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Ein großes literarisches Zeugnis über das Menschsein in widrigsten Umständen Bis zum Vorabend des 4. Juni 1989 führt Liao Yiwu das Leben eines so unbekannten wie unpolitischen Hippie-Poeten. Doch mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens ist schlagartig alles anders. Nachdem Liao ein kritisches Gedicht verfasst hat, wird er zu vier Jahren Haft im Gefängnis und in einem Arbeitslager verurteilt. In seinem großen Buch schildert Liao auf literarisch höchst eindringliche Weise die brutale Realität seiner Inhaftierung. Dabei ist er schonungslos, auch sich selbst gegenüber: Er beschreibt, wie er und seine Mithäftlinge zu Halbmenschen degradiert werden und dabei manchmal selbst vergessen, was es bedeutet, Mensch und Mitmensch zu sein. Liao Yiwu zeigt sich in diesem eindrucksvollen Buch abermals als einer der ganz großen Autoren Chinas, als einer der sprach- und bildmächtigsten Schriftsteller unserer Zeit. »Wer dieses Buch gelesen hat, versteht, was Verfolgung und umzingelte Einsamkeit anrichten. Das Buch ist Poesie und Zeitgeschichte zugleich.« Herta Müller
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Seitenzahl: 871
Liao Yiwu
Für ein Lied und hundert Lieder
Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann
Fischer e-books
Mit dem Gedichtzyklus »Liebeslieder aus dem Gulag« und einem Brief von Liu Xiaobo an Liao Yiwu
Mein lieber Liao,
warum quälst Du mich so! Wenn ich Deine Stimme höre, frage ich mich immer, ob ich eigentlich das Recht habe weiterzuleben. Ich weine, aber meine Tränen fließen nach innen, danach geht das Leben weiter, so schamlos und leichthin wie immer. Die Menschen sind tot, nur die Hunde sind davongekommen! Bin ich ein Hund? Sind wir alle Hunde? Jetzt nur kein Selbstmitleid! Hunde sind wenigstens noch Hunde, verdammt nochmal, aber sind die Chinesen noch Menschen? Wer findet wohl eher Gnade in den Augen des Schöpfers, Menschen, die keine Menschen mehr sind, oder Hunde, die sich wenigstens noch aufführen wie Hunde? Aber wir sind nicht einmal so viel wert wie Hunde, unsere Nachkommen sind weniger wert als Hunde. Die Chinesen sind nichts. Und wir, diese sogenannte Elite, sind nichts. Das Blut, das vergossen wurde, ist nichts, der Verrat ist nichts, das Vergessen ist nichts. Wegen Deines Gedichts »Massaker« hast Du vier Jahre im Knast gesessen, ich denke, das war es wert.
Der Knast gibt dem einsamen bisschen Gewissen mehr Trost als all die Reue und die ganzen Selbstvorwürfe. Du solltest mit ihnen wirklich keine Lesung veranstalten, Deine Welt ist längst eine andere, während sie doch sehr normal sind und vernünftig, da macht XX keine Ausnahme. Die einzige Rechtfertigung dafür, dass ich mit dieser Schande weiterlebe, ist die, dass ich es für die Unglücklichen tue, deren Blut geflossen ist. Der »4. Juni« war für mich der schwärzeste und der blutigste Tag, und all die Tage und Nächte danach waren weder schwarz noch rot. Wenn Schamlosigkeit eine Farbe hat, dann diese. Womit man nicht fertig wird, damit wird man niemals fertig, selbst wenn wir eines Tages den Unglücklichen Trost spenden können sollten, die für unser Land gestorben sind. Aber ich muss Dir noch danken, und deshalb sage ich Dir mit dem letzten Rest an Ehrerbietung, den ich aufbringen kann: »Ich danke Dir, mein alter glatzköpfiger Freund!«
Xiaobo,
am 24. November 1999, zu Hause.
Am 10. Oktober 1995 stürmte die Polizei überraschend meine Wohnung in Chengdu, konfiszierte das Manuskript dieses Buches, das kurz vor dem Abschluss stand, und verkündete, ich würde nach dem Gesetz für zwanzig Tage unter bewachten Hausarrest gestellt. In dieser Situation blieb mir nichts anderes übrig, als das ganze Buch noch einmal zu schreiben, was mich drei Jahre meines Lebens kostete.
Zuvor hatte die Polizei zwischen dem 16. und 19. März 1990 dreimal meine Wohnungen in Chongqing und Fuling durchsucht. Anlass waren die Geschehnisse, an die dieses Buch erinnern sollte; dabei wurden meine sämtlichen Manuskripte aus den 80er Jahren konfisziert, insgesamt etwa 1 500 000 Schriftzeichen, das sind fast zweitausend Seiten in einer westlichen Sprache. Danach stürmten sie im September 1998, im März 1999 und im Dezember 2002 meine Wohnungen u.a. in Beijing, Jiangyou und Chengdu; ich wurde verhaftet, durchsucht, man raubte mir sämtliche Manuskripte (über 1000 Seiten), darunter auch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser – Chinas Gesellschaft von unten« und die »Aufzeichnung der Justizverbrechen in China«.
