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Griffin lebt zurückgezogen in der Wildnis von Alaska und schätzt die Einsamkeit, die er dort findet. Menschen waren noch nie sein Ding und verleiten ihn schnell zu Dummheiten. Als er widerstrebend eine Touristentour für seinen Onkel übernehmen muss, lernt er den attraktiven River kennen, der eine ganz eigene Versuchung für Griffin darstellt. Und je länger die beiden Männer gemeinsam unterwegs sind, desto weniger können sie die gegenseitige Anziehung ignorieren. Doch River ist auf der Flucht vor sich selbst und kann es sich eigentlich nicht leisten, stehen zu bleiben und sich seinen Problemen zu stellen. Vielleicht ist Griffin aber auch die eine Chance, die ihn retten kann…
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Seitenzahl: 520
Deutsche Erstausgabe (ePub) März 2020
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2019 by Annabeth Albert
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Arctic Sun«
Published by Arrangement with Annabeth Albert
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2020 by Cursed Verlag
Inh. Julia Schwenk
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit
Genehmigung des Verlages.
Bildrechte Umschlagillustration
vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock
Satz & Layout: Cursed Verlag
Covergestaltung: Hannelore Nistor
Druckerei: CPI Deutschland
Lektorat: Anne Sommerfeld
ISBN-13: 978-3-95823-811-4
Besuchen Sie uns im Internet:
www.cursed-verlag.de
Aus dem Englischen von Vanessa Tockner
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Euer Cursed-Team
Klappentext:
Griffin lebt zurückgezogen in der Wildnis von Alaska und schätzt die Einsamkeit, die er dort findet. Menschen waren noch nie sein Ding und verleiten ihn schnell zu Dummheiten. Als er widerstrebend eine Touristentour für seinen Onkel übernehmen muss, lernt er den attraktiven River kennen, der eine ganz eigene Versuchung für Griffin darstellt. Und je länger die beiden Männer gemeinsam unterwegs sind, desto weniger können sie die gegenseitige Anziehung ignorieren. Doch River ist auf der Flucht vor sich selbst und kann es sich eigentlich nicht leisten, stehen zu bleiben und sich seinen Problemen zu stellen. Vielleicht ist Griffin aber auch die eine Chance, die ihn retten kann…
Danksagung
Ein großes Dankeschön an meine Agentin Deidre Knight, die von meinem ersten aufgeregten Geschwafel an an dieses Projekt geglaubt hat, und an Carina Press, weil sie ihm ein hervorragendes Zuhause gegeben hat. Ich liebe das ganze Team von Carina Press, vor allem meine Lektorin Deb Nemeth, die immer den richtigen Weg findet, um mich tiefer graben, stärker polieren und den Kern der Geschichte suchen zu lassen. Ich schätze sie so sehr. Und der Rest des Teams ist auch ziemlich großartig – danke an das Art Department für meine fabelhaften Cover und das hart arbeitende PR-Team sowie all diejenigen hinter den Kulissen und im Management.
Dieses Buch würde ohne meine großartigen Autorenfreunde nicht existieren. Ich bin so dankbar für die Bemühungen des Camp NaNoWriMo im Juli, als meine Hütte mich mit ihrer Liebe, ihrer Unterstützung und ihrer Begeisterung versorgt hat. Erin McLellan und Karen Kiely haben mich mit großartigem Alaska-Wissen und wertvollem Feedback versorgt. Edie Danford, Karen Stivali und ein sehr wertvoller, anonymer Leser waren auch wundervolle Betas. Wendy Qualls ist mein Plotting-Kumpel und Layla Reyne hält mich bei Verstand, indem sie Sprints und Freundschaften schreibt. An all meine Schreibfreunde, ich danke euch so sehr, dass ihr da wart. Ich kann euch nicht alle aufzählen, aber ihr bereichert mein Leben so sehr. Danke, dass ihr mir eure Zeit, Weisheit und Freundschaft geschenkt habt.
Außerdem habe ich die besten Leser der Welt. Meine Lesergruppe, Annabeth's Angels auf Facebook, bringt Freude in mein Leben, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Vielen Dank an all meine Leser auf der ganzen Welt. Jede Erwähnung, jedes Teilen, jeder Like, jeder Retweet, Wort des Monats, jeder Kauf, jede Anmerkung und andere Unterstützung bedeutet mir die Welt. Vielen Dank an dich, liebe*r Leser*in, dass du dieser neuen Reihe eine Chance gibst und mit mir auf ein Abenteuer gehst!
Und schließlich danke ich meinen Freunden und meiner Familie, die mich lieben und bedingungslos zu mir halten. Ich kann das alles nur euretwegen tun.
»Ich soll was für dich tun?« Griffin blinzelte langsam. Er war es nicht gewohnt, wie ein kaputtes Spornrad eines Flugzeugfahrwerks aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden, aber etwas in dem Tonfall seiner Mutter sorgte dafür, dass er sich gegen eine harte Landung wappnete. Ihr Erscheinen im Hangar war auf keinen Fall ein gutes Zeichen.
»Du bist unsere beste Hoffnung, Griff.« Seine Mutter lehnte sich an ein ausgemustertes de Havilland-Flugzeug, das schon bessere Jahrzehnte gesehen hatte. Sorgenfalten furchten ihr normalerweise glattes Gesicht und ließen sie älter, zerbrechlicher wirken.
»Das klingt wie aus einem schlechten Actionfilm«, tadelte er, wenn auch nur, um sie zum Lächeln zu bringen.
»Ich meine es ernst. Die Ärzte sagen, Onkel Roger darf diesen Ausflug auf keinen Fall unternehmen. Seine Knie-OP ist am Dienstag in Anchorage und sie wollen nicht, dass er die Verletzung durch die Verspätung noch schlimmer macht. Ich würde es ja selbst machen, aber das ist unsere stressigste Zeit im Jahr...«
»Und du wirst hier gebraucht. Ich verstehe.« Er konnte bereits sehen, worauf das hinauslief. Seine Mutter führte den Geschäftsteil des Tourismus- und Transportunternehmens der Familie und war zwar selbst eine fähige Pilotin und Fahrerin, fühlte sich mit ihrer Buchhaltungssoftware und der Kundenbetreuung aber weitaus wohler. »Aber was ist mit Toby? Er würde diese Gelegenheit lieben.«
Er legte weit mehr Enthusiasmus in seine Stimme als sonst. Ihr freiheitsliebender Pilot und Reiseführer war unglaublich beliebt bei jedem außer Griffin, der glücklichen Leuten einfach nicht traute. Allerdings hatte er nicht gelogen. Toby würde die Chance lieben, in den nächsten zehn Tagen Touristen zu den Nationalparks zu befördern, ihnen zu helfen, tolle Landschaften für Fotos zu finden, und dafür zu sorgen, dass sie auf ihre Kosten kamen.
»Toby ist schon gebucht.« Seine Mutter warf ihren langen, mit silbernen Strähnen durchzogenen Zopf zurück. »Glaub mir, ich hab mich zuerst an ihn gewandt. Und ich dachte, wir hätten Clancy als Ersatz, aber bei seiner Frau ist es in zwei Wochen so weit. Er hat heute beschlossen, dass er es nicht riskieren will, die Geburt zu verpassen. Ich wusste, dass du Nein sagen würdest.«
»Ich sage nicht Nein.« Er sagte auch nicht Ja, aber das fügte er nicht hinzu. Sie wussten beide, dass Griffin anders als Toby, der offenbar sehr gefragt war, in der nächsten Woche nur für einige lokale Transporte und Frachtsachen gebucht war. Er musste sich nur selten mit Touristen herumschlagen und hatte das auch lieber. Eigentlich hatte er vorgehabt, viel Zeit mit diesem Cessna-Motor zu verbringen, an dem er bastelte, konnte aber bereits sehen, wie diese Pläne davontrieben wie Steine auf dem Tustumena Lake. »Aber warum könnt ihr die Tour nicht verlegen? Schließlich kommen sie, um Onkel Roger zu sehen.«
Sein Onkel war ein gefeierter Tierfotograf, dessen persönliche Touren bei den Öko-Touristen, die Unsummen zahlten, um mit ihm durch das Hinterland zu wandern, außergewöhnlich beliebt waren. Toby wäre wenigstens charmant genug gewesen, um die Abwesenheit seines Onkels wiedergutzumachen. Und selbst Clancy, einer ihrer anderen Piloten, war sympathischer als Griffin, der null Verlangen hatte, andere zu unterhalten, egal, wie gut sie zahlten.
»Du verkaufst dich unter Wert.« Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Du bist ein großartiger Fotograf, ein exzellenter Reiseführer und diese Gruppe besteht vor allem aus Neulingen – sie werden sich über jede Unterstützung freuen. Wir konnten vier der Teilnehmer umbuchen, die lieber auf Onkel Roger warten wollen, aber fünf kommen trotzdem. Es ist heute. Wir können es uns nicht leisten, ihnen alles zu erstatten und ihren Groll auf uns zu ziehen, weil alles in letzter Minute abgesagt wurde.«
»Natürlich nicht.« Er wischte sich die Hände an einem Lappen ab. Der letzte Teil war ein Schlag unter die Gürtellinie. Griffin wusste genau, warum die Finanzen für seine Mutter und das Unternehmen knapp waren. Und sie weigerte sich zwar standhaft, sich das Geld von ihm zurückzahlen zu lassen, aber er würde es trotzdem auf keinen Fall noch schlimmer machen, indem er ihr eine neue Schuldenlast aufbürdete.
