch eh hier«, kommentierte Tom Haies Wunsch.

»Schon, aber einige sind auch weg aus dem Dorf. Vor allem die Mädels, wenn sie irgendwohin geheiratet haben.« Haie hielt einen kurzen Moment inne und hing seinen Gedanken nach. Dann seufzte er, erhob sich. »Soll ich Abendbrot machen?« Für Haie eine rhetorische Frage, denn seit die beiden Freunde zusammenwohnten, war er für den Haushalt verantwortlich. Nach dem Tod von Toms Frau Marlene hatte er wie selbstverständlich diese Rolle übernommen. Tom war zu der Zeit mit Niklas und vor allem mit sich selbst mehr als überfordert gewesen. Um dem Freund unter die Arme zu greifen, war Haie zu ihm gezogen und letztendlich geblieben, denn auch nachdem es Tom wieder besser gegangen war, hatte keiner der beiden einen Auszug Haies thematisiert.

»Aber so ein Buffet wie Thamsen kriegen wir nicht«, griente er.

»Warum organisierst du nicht solch ein Klassentreffen, wenn es dir wichtig ist?«

»Ich? Wie denn?«

»Ich könnte dir helfen«, bot Tom an, der wusste, dass Haie mit Computern und Internet nichts am Hut hatte.

»Interessieren würde es mich schon.« Haie kratzte sich am Kopf. »Die Brigitte Schuhmann war auch neugierig, was so aus den Mitschülern geworden ist. Schließlich wohnt sie mittlerweile in Freiburg, hat sie erzählt, und war daher beim letzten Treffen nicht dabei.«

»Wann hattet ihr denn euer letztes Treffen?«

»Oh, ich glaube, das ist mindestens 20 Jahre her, wenn nicht länger. Einige sind mittlerweile bestimmt verstorben.« Haie brach ab und schluckte.

»Na, siehste, höchste Zeit, ein Treffen zu organisieren.«

»Meinst du? Wir haben uns nicht immer sonderlich gut verstanden. Da gab es viel Streit, Neid und Eifersucht und so.«

»Ach, das gab es bei Dirk bestimmt auch, und trotzdem treffen die sich. Außerdem ist das alles eine Ewigkeit her und längst vergessen.«

Als Dirk den Eingang erreichte, stieß er bereits auf das erste unbekannte Gesicht. Wobei »unbekannt« nicht der richtige Ausdruck war, aber er konnte dem mittlerweile ergrauten Freund aus Schulzeiten auf den ersten Blick keinen Namen zuordnen. Dieser ihm hingegen schon, was Thamsen ein wenig verlegen machte, weil er auf die herzliche Begrüßung »Mensch, Dirk, altes Haus!« nicht angemessen reagieren konnte. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er den Mann, der die Arme ausgebreitet hatte und auf ihn zutrat.

Erst als Dirk ein intensiver Aftershave-Geruch in die Nase stach, wusste er, dass es sich bei seinem Gegenüber nur um Heiko Nissen handeln konnte. Diesen Duft hatte er damals schon benutzt – sehr zum Leidwesen seiner Mitschüler, die regelmäßig in der Duftwolke Atemprobleme bekamen. Auch jetzt verspürte Thamsen ein Kratzen im Hals und löste sich flink aus der Umarmung. »Mensch, Heiko, wie geht es dir? Habe dich beinahe nicht erkannt.«

Der andere verzog beleidigt das Gesicht, grinste dann aber schnell.

»Tja, hättest halt nicht gedacht, dass aus mir mal ein seriöser Mensch wird, was?« Er klopfte Thamsen auf die Schulter und stieß ihn dabei in Richtung Eingang. »Komm, es sind schon etliche Leute da. Bist spät dran. Dachte immer, bei der Polizei lernt man Pünktlichkeit.«

Dirk verkniff sich eine Antwort und lächelte lediglich. Heiko war schon immer ein Provokateur gewesen, daran hatten auch die grauen Haare und der Bauchansatz nichts geändert. Er folgte dem Schulkameraden durch den Flur in den Saal, den man für die Abi-Feier angemietet hatte. Die Organisatoren hatten sich ordentlich Mühe gegeben und den Raum mit Luftschlangen und Ballons geschmückt. Fast wie früher auf Klassenfeten, fuhr es Dirk durch den Kopf, und er fühlte sich augenblicklich in eine andere Welt versetzt.