Bei jedem dieser Desaster kam mir der gleiche Gedanke in den Sinn wie Solschenizyn, wenn der KGB wieder einmal sein Manuskript des »Archipel Gulag« beschlagnahmt hatte: »Sofort veröffentlichen!«
Aber die Zeiten haben sich geändert, mir bleibt nichts anderes übrig, als Höhlen zu graben, immer mehr Höhlen, wie eine Maus, und die überlebenden Texte immer sorgfältiger an immer entlegeneren Orten zu verstecken …
Im März 1990 hat das Amt für Öffentliche Sicherheit des chinesischen Staates in Chongqing einen außerordentlich großen Fall von Konterrevolution aufgedeckt; überführt wurden ausnahmslos nichtstaatliche Avantgarde-Dichter und Künstler von einem gewissen Einfluss. Es handelte sich dabei um Liao Yiwu, Wan Xia, Liu Taiheng, Li Yawei, Ba Tie, Gou Mingjun und den Videokünster Zeng Lei. In über zehn Städten wie u.a. Chongqing, Chengdu, Fuling, Leshan, Nanchuan, Beijing, Shenzhen und Shanghai wurden Kulturschaffende vorgeladen, vor Gericht gestellt, in Prozesse verwickelt, inhaftiert – darunter die Romanautoren Zhou Zhongling und Wu Bin, die Dichter Shi Guanghua, Liu Xia, Liu Yuan, Zou Jin, Wei Haitian, Zhu Ying, Bai Yunfeng, Song Wei, Li Mai, Liang Yue, Kuang Hongpo, Sun Jiangyue, Zhong Shan, Li Zhen, Kai Yu, Yu Tian; die Ehefrauen überführter Delinquenten wie A Xia, Wei Jixue, Chen Youmin, Liu Xiaoya, Dong Nan, Xiao Xiao; Studenten wie Fan Dongmei und Zhao Panhong und schließlich Xiao Xujia, ein wichtiger Verantwortungsträger in der Einheit, in der Liao Yiwu vor seiner Verhaftung war. Die Polizeibehörden verlautbarten: »Das ist seit dem 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen der größte Fall unter Kulturschaffenden!«
Am 31. Januar 1994 wurde Liao Yiwu auf internationalen Druck 43 Tage vor Ablauf seiner Strafe aus dem Gefängnis entlassen. Er hat sich anschließend scheiden lassen und Schulden gemacht, um sein Kind zu versorgen. Dieser »literarische Brandstifter« hat eine Zeitlang sein Unwesen getrieben, aber keine Spuren in der Geschichte hinterlassen, im Gegenteil, er versank, zur Schande der Menschheit versank er in einem Haufen Hundescheiße – von seinen Kollegen ausgelacht, getreten und verachtet, verkroch er sich in die hintersten Winkel und wurde am Ende vergessen. Außer seiner Familie hat sich noch am meisten die Polizei um ihn gekümmert: Wohin er auch kam, eine unsichtbare Wand folgte ihm auf dem Fuß.
Sein Aufenthaltsort für die nächste Zeit wurde ein kleiner Bezirk namens Baiguolin, vor ein paar Jahren noch ein ödes Vorstadtgebiet, wo über Nacht die Läden und Geschäfte explosionsartig aus dem Boden geschossen waren. Seine Eltern kümmerten sich um die Ernährung, und er hatte jede Menge Zeit, im Hof zu sitzen und in den Himmel zu schauen: »Das ist alles so lange her«, dachte er, »der Ritter schaut zu, wie die Schneide seiner Seele langsam verrostet, was ihm noch an Leben bleibt, verbringt er im Kampf mit dem Rost.«
Wenn es dunkel war, drückte er sich draußen an den Mauern entlang, sie waren robuster als ein Gefängnis. Wenn er an einem Betonzaun vorbeikam, zog er den Kopf ein und schaute sich um, nach einem, der reich war, den er ausnehmen konnte, um es, weit weg, seiner armen Frau und seinem armen Kind zukommen zu lassen – und es waren allein die althergebrachten Moralvorstellungen, die man ihm vor vielen Jahren beigebracht hatte, die ihn davon abhielten.
Im Gefängnis lernte er Flöte spielen. Wenn er deprimiert war, spielte er wütend und böse auf diesem metaphysischen, fast schon heiligen Instrument. Das Leben war hart, fast wie die Schneide eines Messers, er hatte nur die Wahl, sich an den Markt anzupassen, weiterzuschreiben oder sich umzubringen.
Er wählte das Schreiben. In der Falle, in der sie saßen, hatte sich eine Reihe von Literaten im Land für das Schreiben entschieden, für ein Schreiben ohne Hoffnung; niemand reichte ihnen eine rettende Hand, zollte ihnen Verständnis oder Anerkennung, niemand trug sie auf Händen, so sah die äußere Realität ihrer inneren Wirklichkeit aus. Sie mussten nüchterner werden, entspannter, offener, sie durften sich nicht zu viele Sorgen machen um die alten düsteren Gesichter, um ihre betagten Eltern, sie mussten weiter die Krallen und Zähne ihrer Erinnerung schärfen, sie durften nicht zu früh Rost ansetzen.