»Das sind über zehntausend pro Kopf. Und ich soll dir von Roger ausrichten, dass er dir seinen ganzen Anteil überlässt. Das sollte ein schönes Stück zur Hütte beitragen, oder?« Sie lächelte ermutigend. Denn diese verwirrende Frau würde natürlich nicht nur Griffins Geld ausschlagen, sondern ihn auch bei seinen Plänen unterstützen, sich selbst ein kleines Stück Land zu kaufen.
Seit er nach Alaska zurückgekehrt war, hatte er es sich zum Ziel gesetzt, ein eigenes Haus zu besitzen. Nicht, dass er besonders viel dagegen hatte, zu Hause in der kleinen Hütte zu wohnen, die seine Großeltern früher genutzt hatten, aber nach seiner Zeit beim Militär schätzte er Zeit für sich und Privatsphäre sehr. Und sie hatte nicht unrecht – Rogers Anteil würde eine Menge zu dem Gesparten beitragen, mit dem er letztendlich die Anzahlung leisten würde.
»Schätze, ich fange besser mit Packen an.« Er seufzte, denn er hatte schon von dem Moment an, als sie hereingekommen und die Bitte ausgesprochen hatte, gewusst, dass es so enden würde. Man sagte einfach nicht Nein zu Annie Barrett. »Ist es wenigstens eine dieser Freundesgruppen oder eine Familie?«
Die waren immer einfacher – eine Gruppe, die sich schon kannte und Griffin nicht brauchte, um das Eis zu brechen. Ja, er schaffte es selbst kaum, gesellig zu sein, geschweige denn, andere dazu zu animieren.
»Äh. Nein.« Seine Mutter kratzte sich an der Schläfe und Furcht breitete sich in seinem Magen aus. Was auch immer als Nächstes kam, es würde ihm nicht gefallen. »Zwei verheiratete Paare, keine Freunde. Eins kommt aus Europa. Aus den Niederlanden, glaube ich. Und dann ist da das Supermodel.« Den letzten Teil murmelte sie und Griffin musste sich anstrengen, um sie zu hören.
»Supermodel? Im Ernst?« Oh Gott, das Letzte, was er gebrauchen konnte, war irgendein albernes Prinzesschen in High Heels, das sich vor Bären fürchtete und das Nachtleben der Großstadt vermisste. »Ich dachte, diese Mädchen reisen normalerweise im Rudel. Warum reist sie alleine?«
»Er«, korrigierte seine Mutter. »Ein männliches Supermodel. Dieser Kerl, du weißt schon, der das Buch geschrieben hat? Professional Nomad? Sie machen einen Film daraus. Er ist eine Sensation.«
»Ich wette, das ist er.« Das wurde ja immer schlimmer. Ein männliches Supermodel trug vielleicht keine High Heels, aber er würde trotzdem nicht auf die Elemente oder rauere Gegenden vorbereitet sein, da war Griffin sicher. Und er hatte nur eine vage Erinnerung an das Buch – hatte vermutlich in einer der Talkshows davon gehört, die seine Schwestern gerne anschauten –, aber er wusste jetzt schon, dass er den Autor nicht mögen würde. Diese schwammigen, spirituellen Selbstfindungsmemoiren sprachen Griffin überhaupt nicht an. Er hatte sich schon gefunden. Genau hier hatte er immer hingehört. Er brauchte kein großes Abenteuer für reiche Leute, um ihm zu zeigen, was er immer gewusst hatte – dass sein Platz auf der Welt genau hier war.
»Sei nett.« Seine Mutter berührte seinen Arm, sanft, aber fest. »Er zahlt. Ich bin sicher, dass er wenigstens sehr... interessant ist.«
»Ich habe gesagt, dass ich es tue. Aber es muss mir nicht gefallen.« Griffin widerstand dem Drang, die Berührung abzuschütteln. Sie meinte es nur gut und er liebte sie, aber die Gesellschaft dieses Supermodels würde er auf keinen Fall genießen. »Wie lange noch, bis wir nach Anchorage fahren?«
»Drei Stunden. Onkel Roger kommt mit – so kann er die Gäste treffen, dich vorstellen und dann bis zur Operation in Anchorage bleiben. Ich habe für euch beide Zimmer gebucht.«
»Du warst so sicher, dass ich Ja sagen würde, hm?« Er sah sich um, um sicherzugehen, dass er kein allzu großes Chaos zurückließ. Dieser Motor würde vorerst warten müssen.
»Vielleicht.« Ein kleines Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. Sie wirkte wieder jünger und außerdem ziemlich selbstzufrieden. »Möglicherweise hab ich auch eine Tasche für dich auf mein Sofa gelegt.«
»Mom.«
»Und vergiss deinen Gehstock nicht – das Letzte, was wir gebrauchen können, ist, dass du dich dort draußen verletzt.«
»Ich nehme ihn mit.« Sinnlos, mit ihr zu diskutieren, wenn er sehr gut wusste, dass sein schlimmer Fuß den Stock irgendwann in den nächsten zehn Tagen brauchen würde. Zehn. Verdammte. Tage. Großer Gott, was hatte er sich da eingebrockt?
Das fragte er sich auch ein paar Stunden später noch, als er die Lobby des Hotels in der Innenstadt von Anchorage betrat, wo sie die Touristengruppen oft trafen. Der Hinflug von ihrer winzigen Stadt auf der Kenai-Halbinsel hatte ereignislose fünfundvierzig Minuten gedauert – er flog die Strecke so oft, dass er ziemlich sicher war, auch mit verbundenen Augen auf der Lake Hood Seaplane Base landen zu können. Er hatte den Flug damit verbracht, seinen Onkel über die Details der Reise auszufragen. Seine Mutter hatte mehr als genug Unterlagen für ihn ausgedruckt und das war nicht gerade Griffins erste Begegnung mit Touristen, aber es konnte nie schaden, gut vorbereitet zu sein. Sie hatten den Kleinbus abgeholt, den Griffin den Großteil der Reise über fahren würde, und es dann gerade rechtzeitig zum Hotel geschafft, um die Kunden zu begrüßen. Oh, seine Mom hatte sie Gäste genannt, aber eigentlich half es Griffin, sie in Gedanken als das zu benennen, was sie waren – dicke Dollarzeichen, die für ihn und den Rest seiner Familie einen Unterschied machten.
Das Unternehmen nutzte dieses moderne Hotel in einem Hochhaus gerne als Ausgangspunkt für Reisen, da Kunden immer überrascht zu sein schienen, in Alaska solchen Luxus vorzufinden, und es bot einen netten Kontrast zu den spartanischeren Unterkünften, die später folgen würden. Das riesige, mehrstöckige Atrium war geschmackvoll in Grün- und Brauntönen gehalten und etwa so weit von Griffins Vision einer perfekten kleinen Hütte mitten im Nirgendwo entfernt, wie es nur ging. All die hohen Decken und Metalldekorationen ließen sein Auge zucken.
Ein Concierge, der Onkel Roger nach all der Zusammenarbeit vom Sehen kannte, half ihnen, einen Willkommenstisch mit einem Schild ihres Firmenlogos aufzustellen. Fast sofort kamen zwei Frauen mittleren Alters zu ihnen herüber, um einzuchecken, und machten mit ihrem niederländischen Akzent viel Aufhebens um Onkel Rogers Krücken und seine Verletzung. Griffin sah sofort, dass sie ein Paar waren – die identischen roten Pullover waren sein erster Hinweis, ebenso wie die doppelten, mit Bindestrich verbundenen Nachnamen. Aber seine Aufmerksamkeit wurde schnell von einem... Wesen abgelenkt, das sich von einem der übergroßen Ledersessel mitten in der Lobby erhob.
Es dauerte einen Moment, bis er das Geschlecht als höchstwahrscheinlich männlich eingeordnet hatte, so abgelenkt war er von den längsten Beinen, die er je gesehen hatte und die in einer dunkelvioletten, hautengen Jeans steckten. Leuchtend blaue Haare umrahmten ein überraschend engelsgleiches und jugendliches Gesicht mit einem ebenso unerwarteten kantigen Kiefer, den nur ein Hauch Stoppeln zierte. Eine Lederjacke, die vermutlich mehr gekostet hatte als der Motor, an dem Griffin zuvor gearbeitet hatte, lag über einem T-Shirt, das irgendeine Band bewarb, von der er nie gehört hatte. Bitte mach, dass das nicht...
Griffin konnte das Gebet nicht beenden, bevor die elegante Person zu ihrem Tisch schlenderte.
»River Vale«, verkündete eine melodische Stimme. Ein Hauch von New York, gerade genug von diesem Beiklang, der immer etwas mit Griffins Innerem anstellte. Er war nicht sicher, warum er so von musikalischen Stimmen angezogen war, und das war die denkbar schlechteste Zeit für seine mit Absicht tiefgefrorene Libido, um ihn daran zu erinnern, was ihm gefiel. Seine Vorlieben waren hier nicht relevant – er musste sich darauf konzentrieren, wie wenig River zu ihrem zehntätigen Marsch passte.