Selbst Jens stand an der Musikanlage. Der ehemalige Mitschüler hatte bereits damals ein Faible fürs Plattenauflegen gehabt und, soweit Dirk wusste, sein Hobby zum Beruf gemacht. Seine beinahe 60 Jahre sah man Jens nicht an, der eine enge Röhrenjeans und Turnschuhe sowie ein T-Shirt unter einer schwarzen Lederjacke trug. Tja, seufzte Dirk gedanklich, wer seinen Traum lebt, scheint jung zu bleiben.

Was war eigentlich aus seinen eigenen Träumen geworden? Ehe er dazu kam, darüber nachzusinnen und womöglich in Depressionen zu verfallen, stürmte eine Frau auf ihn zu.

»Oh, super, dass du gekommen bist!« Anja Struck fiel Thamsen regelrecht um den Hals, was ihn ein wenig verwunderte, da sie zu Schulzeiten eigentlich weniger miteinander zu tun gehabt hatten. Später hatte er Anja ab und an in der Stadt getroffen, wenn sie ihre Eltern besuchte. Aber selbst dann waren es nie so innige Begegnungen gewesen wie jetzt, was wohl an der allgemeinen Stimmung lag, die in der Luft hing. Die Wiedersehensfreude war förmlich greifbar, und Thamsen fühlte sich wie zu Schulzeiten.

»Ja, ich bin froh, dass ich es diesmal geschafft habe. Aber letztes Mal mit der Kleinen …« Er zog entschuldigend die Schultern in die Höhe. »Du weißt, wie das ist.«

Augenblicklich lief ein Schatten über Anjas Gesicht. »Ich habe keine Kinder«, entgegnete sie leise.

»Oh«, entfuhr es Dirk und er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Er wusste, was für ein sensibles Thema das war. Nicht zuletzt von seinem Freund Haie, der auch gern Kinder gehabt hätte, dem es aber nicht vergönnt gewesen war, Vater zu werden.

»Wen hast du von den anderen noch entdeckt?«, meinte er daher. Er wollte das unangenehme Fahrwasser schnell verlassen.

»Komm«, Anja zog ihn am Ärmel mit sich. Sie schien froh, nicht weiter über das Kinderthema sprechen zu müssen, und steuerte schnurstracks auf eine Gruppe Männer und Frauen zu.

»Seht mal, wen ich hier habe«, kündigte sie Thamsen an, sodass alle die Gespräche unterbrachen und ihre Augen auf ihn richteten.

»Die Polizei, dein Freund und Helfer«, entfuhr es sofort einem kleinen Mann mit Brille.

Thamsen ließ auch diese Bemerkung unkommentiert und begrüßte stattdessen jeden in der Runde mit Handschlag. Die Konstellation ähnelte sehr der zu Schulzeiten, und als Dirk sich nach der Begrüßung im Saal umschaute, bemerkte er, dass auch andere Ehemalige sich wie früher gruppiert hatten. Die »Coolen«, die Sportfreaks und natürlich die Außenseitergruppe, zu der nach wie vor Jürgen Böhm, Lars Carstensen sowie auch Wiebke Bahnsen gehörten. Schnell wandte sich Thamsen seiner Gruppe und den Gesprächen über das bisherige Leben sowie über ehemalige gemeinsame Erlebnisse zu. Er amüsierte sich gut und merkte gar nicht, wie die Zeit verging.

Überrascht zuckte er daher zusammen, als mit einem Gongschlag verkündet wurde, dass das Buffet eröffnet sei. Schnell hatte sich eine lange Schlange gebildet, in die Dirk sich gemeinsam mit Hauke Iwers einreihte, mit dem er damals zusammen in der Fußballmannschaft der Schule gespielt hatte.