Der Autor des »Archipel Gulag« sagte: »Vergessen heißt, beide Augen verlieren!«
An einem der kältesten Abende im Winter 1994 besuchte Liao Yiwu den schon von Mao Zedong namentlich kritisierten Dichter und Rechtsabweichler Liu Shahe.[1]
Der alte Vagabund saß in ein altes Sofa gekauert, sein Gesicht war blass, aber seine Lippen waren frisch, im fahlen Licht der Lampe sah er aus wie ein abgeschminktes Theatergespenst: »Ich bin ein weltflüchtiger Geist«, lachte er, »ich bin mit dem Leben im Reinen, und mit mir selbst auch.«
Seine Stimme war noch ganz hell, er redete noch immer wie ein Buch, während fast dreier Stunden kam Liao Yiwu nur dreimal zu Wort, und das waren Antworten auf seine Fragen. Er fragte, was er in letzter Zeit gemacht habe, Liao antworte: »Geschrieben, zu Hause.«
»Auch noch Gedichte?« Seine Augen blitzten. Liao schüttelte den Kopf. Er nickte und sagte im Brustton der Überzeugung: »Ich weiß, ich weiß! Du wirst auch keine Gedichte von solcher Vorstellungskraft mehr schreiben können! Wer so vom Schicksal geschlagen ist wie du und ich, der hat Verletzungen davongetragen, die nicht mehr heilen – also, gib den Dichter auf und werde ein Zeuge der Geschichte. Was du sagst, ist dummes Zeug, aber der Himmel hat dir ein ungewöhnliches Talent gegeben, das Schreiben, und er weiß, dass du keine Lügen verbreiten wirst. Er hat dich durch das Fegefeuer geschickt, du solltest die fürchterlichsten Qualen mit eigenen Augen sehen und am eigenen Leib erleben. So viele fallen ihnen in die Hände, aber nur dir wurde die Chance gegeben, da herauszukommen, dich bei klarem Verstand zu erinnern und alles aufzuschreiben. Manchmal ist es auch ein Segen, wenn man durch die Verzweiflung hindurchgeht! Du musst ehrlich sein, wenn du schreibst, und wenn dann der Tag kommt, kann deine Arbeit Zeugnis ablegen oder als Material dienen, sie wird in den Archiven sein, Menschen werden sie ausleihen und lesen, sie können ihnen als Beweis dienen, das ist nicht schlecht. Und wer falsches Zeugnis ablegt, den wird der Zorn des Himmels treffen!«
Liao glühte am ganzen Körper. Um die Schwäche, die ihm in den Knochen steckte, zu kaschieren, fragte er: »Warum schreiben Sie es nicht?«
»Zu alt!«, seufzte der alte Vagabund, »Löcher in den Eingeweiden, die Augen wollen nicht mehr; bevor ich klar gesehen habe, habe ich viel geschrieben, aber seit ich durchblicke, kriege ich mich zu nichts mehr.«
Liao stand auf und verabschiedete sich, wobei ihm ein Kürbis auffiel, der als Raumschmuck ganz nah bei dem grauen Kopf hing, auf ihm stand »Kürbisbube« (ein Ausdruck für einen Verrückten im Dialekt von Sichuan).
Er stieg die Treppe hinunter, es war spät geworden und still. Ein gespenstischer Wagen, der heulende Wind, die vorbeihuschenden Larven der wenigen Passanten. Im Himmel über der Großstadt standen die Sterne wie Lichtzungen, sie drehten, dehnten sich, schrumpften und leckten schmerzhaft über seine Wangen. In diesem Augenblick schien er tatsächlich Gott zu sehen, Gott, auf seinem höchsten Richterstuhl, sein Leben war zu Ende, und seine Seele trat aus ihrer Höhle heraus – war er wirklich bereit, noch einmal die Maske eines Avantgarde-Dichters aufzusetzen, um vor Gericht als Zeuge aufzutreten?
Das waren jetzt bereits drei Jahre, erinnerte er sich, er hatte das vorliegende Buch gerade konzipiert und konnte noch nicht Flöte spielen, später hatte er die fixe Idee, er sei von einem 84 Jahre alten Mönch namens Sima, einem Mitgefangenen, im Flötenspiel und in der daoistischen Bauchatmung unterwiesen worden, jedenfalls brachte er es auf dem Instrument allmählich zu einer gewissen Meisterschaft und pustete seine schriftstellerischen Ambitionen zu einem Gutteil aus sich heraus.
Übrig blieb die Kühnheit, Zeugnis abzulegen.