Designerkleidung. Schmale Figur. Feine Lederschuhe, die besser zu einer Nacht in Clubs passten als zu Aktivitäten im Freien. Pflegeintensive Haare. Üppiges Aftershave mit Blumenduft. Eine Hose, die so eng war, dass Griffin sich während langer Autofahrten ernsthafte Sorgen um den Blutfluss machen würde. Alles an River schrie nach Ärger – die Art Ärger, die Griffin absolut nicht gebrauchen konnte.
***
Der Bergmann starrte River finster an. Der ältere Kerl neben ihm war derjenige, der überall auf der Website abgebildet war – der bekannte Fotograf Roger Barrett –, mit einem zerfurchten Gesicht, das auf ein langes Leben in der Sonne hindeutete. Er lächelte River an, schüttelte seine Hand und erzählte ihm, dass seine Schwägerin und Nichten große Fans seines Buchs waren. Aber es war gar nicht der alte Kerl, der Rivers Aufmerksamkeit anzog. Nein, die war reserviert für Mr. Groß, Dunkel und Mürrisch, der Rogers positive Meinung von River offensichtlich nicht teilte, aber großer Gott, der Mann ließ all die Gerüchte darüber, dass Berge und frische Luft überdurchschnittlich große Menschen hervorbrachten, wahr erscheinen.
Er sah auch wie ein Bergmann aus – zottelige, braune Haare, die Haut auf eine Art gebräunt, für die Rivers Freunde gutes Geld bezahlen würden, haselnussbraune Augen, die ihn an den grünbraunen Stein einer Moschee erinnerten, die er in Istanbul besucht hatte. Und Muskeln ohne Ende. Große, breite Schultern, die den Stoff seines Jeanshemds spannten, Oberschenkel wie Baumstämme und dieser finstere Blick. Das war ein Kerl, der mühelos einen Sheriff in einem alten Westernfilm spielen könnte. Oder vielleicht einen Revolverhelden...
»Ja?«
River brauchte eine Sekunde, um zu merken, dass Roger ihm eine Frage gestellt hatte, während er noch damit beschäftigt gewesen war, mit Sheriff Mürrisch in den Sonnenuntergang zu reiten. Wahrscheinlich hatte er mehr als einmal gefragt, den tiefer werdenden Linien um seine Augen nach zu schließen.
»Äh. Entschuldigen Sie. Der Jetlag.« River wedelte mit der Hand, aber keiner der Männer lächelte.
»Ich hatte gefragt, ob Sie schon gegessen haben. Normalerweise isst die Gruppe hier im Hotelrestaurant zu Abend. Es ist eine Gelegenheit, um sich vor der Abfahrt morgen früh kennenzulernen.«
»Essen klingt gut«, log River. Der Alarm seines Handys hatte ihn vorhin erinnert, dass es Essenszeit war, also würde er essen und das soziale Umfeld würde nett sein. Er genoss es immer, neue Leute kennenzulernen.
»Wunderbar. Mein Neffe Griffin Barrett hier hat ein paar Verzichtserklärungen, die Sie unterzeichnen müssen, bevor wir beginnen.«
Griffin. Der Name passte perfekt zu dem Mann, der ganz maskulin und überlebensgroß und ein wenig schroff war... Und wieder rutschte River in seine Fantasien ab. Er war gerade eben in Mailand gewesen und hatte das mit dem Jetlag ernst gemeint – inzwischen war er schon seit vierundzwanzig Stunden unterwegs und hatte in den Flugzeugen nur ein paar Nickerchen gemacht. Er wusste, dass auf der Reisewebsite empfohlen wurde, einige Tage früher anzureisen, um sich an die Zeitverschiebung zu gewöhnen, aber River hatte sich zur Präsentation der Modekollektion einer Freundin in Mailand zeigen müssen und die Zeit nicht erübrigen können.
Griffins finsterer Blick ließ ihn allerdings wünschen, dass er der Empfehlung gefolgt wäre – sowohl, um die geistige Kapazität für den Papierkram zu haben, als auch, weil Griffin ein Kerl war, den man nicht gerne enttäuschte. Er kümmerte sich schnell um den Papierkram – er hatte genug Gruppenreisen mitgemacht, um den Wortlaut erraten zu können. Tödliche Risiken, nicht verantwortlich, bla bla bla. Rivers Vater, der Firmenanwalt, würde darüber schaudern, wie schnell River den Haftungsausschluss unterzeichnete, aber sein Vater war nicht hier, um ihn anzufunkeln.
Nein, dieses Privileg gehörte ganz Griffin, der es schaffte, River das Gefühl zu geben, als wäre er ein lästiges Insekt. Was seltsam war, denn normalerweise liebten die Leute ihn. Er verstand sich mit jedem. Das war ein großer Teil dessen, was seine Reisen so erfolgreich machte – er konnte fast überall Freunde finden.
»Sagen Sie mir, dass Sie bessere Schuhe mitgebracht haben.« Selbst Griffins Stimme war supermaskulin, ganz schwer und tief, mit der Langsamkeit und den bewussten Pausen, die River mit den westlichen Bundesstaaten assoziierte.
»Ich habe angemessene Kleidung mitgebracht.« River gelang es gerade so, nicht über den Kerl die Augen zu verdrehen. Das war vielleicht sein erstes Mal in Alaska, aber er hatte Reisen überall auf der Welt überlebt. Ein wenig Tundra würde ihn nicht kleinkriegen. »Ich sehe nur gerne schick aus, wenn ich fliege. Dann ist der Service besser, wissen Sie?«
Griffins hochgezogene Augenbraue sagte, dass er es bestimmt nicht wusste, und River musste seufzen. Der Bergmann hatte vermutlich noch nie ein Upgrade auf die erste Klasse erhalten. Obwohl River ihn nach einem Blick auf diese Schenkel sofort an die Spitze der Schlange gesetzt hätte.
Ein weiteres Paar gesellte sich zu den Frauen aus den Niederlanden, die am Tisch gestanden hatten, als River herangekommen war. Der Mann und die Frau waren beide Ärzte aus Kansas City, die ihren Ruhestand feierten. Sie gehörten zu der Sorte ernster, übereifriger Amerikaner, die River überall auf der Welt getroffen hatte, die Sorte, die man schon aus einer Meile Entfernung als Touristen erkannte, aber deren Freundlichkeit die peinlichen Ausrutscher wiedergutmachte. Sie mussten natürlich ein Foto mit Roger machen und alles über die bevorstehende Operation hören, während sich die Gruppe langsam vom Willkommenstisch zum Hotelrestaurant bewegte.
River hatte die E-Mails über Rogers Sturz und die darauffolgenden Bemühungen der Firma, einen Ersatzführer zu finden, bekommen. Sie hatten angeboten, ihn auf eine andere Reise umzubuchen, aber River stand unter einem gewissen Zeitdruck. Er musste seine Abenteuer in der nordamerikanischen Wildnis abhaken, damit er diese Kapitel schreiben konnte, bevor im Herbst der Wirbelsturm an Aktivitäten zur Filmpremiere losging. Da ein so großer Teil seines ersten Buches auf Reisen im Mittleren Osten und Asien konzentriert gewesen war, wollte sein Verleger, dass sich die Fortsetzung eher um diese Hemisphäre drehte und darum, dass er sich näher zu Hause fand.
Was etwas lustig war, denn River hatte kein Zuhause, wollte kein Zuhause und würde auch kein Zuhause bekommen. Er hatte eine kleine Lagereinheit mit Kleidung für die jeweils andere Jahreszeit, Wertsachen bei seinem Dad und eine endlose Auswahl an Freunden, bei denen er unterkommen konnte, wenn er einsam wurde. Aber er vertraute seinem Redakteur, was sich verkaufen würde – und die Filmrechte für sein Buch waren bereits an den Meistbietenden versteigert worden, daher musste er das Ding verdammt noch mal zu Ende bringen. Außerdem erwarteten alle seine Social Media-Follower Fotos von Bären und so. Die würde er nicht enttäuschen. Und wenn dieser Griffin der Ersatzführer war, dann war er alles andere als enttäuscht, da er wenigstens eine hervorragende Aussicht bekam, auch wenn es an jedem Tag der Reise regnete.
Natürlich wäre es leichter, wenn Griffin nicht so fest entschlossen schien, River nicht zu mögen.
»Ist das alles, was Sie essen?« Griffin sah Rivers Tomatensuppe mit der Art Missbilligung an, die River normalerweise für einen Fleck auf seinem T-Shirt reservierte. Er war auf dem Platz neben River gelandet und der unzufriedene Blick, als er sich gesetzt hatte, war ihm nicht entgangen.
»Jepp.« Er hatte vor langer Zeit gelernt, sich nicht dafür zu entschuldigen, was er aß. Außerdem war Suppe nach einem Flug wunderbar – heiß, versorgte den Körper mit Flüssigkeit und sättigte. Es spielte keine Rolle, dass Griffin und der restliche Tisch Steak und Burger und auf verschiedene Arten gekochte Kartoffeln verputzte. Vor einigen Jahren hätte ihm die Nähe all dieser Kohlenhydrate jeglichen Appetit verdorben, den er für die Suppe aufgebracht hätte. Aber jetzt waren sie nur ein kleines Ärgernis, eins, das er ebenso wie Griffins Wut leicht ignorieren konnte.