»Und kickst du noch?«

»Nee.« Thamsen schüttelte den Kopf. »Habe das Joggen für mich entdeckt. Nur leider bleibt da oft nicht die Zeit zu. Job, Familie – kennst du vielleicht.«

Hauke nickte, entgegnete dann aber, dass man sich die Zeit nehmen müsse, wobei er nach einem vorgewärmten Teller griff.

Sich die Zeit nehmen, dachte Dirk, wenn das immer so einfach wäre. Manchmal hatte er das Gefühl, gar keine Zeit zu haben. Jeder zerrte an ihm: die Vorgesetzten, die Mitarbeiter, Dörte, die Kinder. Dabei hatte Hauke recht. Wenn Dirk nicht versuchte, sich etwas Zeit für sich zu nehmen, blieb er womöglich irgendwann auf der Strecke. Das sah man an seinen Träumen, aus denen auch so gut wie nichts geworden war.

Er nahm sich einen großen Löffel Nudelsalat, dazu ein paar Frikadellen, und folgte dem Schulkameraden an einen der Tische.

»Ich habe gehört, ihr hattet in der letzten Zeit einige Mordfälle hier aufzuklären?« Hauke blickte ihn über den Tisch hinweg an. Dirk nickte lediglich, da er sich gerade eines der Fleischbällchen in den Mund gestopft hatte. Sein Blick fiel dabei auf den Teller des anderen, auf dem sich ausschließlich Gemüse befand.

»Vegetarier?« Dirk war schließlich nicht gekommen, um über seine Arbeit zu sprechen. Er war privat hier. Auch wenn andere seinen Job für interessant und spannend hielten, es gab im Leben noch anderes außer Verbrechen. Wenngleich es Thamsen manchmal nicht so erschien.

»Veganer. Schon seit fünf Jahren. Fühlt sich für mich einfach besser an.« Hauke schob sich eine Gabel mit gedämpftem Brokkoli in den Mund.

Bei dem Stichwort »vegan« erinnerte sich Thamsen an einen seiner letzten Fälle, und er versuchte erneut, das Thema zu wechseln. Ganz so leicht ließ sich der Arbeitsalltag nicht abschütteln. »Ist toll, wie viele gekommen sind.«

»Hätte ich auch nicht gedacht, obwohl, viele sind von hier oben nicht wirklich weggekommen.« Haukes Blick fiel auf Dirk. »Sind sogar ein paar ehemalige Lehrer hier.«

»Echt?« Instinktiv drehte sich Thamsen in alle Richtungen und ließ seinen Blick über die Gäste schweifen, konnte aber keinen der alten Pauker entdecken.

»Den Schmidt habe ich gesehen und die Hansen.« Hauke schob sich eine Gabel voll Salat in den Mund.

»Na, ihr beiden, darf ich?« Lina Roth stand mit einem Teller in der Hand an ihrem Tisch und schaute die beiden fragend an. Wie zu Schulzeiten waren die Männer in Gegenwart der rothaarigen Frau befangen und nickten lediglich.

Die ist noch schärfer geworden, fuhr es Thamsen durch den Kopf, der die ehemalige Mitschülerin lange nicht gesehen hatte.

»Was machst du? Wo lebst du jetzt?«, wagte er zu fragen.

»Och, dies und das. Momentan bin ich in London. Habe da eine kleine Agentur.«

London, sinnierte Thamsen, wie gern wäre er auch einmal ins Ausland gegangen, und nach dem Abi hatte er auch kurz darüber nachgedacht. Bis sein Vater ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass das für ihn so gar nicht infrage kam.

»Agentur?«, hakte Hauke nach.

»Ich habe einige Schauspieler unter Vertrag und etliche Models.«

Die beiden machten große Augen. Das hörte sich glamourös an, nach einer Welt, die sich völlig von ihrer unterschied.

Lina sah das anders. »Ich freue mich dermaßen einmal wieder hier zu sein. Wie ich das alles vermisst habe!«

»Vermisst? Was?«, rutschte es Thamsen raus.

Lina, die sich inzwischen gesetzt und erste Happen in den Mund geschoben hatte, hielt inne und drehte sich zu ihm. Dabei zog ihm der Duft ihres blumigen Parfüms in die Nase.

