Funkenflut - Regina Mars - E-Book

Funkenflut E-Book

Regina Mars

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Beschreibung

Windumtoste Klippen, an denen sich mächtige Wellen brechen. Tiefschwarze Nacht. Hoch auf den Felsen thront das Internat Burg Rabenstein. Welches Geheimnis verbirgt das dunkle Gemäuer? Chris würde es gern herausfinden. Aber kann ein verpeilter Chaot wie er das überhaupt? Er schafft es ja nicht mal, Julien aus dem Weg zu gehen, der zwar ein humorloser Streber ist, aber leider auch verdammt attraktiv ... "Ich werde ihn küssen. Der Gedanke war plötzlich da und ließ mich zusammenzucken. Wenn ich nicht auf der Stelle etwas dagegen unternahm, würde ich Julien küssen, hier im Bus, vor allen. Ich biss mir auf die Lippen, um den Drang zu unterdrücken, aber schon waren unsere Gesichter sich so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spürte …"

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Inhaltsverzeichnis

 

1. Chris

2. Burg Rabenstein

3. In die Fresse

4. Stör mich nicht

5. Mein erster Schultag

6. Willst du?

7. Wir waren keine Freunde

8. Fünf Uhr morgens

9. Hauptverdächtige

10. Am Badesee

11. Fun?

12. Nachts auf dem Dachboden

13. Schuhgröße 44

14. Hölle

15. Verdrängung

16. Eine unerwartete Entwicklung

17. Der Wettbewerb

18. Mein allerschönster Familienurlaub

19. Wir müssen mit dir reden

20. Flucht

21. Neue Erkenntnisse

22. Das Geständnis

23. Warten

24. Es tut mir so leid

25. Epilog

Impressum

 

Funkenflut

Text Copyright © 2016 Regina Mars

Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.

Regina Mars

c/o

Papyrus Autoren-Club,

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

[email protected]

www.reginamars.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Umschlagbild und Umschlaggestaltung: Regina Haselhorst

Copyright © Regina Haselhorst

www.reginahaselhorst.com

1. Chris

 

Ich hatte es versaut.

Der BMW meines Vaters raste über die Autobahn. Jedes Überholmanöver brachte das Duftbäumchen am Rückspiegel zum Schaukeln. Das ganze Auto roch nach künstlichem Zitronenaroma und dem Zigarettenrauch, der sich bereits tief in die neuen Polster gefressen hatte. Kein Wunder, denn meine Mutter rauchte schon ihre dritte Kippe, mit kurzen, hektischen Zügen. Ihr goldener Ehering glitzerte jedes Mal, wenn sie die Hand zum Mund führte.

Ich fläzte mich auf die Rückbank, lauschte dem Fahrtwind und versuchte, mich zu entspannen. Keine Chance. Das Schweigen war erdrückend.

»Wann sind wir da?«, fragte ich, als ich es nicht mehr aushielt.

Mein Vater antwortete nicht. Seine Knöchel waren weiß, so fest umklammerte er das Lenkrad. Meine Mutter drehte sich zu mir um. Auf ihrer sorgfältig geschminkten Stirn standen Schweißperlen.

»Nur noch eine Viertelstunde«, sagte sie. Ihr Lächeln wirkte ehrlich, aber verkrampft. Sie war immer noch sehr hübsch. Gottseidank sah ich ihr ähnlicher als meinem Vater. Nach einem kurzen Seitenblick zum Fahrersitz setzte sie hinzu: »Das Internat wird dir gefallen, Schatz. Ich habe bereits mit dem Direktor telefoniert. Es gibt ein Schwimmteam und ein ... irgendein Kampfsportteam.«

»Das klingt gut, Mom.« Ich lächelte ihr zu und ihr Gesicht entspannte sich ein wenig.

»Oh, das wird es! Ich habe sogar eine Broschüre, falls du mehr wissen willst.« Sie begann, in ihrer blauen Vuitton-Handtasche zu wühlen. »Irgendwo hier muss sie sein ...«

»Hör auf damit!«, fuhr mein Vater sie an. Sie zuckte zusammen. »Das ist kein lustiger Familienausflug. Der Junge kommt ins Internat, weil er bestraft wird. Also verhätschel ihn nicht!«

»Aber er hat doch nur ...« Ihre Stimme zitterte. Mein Vater warf ihr einen scharfen Blick zu und sie schwieg. Wie immer.

»Ich habe doch nur einen Kerl auf meinem Zimmer gehabt«, beendete ich den Satz, damit er von ihr abließ. »Wo ist das Problem? Ihr habt gewusst, dass ich schwul bin.«

»Ruhe!« Die Wände des Autos wackelten, als mein Vater brüllte. Mom und ich gehorchten.

Dabei hatte ich ihnen gesagt, dass ich auf Jungs stand, als ich vierzehn war. Schon damals hatten sie gedroht, mich aufs Internat zu schicken. Ich solle mich nicht aufspielen, hatte mein Vater gesagt. Und dass ich nur von meinen schlechten Noten ablenken wolle. Die waren ein Problem, seit ich in die erste Klasse gekommen war. Nun hatte ich es mit Mühe und Not in die Elfte geschafft. Naja. Jedenfalls hatten wir nicht mehr über mein Schwulsein geredet und ich hatte zuhause bleiben dürfen.

Manchmal hatte ich versucht, mit ihnen zu sprechen. Ganz harmlos. Ich hatte ein- oder zweimal Jungs erwähnt, die ich hübsch fand. Vater hatte stets das Thema gewechselt. Jedes Mal hatte die Ader auf seiner Stirn heftiger gepocht. Michi in meinem Zimmer zu entdecken, nackt bis auf eine weiße Tennissocke, war der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Nur zu wissen, dass ihr einziger Sohn schwul war, war wohl etwas anderes, als den Beweis vor der Nase zu haben. Dabei hatte ich nicht mal mit Michi geschlafen. Leider. Fast hätte ich es geschafft, meinen siebzehnten Geburtstag nicht als Jungfrau zu feiern, aber meine Eltern waren genau fünf Minuten zu früh ins Zimmer geplatzt. Ich seufzte bei dem Gedanken an Michis Knackarsch. Ich war nicht verliebt in ihn und er nicht in mich, aber ... es wäre echt schön gewesen.

Irgendwie hatte ich immer Pech. Bei der Party vor drei Wochen hatte ich mit Martin rumgeknutscht, ihm sogar das Hemd hochgeschoben ... und dann hatte er mir über die Brust gekotzt. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie besoffen er gewesen war.

Im Sommerzeltlager hatte ich es bei dem Gruppenleiter versucht, aber der hatte im letzten Moment zu Gott gefunden und Gewissensbisse bekommen. Naja. Was hatte ich erwartet, in einem katholischen Zeltlager?

Mein Vater bog mit 140 Sachen in die Ausfahrt ein. Mein Hinterkopf schlug gegen die Seitenscheibe und riss mich aus meinen Gedanken. Ich rieb mir die schmerzende Stelle und beschloss, optimistisch zu bleiben. Schließlich kam ich auf ein Jungeninternat. Wenn es da nicht klappte, wo sonst?

»Hast du die Broschüre gefunden?«, fragte ich meine Mutter. Möglicherweise waren da ja Fotos von meinen neuen Mitschülern drin. Sie nickte und reichte mir ein quadratisches Hochglanzheftchen.

»Versuch, fleißig zu sein«, flüsterte sie mir zu. »Wenn deine Noten endlich besser werden, darfst du bestimmt zurückkommen.«

Dann komme ich nie zurück, wollte ich sagen, aber nach einem Blick in ihre feuchten Augen hielt ich die Klappe. Vielleicht tröstete die Hoffnung sie. Wenn sie glaubte, dass ihr nichtsnutziger Sohn ein verkanntes Genie war, wollte ich sie nicht aufhalten.