»Sind Sie Veganer? In den Papieren meiner Mom stand nichts von Ernährungsbeschränkungen.« Griffin sah River weiterhin stirnrunzelnd an.
»Ich habe keine Ernährungsbeschränkungen.«Genau genommen war das keine Lüge. In dem Film war seine Figur ein echter Feinschmecker, was River auf die schlimmste Art und Weise ironisch fand. Niemand reiste so viel wie er, ohne die lokale Küche zu testen, aber es war mit Sicherheit nichts, das ihm leichtfiel. Essen bedeutete Kalorien und gelegentlich nettes Instagram-Futter, aber es zu feiern, war wohl kaum Rivers Auffassung von Spaß.
»Gut.« Griffin nickte, dann senkte er die Stimme. »Hören Sie mal, meine Mom hat Ihnen eine Umbuchung angeboten, richtig?«
»Jepp. Kein Interesse. Ich brauche diese Reise.« River konnte ebenso entschieden sein wie der Bergmann, wenn er es wollte.
»Sie müssen sich auf sehr rustikale Unterkünfte...«
»Ich war höchstpersönlich in Sibirien. Und Tibet. Und an ein paar Orten, von denen Sie vermutlich noch nie gehört haben.« Normalerweise war River nicht so bissig, aber der Jetlag hatte seinen Kopf fest im Griff. »Ich habe im Freien gecampt. Ich habe geschwitzt. Ich bin gewandert. Ich. Bin. Bereit.«
»Wenn Sie sicher sind.« Griffin verzog nicht einmal das Gesicht über Rivers schlechte Stimmung. »Ich will nur nicht, dass Sie sich verletzen. Oder enttäuscht sind.«
Der letzte Teil wäre fast lieb gewesen, wenn Griffin nicht ausgesehen hätte, als wären zehn Tage mit River schlimmer, als unter einem Elefanten zerquetscht zu werden.
»Das wird nicht passieren.« Und da er wirklich nicht die ganze Reise lang feindselig sein wollte, fügte er ein Lächeln hinzu. Ein Lächeln von der Art, das die Leute normalerweise auf seine Seite zog, nachdem sie miteinander scherzten und sich anfreundeten. Aber jetzt bewirkte es nur, dass Griffin schnell wegsah.
Teufel aber auch. Das würden lange zehn Tage werden. Sogar mit Griffin als Augenschmaus und der Aussicht auf Wunder der Natur zählte River bereits die Stunden bis zu seinem nächsten Abenteuer.
Griffin würde sich nicht von einem bloßen Lächeln einwickeln lassen. Das würde er nicht. Er war sechsunddreißig Jahre alt, nicht sechzehn. Und es spielte keine Rolle, dass Rivers flutlichthelles Grinsen strahlend weiße Zähne und zwei Grübchen auf beiden Seiten seiner vollen Lippen enthüllte, die einen wesentlichen Teil dazu beitragen mussten, dass er als Model ein solcher Hit war. Griffin sah weg, denn er würde sich nicht von River bezirzen lassen. Er hatte einen Job zu erledigen und würde es auch tun, aber er würde nicht den Fehler begehen, ihn auch zu genießen.
»Lernen wir uns etwas besser kennen«, sagte sein Onkel am anderen Ende des Tischs. Griffin unterdrückte ein Stöhnen. Er hatte gewusst, dass Eisbrecher zum Plan des Abends gehörten, und verstand auch warum, aber das musste ihm ebenso wenig gefallen wie Rivers Lächeln. Trotzdem nickte er, während sein Onkel an sein Wasserglas tippte, um die Aufmerksamkeit der niederländischen Frauen zu bekommen, die in ein Gespräch vertieft waren. »Wie wäre es mit einer freundschaftlichen Runde Wahrheit und Lüge?«
»Oh, wie spannend!« Die Ärztin, die Melanie hieß, tätschelte den Arm ihres Mannes. Sie war offenbar Kinderärztin gewesen und ihr Mann Urologe. Griffin hatte bereits genug über ihre Lebensgeschichte erfahren, da Melanie, die Plaudertasche, scheinbar nicht anders konnte, als sich mitzuteilen.
»Gut, gut.« Onkel Roger rieb sich die Hände. »Würden Sie gleich beginnen?«
»Mal sehen...« Melanie leckte sich die blassen Lippen. Griffin sollte vermutlich über seine eigenen Antworten nachdenken, war jedoch zu beschäftigt damit, sich vorzustellen, welche lächerlichen Dinge River mit ihnen teilen würde, wenn er an der Reihe war. Schließlich lächelte Melanie. »Ich habe vier Kinder, ich hasse Mais, ich habe einmal vor dem Parlament gesprochen und ich habe gerade meine erste Kamera in fünfzehn Jahren gekauft.«
»Hmm.« Eine der niederländischen Frauen sprach als Erste. »Das mit der Kamera ist die Lüge, nicht?«
»Nein.« Melanie grinste. »Neues Leben, neue Dinge zum Ausprobieren, richtig?« Ihr Blick richtete sich besonders auf River. »Ist das nicht, was Sie in Ihrem Buch schreiben, Mr. Vale?«
Wunderbar. River hatte Fans. Griffin unterdrückte ein Seufzen.
»River, bitte.« Sein Lachen war ebenso melodisch wie seine Stimme. »Und ja, ein Neustart tut uns allen gut. Gut für dich, dass du etwas Neues probierst. Hast du eine Spiegelreflex?«
»Ja. Eine Nikon.« Melanie lächelte stolz. »Wer möchte noch raten?«
»Du hast keine vier Kinder.« River zwinkerte ihr zu. »Niemals. Nicht genug Sorgenfalten und du hast mir noch keine Fotos von Enkeln gezeigt.«
Oh, er war charmant und Griffin musste sich erinnern, dass sein gelassenes Lächeln vermutlich über ein Jahrzehnt oder länger vor der Kamera poliert worden war.
»Du hast recht. Ich habe drei. Und hier ist unser erster Enkelsohn.« Melanie rief ein Foto auf ihrem Handy auf, bei dem der ganze Tisch Ooh und Aah machte. »Wie wäre es jetzt mit unserem geheimnisvollen Ersatz-Reiseführer?«
Griffin hatte gehofft, mehr Zeit zu bekommen, und warf seinem Onkel einen vielsagenden Blick zu, aber Onkel Roger schenkte ihm lediglich ein ermutigendes Lächeln, das dem seiner Mutter heute Vormittag in nichts nachstand. Die beiden waren sich wirklich zu ähnlich. Und zu gut darin, Griffin zu Dingen zu überreden.
Er nahm einen tiefen Atemzug, während er schnell überlegte. Halt es leicht. Diese Leute zahlten nicht, um irgendwelche tiefsinnigen Wahrheiten über ihn zu erfahren. »Ich liebe Elchfleisch, ich liebe neue Haarschnitte, ich habe erst vor ein paar Stunden erfahren, dass ich mit euch allen reisen werde.« Das löste Gelächter aus, wie er erwartet hatte, und hielt hoffentlich die Erwartungen niedrig. »Und ich habe in der Air Force gedient.«
Daraufhin murmelten alle am Tisch – die Art Dankbarkeit für seinen Dienst, bei der Griffin nie wusste, wie er damit umgehen sollte. Melanies Mann Dan hatte offenbar einen Bruder, der ebenfalls diente, daher riet er, dass das eine Wahrheit war. Dann musterte ihn die andere niederländische Frau, deren Name Griffin sich wirklich merken sollte, kritisch und brachte ihre Vermutung vor.
»Du liebst neue Haarschnitte nicht«, verkündete sie.
»Erwischt.« Griffin zeigte etwas, das hoffentlich als Lächeln durchging. »Wer will als Nächstes?«
»Ich.« River zeigte ein weiteres Supernova-Lächeln. »Ich habe einen Elefanten geritten, ich musste mal einen echten Kaktus auf dem Kopf tragen, ich habe sechs Piercings und ich liebe mein Einhorn-Tattoo.«
»Das Tattoo ist niemals wahr«, knurrte Griffin und vergaß, einem der Kunden den Vortritt zu lassen. »Das ist bei Models ziemlich sicher nicht erlaubt, oder?«
»Ich bin ein Rebell.« River wackelte mit den Augenbrauen. Ihrem Farbton nach zu schließen, war seine natürliche Haarfarbe braun, etwas heller als Griffins eigene Haare, was auch zu Rivers blasser Haut passen würde.
»Ein echter Kaktus?« Dan schnaubte. »Klingt schmerzhaft.«
»Das war es auch.« River ließ ein weiteres musikalisches Lachen hören.
»Dann müssen es die Piercings sein. Ich erinnere mich an das Elefantenreiten aus deinem Buch.« Melanie strahlte River an wie ein Kind, das eine gute Note erwartete.
»Jepp. Ich hab nur vier.« River sah Griffin direkt an, als er diese Neuigkeit verkündete. Griffin spannte den Kiefer an. Jetzt würde er sich die ganze Nacht lang fragen, wo diese Piercings und das Tattoo waren, und er hatte so eine Ahnung, dass das möglicherweise Rivers Ziel gewesen war. Seine Ohren waren die offensichtliche Wahl für zwei Piercings, aber wo noch? Nippel? Zunge? Er konnte es nicht gebrauchen, dass seine Gedanken in diese Richtung abdrifteten.