»Die Landschaft, die Leute, das Klima – allein die Luft. Du ahnst nicht, wie sehr ich die würzige Meeresbrise vermisst habe. In London kann man manchmal gar nicht atmen vor lauter Abgasen. Und dann diese Ruhe hier – herrlich.«

»Na ja«, bemerkte Hauke, »mir persönlich ist das beinahe zu ruhig.«

Wie zum Trotz durchschnitt ein spitzer Schrei die Luft. Augenblicklich fuhren alle Köpfe zum Eingang des Saals herum, wo Brigitte Schuhmann leichenblass im Türrahmen stand. Sie musste sich abstützen und schien einer Ohnmacht nah zu sein. Dennoch schaffte sie es, die Stille, die sich nach ihrem Schrei ausgebreitet hatte, noch einmal zu durchbrechen. »Frau … Frau Hansen ist tot!«

3. Kapitel

Nachdem sich die erste Starre unter den Anwesenden gelöst hatte und der von Brigitte Schuhmann geäußerte Satz ins Bewusstsein der Feiernden gedrungen war, breitete sich rasch eine Unruhe im Raum aus. Erste Stimmen wurden laut und formten sich zu einer Art Summen in Thamsens Ohren, dessen Härchen sich bereits beim Anblick der blassen Mitschülerin aufgestellt hatten. Er hatte sofort geahnt, dass etwas Schreckliches geschehen war.

Er bahnte sich einen Weg zur Tür und trat auf Brigitte zu, fasste sie am Arm. Er spürte ihr Zittern und stützte sie, während er sie zu einem der nahe gelegenen Tische führte, wo er sie sanft auf einen Stuhl drückte.

»Wo?«, flüsterte er dann.

Brigitte Schuhmann musste dreimal schlucken, ehe sie ihm antworten konnte. »Auf dem Damenklo.«

Er nickte und wandte sich dann an eine andere Schulkameradin. »Bleib bei ihr«, ordnete er an, ehe er den Raum Richtung Sanitäranlagen verließ.

Durch den Schrei angezogen, stand bereits der Inhaber des Gasthofes im Türrahmen der Damentoilette und stierte auf den gekachelten Boden.

Thamsen warf einen Blick über die Schulter des Mannes und erblickte seine ehemalige Deutschlehrerin auf dem Fliesenboden. Das grelle Neonlicht der Toilette ließ sie aschfahl aussehen, ihre Augen waren weit aufgerissen und um ihren Hals befand sich ein buntes Seidentuch – stramm zugezogen.

Er schob den Inhaber der Gaststätte zur Seite, trat auf die Frau zu und kniete sich neben sie. Der Körper fühlte sich warm an, als er seinen Finger nach dem Puls tastend auf den Hals legte. Der Todeszeitpunkt konnte noch nicht allzu lang zurückliegen. Und dass sie tot war, ließ nicht nur ihr Anblick, sondern auch das Fehlen eines Herzschlags vermuten – soweit Thamsen das beurteilen konnte, doch er war kein Arzt. Er drehte sich zu dem Restaurantbesitzer um. »Beherrschen Sie Herz-Lungen-Wiederbelebung?«

Der bleiche Mann reagierte mit einem Kopfnicken.

»Dann schnell, übernehmen Sie das hier«, wies Thamsen an, während er sich erhob und zeitgleich sein Handy aus der Hosentasche fischte.

»Einen Rettungswagen in den ›Friesenkrug‹, wobei, wahrscheinlich reicht es, wenn der Notarzt kommt, denn die Frau hat keinen Puls«, erklärte er kurz, nachdem er den Notruf gewählt hatte. Anschließend informierte er die Kollegen der Kripo in Husum. »Wie es aussieht, haben wir einen ungewöhnlichen Todesfall, und da ein Kapitalverbrechen nicht ausgeschlossen werden kann …«

Er wurde von seinem Gesprächspartner unterbrochen.

»Was?« Thamsen spürte, wie Ärger in ihm aufkeimte und er zu schwitzen begann. »Ist das euer Ernst?«

Ohne ein weiteres Wort drückte er die Taste, die das Gespräch beendete, und wählte anschließend die Nummer der Spurensicherung in Kiel.