Ich betrachtete das Heft aus schwerem Papier. Internat Burg Rabenstein stand in goldenen Lettern auf dem Umschlag. Klang dramatisch. Sah auch dramatisch aus. Die Burg war ein wuchtiger Kasten, aus grauen, fast schwarzen Steinen erbaut, mit klotzigen Zinnen und vier Türmen, die sich in den wolkenverhangenen Himmel schraubten. Sie wirkte gigantisch, viel zu groß für eine Schule. Hinter dem Gebäude brach der Boden plötzlich weg und wurde zu einer gezackten Klippe. Dahinter lag die Nordsee, ein bleigrauer Streifen am Horizont.

Hm. Hätte man das Bild bei Nacht gemacht und ein paar Krähen im Hintergrund auffliegen lassen, hätte man das ideale Cover für einen Schauerroman gehabt. Sie hatten sich überhaupt keine Mühe gegeben, den Bau wie ein Zuhause wirken zu lassen. Die Atmosphäre war schlicht gruselig.

Das Internat bot Platz für – ich blätterte um – 400 Schüler, die vom überdurchschnittlich qualifizierten Lehrkörper aufs Vortrefflichste unterrichtet wurden ... Hey, endlich ein paar Klassenfotos! Ordentlich aufgereihte Jungs in Schuluniformen standen vor der Burg, postiert wie Soldaten. Und ein paar von ihnen sahen echt attraktiv aus, vor allem ...

Ich stutzte. Ein todernstes, scharf geschnittenes Gesicht blickte mir entgegen. Es gehörte zu einem hoch aufgeschossenen Dunkelhaarigen, der ganz links in einer Reihe Schüler stand.

»Hey, der Typ hier sieht aus wie Julien.« Ich hielt meiner Mutter die Seite hin und tippte auf das Foto.

»Das ist Julien«, sagte sie.

»Was?« Ich fühlte mich, als hätte sie mir eine Ohrfeige gegeben. Meine Laune sank ins Bodenlose.

»Er ist seit drei Jahren auf Burg Rabenstein. Hörst du denn nie zu? Nur weil er Schulsprecher ist, konnten wir dich dort mitten im Schuljahr unterbringen. Du solltest dich bei ihm bedanken.«

»Auf gar keinen Fall! Ich hasse Julien!«

»Er ist dein Cousin, Chris.« Um Mutters Mundwinkel erschien ein harter Zug. »Ihr solltet besser miteinander auskommen. Du könntest von ihm lernen, weißt du? Letztes Jahr war er Dritter bei den deutschen Jugendeinzelmeisterschaften im Schach. Und im Januar hat er einen Preis gewonnen, für ...«

»Für supertolle Exzellenz, außerdem schreibt er nur Einsen und hat eine reizende Freundin. Ich kenne das Lied.« Ich verschränkte die Arme und die alte Wut stieg in mir auf. »Das Lied vom perfekten Julien. Sagt doch gleich, dass ihr euch wünscht, er wäre euer Sohn.«

Meine Mutter drehte sich um. Die Stille, die den Wagen erfüllte, versetzte mir einen Stich. Ich wollte mich gerade entschuldigen, als sie »Das wäre schön« murmelte.

Den Rest der Fahrt verbrachten wir schweigend.

2. Burg Rabenstein

 

Die kalte Februarluft schnitt mir ins Gesicht, als wir auf das Ungetüm von einer Burg zugingen. Ich hörte die Wellen gegen die Felsen brechen, auch wenn ich zu weit von der Klippe entfernt war, um sie zu sehen. Möwen kreischten. Ihre schrillen Stimmen klangen, als würden sie gerade abgestochen. Die Luft schmeckte salzig.

Das Internat war doppelt so groß, wie es auf den Fotos gewirkt hatte und mindestens zehnmal so bedrohlich. Nachtschwarze Vögel beobachteten uns von den Dächern der Türme aus. Klar, der Laden hieß ja auch Rabenstein. Dunkler Efeu kroch wie ein Adergeäst über seine Mauern, von den gewaltigen Felsklötzen am Boden bis hoch unter die Zinnen. Noch während ich davor stand, überlegte ich, ob ich daran hinunterklettern und fliehen könnte. Oder wäre es am Klügsten, den Bau gar nicht erst zu betreten? Zu spät. Wir gingen durch den gemauerten Torbogen. Als ich aufsah, blickten mir die spitzen Zähne eines Fallgitters entgegen. Charmant.

Mom fragte an der Rezeption nach, während mein Vater und ich draußen warteten. Er mied meinen Blick und verschränkte die Arme über seinem Wohlstandsbauch. Sein rotglänzendes Gesicht bildete einen starken Kontrast zu seinem hellgrauen Anzug. Es war ein teurer Anzug. Mein Vater legte Wert auf sein Aussehen. Wenigstens das hatten wir gemeinsam, auch wenn ich muskulös, dunkelblond und blöd war und er kugelig, fast kahl und superschlau. Natürlich war er superschlau. Schließlich war er Unternehmensberater.

Ich dachte daran, dass Julien irgendwo in diesem Gebäude hockte, und startete einen letzten Versuch, ihn umzustimmen.

»Weißt du, ich verstehe nicht, was so schlimm daran war ... du weißt schon, an der Sache mit Michi. Warum bist du so wütend? Es ist ja nicht so, als könnte er mich schwängern.«

Aber er presste nur die Lippen aufeinander. Ich hatte das Gefühl, zu fallen, tief und plötzlich. War ich endgültig zu weit gegangen? Hatte ich verspielt? Würden sie mich komplett aus der Familie verstoßen?

»Der Familienurlaub steht noch, oder?«, probierte ich es erneut. »In den Osterferien?«

»Natürlich tut er das, Schatz.« Meine Mutter war hinter mir aufgetaucht. »Du kannst gleich von Wittmund aus den Zug nehmen. Zusammen mit Julien.«

Auch das noch.

»Super.« Ich versuchte, zu lächeln.

»Das Büro des Direktors ist im Südflügel, erster Stock. Die Rezeptionistin hat bereits Bescheid gesagt, dass wir kommen.«

Sobald wir den Hof betraten, besserte sich meine Laune. Lachen und ohrenbetäubendes Geschrei empfingen uns. Überall liefen Schüler herum und viele waren in meinem Alter. Und einige sahen echt gut aus in ihren blaugrauen Schuluniformen. Ich pfiff fröhlich vor mich hin, bis mein Vater mir in die Rippen knuffte.

»Ich glaube, es ist da drüben.« Mutter deutete auf eine offene Flügeltür.

 

***

 

Kurz darauf hockten wir vor dem Direktor. Er sah anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Breitschultrig, mit riesigen Pranken und einem Gesicht wie ein Türsteher. Seine Krawatte in den Schulfarben Blau und Gelb saß tadellos, seine Frisur ebenfalls. Graue Strähnen durchzogen sein hellbraunes Haar. Ich schätzte ihn auf Anfang vierzig.

»Ich erwarte, dass Sie sich einbringen«, dröhnte er. »Aber das werden Sie zweifellos tun. Ihr Cousin ist schließlich einer unserer besten Schüler. Und unser Schulsprecher.«

»Eigentlich sind Julien und ich uns nicht sehr ähnli...« Mein Vater trat mir gegen den Knöchel und ich verstummte.

Von seinem Platz hinter dem Schreibtisch konnte der Direktor nichts davon sehen. Er thronte in seinem Chefsessel wie ein ungnädiger Richter. Trotz meiner 1,90 Meter überragte er mich. Ich hatte ihn im Verdacht, auf einem verdeckten Podest zu sitzen. Nicht, dass er das nötig gehabt hätte. Auf den hörte man, auch wenn er sein Jackett ausgezogen und die Ärmel hochgekrempelt hatte.

»An seiner bisherigen Schule war Chris im Schwimmteam. Sehr erfolgreich sogar.« Ich warf meinem Vater einen Seitenblick zu. Kam nicht oft vor, dass er mich lobte. Ich war ein wenig geschmeichelt. »Im letzten Jahr hat er bei den Jugendkreismeisterschaften Bronze über 100 Meter geholt und Silber über 200 Meter.«

»Keinerlei Goldmedaillen?« Die linke Augenbraue des Direktors hob sich.