Aber sein Geist ignorierte ihn und grübelte weiterhin über Rivers Offenbarungen nach, während das Spiel zu der ersten niederländischen Frau weiterwanderte, deren Name offenbar Fenna war – ihre Frau war Lieke. Fenna war ein Fan von Stricken und Eisschnelllauf und hatte eine Abneigung gegen das Fliegen, während Lieke gerne zeichnete, Wasserfarben mitgebracht hatte und allergisch gegen Katzen war. Griffin lachte an den richtigen Stellen, während nacheinander alle an die Reihe kamen. Nebenbei versuchte er, nicht allzu intensiv darüber nachzudenken, wo jemand ein Einhorn-Tattoo haben könnte und warum. Das musste bedeuten, dass er bi war, oder? Und wenn ja, versuchte er dafür zu sorgen, dass Griffin das auch wusste?
Gott, er würde sich mit all diesen Fragen noch verrückt machen, obwohl nichts davon eine Rolle spielte – es war ja nicht so, als müsste er wissen, was River anmachte, und er würde auch nicht versuchen, mit ihm zu flirten, um es herauszufinden. Er war nicht Toby. Zwar war er kein kompletter Mönch, aber er achtete darauf, nie etwas mit Kunden anzufangen.
Melanies Mann hatte keine Tattoos, liebte Steak und hatte einen nach ihm benannten Enkelsohn. Ein weiteres Babyfoto wurde hervorgezaubert und Griffin machte die angemessenen Laute, obwohl die meisten Kleinkinder für ihn alle gleich aussahen.
Onkel Roger hob sein Glas und wünschte ihnen allen eine gute Reise und blieb dann noch, falls die Gruppe irgendwelche Fragen an ihn hatte. Griffin konnte sehen, dass er schnell müde wurde – der leicht verzogene Mund und die Art, wie er auf seinem Stuhl herumrutschte –, daher hielt er sich in der Nähe, als das Essen langsam ausklang. Melanie hatte alle möglichen Fragen über ihre brandneue Kamera an Onkel Roger, denn warum auch nicht?
Die niederländischen Frauen sorgten sich eher um das Dreiundzwanzig-Kilo-Limit beim Gepäck und darum, wie warm sie sich am Morgen anziehen sollten – einfache Fragen, die Griffin selbst übernehmen konnte.
»Es ist Juli. Das ist unsere wärmste Jahreszeit, aber wir sollten auf den Küstenteilen unseres Trips trotzdem Temperaturen unter siebzig Fahrenheit erleben.« Er rechnete schnell für sie nach. »Das sind wahrscheinlich um die zwanzig Grad Celsius. Weiter im Inland wird es wärmer sein, aber in den Bergen ist es nachts kühler.«
»Und bist du ein guter Fahrer?« Fenna kniff die Augen zusammen. Sie war vermutlich zehn bis zwanzig Jahre älter als er, groß, mit markanten nordischen Zügen und streng geschnittenen, blonden Haaren.
»Ich fahre schon in Alaska, seit ich vor zwanzig Jahren meinen Führerschein gemacht habe«, versicherte Griffin ihr. »Bei jedem Wetter und auf allen möglichen Straßen. Ich mache mir da keine Sorgen.«
»Ich würde ihn nicht schicken, wenn ich nicht der Meinung wäre, er wäre der Aufgabe gewachsen.« Nachdem er mit Melanie fertig war, drehte sich Onkel Roger um und klopfte ihm auf die Schulter. Griffin wünschte, er könnte die Überzeugung seines Onkels teilen. Und es war nicht das Fahren, das ihm Sorgen bereitete. Es war all die nötige soziale Interaktion, um diese Sache zu einem Erfolg zu machen – er konnte einfach nicht so gut mit Leuten umgehen und ein gewisser blauhaariger Wirbelwind brachte ihn zusätzlich aus dem Konzept.
Besagter Wirbelwind hielt gerade Hof vor Lieke und Melanie, die von Kamerafragen dazu übergegangen war, River anzuhimmeln, und ihn nach Oprah und Ellen und anderen Stars fragten. Wie zu erwarten gewesen war, hatte River Handyfotos und einen scheinbar endlosen Fundus an Geschichten.
»Meinst du, wir können uns davonschleichen?«, fragte sein Onkel flüsternd. Die Spannung in seiner Stimme verriet, dass er Schmerzen hatte, und Griffin hasste sich selbst ein wenig, weil er so erleichtert war, eine Ausrede zu haben.
»Klar. Soll ich nachsehen, ob sie an der Rezeption einen Rollstuhl haben?« Er sah zu, wie schwer sich Onkel Roger auf seine Krücken stützte, und kalkulierte im Kopf, ob es eine bessere Option wäre, ihn selbst zu stützen.
»Nein, nein. Wir gehen einfach langsam.« Sein Onkel schenkte ihm ein gequältes Lächeln.
Griffin erinnerte die Gruppe, dass er sie beim Frühstück sehen würde, bevor sie früh aufbrachen, dann führte er seinen Onkel zu den Aufzügen in der Lobby. Onkel Roger setzte sich auf eine günstig platzierte Bank, um zu warten, und Griffin erlaubte sich, den Mann zum ersten Mal seit langer Zeit richtig zu betrachten. Wann war sein Haar komplett silbern geworden? Seine Schultern so herabgesackt? Die Linien um Augen und Mund so tief? War er so sehr gealtert, während Griffin beim Militär gewesen war? Oder war es erst kürzlich passiert, als Folge eines besonders schweren Winters mit Knieproblemen, die im letzten Sturz gegipfelt hatten?
In seinem Kopf waren seine Mutter und Onkel Roger noch in den Vierzigern, in seinen Erinnerungen als die lebhaften Erwachsenen festgehalten, zu denen sein jüngeres Selbst aufgesehen hatte. Es war mehr als etwas überraschend, zu erkennen, dass sie jetzt beide über fünfundsechzig waren und er der Erwachsene, der Onkel Roger ins Bett half. Er kümmerte sich um ihn, holte Eis aus der Maschine, um einen provisorischen Kühlakku zu basteln, half ihm auf die Polster und vergewisserte sich dann, dass er die Fernbedienung hatte, um eine seiner geliebten Krimiserien anzusehen.
Als ahnte er die Richtung von Griffins Gedanken, packte Onkel Roger seine Hand. »Weißt du, ich kann nicht ewig damit weitermachen.«
»Was meinst du?« Griffin wusste nur allzu gut, wann es die beste Option war, sich dumm zu stellen.
»Ich werde dich bald für mehr als Frachtflüge brauchen. Es wird gut für dich sein, mit den Gästen rauszukommen. Wenn es gut läuft, vielleicht...«
»Wie wäre es, wenn wir zuerst das hier hinter uns bringen?«, sagte Griffin in lockerem Tonfall. »Vielleicht willst du nicht, dass ich noch mehr Reisen leite, wenn ich schreckliche Bewertungen bekomme.«
»Mach keine Witze. Die Familie braucht dich.« Sein Onkel schien fest entschlossen, ernst zu bleiben. »Es ist Zeit, dass du größere Verantwortung in der Firma übernimmst. Du kannst nicht den Rest deiner Tage nur am Rand des Lebens verbringen.«
Wart's nur ab. Griffin zuckte mit den Schultern.
»Ich meine es ernst, Griff. Du hast zu großes Talent, um nichts damit zu tun, und diese Firma ist mein Vermächtnis an dich.«
»Sei nicht dramatisch. Du wirst so gut wie neu von der OP zurückkommen.« Griffins Stimme klang zu belegt. »Du hast noch viele Jahre vor dir, in denen du Leute für eine Woche herumführen wirst. Du bist es doch, den sie sehen wollen.«
»Du könntest es auch sein. Wenn du mir je erlaubst, deine Werke zu zeigen...«
»Nicht das wieder.« Griffin wehrte diesen Angriff mit einem festen Blick ab. Er wusste, dass sein Onkel Schmerzen hatte, aber das war ein alter Streitpunkt, den er nicht wieder diskutieren würde. »Hör mal, ich tue dir diesen Gefallen, aber das ist alles. Danach werden wir sehen, was du und Mom braucht. Holly kann ihr mehr im Büro helfen und ich bringe Toby und Clancy dazu, dir mehr abzunehmen.«
Er lenkte nur ab und war eigentlich nicht bereit, den Familienbetrieb zu übernehmen – sein Onkel sollte das besser wissen als jeder andere. Es entzog sich Griffins Verständnis, warum er glaubte, ihm vertrauen zu können, obwohl Griffin nicht einmal sich selbst traute. Nein, Griffin wusste, wer er war, kannte seine Grenzen und wusste, dass sich sein Onkel in allen Punkten irrte. Er musste nur diesen Trip überstehen, dann konnte er zu seinen eigenen Plänen zurückkehren. Das Letzte, was er brauchte, waren diese Schuldgefühle und der Druck. Die nächsten zehn Tage durchzustehen, würde schon schwer genug sein, ohne dass die Zukunft des Unternehmens auf ihm lastete.