Früher galten Liao Yiwu und A Xia in ihrem Umfeld als regelrechtes Traumpaar, ein paar Monate vor Liaos Entlassung jedoch bestand ihre Beziehung nur noch dem Namen nach. Ihn quälte das Gewissen, dass sie seinetwegen, schwanger, wie sie war, über einen Monat im Gefängnis gewesen war, den ganzen Tag schwamm sie in Tränen und musste sich doch zwingen, gute Miene zu machen, um die dauernden grausamen Verhöre durchzustehen. Als sicher war, dass man sie entlassen würde, umklammerte sie mit beiden Händen ihr Bündel, tastete sich durch die tiefen Schatten des sonnigen Tages. Sie hatte Mühe, die Treppe am Ende der Gasse hinunterzukommen, da stieß sie jemand in den Rücken, entriss ihr das Bündel und rannte davon. Sie taumelte und fiel in den Staub, ihr Mund stand weit offen, aber sie konnte keinen Laut von sich geben. Die Umstehenden genossen schweigend das Schauspiel und gingen nur zögernd weiter.
»Ich habe gute fünf Minuten gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen«, sagte sie, »ich hatte Angst, das Kind in meinem Bauch hätte was abbekommen.«
Dann kamen Hausdurchsuchungen mit Beschlagnahmen wegen Diebstählen, es kam die Geburt, eine Infektion, eine unbeschreiblich schwere Zeit, von der er erst im Nachhinein erfuhr, als er gewahr wurde, dass aus ihr eine Frau geworden war, die, wenn es nottat, den Mut hatte, bis zum Letzten zu kämpfen. Die Szene ihrer Scheidung war sehr bewegend, sie ließ ihn mit einer einmaligen Zahlung für die nächsten zehn Jahre den Unterhalt für ihre gemeinsame Tochter Miaomiao abgelten, ab sofort sollte jeder Kontakt aufhören; er sagte, ich kann mich nicht scheiden lassen. Sie nannte ihn ein Tier, er sagte, ich bin ein Tier, um genau zu sein, ich bin ein Hund.
Und dieser Hund war gezwungen, die Haut eines Menschen zu tragen.
Als er den Schwanz einzog und sich trollte, stand seine Tochter hinter einer Balkontür und spuckte ihm nach.
»Es hat mir nicht gefallen, dass ein Kind von vier Jahren so voller Verachtung ist«, seufzte er. Und dachte unwillkürlich daran, wie die Literatur seine Frau und ihn einmal verbunden hatte, und jetzt, wenn sie jetzt ein Manuskript von ihm zu Gesicht bekam, fing sie an zu schreien, hysterisch zu schreien.
Das Massaker ging weiter, in ihrem Blut, da war ein Sinologe, der hatte sein Gedicht »Massaker« einfach mit »Der Schrei« übersetzt, der lange Schrei von Menschen, denen keine Wahl mehr bleibt.
Feifei, meine große Schwester, sie kam bei einem Autounfall ums Leben. Sie war 37 Jahre alt. Ich habe darüber jede Menge Gedichte geschrieben, traurig-schön und mit Stil. Ich habe ganz bewusst alles weggelassen, was mit Dreck und Blut zu tun hat, ich fand, so würde ich der Toten, die in ihrer Art nicht von dieser Welt war, gerecht. Ich habe es mir einfach gemacht, zur Wahl standen Wahrheit und Ewigkeit, ich habe mich für die Ewigkeit entschieden. Derartige Traumwelten schüttelt jeder Romantiker wie ich aus dem Ärmel, Feifei wurde zu einem anderen Wesen, sie schwebte empor und verband sich mit den Zehntausend Dingen der Welt.
Ich schwadronierte etwas von »Religion des Blutes« und vergaß dabei, dass die Tote auch Augen gehabt hatte.
An einem bösen Tag im April eines Drachenjahres trug ich dieses Telegramm bei mir: »Autounfall, Schwester tot«. A Xia, die beim Abschied aussah wie eine weinende Niobe, brauchte mit Schiff und Auto für die 1000 chinesischen Meilen von der Bergstadt Fuling im Osten bis nach Mianyang im Westen von Sichuan zwei Nächte, und ich wurde, weil mein Linienschiff von Fuling nach Chongqing Verspätung gehabt hatte, dort einen ganzen Tag aufgehalten. Ich traf zufällig einen Dichterkollegen, einen Arzt, und wir gingen zusammen essen. Es war völlig verrückt, ich fing auf einmal an, irgendwelches sinnlose Zeug von mir zu geben, und ich hatte einen unglaublichen Appetit – und doch das Gefühl, das war nicht mein Mund, der da schwadronierte und vollgestopft wurde. Eine Stimme sagte mir, ich müsste trauern, aber ich konnte es nicht, ich konnte unter dieser strahlenden Frühlingssonne nicht trauern. Wie hätte ich sie auch mit einem Autounfall in Verbindung bringen sollen, meine Feifei, dieser leichte Regen, dieser sanfte Windhauch, mit ihren regelmäßigen, weißen Zähnen, mit ihren wie mit Nadeln gestochenen Grübchen?