»Er hatte sich kurz vor dem Wettkampf den Knöchel verstaucht«, sagte meine Mutter. »Vor zwei Jahren hat er gleich drei Goldmedaillen geholt.«

»Über 50, 200 und 400 Meter.« Das wusste mein Vater? Jetzt war ich wirklich gerührt.

»Hm.« Der Direktor musterte mich zum ersten Mal wirklich. Ich fühlte mich, als wäre ich unter einem Mikroskop. Er nickte bedächtig. War das etwa ein Vorstellungsgespräch? Ich hatte gedacht, ich hätte den Platz. Dann war es wohl besser, nicht zu erwähnen, wie ich mir den Knöchel verstaucht hatte. Nämlich bei der Flucht über den Zaun des Freibads. Mit Dennis aus meinem Schwimmteam. Wir waren nachts eingestiegen und hatten im Becken rumgealbert. Der Mond hatte sich im Wasser gespiegelt, Dennis hatte mich geküsst, und wenn der Nachtwächter uns nicht entdeckt hätte, hätten wir ganz bestimmt ...

»Nun«, der Direktor blätterte in den Unterlagen, die vor ihm auf der polierten Schreibtischplatte lagen und ich zuckte zusammen. »Ihre Noten sind unterdurchschnittlich.«

»Er wird besser werden.« Meine Mutter beugte sich vor. »Ganz bestimmt. Chris wird eine fantastische Bereicherung für Ihr Schwimmteam sein.«

»Hm.« Der Direktor betrachtete meine breiten Schultern und meine kräftigen Oberarme. »Das wäre tatsächlich gut, wir sind dieses Jahr eher schwach aufgestellt. Obwohl wir natürlich einen hervorragenden Trainer haben.« Und dann lächelte er plötzlich und streckte mir die Hand hin. »Willkommen in Burg Rabenstein, Christopher. Betragen Sie sich gut und Sie werden hier eine lehrreiche Zeit verleben.«

Meine Eltern sackten erleichtert in sich zusammen. Hatten sie gefürchtet, sie müssten mich wieder mitnehmen? Ich erwiderte das Lächeln und schüttelte dem Direktor die Hand.

»Vielen Dank, Herr Hogart.«

»Ja, vielen, vielen Dank.« Meine Mutter drängelte sich neben mich und ergriff seine Hand, als wäre er ihr Lebensretter. Beinahe hätte ich geglaubt, sie wollte mich loswerden. Gut, dass ich schon beschlossen hatte, das Beste aus der Internatszeit zu machen. Wenn sie mir jetzt schnell mein Zimmer zeigten, war vielleicht noch Zeit, mich auf dem Hof umzusehen. Ein Teil der Jungs hatte ziemlich heiß ausgesehen ...

Es klopfte an der Tür.

»Komm herein, Julien!«, rief der Direktor.

Ach ja. Da war ja was. Die Tür öffnete sich und Julien trat ein. Er sah aus wie immer, nämlich wie ein griechischer Gott. Dunkle Locken umrahmten sein kantiges Gesicht. Seine vollen Lippen waren geschwungen wie Engelsflügel und seine Augenfarbe ähnelte geschmolzener Schokolade. Allerdings schaute er, als habe er gerade auf eine salzige Zitrone gebissen.

Ich lächelte ihm zu. Er lächelte nicht. Nichts in seinen Mandelaugen deutete darauf hin, dass er mich erkannte. Immerhin nickte er in unsere Richtung.

»Onkel Herbert, Tante Vanessa.« Seine Stimme war voll und rau. Es war immer wieder erstaunlich, dass dieser schachspielende Streber klang wie ein whiskeysaufender Schiffskoch.

»Julien!« Meine Mutter sprang auf und umarmte ihn. »Wie schön, dich zu sehen! Bist du schon wieder gewachsen?« Verdammt, sie hatte Recht. Er war mindestens zwei Zentimeter größer als ich.

»Julien.« Mein Vater klopfte ihm auf die Schulter. »Wie geht es dir? Richte meinem Bruderherz einen Gruß aus, ja? Es ist schon alles bereit für den nächsten Urlaub.«

»Natürlich.« Er lächelte knapp. Ohne mich anzusehen, wandte er sich an den Direktor. »Ich bringe Chris auf sein Zimmer.«

»Und zeig ihm die Schule.« Der Direktor winkte uns hinaus. »Nicht, dass er sich morgen früh verläuft.«

Sobald die Tür hinter uns geschlossen wurde, verabschiedeten sich meine Eltern. Ich erwartete, dass meine Mutter mich in den Arm nehmen würde, aber sie tätschelte nur meinen Rücken und eilte hinter meinem Vater her. Dann waren sie verschwunden und ich stand mit hängenden Schultern im Flur.

Einen Moment lang war ich traurig. Allein unter Fremden. Und der Einzige, den ich hier kannte, konnte mich nicht leiden. Warum auch immer. Irgendwie stritten Julien und ich uns in jedem Urlaub und auf jeder Familienfeier und statt uns davon abzuhalten, gossen unsere Familien noch Öl ins Feuer. Meine Eltern hielten mir ständig vor, dass ich ihm ähnlicher werden sollte, weil er ja so unglaublich perfekt sei und seine Eltern ... keine Ahnung.

Ein-, zweimal hatte es ausgesehen, als würde Julien ein wenig auftauen. Auf der letzten Weihnachtsfeier hatte er tatsächlich über einen Witz von mir gelacht. Die Augen seiner Eltern waren so schmal geworden, dass ihre Pupillen komplett verschwanden. Vermutlich hatten sie Angst gehabt, dass mein Versagertum auf ihn abfärben könnte. Sobald Julien ihre Blicke gesehen hatte, war er wieder todernst gewesen und hatte mir einen Vortrag über Fleiß, Ordnung und Disziplin gehalten. Glaube ich. Ich hatte nicht so genau zugehört.

Hm. Aber seine Eltern waren nicht hier. Vielleicht war er alleine ja umgänglicher? Ein Funke Hoffnung keimte in mir auf. Ich beschloss, noch mal ganz neu anzufangen und Julien vorurteilsfrei zu begegnen. Jeder hatte eine zweite Chance verdient. Außerdem konnte er mir bestimmt bei den Hausaufgaben helfen. Ich wandte mich um und sah, dass er bereits losgegangen war.

»Kommst du?«, fragte er. Seine dunklen Augen blickten geradeaus. Hatte er mich überhaupt schon angesehen?

»Klar.« Ich legte einen Sprint ein und schloss zu ihm auf. Seite an Seite gingen wir durch den bogenförmigen Gang. Ich sollte etwas sagen, dachte ich.

»Und, was machst du hier so?«, fragte ich im Plauderton. »Mom meinte, du würdest Schach spielen. Gibt's hier eine Schach-AG?«

»Ich erkläre dir kurz das Gebäude. Kein Grund, den ganzen Nachmittag mit einer Führung zu verplempern«, sagte er, ohne auf meine Fragen einzugehen. Hm. Kühl wie immer.

»Okay.« Ich grinste ihn an. »Das Wichtigste zuerst: Wo ist der Speisesaal? Und wann gibt's Abendessen? Ich könnte jetzt schon ein halbes Spanferkel verdrücken.« Juliens Gesicht drückte pure Verachtung aus. Vielleicht hätte ich nach der Bibliothek fragen sollen. »Kannst du mich nachher dahin bringen?«

»Ich sage dir, wo der Speisesaal ist.« Er würdigte mich keines Blickes. »Ich werde mit dem Schachclub essen.«

Deutlicher hätte er kaum sagen können, dass er nicht mit mir gesehen werden wollte. Na gut, dann würden wir keine Freunde werden.