***
Es gefiel River, zu beobachten, wie Griffin mit seinem Onkel davonging – nicht nur die Rückansicht, die spektakulär war, sondern auch die überraschend fürsorgliche Seite des großen Mannes, deren Betrachtung Rivers Inneres irgendwie weich werden ließ. Das machte es ihm schwer, sich auf die Fragen der Frauen zu konzentrieren, und unterstrich, wie erschöpft er wirklich war.
Sobald er der Gruppe entkommen war, ging River in sein Zimmer hinauf. Er hatte sich selbst beigebracht, mehr oder weniger überall einzuschlafen, blieb aber nie lange weg, wenn er davor nicht schon ein paar Tage auf den Beinen gewesen war. Und nach einer Woche mit wenig Schlaf und inzwischen fast dreißig Stunden ohne mehr als einem Nickerchen war er mehr als bereit für ernsthafte Schlafenszeit. Er zog sich bis auf die Unterwäsche aus und streckte sich in dem großen Bett aus, viel zu müde, um die Dekoration des Raums zu beachten oder auch nur zu duschen.
Er erholte sich immer noch von Mailand und seinen wohlmeinenden Freunden dort. Er würde bald dreißig sein und konnte nicht mehr so leicht mit diesen verrückten Zeitplänen mithalten. Die alte Gruppe verstand ihn ohnehin nicht mehr und begriff nicht, warum er die Modewelt verlassen hatte, um zu reisen, warum er sich in einer Jurte in Sibirien eher zu Hause fühlte als zusammen mit ihnen auf dem Laufsteg in Mailand. Sie würden nie verstehen, dass er sich immer besser fühlte, je weiter er sich von seiner früheren Realität entfernte. Deshalb hatte er sich für diese Tour angemeldet – sie hatten Sondergenehmigungen, um tief in den Denali-Nationalpark und Chugach-Nationalforst einzudringen, viel weiter abgelegene Gegenden, als er sie als Solo-Reisender in öffentlich zugänglichen Gebieten erreichen konnte.
Der andere Grund, aus dem er oft Gruppenreisen wie diese wählte, bestand darin, dass er zwar gerne allein reiste, aber auch gerne Leute um sich hatte, vor allem, wenn es keine Verpflichtungen gab. Er war immer noch ein geselliger Mensch, immer noch tief im Inneren derselbe River – etwas, das andere oft zu übersehen schienen. Und bevor ihn das allzu sehr deprimieren konnte, schlief er ein und träumte von einem großen, strammen Sheriff mit schlechter Laune, der die Vorstadt von New York City durchstreifte, in der er aufgewachsen war, und davon, wie er selbst versuchte, einen Geschichtstest zu schreiben, während er von dem... Revolver des Sheriffs abgelenkt wurde.
Und so viel dazu, dass er nie lange schlief. Er musste sich unter der Dusche beeilen und erinnerte sich zum Glück noch an Griffins Bemerkung über angemessenes Schuhwerk, um seine Wanderstiefel zuzuschnüren, zu denen er eine lockere, ältere Jeans und ein T-Shirt trug, das die neue Parfummarke bewarb, für die seine Freundin Francesca das Gesicht war. Er achtete darauf, dass er einen Kapuzenpulli in Griffweite hatte, falls es auf der Fahrt in das im Süden gelegene Seward kälter wurde als erwartet, bereitete sein restliches Gepäck vor und ging hinunter, um sich mit den anderen zum Frühstück zu treffen.
Griffin war bereits im Restaurant, genau wie die Frauen aus den Niederlanden. Melanie und Dan, die Ärzte, kamen direkt hinter River, aber er konzentrierte sich auf Griffin, da er entschlossen war, einen besseren Start mit ihm zu bekommen als gestern Abend. Zu diesem Zweck setzte er sich auf den freien Platz neben Griffin und ließ Melanie und Dan beieinandersitzen. Und da er sich erinnerte, wie abfällig Griffin auf sein Abendessen reagiert hatte, bestellte er Rührei und Toast statt den Kaffee, auf den er sich normalerweise beschränkte, bis sein Vormittagsalarm losging.
Natürlich hatte Griffin einen dieser großen Bauernteller mit Eiern, irgendwelchem Fleisch, Brot und Kartoffeln. Und falls er Rivers Frühstück oder Kleidung bemerkt hatte, zeigte er es nicht.
»Kein Roger heute Morgen?«, fragte River, wobei er seine Stimme fröhlich hielt.
»Er ist zu steif, um runterzukommen.« Griffin legte die Stirn in Falten. »Ich hasse es, ihn so zurückzulassen. Die OP ist am Dienstag, aber ich bringe Mom dazu, heute zu kommen, damit sie ein Auge auf ihn hat und darauf achtet, dass er isst und seine Schmerztabletten nimmt.«
»Das ist zu schade. Er scheint ein toller Kerl zu sein.« River warf einen mitfühlenden Blick zu Griffin, während er darauf wartete, dass sein eigenes Essen kam. »Ich verstehe, warum du dir Sorgen machst. Steht ihr euch nahe?«
Griffin zuckte mit den Schultern. »Er hat uns mehr oder weniger zusammen mit meiner Mom aufgezogen, nachdem mein Dad gestorben ist. Er ist der beste Mann, den ich kenne.« Dann, fast als bereute er, etwas so Persönliches geteilt zu haben, verschloss sich sein Gesichtsausdruck und er wechselte das Thema. Er hob die Stimme, um die ganze Gruppe anzusprechen. »Freuen sich alle auf den Tag? Es ist ein Montag, also sollte der Verkehr in Richtung Süden nicht allzu schlimm sein. Die Fahrt nach Seward dauert normalerweise zweieinhalb Stunden, aber wir werden oft für Fotos anhalten, also achtet darauf, eure Kameras griffbereit zu haben. Wir haben voraussichtlich schönes klares Wetter, daher sollten wir einige beeindruckende Aussichten für euch finden können.«
»So aufregend. Und das Mittagessen ist in Seward?« Melanie lehnte sich vor.
River hatte Leute nie verstanden, die Pläne fürs Mittagessen machten, während sie noch auf ihr Frühstück warteten. Und er hatte sich das Reiseprogramm auf der Website angesehen, aber abgesehen davon zog er es bei Touren wie dieser vor, überrascht zu werden. Die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen.
»Genau. Nach dem Mittagessen können alle, die wollen, Seward erkunden und den Rest bringe ich runter nach Lowell Point. Das ist wahrscheinlich eine meiner Lieblingsstrecken im ganzen Bundesstaat.« Wieder wirkte Griffin unbeholfen dabei, mehr als nur das Programm zu teilen. River fand sein Unbehagen niedlich. Der große, schroffe Bergmann hatte eine weiche Seite und River wollte mehr davon sehen.
Außerdem hätte er nichts dagegen, mehr von den Muskeln zu sehen, die Griffin zeigte, als er nach dem Essen den Kleinbus belud und routiniert Gepäck im Kofferraum und in den Fächern auf dem Dach verstaute, wobei er alle Hilfsangebote ablehnte.
»Normalerweise haben wir einen größeren Transit mit zwölf Sitzen, aber da wir nur zu sechst sind, haben sie diesen kleineren Bus für uns gebucht. Ich hoffe, alle haben Platz, um es sich bequem zu machen.«
River betrachtete schnell die zwei Sitzreihen und wog die Möglichkeit, zwischen einem der Paare zu sitzen, dagegen ab, zu versessen auf Griffins Gesellschaft zu wirken.
»Ich sitze vorne«, bot er an und versuchte, es eher wie eine Geste des Entgegenkommens als wie das Verlangen nach Griffins Aufmerksamkeit klingen zu lassen.
»Das ist zu nett von dir.« Melanie tätschelte seinen Arm und schenkte ihm ein dankbares Lächeln, das Griffin mit seiner finsteren Miene allerdings nicht teilte.
»Später sitzt du bei uns. Lieke will dir ihre Skizzen zeigen.« Fenna hatte eine feste Stimme und River mochte ihren und Liekes Akzent. Er hatte schon tolle Zeiten in Amsterdam gehabt.
»Klar.« Er vergewisserte sich, dass er seine Kamera, seinen kleinen Laptop und eine Wasserflasche hatte, bevor er auf den Beifahrersitz kletterte.
»Es gibt kein WLAN«, warnte Griffin. »Ich kann nicht mal garantieren, dass die Hütte in Seward welches haben wird.«
»Ich bin vorbereitet. Hab sogar ein Notladegerät. Ich mag es nur, Notizen machen zu können, wenn ich mich dazu inspiriert fühle.«
Griffin stieß einen unverbindlichen Laut aus, bevor er den Bus startete. Und River war ehrlich froh über den Laptop, als sie sich durch den Verkehr in Anchorage bewegten, denn Griffin schien überhaupt nicht gewillt zu sein, sich zu unterhalten. Das Geplauder hinten im Bus war dank des Verkehrslärms schwer zu hören, also verlor sich River darin, noch mal zu überprüfen, was er über Utah und Radfahren in Moab geschrieben hatte, und suchte nach der richtigen Formulierung, die ein Lachen darüber hervorrufen würde, wie er zum ersten Mal seit zehn Jahren auf ein Fahrrad gestiegen war, aber seine Leser auch inspirieren würde, es selbst zu versuchen.