Um zehn Uhr abends bestieg ich den Zug in Chongqing und schlief. Mitten in der Nacht wurde ich wach, in kalten Schweiß gebadet, das Abteil war zum Brechen voll, die stickigen Ausdünstungen von Menschen und Abfall drehten mir den Magen um, ich lehnte mich gegen das Fenster, es würgte mich, ein kalter schneidender Wind zog herein und schmerzte in der Lunge. Ich stürzte einen großen Schluck kaltes Wasser herunter und stöhnte: »Rasende Leichenkammer.«
Feifei stand draußen, vor dem Fenster, das lange Haar aufgelöst. Schnell senkte ich den Kopf. Ich würde bald am Ziel sein, immer klarer trat mir ins Bewusstsein, dass ich Angst hatte, Angst, ihre sterblichen Überreste zu sehen, auch wenn ich sie im Traum schon »gesehen« hatte.
Vom Bahnhof in Mianyang hastete ich direkt zu dem vertrauten alten Haus Nr. 87 in der Straße zum Roten Stern, der Kopf der Leiche, die meine Feifei war, war geschwollen, ein Stock, den es nicht brauchte, stützte mich, als ich nach vorn trat, als ich die Hand hob, um anzuklopfen, ging die Tür auf.
Da war keine Tür, ich hatte wie ein Shamane auf dem Land zweimal ins Leere geklopft, die erschrockenen Gesichter der Verwandtschaft rissen mich aus meinem Traum. »Meine Schwester«, ich suchte den Raum mit Blicken ab, »und meine Schwester?«
Niemand beachtete mich. Das Zimmer war schon wieder aufgeräumt, die Trauerbanner lagen dick zusammengelegt in der Ecke, wo der Abendwind hinkam, zerstob draußen auf der Terrasse die schwarze Asche, die vom Verbrennen der Kränze übrig war. Die Verwandten standen im Kreis herum wie ein Teil der alten Möbel und bewachten diese erschütternde Urne, die in der Mitte stand.
»Wieso kommst du jetzt erst?«, fragte meine jüngere Schwester Xiaofei vorwurfsvoll.
»Wir haben drei Tage auf dich gewartet«, hielt mein Schwager mir vor, »es ist warm, wir konnten nicht länger warten.«
»Feifei hat nicht sterben wollen«, seufzte Vater.
Ich zog das Telegramm heraus, streichelte es eine Ewigkeit, als hätte ich sie nicht mehr alle, erst jetzt fiel mir auf, dass es mich zwei Tage zu spät erreicht hatte!
»Wie ist das möglich?!« Alle schauten einander bestürzt an. Ich war wie vom Blitz getroffen, Tränen schossen mir aus den Augen, ach, Feifei, das warst du, deine Seele hat im Himmel dafür gesorgt, dass das Telegramm zu spät kommt, du hast ganz genau gewusst, was für eine Angst dein Bruder vor dem Tod hat!
Das kreischende Entsetzen in meinen Ohren ebbte ab, ich löste die roten Seidenbänder und suchte in der Urne nach Feifei.
»Das ist alles?«, sagte ich traurig.
»Da war nicht mehr!«, sagte mein Schwager hastig, »ich habe die ganze Zeit aufgepasst, ich habe den Ofen nicht aus den Augen gelassen.«
Ich schämte mich in Grund und Boden. Die roten Schleifen waren wie ein Bündel kalter Flammen, ihre feinen Zungenspitzen sogen an meinen Fingern, es tat weh.
»Wenn ich tot bin, dann bringt mich mit ihr heim, nach Lijiaping«, sagte Vater. »Dein Großvater, deine Großmutter, alle sind dort zusammen, unter den Neun Quellen ist es nicht einsam.«
»Wir sollten Feifei in Chengdu begraben«, widersprach meine jüngere Schwester, »sie hat immer nach Chengdu zurückgewollt.«
»Ein Mensch geht aus wie ein Licht«, schluchzte ich, warum auch immer, »es ist doch egal.«
»Wieso soll das egal sein?!«, knurrte Damao.
Feifei war die Erste aus meiner Familie, die ich verlor. Zwar war Anfang des Jahres mein Großvater gestorben, aber dieser alte Großgrundbesitzer in seinem abgelegenen Bergdorf da oben war nie wirklich ein Teil meines Lebens gewesen, meine Trauer um ihn war reine Formalität, es gehörte sich. Aber Feifei war eine Frucht vom gleichen Stamm, sie war unser Blut, Damao, ich, Xiaofei, wir hingen an ihr nicht weniger als an unserer Mutter.
Feifei hat ihr Leben lang geschuftet, als kleines Mädchen war sie es gewohnt, sich in dem Bottich mit den großen Füßen um die Dreckwäsche der ganzen Familie zu kümmern. Wenn sie platschend und plätschernd und voller Enthusiasmus zu Werk ging, schmetterte sie Lieder aus alten Filmen.
Die Gruselgeschichten, die sie erzählte, waren berühmt, vor ihren Totenkammern, Glockentürmen, Geistern von Gehenkten, von deren Zungenspitze drei Meter lange Eiszapfen herunterhingen, huschten wir Geschwister entsetzt unter die Bettdecke und wagten nur noch mit einem Auge nach draußen zu schauen. Einmal war sie mitten in der Nacht plötzlich spurlos verschwunden. Unsere Eltern hasteten in die gemeinsamen Räume, aber Xiaofei und ich beteuerten einmütig, Feifei möge Geister und sei am Ende womöglich einem begegnet.