»Ich brauche ein Team in Niebüll, das einen Tatort sichert. Wir haben einen Leichenfund.« Obwohl er sich bisher mit der Arbeit allein sah, sprach er bereits im Plural, denn auf seinen Mitarbeiter Ansgar Rolfs würde Verlass sein. Das wusste er, als er dessen Nummer wählte.

»Chef, was ist los? Ich denke, du bist auf der Abiturfeier?«

»Bin ich auch, aber ich brauche dich hier. Wir haben einen Leichenfund.«

»Was?« Rolfs stockte kurz, ehe er wie erwartet entgegnete: »Na klar, ich komme sofort.«

Nachdem Thamsen die Telefonate beendet hatte, blickte er auf den Lokalinhaber, der nach wie vor mit der Reanimation beschäftigt war, die er aber merklich unmotiviert ausführte. Kein Wunder, denn nicht zuletzt durch seine Telefonate hatte Dirk mehr als deutlich klargestellt, dass er glaubte, die Frau sei nicht mehr zu retten. Nur – ohne die Bestätigung eines Arztes durften sie die Hilfsmaßnahmen nicht beenden.

»Machen Sie bitte weiter.«

Der Inhaber schaute ihn mit großen Augen an, nickte dann aber, während Thamsen sich zum Gehen wandte. Aus Richtung Saal sah Dirk Hauke Iwers den Gang entlangkommen. »Was ist los? Die Hansen ist doch nicht wirklich …?«

Thamsen unterbrach den Freund durch ein Kopfnicken und schloss die Tür zur Damentoilette hinter sich. »Ich muss hier erst einmal die Stellung halten, damit niemand den Tatort betritt, bis der Notarzt und die Kollegen eintreffen. Könntest du«, er machte eine Kopfbewegung in Richtung Feier, »dafür sorgen, dass niemand den Saal verlässt und möglichst nicht miteinander gesprochen wird?«

Hauke wich bei jedem Wort von Dirk mehr und mehr Farbe aus dem Gesicht. »Klar, mach ich«, würgte er schließlich hervor und eilte davon.

Thamsen seufzte. So hatte er sich sein Abi-Treffen wirklich nicht vorgestellt. Er hatte doch frei, und nun solch ein Mist, schoss es ihm kurz durch den Kopf, ehe er wieder in seine Arbeitsroutine verfiel, die Tür öffnete und die leblose Frau Hansen betrachtete, die nach wie vor vom Restaurantbesitzer reanimiert wurde. Dirk ging von einem Mord aus, auch wenn er die Untersuchung des Arztes und vermutlich auch die des Rechtsmediziners abwarten musste. Das Tuch um den Hals war zu eng gebunden, als dass Frau Hansen es selbst zugezogen hätte, und wies für ihn deshalb zweifellos auf ein Verbrechen hin.

Sein Blick schweifte erneut über das blasse Gesicht, über das sich der Helfer regelmäßig beugte. Vermutlich wurde eine bläuliche Verfärbung durch das Neonlicht aufgehoben.

Dirk konnte nicht behaupten, die Frau gern gemocht zu haben. In der Schule hatte sie ihn und seine Mitschüler mit Grammatik genervt und langweilige Texte lesen lassen. Bis heute hatte sich bei ihm keine Begeisterung fürs Lesen eingestellt, und unbewusst gab er Frau Hansen dafür die Schuld.

Aber wer hatte solch einen Hass auf die alte Lehrerin gehabt, dass er sie umbrachte? War es überhaupt einer aus dem Jahrgang gewesen? Gedanklich ging er einige Gesichter durch, die er an diesem Abend wahrgenommen hatte, als er Schritte hörte.