»Der Speisesaal ist im Ostflügel, im Erdgeschoss«, leierte Julien herunter wie ein gelangweilter Tourguide. »Die Klassenzimmer befinden sich im Westflügel und die Turnhalle ebenfalls. Tante Vanessa meinte, du gehst ins Schwimmteam?«

»Ja, ich bin an meiner alten Schule geschwommen und es hat echt Spaß ...«

»Die Schwimmhalle ist auch im Westflügel. Es gibt ein 25-Meter-Becken. Zehn Bahnen.« Mit schnurgeradem Rücken ging er die steinerne Treppe hoch.

Ein braunhaariger Junge sauste um die Ecke und hätte uns fast gerammt. Er riss die Augen auf, als er Julien sah, wich aus und lief ohne Begrüßung weiter. Als er an mir vorbeikam, warf er mir einen neugierigen Blick zu. Julien schien ihn überhaupt nicht bemerkt zu haben.

Den Rest des Weges über erklärte er, wie ich zu meinem Klassenzimmer kam, wann die Essenszeiten waren und auf welche Verbote ich achten sollte. Verbote gab es viele. Kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Partys, keine Mädchen. Immerhin das würde kein Problem sein. Nach zehn Uhr war Nachtruhe, der Morgengong ging um sechs ... Ich schauderte.

Aus den Augenwinkeln betrachtete ich Julien. Ich hätte gern gelogen, aber er sah echt gut aus. Seine Lippen wölbten sich wie reife Früchte und dichtere Wimpern hatte ich nicht mal bei Models gesehen. Ich fiel einen Schritt zurück und warf einen Blick auf seinen Hintern ... Rücken. Auf seinen Rücken. Ich war ja nicht scharf auf Julien oder so. Das hier war eine rein objektive Betrachtung. Und rein objektiv betrachtet sah er umwerfend aus. Der blaue Blazer spannte sich über seine Schultermuskeln, als würden sie den Stoff gleich sprengen. Seit wann war Julien, der alte Streber, so kräftig?

»Machst du irgendeinen Sport?«, fragte ich, als er seine Aufzählung kurz unterbrach. »Du siehst so aus.«

Endlich blickte er mich an, wenn auch nur für einen Moment. »Ich ... habe mit Ju-Jutsu angefangen, letztes Jahr.«

»Ist nicht wahr!« Ich lachte. »Ich auch! Vor zwei Jahren. Welchen Gürtel hast du?«

»Den gelben.«

»Was? Ich auch.« Natürlich war er nach einem Jahr so weit wie ich nach zweien. Was hatte ich erwartet? Okay, ich hatte ein paarmal das Training verpasst, aber trotzdem ... »Du bist einfach in allem gut, was? Wahrscheinlich stehst du schon kurz vor der Prüfung zum orangen.«

»Nun.« Er zögerte. »Ja.« Dann beschleunigte er seine Schritte und ich hatte Mühe, hinterher zu kommen.

Schade, ich dachte, wir hätten endlich mal was gemeinsam gehabt. Ich schluckte die Enttäuschung herunter und hetzte ihm hinterher, durch die ewig scheinenden, halbdunklen Gänge. Die Fenster in den unverputzten Steinen waren winzig. Bestimmt waren sie früher Schießscharten gewesen, nicht dafür gemacht, Licht hereinzulassen. Mich beschlich wieder dasselbe gruselige Gefühl wie beim Ansehen der Broschüre. Als würde jemand hinter mir stehen, der verschwand, sobald ich mich umdrehte.

Wir stiegen noch eine Treppe hoch. Inzwischen mussten wir fast unter dem Dach sein. Keine Fenster. Nur die schwächlichen Funzeln an den Wänden erhellten den Flur. Zu beiden Seiten lagen Holztüren mit angeschraubten Metallplaketten darauf. Sie zeigten verschnörkelte Ziffern. 55, 56, 57 ... vermutlich waren das die Schlafzimmer. Am Ende des Ganges hielt Julien an.

»Dein Zimmer: Nummer 67.« Er stieß die Tür auf.

Der Raum, den wir betraten, war eng und spartanisch eingerichtet: zwei schmale Betten (ein Hochbett und ein niedriges Bett), zwei Schreibtische und ein Schrank. Alle aus dunklem Holz, mit Kerben und abgesprungenen Ecken. Neben der Tür gab es noch ein kleines Waschbecken aus zerbeultem Metall, das aussah, als würde es seit dem Ersten Weltkrieg da hängen. Das Hochbett auf der rechten Seite war wohl meins: Auf der nackten Matratze lag ordentlich gefaltetes weißes Bettzeug. Meinen Koffer hatte man auf den Schreibtisch darunter gestellt.

»Ich dachte, Rabenstein wäre ein Eliteinternat«, sagte ich und rüttelte an einem Bettpfosten. Er wirkte, als würde er gleich zusammenklappen. »Warum sind die Zimmer so schäbig?«

Julien sah mich ungläubig an. Nein, nicht ungläubig: verächtlich. Irgendwie regte er mich auf.

»Nein, wirklich: Warum?«, wiederholte ich, da er nicht antwortete.

»Hast du das Schulmanifest nicht gelesen?«, fragte er.

»Das was?«

»Das Schulmanifest. Es besagt, dass wir uns auf das Notwendigste beschränken, um uns ganz auf unsere Leistung zu konzentrieren. Du weißt schon: das Wesentliche. Steht auch alles in der Broschüre.«

»Ach, die. Ich habe mir nur die Fotos angeschaut.« Ich zuckte mit den Achseln. Julien verdrehte die Augen. Dann richtete er seinen perfekt sitzenden Blazer und warf einen Blick auf sein Smartphone.

»Ich denke, ich habe genug Zeit verschwendet. Gleich beginnt mein Nachhilfeunterricht.«

»Du nimmst Nachhilfe?«

»Ich gebe Nachhilfe. Schließlich bin ich nicht so ein Versager wie du.« Er wandte sich zum Gehen. »Hast du noch Fragen?«

»Ja, eine: Warum bist du so ein Arschloch, Julien?«

Er hatte es wieder geschafft. Zehn Minuten mit Julien und ich verwandelte mich vom Sonnenschein zum Giftzwerg. Und er ging nicht mal auf die Provokation ein.

»Ich verstehe nicht, warum ich nett zu dir sein soll«, sagte er, ohne irgendeine Regung zu zeigen. »Nur, weil wir verwandt sind. Du bist kein guter Einfluss für mich.«

Darauf fiel mir nichts mehr ein. Auf der Suche nach Inspiration sah ich mich im Zimmer um. Mein Blick fiel auf den Schreibtisch direkt vor dem einzigen Fenster im Raum. Ein geschlossener, silbrigglänzender Laptop lag auf der Tischplatte, außerdem ein geordneter Bücherstapel und ein Collegeblock. Ich deutete mit dem Kopf darauf.

»Gehören die meinem Mitbewohner? Weißt du, wer das ist?«

»Ja«, seufzte Julien und machte ein Gesicht, als würde er das Gewicht der ganzen Welt auf seinen Schultern tragen. »Ich.«

Scheiße.

3. In die Fresse

 

»Wir wohnen zusammen?«, fragte ich. Meine Stimme hüpfte vor Entsetzen. Verdammt. Wie lange, bis das Schuljahr vorbei war? Nur noch ... äh, fünf Monate oder so.

»Leider. Ich war auch dagegen, aber der Direktor hat darauf bestanden, weil ich als Einziger keinen Mitbewohner habe.« Julien deutete auf seinen Schreibtisch. »Von halb acht bis halb zehn lerne ich hier. Ich denke nicht, dass du das Gleiche tust, aber sei in dieser Zeit bitte ruhig. Konzentration ist entscheidend. Keine laute Musik, keine Gespräche. Und ich hoffe, du rauchst nicht.« Mit diesen Worten öffnete er die Tür und trat in den Flur.

»Ich ... ich hoffe, du schnarchst nicht«, rief ich, in dem Moment, in dem die Tür zuklappte. Natürlich knallte er sie nicht. Das wäre zu viel Gefühl für einen Roboter wie Julien gewesen. So ein Arsch.