Am Vorabend der Kulturrevolution kehrte Feifei ihrem Heimatdorf den Rücken und ging weit weg, zur Holzfabrik in Pingwu; unsere Familie wurde zu einem »Nest von Rinderteufeln und Schlangengeistern«[2] gemacht und von der Diktatur auseinandergerissen. Feifei, dies vorahnend, entging dem allem tief in ihren alten Bergwäldern, wo die Pandas lebten. Und nicht nur das, sie erlebte die glücklichste Zeit ihres Lebens. Sie fälschte ihre Klassenzugehörigkeit, mischte sich unter die Propagandaeinheiten, die die Mao-Zedong-Ideen verbreiteten, spielte in der Modelloper »Shajiabang«[3] die A Qing, das ist die Hauptrolle, und war die Sensation in der Hauptstadt Chengdu. Meine Mutter hat heute noch ein vergilbtes Theaterplakat, Feifei, rank und schlank in einem Schneefeld.
Damals hatte Feifei so viele Verehrer, dass sie einen Fan-Club gründeten, doch als es unserem Bruder Damao bei den jugendlichen Intellektuellen[4] nicht gutging, war ihr kein Weg zu weit. Früher oder später fiel auch für Xiaofei und mich etwas von dem Glanz ab.
Einmal sahen wir mit eigenen Augen so einen hübschen jungen Mann, wie er ihr den Hof machte, keinen Erfolg hatte, ein paar Packungen Streichhölzer verschluckte und sich umbrachte. Feifei liefen die Tränen über das Gesicht, aber sie ließ sich durch nichts umstimmen. Als sie später allerdings wirklich an einem Leutnant der Volksbefreiungsarmee Gefallen fand, ging das wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten im politischen Führungszeugnis schief.
Die Zeit floss dahin, Feifei fand sich einfach damit ab. Sie heiratete, zog um, wurde Mutter von zwei Kindern, schuftete den lieben langen Tag und fand Anerkennung bei den Leuten. Am vierten Tag nach dem Frühlingsfest hatte ich sie in Chengdu zum Bahnhof gebracht, wir ruderten in einem Meer von Menschen zum Fahrkartenschalter, sie zerrte mir ihr Reisebündel von der Schulter, warf es sich über, schnappte sich ihre beiden Kinder, zog sie mit sich weiter, wandte mir noch einmal ganz unwillkürlich den Kopf zu und rief: »Ermao, ich gehe dann mal!« Es war ein Abschied für immer.
Das war eine Szene auf einem Relief, mir lagen Steine in der Kehle. Feifeis Tod nahm alle mit, die Nachbarn in unserer Straße wie die Verbrecherinnen im Gefängnis, überall wurde Geld gesammelt für Trauerbanner, und jede Menge Tränen wurden vergossen. Feifei hatte von Natur aus ein gutes Herz, sie konnte niemanden weinen sehn, ich machte mir Sorgen, dass so viele weinende Gesichter ihre Seele völlig erschöpfen könnten.
Aber ihr gutes Herz ging über ihre Kräfte. Buchstäblich. Dieses Jahr an Neujahr saß die Familie bis tief in die Nacht um den Ofen herum, sie erzählte, dass sie nach Pingwu zurückkehren werde, beruflich, und wenn sie ein wenig Geld zusammenhabe, könnten wir alle zusammen eine Reise machen.
»Papa kann in seine alte Heimat nach Jiangxi fahren, und ich, ich habe so viele Jahre geschuftet, ich sollte auch einmal ein wenig herauskommen.«
Ein wenig herauskommen! Sieben Leute waren im Wagen, aber nur sie ist ums Leben gekommen, dabei konnte sie schon gar nicht mehr sagen, wie oft sie die holprige Straße durch dieses Waldgebiet schon hin- und hergefahren war. Der Kleinbus geriet ins Schleudern und stürzte in einen tiefen Graben, der linke Vorderreifen hing in der Luft, sie wurde aus dem Wagen geschleudert, und in zehn Meter Entfernung bohrte sich eine Baumwurzel dick wie die Öffnung einer Reisschale durch ihre Hüfte. Die Leute zogen sie ganz langsam heraus, ihr Unterleib war blutüberströmt. Ein alter Freund hielt sie im Arm und rief immerzu: »Feifei! Feifei!«
Er drängte den Fahrer, sich auf den Weg zu machen. Ihre Lippen klebten an seinem Ohr, als murmele sie ein paar alte Geschichten. Als sie den letzten Atemzug tat, hob sich ihr Kopf ein wenig, ihr Gesicht war weiß wie ein klarer, endloser Winterhimmel.