»Hier nicht …«, begann er seinen Satz, aber da sah er bereits Ansgar Rolfs auf sich zukommen. Dass der sich beeilt hatte, war mehr als deutlich zu sehen, denn die Haare standen wirr von seinem Kopf ab, und der sonst immer tadellose Auftritt des Neunundzwanzigjährigen wirkte durch die unbedachte Klamottenwahl aus dem Bild geraten. Das war Thamsen in diesem Moment allerdings egal. »Gut, dass du da bist. Kannst du hier die Stellung halten, bis der Notarzt kommt?«

»Die Spusi ist schon benachrichtigt?«

»Na klar.«

Rolfs nickte, stellte sich neben Dirk und warf einen Blick in den Raum. »Oh«, entfuhr es ihm, als er die Tote entdeckte. »Sieht nach Mord aus.«

»Ich weiß«, erwiderte Dirk und klopfte Ansgar auf die Schultern. »Mit einer langen Nacht hatte ich gerechnet, aber nicht so. Ich schaue mal, was drinnen los ist. Das sind alles potenzielle Zeugen.«

»Geht klar, Chef.« Ansgar betrat den Toilettenraum und löste den völlig erschöpften Restaurantbesitzer bei der Wiederbelebung ab.

Während Thamsen zum Saal ging, hörte er bereits das Martinshorn. Na endlich, dachte er und öffnete die Tür zum Feiersaal.

Drinnen herrschte eine beklemmende Atmosphäre. Die ehemaligen Kameraden standen verteilt im Raum und flüsterten miteinander. Als Dirk den Saal betrat, wurde es schlagartig still. Alle Augen richteten sich auf ihn. Neugierig, ängstlich, fragend.

Thamsen räusperte sich. Er hatte einen dicken Kloß im Hals. »Ja, also, ihr habt ja bereits mitbekommen, dass es einen Vorfall auf dem Damenklo gab …«

»Einen Vorfall!«, kreischte eine der Mitschülerinnen in der Mitte des Saals. Die Panik in ihrer Stimme war geradezu greifbar. »Frau Hansen ist tot!«

Sofort erhob sich ein Stimmenmeer – leise, aber anschwellend. Thamsen versuchte, die Welle mit einer beschwichtigenden Handbewegung im Zaum zu halten. Auf keinen Fall durfte die Menge vor ihm panisch werden. Was sie jetzt brauchten, war Ruhe und ein kühler Kopf.

Doch die ehemaligen Mitschüler redeten sich geradezu in Rage. Überall wurde gemutmaßt, wer die Deutschlehrerin auf dem Gewissen haben könnte.

»Leute«, versuchte Dirk es verbal, aber auch diese Ansage fruchtete nicht.

Kurzentschlossen griff er sich einen Stapel Teller und warf diesen mit Wucht auf den Boden. Der scheppernde Lärm ließ die Meute zusammenzucken, aber es herrschte anschließend endlich wieder Ruhe.

Alle starrten Dirk und den Scherbenhaufen vor ihm an.

»Es ist wichtig, dass ihr alle möglichst ruhig bleibt und wenig miteinander redet. Noch wissen wir nicht, was passiert ist, aber es ist mein Job, das herauszufinden, nicht euer!«

Er sah, wie einige der Ehemaligen mit den Schultern zuckten, aber aus den meisten Gesichtern schien ihm Respekt entgegenzublicken. Zumindest traute sich keiner, etwas zu sagen. »Mein Kollege und ich werden euch gleich der Reihe nach einzeln befragen.«

»Sind wir jetzt alle verdächtig oder was?«, tönte es aus der Menge, und Dirk glaubte auszumachen, dass es Sönke Lürsen war, der gesprochen hatte. Der war schon immer recht vorlaut, ging es Thamsen durch den Kopf.

»Natürlich nicht, aber ihr seid alles potenzielle Zeugen.«

Die meisten nickten, einige starrten ihn weiter an.

Er wies noch einmal darauf hin, möglichst nicht miteinander zu sprechen, zumindest nicht über das Geschehen. Doch er wusste selbst, wie aussichtslos das Unterfangen war. Sobald er den Raum verließ, würden die Spekulationen losgehen. Ein wenig verstehen konnte er seine ehemaligen Mitschüler, denn der Tod der Hansen war auch für ihn ein Schock, wenngleich er mit Leichen und Mordfällen berufsbedingt eher in Berührung kam. Dieser Fall war jedoch anders. Er hatte Frau Hansen gekannt. Da lag einem solch ein Verbrechen gleich doppelt so schwer im Magen. Wer hatte die alte Lehrerin ermordet und warum? Ehe er dieser Frage nachgehen konnte, musste geklärt werden, ob es sich tatsächlich um einen Mord handelte.