Dann war ich allein. Mir war vorhin gar nicht aufgefallen, wie still es hier war. Das Knarzen der Bodendielen klang ohrenbetäubend, als ich zum Fenster ging. Beim Blick aus der verglasten Schießscharte stockte mein Atem. Sie ging genau auf das Meer hinaus, das sich gerade in gigantischen Wellen gegen die Klippen warf. Gischt spritzte bis auf den kurz geschorenen Rasen, der vom Wind niedergedrückt wurde. Leider war es verboten, die Klippen zu betreten. Lebensgefahr, hatte Julien gesagt.

Ich schielte zu meinem Koffer und überlegte, ihn auszupacken. Langweilig. Ich wartete ein paar Augenblicke, um sicherzugehen, dass Julien aus dem Flur verschwunden war, dann verließ ich das Zimmer. Zeit, meine Mitschüler auszuchecken.

Auf dem Weg zum Hof verlief ich mich. Keine Ahnung wie, aber die Orientierung zu verlieren war schon immer eine Spezialität von mir. Ich landete irgendwo zwischen Ost- und Westflügel, in einem dunklen Gang (die einzige Art Gang in Burg Rabenstein). Um mir einen Überblick zu verschaffen, sah ich aus einem der Fenster: Da war der Hof, nur ein Stockwerk unter mir.

Immer noch wanderten Schüler herum, saßen auf den weißen Bänken und die Jüngeren jagten sich über die Kieswege. Hinter einer akkurat gestutzten Hecke, geschützt vor den Blicken des Lehrers, der mit strenger Miene über den Hof schritt, stand eine Gruppe Jungs. Ich beobachtete einen wasserstoffblonden Kerl, dessen Bizeps fast seine Ärmel sprengte. Sein Gesicht war nichts Besonderes: spitze Nase, breiter Mund. Aber als er sich umdrehte, um den Laptop, den ihm jemand zuwarf, zu fangen, sah ich, wie sich der blaue Stoff über seinem Knackarsch spannte. Nice.

Ich war so abgelenkt, dass ich mich erst einen Moment später fragte, was sie da eigentlich trieben. Dann bemerkte ich den kleinen Braunhaarigen, der uns vorhin auf der Treppe begegnet war. Er versuchte, das silberne MacBook zu erreichen, das der Blonde hoch über seinen Kopf hielt. Der Kleine sprang, einmal, zweimal, kam aber nicht heran. Sein Gesicht war knallrot und verzweifelt.

Der blonde Knackarsch lachte. Drei andere Kerle, alle braungebrannte Kolosse, feuerten ihn an. Bevor ich wusste, was ich tat, raste ich bereits die Treppenstufen hinunter. Durch das Tor, in den Sonnenschein. Lachen empfing mich. Innerhalb von Sekunden hatte sich eine Traube um die fünf Jungs gebildet.

»Spring höher, Schwuchtel!«, rief jemand. »Na los!«

»Höher, Schwuchtel! Höher, Schwuchtel!«, schrien die anderen. Der Braunhaarige blieb stehen. Er ballte die Fäuste und sah aus, als ob er gleich heulen würde. Der Kreis um die Fünf war so dicht, dass ich mich mit Ellenbogeneinsatz durchquetschen musste. Mit beschwingtem Schritt schlenderte ich in die Mitte, bis ich direkt hinter Blondie stand. Ich streckte mich und zog ihm das MacBook aus den Fingern.

»Was ...« Er wandte sich nach rechts und ich spazierte links an ihm vorbei. In aller Seelenruhe legte ich dem Braunhaarigen eine Hand auf die Schulter und schob ihn vorwärts.

»Ach, hier bist du. Komm mit, ich muss mit dir reden«, sagte ich. Er starrte mich aus riesigen Augen an. Irgendwie sah er aus wie ein Katzenbaby. Ich winkte in die Runde. »Macht's gut, Leute. Bis später.«

Freundlich bleiben, das verwirrt sie. Genau das hatte mein Ju-Jutsu-Lehrer gesagt. Versucht es immer erst friedlich. Kämpft nur, wenn es absolut ...

Ein Stein flog mir an den Hinterkopf.

Es fühlte sich an, als würde er meine Schädeldecke durchschlagen. Ein gleißender Schmerz, der mich umgehauen hätte, wenn ich nicht die Hand auf der Schulter des Braunhaarigen gehabt hätte. Ich stützte mich auf ihn, bis ich wieder klar sehen konnte. Dann wandte ich mich um. Gerade rechtzeitig, um die Faust des Blonden in die Rippen zu bekommen. Ich drehte mich seitlich, so dass sein eigener Schwung ihn vorwärts riss. Den Schmerz ignorierend packte ich seinen Nacken, stellte meinen Fuß vor seinen – und schmetterte ihn zu Boden.

Kies spritzte nach allen Seiten, als der Blonde landete. Er stieß einen Wutschrei aus. Schritte näherten sich. Die drei Typen, die mir eben schon aufgefallen waren, kamen mit geballten Fäusten auf mich zu. Verdammt, wo war der Lehrer, der eben noch über den Hof spaziert war? Und was war das für eine Schule? Ich hatte mich seit dem Kindergarten nicht mehr prügeln müssen, aber hier hatte ich gleich am ersten Tag vier Gegner am Hals. Ich stellte mich in Position und hob die Hände, wie ich es im Training gelernt hatte.

»Tim?«, fragte einer von ihnen, ein Rothaariger, und beugte sich zu dem Blonden hinunter. Die anderen beiden (ich taufte sie spontan Froschauge und Sommersprosse) stürzten sich auf mich. Reflexhaft wischte ich die Faust des Ersten zur Seite, packte den Arm, bückte mich und schleuderte den Typen von mir. Er krachte zu Boden. Ein Arm flog an meinem Gesicht vorbei und schloss sich um meinen Hals. Ich trat nach hinten aus und erwischte seinen Fuß. Der Kerl hinter mir brüllte in mein Ohr, dass mein Trommelfell klingelte. Und lockerte seinen Griff. Ich wand mich heraus, packte seinen Arm und drückte ihn mit meinem Gewicht zu Boden.

Aber da stand Tim schon wieder auf. Ich registrierte, dass er sich erhob, konnte aber nichts machen. Schließlich musste ich seinen zappelnden Kumpel festhalten. Verdammt, wie sollte ich gegen drei Gegner gleichzeitig kämpfen?

Der Rothaarige tauchte hinter Tim auf.

Vier Gegner.

Scheiße.

Zwei Sekunden später hatten sie mich zu Boden geworfen und meine Wange in den Kies gedrückt. Irgendwer verdrehte meine Arme hinter dem Rücken. Ich versuchte, mich aufzubäumen, aber das schmerzte so sehr, dass ich es bald aufgab. Dann kam Tim in mein Blickfeld. Ich sah seinen Fuß ausholen, als wolle er einen Elfmeter schießen, und schloss die Augen. Eine Ladung Kies traf mein Gesicht. Die Steinchen bohrten sich in meine Haut wie Schrotkugeln. Verdammt, tat das weh! Ich presste die Lippen zusammen, um nicht zu schreien.

Plötzlich war es still. Erst jetzt merkte ich, dass wir die ganze Zeit von einer johlenden Menge umgeben gewesen waren. Aber ich war nicht so blöd, die Lider zu öffnen. Wer wusste, wann mich die nächste Fuhre Kies erwischen würde?

»Was zur Hölle ist hier los?« Die Stimme klang schroff, als würde ein uralter Dieselmotor anspringen. Ich öffnete ein Auge.

Eine Frau stand vor uns. Ein Zigarettenstummel klebte in ihrem faltigen Mundwinkel und ihre schwarzen Knopfaugen musterten mich. Über das schneeweiße Gestrüpp ihrer Haare hatte sie eine orangefarbene Mütze mit lila Streifen gestülpt. Wer war das? Die Putzfrau?