Es dauerte nicht lange bis zu ihrem ersten Stopp an einem idyllischen öffentlichen Park gleich hinter Anchorage, der einige Freizeitangebote zu bieten hatte. Sie hatten eine großartige Aussicht auf den Turnagain-Arm des Cook Inlet und die dahinter liegenden Berge und die Möglichkeit, mit etwas Glück sogar Belugas zu sehen. Die Berge waren braun mit grünlicher Färbung und erinnerten ihn mehr an Griffins Augen, als sie sollten.
Sie machten einen kurzen Spaziergang zu einer Holzbrücke, die einen schnell fließenden Bach überspannte, und Melanie bestand darauf, auf der Brücke ein Gruppenfoto zu machen. River hatte so eine Ahnung, dass er noch am selben Tag in ihren sozialen Medien landen würde, aber das war in Ordnung. Sie und ihr Mann waren nett und sie gab sich Mühe, alle miteinzubeziehen, was mehr war, als er von ihrem widerwilligen Reiseführer sagen konnte, der den Großteil des Ausflugs über schwieg. Vielleicht hatte er vergessen, dass er eine Art Kommentar zu ihrer Erfahrung abgeben sollte.
»Bist du ein paar der längeren Wanderwege hier gegangen?«, drängte er auf dem Rückweg zum Kleinbus.
»Einige. Ist Jahre her.« Griffin verzog das Gesicht und River bemerkte zum ersten Mal, dass er beim Gehen ein wenig humpelte. Zum Teufel. Er hatte mit seiner Frage nicht taktlos sein wollen. Bevor er sich entschuldigen konnte, wandte Griffin sich an die Gruppe. »Sind alle dafür, dass wir zum nächsten Stopp weiterfahren?«
Nach zustimmendem Gemurmel fuhren sie zu einer weniger bekannten Stelle am Turnagain-Arm und Griffin navigierte meisterhaft die engeren Straßen abseits des Seward-Highways, die zum Aussichtspunkt führten. River war eher ein Mann der öffentlichen Verkehrsmittel – er hatte nie ein Auto besessen und hatte nicht vor, das zu ändern, aber er wusste einen guten Fahrer zu schätzen.
»Was fährst du zu Hause? Einen Pick-up?« River amüsierte sich mit der Vorstellung von Griffin auf einem Pferd, hatte aber so eine Ahnung, dass der Pick-up wahrscheinlicher war.
»Du meinst, wenn ich nicht fliege?« Griffin schenkte ihm ein weiteres seiner Nicht-ganz-Lächeln, in denen er ziemlich geübt schien. »Ich fahre mehr oder weniger, was die Firma gerade braucht – Geländewagen, Kleinbus, Pick-up, was auch immer. Ich hab einen Klasse C-Führerschein, also kann ich auch große Lasten fahren.«
Ich wette, dass du das kannst. River verbiss sich die kokette Erwiderung. »Ich meine, was fährst du privat?«
»Einen älteren F350. Hab ihn vor ein paar Jahren der Mutter eines Freunds abgekauft.« Griffins Stimme hatte einen melancholischen Unterton, den River bis jetzt noch nicht gehört hatte.
»Hübsch.« Er nickte, als wüsste er, was der Buchstabe und die Zahlen in Trucker-Sprache bedeuteten.
Griffin parkte am nächsten Aussichtspunkt, war an diesem Halt etwas gesprächiger und erzählte von den nahe gelegenen Wasserfällen, während sie den Blick auf hoch emporragende, von Gletschern bedeckte Berge genossen.
»Wer braucht Kaffee?«, fragte Griffin und überprüfte sein allgegenwärtiges Klemmbrett. River vermutete stark, dass seine Mutter oder sein Onkel dort Erinnerungen, zu lächeln und freundlich zu sein, aufgeschrieben hatten. »Es gibt ein nettes Lokal, in dem wir schnell eine Tasse trinken können, bevor wir wieder auf den Highway fahren.«
Er führte sie in einen winzigen Ort mit einer Menge Touristenläden und Bergbau-Souvenirs und alle holten sich Getränke zum Mitnehmen. Die hübsche junge Barista mit Nasenring flirtete ziemlich schamlos mit ihnen allen, aber vor allem mit Griffin, der keinen Schimmer zu haben schien, wie er mit der Aufmerksamkeit umgehen sollte. Das war irgendwie erfrischend, denn Rivers Erfahrung nach waren die meisten Männer, die so aussahen wie Griffin, geübte Schmeichler. Griffin besorgte sich einen Zimtschnecken-Latte und River konnte nicht anders, als ihn zu necken.
»Du siehst nicht wie ein Typ aus, der süße Getränke mag. Ich dachte, du wärst eher ein Alt-und-Schwarz-Kaffeetrinker.«
»Hey, ich hab durchaus etwas für Süßes übrig.« Griffin klang etwas beleidigt, was River lustig fand, wenn er bedachte, wie reserviert der Kerl unbedingt wirken wollte.
»Die Barista war auf jeden Fall derselben Meinung.« River setzte sich wieder auf den Beifahrersitz. »Du solltest dir ihre Nummer besorgen.«
Griffins gesamtes Gesicht verschloss sich augenblicklich. »Ich habe keine Dates.«
»Na, wenn das nicht verdammt schade ist.« River wollte wirklich eine oder zehn weitere Fragen stellen, aber Griffins Miene lud nicht zu Nachfragen ein. Das hielt River allerdings nicht von einem Versuch ab, die Stimmung aufzulockern. »Ich glaube, dort hinten hab ich ein Schild für Virgin Creek gesehen...«
Griffin biss überhaupt nicht an, zeigte nicht einmal ein Lächeln, während er zum Highway zurückfuhr. River zwang sich, sich auf die Landschaft zu konzentrieren. Zum Teufel. Man sollte denken, es wäre River, der zu den Jungfrauen nach Virgin Creek gehörte, so fixiert war er auf seinen mürrischen Reiseführer. Und die Ich habe keine Dates-Bemerkung hatte nur dafür gesorgt, dass noch mehr Fragen in Rivers Gehirn summten. Hatte er überhaupt keine Dates? Oder nur keine mit Frauen und hatte es nicht so formulieren wollen? Oder war er eher ein Kerl für kurze Geschichten, der von einem One-Night-Stand zum nächsten wanderte? Oder hatte er irgendein bizarres Keuschheitsgelübde abgelegt? Was auch immer seine Gründe waren, River wollte sie unbedingt wissen. Und wenn es eins gab, worin River gut war, dann war es, die Geschichten anderer Leute in Erfahrung zu bringen. Griffin hatte keine Chance.
Im Allgemeinen fuhr Griffin gerne. Neben dem Fliegen übernahm er alles, was die Firma am betreffenden Tag gerade brauchte, wie etwa Fracht vom Flugzeug zum Kunden zu bringen. Aber in der Luft fühlte er sich am behaglichsten, was praktisch sein ganzes Leben lang so gewesen war. Autofahren beinhaltete andere Muskelbewegungen, eine andere Art der Konzentration und bot andere Ablenkungen. Beim Fliegen wurde er fast nie von einem Passagier abgelenkt, aber während er die Reisegruppe zu ihrem nächsten Stopp am Seward-Highway fuhr, musste er wirklich darum kämpfen, seine Gedanken weiterhin auf die Straße zu richten und nicht auf den blauhaarigen Teufel neben ihm.
Es half nicht, dass River heute entschlossen schien, freundlich zu sein, und versuchte zu plaudern und mit ihm zu scherzen, ohne zu wissen, dass Griffin nicht wirklich Witze machte. Hatte er noch nie. Sogar Hank hatte ihm immer vorgehalten, dass er zu ernst war, zu verhaftet in seinen eigenen Gedanken. Nachdem Griffin Rivers Versuch, über die flirtende Barista zu reden, abgeblockt hatte, vertiefte River sich wieder in seinen Laptop. Aber die kleinen Seufzer, die er immer wieder ausstieß, waren verdammt störend und als River in sich hineinlachte, hatte Griffin schließlich genug.
»Was?«, verlangte er zu wissen. »Was ist so lustig?«
»Oh, entschuldige.« Ein kurzer Seitenblick zeigte einen betretenen Ausdruck auf Rivers Gesicht und blasses Pink auf seinen perfekten, hohen Wangenknochen. »Ich habe gerade etwas durchgelesen, das ich über meine Erlebnisse in Moab geschrieben hatte. Hab mich an diesen süßen Kerl erinnert...« River stieß ein kleines, wissendes Lachen aus. »Wie auch immer, du weißt ja, wie es ist. Schöne Erinnerungen und all das.«
Griffin war nicht sicher, wie er darauf antworten sollte. Er kannte die Macht der Erinnerung besser als andere Leute, ob es nun schöne waren oder nicht, war jedoch nicht sicher, ob er das Gespräch mit River in diese Richtung lenken wollte. Also blieb er stumm, aber offenbar interpretierte River sein Schweigen als Feindseligkeit.