Unsere Eltern haben sich in Jiangxi kennengelernt, aus den wenigen Worten, die ihnen dazu zu entlocken waren, bastelte ich mir den allgemeinen Grund für unsere Existenz zurecht. Wu Jiu, mein fünfter Onkel mütterlicherseits und seines Zeichens Besitzer einer Wanderbühne, zog mit seiner ganzen Pekingoper-Truppe von Sichuan weg, sie tourten durch eine Reihe von Provinzen am Yangzi entlang und ließen sich in irgendeinem Kreis am Poyang-See nieder. Wu Jiu war ein hochfahrender Charakter und beleidigte den lokalen Despoten, der ihn totschlagen ließ. Die Theatertruppe war ohne Kopf, und sofort lief alles auseinander. Meine Großmutter mütterlicherseits hielt mit meiner minderjährigen Mutter an der Hand Totenwache und beerdigte Wu Jiu in der Vorstadt. Just als sie vor dem frischen Grab ihr Papiergeld verbrannt, ihre Kotaus gemacht und von der Seele des Verstorbenen Abschied genommen hatten, kam ein Einpauker für Schriftzeichen vorbei, er war auf einem Ausflug ins Grüne. Man erkannte einander am Tonfall, man war aus der gleichen Gegend, es war Schicksal.
Bevor meine Großmutter starb, vertraute sie ihre Tochter meinem Vater an, und so verbrachten die beiden ihr Leben im Streit, mit vielen Aufs und Abs. Mutter sagte: »Die Tage vergehen, was heißt da Liebe?« Daraus entstanden vier Kinder.
In alten Fotografien zu blättern und langsam zu den eigenen Wurzeln zurückzugehen, das ist in vielen traditionellen Familien ein Hauptvergnügen. Leider gab es in meiner Familie keine alten Fotos, die die Zu- und Abneigung aus den frühen Jahren unserer Eltern hätten bezeugen können. Es gibt ein paar Fotos von jedem allein, auf einem ist meine Großmutter mütterlicherseits mit meinem Vater, der Schwester und dem großen Bruder zu sehen – und doch, das alles ist mehr wert als irgendwelche bedeutenden archäologischen Funde.
Feifei glich aus, was unsere Eltern nicht geben konnten, aus dem monotonen gesellschaftlichen Umfeld der Großen Kulturrevolution hat sie uns viele lebendige Fotografien hinterlassen. Wenn man sie aufeinanderstapelt, sind sie einen halben Mann hoch. Achtzig Prozent sind schwarzweiß. Sie hat jeden neuen Abschnitt unserer Familie sorgfältig dokumentiert, das Leben von zwei Generationen ist hier gesammelt.
Die Verwandtschaftsbande griffen von diesem alten Grab auf dem Gebiet von Jiangxi in Kreisen immer weiter in die Welt hinaus, und jetzt war Feifei noch vor ihren Eltern zu diesem alten Grab zurückgekehrt.
Ich steckte die schwarze Trauergaze in den Gürtel und machte, bevor es dunkel wurde, mit zwei Cousinen ein Foto. Der Boden unter mir fing an zu schwanken, als würde die Bühne jeden Augenblick unter mir zusammenbrechen. Ich öffnete einen Vorhang, der gar nicht da war, und ging mitten auf der Straße in Richtung Bühnenvordergrund. Hinterlistig blinzelnde Lampen, Autos, die wie Meeresgetier an mir vorbeihasteten, rechts und links provisorische Häuser, es schien, als könne man mit einem Schritt aus der großen Höhle hinaus. Der Regen wusch die Straße spiegelglatt, über ihm, groß, der Hohlspiegel des Sternenhimmels.
Weiter, weiter, ich hatte Angst, stehen zu bleiben, hatte Angst, wer stehen bleibt, denkt Unsinn. Ich saß, vollkommen durchnässt, mit ein paar Leuten in einem Restaurant, trank und redete über Gedichte. Mir gegenüber saß eine Frau, ihre Blicke waren heiß, sie sah aus wie ihre ältere Schwester, die ich in Hainan kennengelernt hatte. Ich brauchte so einen Körper, so einen Tierkörper, stark und gesund, brauchte das Fieber der Begierde, das mir die Haut verbrannte und das Eis aus den Knochen presste! Auf das Leben war kein Verlass, es war wie ein Weinglas, schnell ging alles zu Bruch. Ich musste eine Frau abschleppen, auf der Stelle, den Kopf zwischen Brüsten vergraben, den Dachtraufen meiner Kindheit, um den Wahnvorstellungen zu entgehen, mit denen der Tod Feifeis mich in Stücke riss.
Eine halbe Stunde später klopfte ich an und öffnete ihre Tür. Ohne einen Laut gingen wir aufeinander los. Das Zimmer, das vor kurzem noch das Hochzeitszimmer der Mädchen gewesen war, war ausstaffiert wie ein Raubtierkäfig, zwei ausgehungerte Wölfe verbissen sich ineinander, ein Knäuel auf dem Bett, unter dem Bett, ich streichelte sie wie ein Gerber, als ich ihr die Kleider vom Leib gerissen hatte, drang ich weiter in sie, als wolle ich ihr die Eingeweide und die Lunge herausreißen. Sie schrie, es erregte sie, als Mordlust sie füllte, drehte sie sich um und machte mich zu ihrer Bambussprosse. Sie küsste mich weiter, schlug ihre Zähne in mich hinein, knurrte und schnappte wie ein wütender Hase, sie hinterließ auf meinem ganzen Hals die Spuren ihrer Zähne, es war, als würde ich am ganzen Körper von Stromschlägen verwüstet, mein in schwarze Trauergaze gehülltes Hemd ging in Fetzen. Flüssiges Feuer! Spucke auf dem Zungenbelag des Teufels, wir waren vom Atem des Teufels hinausgeschleuderte Spuckefunken! Als ich kam, war die Hölle der Himmel, die Säule aus Fleisch zwischen beiden welkte nur zögernd. Vor dem Fenster schaukelten die Schatten der Bäume, Feifei schnaubte vor Wut. Aus der Ferne kam das müde Pfeifen eines Zuges, als die Lok sich mit dem Kometen vereinte, war Feifei längst mit ihm unterwegs, in rasender Fahrt auf die andere Seite.