»Wer bist du denn?«, raunzte sie. Dann winkte sie ab, bevor ich antworten konnte. »Egal. Ihr Fünf kommt mit zum Direktor, aber zack, zack!«

Endlich ließen sie meine Arme los. Das Blut schoss zurück in meine tauben Gliedmaßen. Ich massierte die kribbelnden Ellenbogen und blickte in die Gesichter meiner Angreifer. Sie waren wachsweiß und zornig. Der Braunhaarige war nicht mehr zu sehen. Die Menge löste sich auf. Von den Burgzinnen her hörte ich das Kreischen der Raben.

 

***

 

Kurz darauf stand ich das zweite Mal vor dem Direktor. Zwischen seinen Augenbrauen prangte eine Falte, die er beim Gespräch mit meinen Eltern nicht gehabt hatte. Verdammt. Die Alte hatte uns hergebracht, gesagt, wir hätten uns geprügelt und war verschwunden.

Die vier Jungs neben mir schienen plötzlich sehr nervös. Ihre Füße scharrten über den Boden, bis der Direktor sie scharf ansah. Danach hörte man nur noch das Ticken der Standuhr und das zu laute Atmen des froschäugigen Kerls rechts von mir. Der tupfte seine Nase ständig mit einem Taschentuch ab, das bereits tiefrot war. Wann hatte ich seine Nase erwischt? Das musste bei der Rangelei im Kies passiert sein ...

»Erklären Sie sich.« Der dröhnende Bass des Direktors riss mich aus meinen Gedanken.

»Also«, begann ich, aber Tim machte einen Schritt nach vorne.

»Er hat uns angegriffen«, sagte er. Was? Sein Gesicht war erzürnt, nein, entrüstet, als könnte er nicht fassen, was ich ihnen angetan hatte. »Weiß auch nicht, warum. Wir standen gerade im Hof und da kommt dieser Psycho angerannt und schlägt Gregor auf die Nase.«

»Ich glaube, die ist gebrochen.« In Froschauges Froschaugen schimmerten Tränen. Ich konnte es nicht fassen.

»Was sollten wir denn machen?«, fragte Tim den Direktor. »Wir mussten uns doch wehren.«

»Moment mal, so war das nicht.« Ich starrte sie ungläubig an. »Ihr habt mich angegriffen. Und nur ...«

»Ihre Version höre ich mir später an.« Der Blick des Direktors brachte mich zum Schweigen. Ich hörte mir die herzerweichende Geschichte des Idiotenquartetts an, in der sie, die unschuldigen Häschen, von einem wahnsinnigen Hooligan (mir) völlig grundlos attackiert worden waren. Sie hatten mich kaum bändigen können! Gerade so hatten sie mich zu Boden zwingen können, bis endlich Hilfe kam ...

Ich schnaubte leise. Als ich endlich damit dran war, die Wahrheit zu erzählen, sahen sie mich aus weit aufgerissenen Augen an. Der Direktor musste doch sehen, dass die spielten!

»Sie können sich ja die Beule anschauen, die ich auf dem Hinterkopf habe. Wahrscheinlich liegt der Stein immer noch im Hof«, schloss ich.

»Das ist nicht nötig. Ich habe meine Entscheidung getroffen.« Er tippte etwas auf seiner pfannkuchendünnen Tastatur. »Ihre Erzählungen widersprechen sich, aber eins ist klar: Dass Sie sich geprügelt haben. Wie Sie alle wissen, ist das verboten. Eine Woche Aufräumdienst statt Abendessen für alle. Ab heute. Melden Sie sich beim Hausmeister.«

Dann faltete er die Hände und bedeutete uns rein durch seinen Blick, dass das Gespräch beendet war. Der Mann hatte eine Autorität wie ein General. Man musste ganz schön blöd sein, um sich mit ihm anzulegen.

Aber irgendeinen Trottel gibt es ja immer.

»Was?«, rief ich. »Aber die lügen! Warum befragen Sie nicht die ganzen Leute, die zugeschaut haben. Die werden ...«

Froschauge boxte mir in die Seite, damit ich die Klappe hielt. Zu spät.

»Zwei Wochen Aufräumdienst statt Abendessen.« Der Direktor sah mich nicht einmal an. »Und jetzt raus hier.«

Bevor ich noch etwas sagen konnte, hatten die anderen mich gepackt und nach draußen gezerrt. Sobald die Tür zu war, sah der Blonde sich um. Der Flur war leer.

Sein Schlag traf meinen Magen wie ein Dampfhammer. Die Luft wurde aus meinen Lungen gepresst und mein Mund füllte sich mit Galle. Ich hätte mich gewehrt, aber die drei anderen hielten mich fest. So keuchte ich nur und ging in die Knie.

»Gut gemacht, Arschkopf«, zischte er. Wie hieß er nochmal? Ach ja: Tim. »Wegen dir gibt's jetzt zwei Wochen kein Abendessen. Wir sind Sportler, verdammt. Wir müssen essen.«

»Genau.« Der Kleine spuckte mir ins Gesicht. Irgendwie tat das mehr weh als die Schläge vorhin. An die war ich wenigstens aus dem Training gewöhnt. Sie ließen mich los und ich wischte mir die Nässe von der Wange.

»Blöder Wichser«, flüsterte Tim, zur Tür hinter mir schielend. Er drehte sich um. Die Schritte der Vier verklangen, während ich immer noch auf dem Boden hockte. Was war geschehen? Ich hielt mir den Bauch, bis der Schmerz abklang. Dann humpelte ich ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung, um die Ecke, bis das Büro des Direktors nicht mehr zu sehen war.

Was waren das für Arschlöcher? Und warum hatte mir niemand geholfen? Vier gegen einen, da hätte auf meiner alten Schule längst jemand eingegriffen. Ich rieb meine Arme. Sie waren bedeckt von Gänsehaut.

»Hey.« Ich fuhr herum, als ich das Flüstern hörte. Der Braunhaarige trat aus den immer dunkler werdenden Schatten. Er presste das MacBook gegen seine Brust und seine Augen schimmerten nervös. Sein Gesicht wirkte, als würde es voll Sommersprossen sein, sobald die Sonne herauskam.

»Was ... was habt ihr bekommen?«, fragte er. Erst verstand ich nicht, was er meinte.

»Ach, die Strafe? Zwei Wochen Aufräumdienst statt Abendessen. Eigentlich nur eine, aber dann habe ich dem Direktor widersprochen.«

»Was?« Er riss die Augen auf. Hm. Der war ziemlich niedlich. Die anderen hatten ihn Schwuchtel genannt ... ob das stimmte? Für einen Moment vergaß ich meine Schmerzen. »Wir dürfen ihm nicht widersprechen. Wenn er eine Entscheidung fällt, ist die endgültig. Hat dir das niemand gesagt?«

»Nein.« Irgendwie musste Julien das bei seiner Zwei-Sekunden-Einführung vergessen haben. »Wir sollten uns doch wenigstens verteidigen können. Ich habe mich nur gewehrt.«

»So läuft das hier nicht«, murmelte er. Ich musste mich anstrengen, um ihn hören zu können. »Prügeleien sind verboten. Selbst wenn man sich nicht wehrt, wird man bestraft. Ich ... ich weiß das.«

»Oh. So ein Schwachsinn.«

»Psst!« Er hielt sich den Finger an die Lippen und sah sich um. »Komm mit. Also ... wenn du willst.«

»Klar.« Ich zuckte mit den Achseln. »Ich habe Zeit. Das Abendessen fällt für mich ja eh aus.«

»Oh. Moment.« Er kramte in seiner Hosentasche. Dann hielt er mir einen Schokoriegel hin. Sofort hatte ich wieder gute Laune. Die Schokolade war aufgeweicht und warm, aber die Erdnüsse zerknackten köstlich zwischen meinen Zähnen. Der Braunhaarige war ab sofort mein bester Freund, soviel war klar.