Dirk verließ den Raum und eilte zum Tatort, wo inzwischen der Notarzt eingetroffen war. Dr. Seiler hatte die Untersuchungen abgeschlossen und lediglich den Tod der Frau bestätigen können. »Ich bin zwar kein Rechtsmediziner, aber das kann ich euch auch sagen, dass die erdrosselt worden ist.«

»Und eine Selbststrangulierung ist auszuschließen?«, hakte Ansgar nach, woraufhin der Notarzt die rechte Augenbraue hochzog.

»Du willst mich verarschen, oder? Na klar kann man das ausschließen, denn wenn die sich selbst erhängt hätte, würde die wohl noch hängen. Das sagt ja schon das Wort.«

»Na, vielleicht hat Brigitte sie …«, überlegte Thamsen laut. »Die werde ich als Erste befragen. Ansgar, hast du in Kiel in der Rechtsmedizin Bescheid gegeben und den Leichenwagen angefordert?«

»Klar, Chef.«

Thamsen wusste, dass auf die Arbeitsweise seines Kollegen Verlass war, aber manchmal konnte er nicht aus seiner Haut. Besonders nicht in diesem Fall. »Gut, dann bringe ich die Kripo in Husum auf den neuesten Stand, und du wartest hier auf die Spusi. Anschließend kannst du mich bei den Befragungen unterstützen.«

Rolfs nickte. »Das wird eine lange Nacht.«

»Oh ja«, seufzte Thamsen.

4. Kapitel

Haie war am Sonntag früh auf den Beinen. Sein Harndrang hatte ihn wie immer gegen 6.00 Uhr aus dem Bett getrieben. Und da er meistens danach nicht mehr einschlafen konnte, bereitete er das Frühstück vor, auch wenn die beiden anderen Männer im Haus noch lange nicht aufstehen würden. Niklas hatte sich, seit er zur Schule ging, zu einem wahren Langschläfer entwickelt – zumindest das musste er von Tom geerbt haben, denn ansonsten glich der Junge mehr und mehr seiner verstorbenen Mutter; nicht nur vom Aussehen her, sondern auch in seinem Wesen. Wahrscheinlich liebte Haie den Jungen deshalb mehr als alles andere auf der Welt – half Niklas ihm doch, den Schmerz über den Verlust der Freundin Stück für Stück zu schmälern, wenngleich er nie ganz vergehen würde. Selbst nach den vielen Jahren, die seit ihrem gewaltsamen Tod vergangen waren, spürte Haie eine schmerzhafte Lücke in seinem Leben.

Er schlurfte in die Küche und machte sich als Erstes an der Kaffeemaschine zu schaffen. Als das gurgelnde Geräusch des Geräts erklang, begann er, den Tisch zu decken. Marmelade, Honig, Nutella, Brettchen und Besteck, den Käse und den Aufschnitt würde er erst später auftun, das verdarb ansonsten, bis die beiden Langschläfer zum Frühstück erschienen.

Aber Brot kann ich schon mal aufschneiden, dachte Haie und ging in die Speisekammer. Er tastete nach dem Lichtschalter, und als die Lampe aufflammte, griff er gezielt zum Brotkasten und schob den Deckel hoch. Sein Gehirn konnte das Bild, das seine Augen ihm sendeten, zunächst nicht verarbeiten. Der Behälter war leer.

Siedend heiß fiel ihm ein, dass er gestern noch ein Brot hatte kaufen wollen. Dann aber hatte Niklas vor dem Fußballspiel getrödelt, sodass keine Zeit mehr geblieben war, nach Lindholm zu fahren, und nach der Niederlage hatte er es schlichtweg vergessen. Macht nichts, schmunzelte er über sich selbst. Fahr ich halt gleich noch zur »Bäckerpost«. Sein Blick wanderte zum Küchenfenster hinaus in den Hof, wo bereits die Sonne schien.

Bisschen Frühsport schadet nicht, motivierte er sich zusätzlich.