»Hätte ich den süßen Kerl nicht erwähnen sollen?« Rivers Stimme war locker und plätscherte dahin, ohne ihn anzuklagen. »Tut mir leid. Ich bin pan. Das wird immer wieder herauskommen, wenn ich den Mund aufmache. Ich verspreche, es ist nicht ansteckend.«
Das wäre der perfekte Moment für Griffin, um zu sagen: Ich auch. Und dann könnten sie beide lachen und Griffin könnte sagen, dass er in Gedanken normalerweise bi verwendete, nicht pan, aber dass er keine Probleme mit Gerede über süße Kerle hatte. Mal ganz abgesehen davon, dass er mit anderen Leuten nie wirklich über süße Irgendwas redete. Und vielleicht würde er seine enorme Frustration darüber ausdrücken, dass es kein besonderes Wort gab, das ihn gut beschrieb, denn zwanzig Jahre lang von meinem besten Freund besessen war keine sexuelle Identitätskategorie, und vielleicht würde River sein Mitgefühl ausdrücken und sie würden wieder etwas lachen.
Oder vielleicht würde Griffin doch still bleiben.
Was er auch tat, woraufhin River ein mattes Seufzen ausstieß und die Stimme noch weiter senkte. »Wenn du homophob bist, wird das eine lange Woche werden. Ich sag's nur.«
»Bin ich nicht.« Die Worte kamen abgehackter heraus als geplant. Wenigstens vermied er es, ein lahm klingendes Ich habe eine Menge Freunde... dranzuhängen. Das würde ihn nur wie einen ahnungslosen Idioten oder einen Fall im Schrank klingen lassen. Was er nicht war. Nun ja, ein ahnungsloser Idiot vielleicht doch. Vor allem, da er einen seltsamen Stich über die verpasste Gelegenheit verspürte.
Egal. Er würde sich deswegen nicht fertigmachen – er war, wie er war. Also konzentrierte er sich stattdessen auf die Straße vor ihnen und auf den für seinen Onkel typischen Stopp am Alaska Wildlife Conservation Center, der gleich hinter der Kaffeepause kam. Da sich ein so großer Teil der nächsten zehn Tage darum drehen würde, Tiere mit der Kamera einzufangen, hielt Onkel Roger gerne am Center, besuchte einige alte Freunde und demonstrierte Kamerawinkel und Beleuchtung, während er über die Tiere sprach, die sie später zu entdecken hofften. Das war alles sehr gesellig und darauf ausgelegt, die Gruppe aufzuwärmen, und Griffin war mehr als ein- oder zweimal selbst dabei gewesen, daher kannte er den Ablauf, aber verdammt, er freute sich nicht auf die Durchführung.
»Oh mein Gott! Das ist ein Elch!«, rief Melanie aus, bevor sie überhaupt aus dem Fahrzeug stiegen.
»Siehst du, Liebes, was du bestimmt nicht tun willst, ist, die Tiere zu verschrecken.« Ihr Mann versuchte, sie zu beruhigen, und Griffin fragte sich, ob sie die Reise für ihn leiten würden, damit er einfach in ihrem Kielwasser mittreiben könnte.
»Was für Elche sind das?« Fenna richtete ihren kritischen Blick auf ihn, während sie den Pfad zum Gehege mit dem Elch hinabgingen.
Verdammt. Er würde sprechen müssen, oder? Also erklärte er weit stockender als Onkel Roger, um was für Elche es sich bei diesen handelte und dass das Center verletzten und gefährdeten Tieren half. Er unterstützte die übereifrige Melanie dabei, die Verschlusszeit ihrer Kamera für Fotos von dem Elch zu optimieren, der sich gerade von einem überdachten Unterstand näher an den hohen Zaun bewegte.
Und er fand seine Bemühungen nicht allzu schlecht, bis River sagte: »Schätze, hier kommen eine Menge Schulklassen her, oder?«
Die Worte klangen nicht gemein, sondern eher gelangweilt, aber Griffin spürte den Seitenhieb trotzdem. River zahlte Geld, um beeindruckt zu werden, und bis jetzt war er das nicht. Und das war Griffins Schuld.
Er musste zugeben, dass er ziemlich passiv gewesen war. Wenn er River wäre, wäre er auch von seinen Fähigkeiten als Reiseführer frustriert. Also zwang er sich, fröhlicher zu klingen, und grub tief nach der proaktiven Einstellung, die in seinen Jahren beim Militär so natürlich für ihn gewesen war.
»Also, wir machen jetzt Folgendes. Ich lasse euch fünfzehn Minuten lang herumwandern und will, dass ihr euer Bestes gebt und ein paar Tierfotos schießt. Dann zeigen wir die im Besucherzentrum und ich wähle das vielversprechendste darunter aus. Der Sieger bekommt von mir ein Getränk seiner oder ihrer Wahl zum Mittagessen spendiert.«
Mahlzeiten waren im Preis inklusive, Getränke dagegen nicht. Es war ein wenig riskant, die Gruppe geradezu einzuladen, zum Mittag zu trinken. Die Aufenthalte in den abgelegenen Hütten, wo Alkohol außer Frage stand, waren ihm viel lieber. Aber er wollte gerne denken, dass er ohne Probleme ein paar Scheine für jemandes Bier herausrücken konnte. Und etwas freundschaftliche Konkurrenz war offenbar genau das, was die Gruppe brauchte, wenn er sich so ansah, wie alle aufhorchten, River miteingeschlossen.
Er holte seinen Laptop aus dem Bus, während die Gruppe umherwanderte. River war nicht der Einzige, der mit Technologie reiste, aber Griffin zog es vor, seine Geräte für Notfälle aufzuheben. Wie jetzt, da er verzweifelt beweisen musste, dass er mit der Verantwortung über die Gruppe zurechtkam. Er belegte einen Tisch in dem fröhlichen, im Blockhüttenstil eingerichteten Besucherzentrum und bereitete alles vor, sodass er die Fotos zeigen konnte, sobald die Gruppe wieder zusammenkam.
Das Center erstreckte sich mehrere Kilometer auf Flachland, auf dem es Gehege und kleine Unterstände gab, die sowohl die Tiere schützten, als auch den Besuchern erlaubten, sie zu beobachten. Er verlor seine Gruppenmitglieder aus den Augen, bis sie wieder am Besucherzentrum auftauchten. Alle gaben ihm eine Speicherkarte oder ein Kabel, damit er die Fotos übertragen konnte. Fenna hatte einen kunstvoll eingerahmten Schnappschuss von zwei Bisons in der Ferne, während Lieke fantasievoller gewesen war und ein verspieltes, wenn auch verschwommenes Rentier gefunden hatte. Melanie und Dan hatten sich an Fotos versucht, die Herden zeigten. Und River hatte eine Nahaufnahme eines grinsenden Moschusochsen. Die ganze Gruppe brach in Gelächter aus.
»Das kommt in meine sozialen Medien, sobald wir besseren Empfang haben.« River war nicht gut in bescheidenem Prahlen – seine leuchtenden blauen Augen und die geschwellte Brust verrieten, dass er den Sieg in der Tasche hatte und das auch wusste. »Über den Zaun zu klettern, war...«
»Du hast was getan?« Griffin wusste, dass er viel zu bevormundend klang, aber er konnte nicht anders. »Das habe ich doch vorhin erwähnt – keine übertriebenen Risiken nur für ein gutes Foto.«
»Ach. Es war ein kalkuliertes Wagnis.« River zuckte elegant mit den Schultern. »Und andere Leute sind auch geklettert.«
Griffin verbiss sich einen Vortrag darüber, dass man dumme Leute nicht nachahmen sollte. Er hatte Schwierigkeiten, Rivers Alter einzuschätzen – mit seinem Kindergesicht sah er jung aus, vor allem, wenn er wie an diesem Morgen glatt rasiert war, aber in manchen Momenten wirkte er so weltgewandt, bevor er dann verrückte Manöver wie dieses unternahm.
»Du hattest Glück, dass die meisten dieser Tiere Pflanzenfresser sind. Wag es ja nicht, Bären zu reizen, wenn wir in Denali sind.«
»Ja, Dad.« River verdrehte die Augen. »Und manche von uns mögen Bären.«
Griffin war nicht so ahnungslos, dass er die versteckte Bedeutung von Bären überhörte. Er musste die Kontrolle über dieses Gespräch wiedererlangen, und das schnell.
»Fenna, du hast gewonnen. Sag einfach Bescheid, was du zum Mittagessen willst.«
Fenna zeigte ein seltenes Lächeln. »Ich schätze, ich könnte ein Glas Wein trinken. Danke.«
Sie gingen zum Bus zurück und der Großteil der Gruppe war fröhlicher als vor Griffins großer Idee, aber Rivers hängenden Schultern und tiefen Seufzer verrieten, dass er schmollte. Na gut. Damit musste er sich abfinden. Griffin hatte die doppelte Verantwortung, ihm eine gute Zeit zu bieten und ihn gleichzeitig auch am Leben zu halten. Bevor er in den Bus stieg, nahm River einen tiefen Schluck aus seiner Wasserflasche und Griffin sah nicht schnell genug weg. Stattdessen war er fasziniert von der langen Linie von Rivers Hals. Die Tierwelt konnte einpacken. Griffin wollte ein Foto davon, von den vollen Lippen, die um die Öffnung der Flasche lagen, von dem zurückgeneigten Kopf, den halb geschlossenen Augen...