»Wie heißt du?«, schmatzte ich. »Ich bin Chris.«

»Benni.« Er sah sich um, als ob das ein Geheimnis wäre. Der Junge war nervöser als ein Kaninchen im Fuchsbau. »Ich ... ich kann dir beim Aufräumdienst helfen, wenn du magst.«

»Musst du nicht zum Abendessen?«

»Ach, das ist mir egal. Das Essen ist nicht so wichtig wie ... wie mein Laptop. Keine Ahnung, was sie damit gemacht hätten.«

»Ich glaube, die wollten dich nur ärgern.« Ich kratzte die restliche Schokolade aus der Verpackung. Verdammt, ich hätte mir was zum Futtern einpacken sollen. Ob meine Mutter mir ein Paket schicken würde? So konnte ich doch keine zwei Wochen durchhalten.

»Ja, bestimmt.« Benni sah zu Boden.

»Was ist?«

»Ich ... Tim hat auch meinen letzten Laptop kaputtgemacht. Aber da hat ihn niemand erwischt und ich konnte nichts beweisen. Und Gregor hat gesagt, er bricht mir einen Finger, wenn ich mit meinen Eltern darüber rede.«

»Autsch.« Was Besseres fiel mir nicht ein. Den Finger brechen? Erneut fragte ich mich, was das für eine verdammte Schule war. Benni sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Ich versuchte es mit einem vorsichtigen Schultertätscheln. Seine Unterlippe hörte auf zu zittern.

»Ach, geht schon«, murmelte er. »Die Jungs aus dem Schwimmteam sind halt Arschlöcher.«

Ich bremste so stark, dass meine Schuhsohlen quietschende Geräusche auf dem Boden machten.

»Tim und die anderen Trottel sind im Schwimmteam?«, fragte ich.

»Ja, alle.«

»Kacke.« Ich fuhr mir durch die Haare. »Ich auch.«

Bennis Gesicht wurde blass.

»Naja, wird schon.« Ich grinste. »Die werden mich bestimmt nicht ertränken.«

Benni sagte nichts. Ich wartete darauf, dass er etwas antworten würde, aber er schwieg.

»Benni?«

»Nein, nein. Bestimmt nicht.« Er schenkte mir ein schwaches Lächeln. Okay, jetzt hatte ich Angst.

Immerhin brachte Benni mich zum Hausmeister. Der beschwerte sich, dass wir so lange gebraucht hatten, und warf uns zwei Greifer zu. Das sind diese Metalldinger, mit denen man Müll aufpicken kann, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.

Wir schafften es bis neun Uhr gerade mal, eine Ecke des Hofs von toten Blättern und Kaugummipapierchen zu befreien. Kein Wunder: In der Abendkälte fielen uns ständig die Greifer aus den klammen Händen. Aber Benni taute ein wenig auf. Nach einer Weile sah er nicht mehr alle drei Sekunden über seine Schulter, als würde Tim plötzlich aus den Büschen auftauchen und ihn fressen.

Es stellte sich sogar heraus, dass wir den gleichen Lieblingsfilm hatten: Massaker im Mönchskloster, ein italienischer Horrorfilm von 1978. Benni bewunderte die billigen Effekte und den genialen Soundtrack. Ich liebte die Dialoge, die so grottig waren, dass ich Schluckauf vor Lachen bekam. Außerdem mochte ich den jungen Mönch, der den halben Film über mit freiem Oberkörper herumlief. Aber das verschwieg ich Benni. Ich hätte ihn gerne gefragt, ob er auch auf Jungs stand, aber er hatte gerade ein wenig Vertrauen gefasst, da wollte ich ihn nicht überrumpeln.

Als wir mit dem Aufräumen fertig waren und hereingingen, war es stockfinster. Die Gänge schienen zu schrumpfen, während wir hindurch trotteten. Ich hatte ständig das Bedürfnis, mich umzudrehen und zu schauen, ob uns niemand folgte. Die Lichter an den Wänden verwandelten unsere Schatten in langgestreckte Gestalten, die uns verfolgten, nur um dann plötzlich vor unseren Füßen aufzutauchen.

Ich war froh, als ich endlich vor Zimmer 67 stand.

»Danke fürs Herbringen. Ich hätte die Bude alleine nicht wiedergefunden.« Ich lächelte Benni zu. Der starrte auf meine Zimmertür.

»Du wohnst bei Julien?«, fragte er.

»Ja, leider. Sein Zimmer war das Einzige, in dem noch Platz war. Kein Wunder. Wahrscheinlich will keiner bei ihm wohnen.«

»Bei Julien?« Benni runzelte die Stirn. »Aber nein, da will jeder wohnen. Er hatte auch einen Mitbewohner, bis vor kurzem.«

»Ach. Was ist mit dem passiert? Ist er geflüchtet?«

Benni schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen.

»Nein, der ... der ist gestorben.«

4. Stör mich nicht

 

»Was?« Mein Magen fühlte sich an, als hätte er noch einen Schlag abbekommen. Ich forschte in Bennis Gesicht nach, ob er vielleicht Witze machte. Es sah nicht so aus. Er wich meinem Blick nicht aus und seine Wangen waren so blass, als hätte er gerade eine Leiche gesehen. »Juliens alter Mitbewohner ist tot? Wie ist das passiert?«

»Ich ...« Er umklammerte seinen Oberkörper mit den Armen, als würde er frieren. Es war kalt in diesem zugigen Flur, aber ich glaube, es lag mehr an den Zimmertüren, von denen einige nur angelehnt waren. Hatte er Angst, dass jemand zuhören könnte? »Reden wir morgen darüber, ja? Ich ... ich muss noch lernen.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und huschte davon. Den Flur entlang, bis er in einem Zimmer kurz vor der massiven Steintreppe verschwand. Oh, gut, er wohnte auch auf dieser Etage ... Was zur Hölle? Nicht nur, dass sie hier ein Mobbingproblem hatten, es starben auch noch Leute?

Na ja. Nichts überstürzen. Vielleicht hatte der Kerl nur einen Herzfehler gehabt. Aber Bennis Stimme hatte mir Schauer über den Rücken gejagt. Meine Nackenhaare stellten sich auf, als ich daran dachte. Jetzt, wo ich allein war, schien der Flur noch dunkler und kälter zu sein. Ich beeilte mich, ins Zimmer zu kommen. Leider war Julien da.

Er saß über seinen Laptop gebeugt am Schreibtisch, die dunklen Haare verwuschelt, einen Bleistift hinters Ohr geklemmt. Irgendetwas passierte mit meinem Magen, als ich seinen breiten Rücken sah. Es fühlte sich an, als würde ein dünnes Gummiband reißen. Ich räusperte mich. Er drehte sich nicht um.

»Ich bin zurück«, sagte ich.

»Das höre ich. Stör mich bitte nicht.« Seine Stimme war schneidend. Immer noch sah er auf den leuchtenden Bildschirm. Das kalte Licht tanzte über seine Lesebrille.

»Aber ich muss dich was fragen, wegen ...«, begann ich.

»Stör mich nicht«, wiederholte er.

Meine Schultern sanken nach unten. Fast eineinhalb Jahre würde ich mit ihm in diesem Gefängnis hocken. Viel zu lange. Und mein Bett war immer noch nicht gemacht. Ich streifte meine Schuhe ab, kletterte über die Leiter nach oben und schüttelte das weiße Betttuch aus. Ich hatte so wenig Platz, dass ich mit dem Kopf gegen die Zimmerdecke knallte, sobald ich versuchte, mich aufzurichten. Trotzdem schaffte ich es, das Bett zu beziehen. Gut, der Bezug war schief, und das Kopfkissen irgendwie verdreht, aber das sollte wohl reichen.

Ich überlegte, ob ich meine Zähne putzen oder duschen sollte. Oder meine Sachen einräumen. Ich sprang vom Bett und öffnete den Verschluss des Koffers. Meine Mutter hatte ihn gepackt. Das erkannte ich an den in winzige Päckchen gefalteten Klamotten und dem leichten Zigarettengeruch, der immer an ihren Händen klebte. Sehnsucht nach daheim übermannte mich.

Und auf einmal war ich hundemüde. Mein Hinterkopf pochte, da, wo ihn der Stein getroffen hatte, und meine Augenlider waren wie aus Blei. Ich zuckte mit den Schultern und zerrte mir meinen Pullover samt Shirt über den Kopf, stieg aus meiner Hose und feuerte die Klamotten auf meinen Schreibtischstuhl. Nur noch mit Slip und Socken bekleidet, trottete ich zu meinem Hochbett.