Er klappte den Brotkasten zu, ging zurück in sein Zimmer und holte sich etwas zum Anziehen. Anschließend machte er sich im Bad zurecht, und nach einer Tasse Kaffee schwang er sich auf sein E-Bike. Seit einiger Zeit benutzte er kein anderes mehr.

Das alte neongelbe Mountainbike, das ihm jahrelang gute Dienste geleistet hatte, stand noch im Schuppen, denn Haie konnte sich einfach nicht durchringen, sich davon zu trennen. Aber seine Wahl war in der letzten Zeit immer häufiger auf das motorisierte Fahrrad gefallen, und seit einigen Monaten fuhr er nur noch dieses.

Er kam zügig voran, fuhr über die Steege, wo er zu dieser Uhrzeit so gut wie keiner Menschenseele begegnete. Er liebte diese Ruhe auf dem Land, wenngleich er wusste, dass die auch öde werden konnte. An solch einem strahlend sonnigen Morgen genoss er es, die Landschaft für sich allein zu haben, und ruckzuck hatte er die Dorfstraße und schließlich auch die »Bäckerpost« erreicht.

Dort war es mit der Ruhe vorbei.

»Dat gift dat doch wohl nich«, war das Erste, was Haie dem Stimmengewirr entnehmen konnte, das ihm entgegenschlug, als er in den bereits gut besuchten Bäckerladen eintrat.

Vor dem kleinen Tresen hatte sich eine Traube aus Menschen gebildet, die allesamt mit dem Kopf schüttelten.

»Na, wat gift dat denn nich?«, fragte Haie schmunzelnd in die Runde, da er wusste, wie schnell hier im Dorf oftmals aus einer Mücke ein Elefant gemacht wurde.

Ein Mann, etwas jünger als er, drehte sich um und schaute ihn ungläubig an. »Hest noch nich hört? De Hansen ist dot.«

»De Hansen? Dot?« Haie runzelte die Stirn.

»Welke Hansen? Die vun Oke die Fruu oder die Schwester vun Margit?«

»Nee, die ole Deutschlehrerin vun de Gymnasium.«

»Wat?«

Das überraschte Haie in der Tat, denn er hatte die drahtige ältere Frau ab und an in Niebüll beim Einkaufen getroffen und den Eindruck gehabt, sie sei recht fit.

»Und wie?« Er schluckte, da ihm wieder einmal bewusst wurde, wie nah die Einschläge mittlerweile kamen. Er war nicht mehr der Jüngste, ihn konnte es auch jeden Tag treffen.

Die Antwort jedoch machte ihm nicht nur bewusst, dass er mit der Einschätzung des Gesundheitszustandes der Deutschlehrerin recht hatte, sondern auch, dass dies hier kein so friedlicher Landstrich war, wie man immer annahm. Das Dorf und die Gegend wirkten idyllisch – doch das täuschte. »Erdrosselt? Nee, nä?«

Die anderen Kunden der »Bäckerpost« nickten bestätigend, während der Mann, der Haie eben informiert hatte, fortfuhr: »Mein Bruder hat mich gestern von seinem Klassentreffen aus angerufen, und …«

»Moment, dem Treffen im ›Friesenkrug‹?«, unterbrach Haie den anderen, da ihm sofort die Abi-Feier des Freundes einfiel.

»Genau, auf der Feier im ›Friesenkrug‹. Da haben sie die Hansen auf der Toilette gefunden. Angeblich mit einem Tuch erdrosselt.«

»Und weiß man Näheres?«

Haies Gegenüber zuckte mit den Schultern und verstärkte damit die Anspannung, die im Raum herrschte. Lief der oder die Mörderin womöglich noch frei herum?

»Na ja«, entfuhr es da einer rundlichen Frau aus der Menge, »dat wird schon seinen Grund gehabt haben.«

»Martha!«, rief daraufhin ein anderer Kunde, was die Angesprochene wenig interessierte.

»Is doch so, als Lehrerin war die doch nicht beliebt, oder?«

Langsam schwoll das Stimmengewirr wieder an und wilde Spekulationen wurden laut. Haie schnappte nach Luft. Sein Hals fühlte sich verengt an, er musste hier raus. Eilig verließ er den Bäckerladen und atmete draußen tief durch.