»Gute Nacht«, brummte ich und setzte einen Fuß auf die unterste Sprosse der Leiter. Ein klackendes Geräusch ließ mich innehalten.

Der Bleistift, der hinter Juliens Ohr geklemmt hatte, war zu Boden gefallen. Julien starrte mich mit halb geöffnetem Mund an, die Schokoladenaugen weit aufgerissen. Als sich unsere Blicke trafen, zuckte er zusammen. Seine Miene rutschte zurück in die übliche distanzierte Arroganz.

»Seit wann hast du das?« Er hob den Bleistift vom Boden auf und deutete auf meinen Rücken.

Ach, das hatte ihn so aus dem Konzept gebracht.

»Das Tattoo? Seit drei Monaten.« Ich grinste. »Nicht schlecht, was?«

Es hatte mich meine gesamten Ersparnisse gekostet, aber es hatte sich gelohnt. Allein deshalb, weil Julien einen Moment lang seine Maske hatte fallen lassen. Das Motiv waren zwei Drachen, einer aus Feuer, einer aus Eis. Ihre orangeroten und kobaltblauen Flammen bildeten ein Muster, das fast meinen ganzen Rücken bedeckte.

»Der Tätowierer war ein Vollprofi. Ich habe ihm erzählt, was ich will und der hat das genau so gezeichnet, wie es in meinem Traum ausgesehen hat. Hammer, oder?«

»Was für ein Traum?«

»Na ja.« Ich kratzte mich am Hals. Es war mir ein wenig peinlich, Julien davon zu erzählen. »Ich hatte so einen Traum, und in dem kamen sie vor ... Kennst du das, wenn du aufwachst und weißt, dass du ... na ja, einen Blick in die Zukunft geworfen hast oder so? So war das. Diese beiden Drachen sind um mich herum geflogen und haben sich immer wieder umkreist, ich weiß nicht, ob sie gespielt haben oder sich gegenseitig töten wollten ... und bevor ich es herausgefunden habe, bin ich aus dem Bett gefallen.«

Ich hatte den Traum nicht verstanden, aber er schien wichtig zu sein. Noch während ich mit einer frischen Beule am Hinterkopf vor meinem Bett gelegen hatte, hatte ich beschlossen, dass ich ihn festhalten musste. Ich drehte Julien den Rücken zu, damit er es besser sehen konnte.

»Was denkst du?«

Er seufzte. »Kitschig und unreif. Das war pure Geldverschwendung und in ein paar Jahren wird es dir leidtun. Wissen deine Eltern davon?« Julien und sein Talent, alles schlecht zu machen. Ich drehte mich zu ihm um.

»Ja.« Ich zögerte. »Das ist einer der Gründe, aus denen sie mich loswerden wollten. Weil ich Papas Unterschrift gefälscht habe. Aber wenn man unter achtzehn ist, kann man sich nur mit Erlaubnis der Eltern tätowieren lassen.«

»Und das ist auch gut so.« Julien schüttelte den Kopf. »Wir sind zu jung, um dauerhafte Entscheidungen zu treffen. Es ändert sich noch zu viel in unseren Leben.«

»In deinem Leben ändert sich überhaupt nichts.« Ich verschränkte die Arme. »Du erzählst, seit du fünf warst, dass du Anwalt werden willst und du wirst in fünfzig Jahren noch genau so einen Stock im Arsch haben wie heute.«

Er rollte die Augen, als könnte er nicht fassen, wie blöd ich war. Obwohl er saß und ich stand, wirkte er größer und erwachsener.

»Das ist etwas anderes. Das Ding da«, er deutete auf meinen Rücken, »wirst du nie wieder los. Was, wenn du es in fünf Jahren total peinlich findest? Und das wirst du.«

»Werde ich nicht.«

Er musterte mich und es fühlte sich an, als würden sich seine Pupillen direkt in meine Seele bohren. Dann hob er eine Augenbraue.

»Du bist also gar nicht freiwillig hier?«, fragte er. »Onkel Herbert und Tante Vanessa meinten, du würdest an deiner alten Schule nicht genug gefordert.«

»Natürlich sagen sie das.« Ich lachte kurz auf. »Sie können ja nicht vor dir und dem Rest der Familie zugeben, dass sie mich rausgeschmissen haben. Nein, der eigentliche Grund sind das Tattoo, meine miesen Noten und ein Kerl namens Michi, den sie nackt in meinem Zimmer erwischt haben.«

»Ah.« In Juliens Gesicht zuckte kein Muskel. »So etwas dachte ich mir bereits.«

»Und warum bist du hier? Der gleiche Grund?«, fragte ich, gegen alle Logik hoffend, dass er ebenfalls rausgeworfen worden war.

»Meine alte Schule hat mich nicht genug gefordert.« Natürlich. »Wir haben uns insgesamt elf verschiedene Internate angesehen und Rabenstein hat die meisten Jurastudenten hervorgebracht, sowie die meisten erfolgreichen Anwälte unter seinen Alumni. Hier kann ich mich ausgezeichnet auf meine Laufbahn konzentrieren. Und das werde ich jetzt tun.«

Er wandte sich ab. Ich wartete noch ein paar Sekunden, aber er begann sofort wieder, auf seine Tastatur einzuhämmern.

»Gute Nacht«, sagte ich und bekam keine Antwort.

Als ich mich in die frische Bettdecke wickelte, verfiel ich endgültig dem Heimweh. Ich wollte zurück, nur noch zurück. Die ganze verdammte Burg schien mein Feind zu sein. Ich holte mein Handy heraus und rief meine Mutter an. Eine vertraute Stimme zu hören, würde mich aufmuntern. Aber sie ging nicht ran.

Reiß dich zusammen, sagte ich mir. Du bist fast zwei Meter groß und kannst 150 Kilo stemmen. Aber in diesem Moment fühlte ich mich wie ein kleiner Junge. Der das nach Waschmittel duftende Kissen in den Arm nehmen musste, um sich sicher zu fühlen.

Ich sah nach oben, an die Zimmerdecke. Hier hat der tote Junge geschlafen, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Er hat auf dieselben Deckenbalken geschaut, auf derselben harten Matratze gelegen. Ich fröstelte. Die einzigen Geräusche waren Juliens Tastaturgeklapper und das Brechen der Wellen draußen. Etwas schrie, schrill und herzzerreißend. Vermutlich eine Möwe. Hoffentlich eine Möwe.

Morgen wird alles besser, sagte ich mir. Aber es dauerte lange, bis ich einschlafen konnte.

5. Mein erster Schultag

 

Der Weckgong schallte durch den Flur und unsere Tür. Ich zog das Kissen über die Ohren, um das dumpfe Dröhnen auszublenden. Mein Kopf war noch schwammig vom Schlaf, von einem Traum, der rapide verblasste. Irgendetwas mit fliegenden Raben, die meine Seele mitnahmen. Wie die Raben auf den Burgzinnen? Unheimlich. Ich blinzelte. Dann wälzte ich mich herum und spähte über die Bettkante. Julien war bereits fertig angezogen. Er band gerade seine Krawatte in dem kleinen Spiegel, der an der Innenseite des Schranks angebracht war.

»Mmwieso bistn schon wach?«, brachte ich krächzend hervor.

»Ich stehe immer eine Viertelstunde vor dem Gong auf.« Er richtete seinen Kragen, dann nickte er seinem Spiegelbild zu. Kein Fusselchen Staub verunzierte seine Schuluniform. Vor allem nicht da, wo die graue Hose über seinem festen kleinen Hintern spannte ... Meine Müdigkeit ließ ein wenig nach.

»Warum?« Schwerfällig setzte ich mich auf.

»Damit ich noch eine Lerneinheit in der Bibliothek einlegen kann. Das Gehirn ist früh morgens besonders aufnahmefähig.

---ENDE DER LESEPROBE---