»Super!«, rief ich aufgesetzt, das Ganze war ein Autounfall der Seele, die Furie schnitt eine Grimasse und erhob sich, blieb wie ein Auto vor mir stehen, ihr Brüste zischten und rauchten wie glühende Reifen. Wieder und wieder sog sie mir das Mark aus den Knochen, sie bekam nicht genug; es wurde schon hell, aber sie bekam nicht genug. Wie eine Katze, die mit einer toten Maus spielt, machte sie einen Buckel und inspizierte mein Becken, mein Geschlecht.
Ich war verdammt, in einer Jauchegrube auf dem Rücken zu schwimmen, Maden aus Schweiß, der in dieser Nacht in Strömen rann, ich wurde massakriert, ich würde in diesem Leben nicht wieder hochkommen, längst war der heimliche Ort meiner Erinnerung eine Jauchegrube.
Ich habe meine geliebte Schwester besudelt, doch in all den Jahren habe ich nur mit schöner Literatur an sie erinnert, ich habe nur Lügen verbreitet, ein Bündel von Lügen. Mein Geschlecht brennt immer noch wie Feuer, es ist scharf wie ein Messer, ich könnte mich noch ein paar tausend Mal so verschleudern, ich bin längst ein Gespenst, Gespenster müssen nichts bereuen, Gespenster sind der eisige, aus dem Leib kommende Hauch der Ewigkeit, ich bin ein Gespenst, auch wenn ich aussehe wie ein Zuchthengst.
Frauen einatmen wie Luft! Ins Exil gehen, sich wärmen am Pflügergeschäft des Geschlechts! Nachtzüge durchziehen die tiefen Schluchten des Traums, dort wird sie sich aufhängen, die Menschheit.
Aus drei Richtungen zog sich ein Seil zu um meinen Hals, enthauptete mich, aber ich lebte weiter, in zwei Teilen. Es wird nie wieder sein wie als Kind, ich weiß das, die Albträume werden bleiben, aber ich werde nicht mehr nach ihr rufen können.
Und sie wandelt durch die Säulenhallen der Sterne, das reine Land[5], nicht zu erreichen für Abschaum wie mich.
Meine Vorstellungskraft und mein Ehrgeiz wucherten wie nie, ich wurde süchtig nach meinen Streifzügen, wenn ich zwei, drei Monate zu Hause war, fiel ich in Panik. Die Schiffssirenen der Dampfer auf dem Yangzi zogen ihre Klänge durch die Nacht, als seien sie aus einer anderen Welt, wie die rauen Stimmen von hungerndem Vieh, es ließ mir keine Ruhe, und ich kroch nervös vom Bett zum Fenster. Ich hatte Angst und riskierte mein Leben beim Schreiben, ich aß und schlief immer weniger, aber mein Körper ist ungewöhnlich stark. Die Sommer in Fuling waren unerträglich, wenn man am Morgen vergaß, die Vorhänge zu schließen, konnte die Temperatur im Zimmer schnell auf über 40 Grad steigen, ich versank in einem Leuchten, mal trug ich eine Unterhose, mal lief ich nackt herum, wie ein Meeraffe saß ich auf meinem viereckigen Schemel und schrieb, auf der Schulter ein feuchtes Handtuch, der Schweiß lief in Sturzbächen herab, das Gesicht in einem fünffarbigen Frotteetuch vergraben, so habe ich die über dreitausend Zeilen und fünf Teile von »Der vollendete Meister« fertiggemacht, dann noch, ohne Atem zu holen, die Gedichte »Bastard« und »Götze«, jedes vier-, fünfhundert Zeilen lang, und dazwischen habe ich noch irgendwelche Notizen und Prosagedichte fabriziert. Ich habe die Leere meines Lebens bis an den Rand gefüllt, und mit diesem Riesenwust von Manuskripten überhäufte ich meine Frau, wie ein Aufseher lief ich hin und her, zwang sie, das Ganze abzuschreiben, abzuschreiben, abzuschreiben. A Xia hatte Tränen in den Augen, sie arbeitete Tag und Nacht, und dieses begabte Geschreibsel bezahlte sie mit Zeiten als Strohwitwe in einem leeren Zimmer.
Ich schüttete die Zeilen aus mir heraus wie Wasser aus einem Eimer, aber der große, zu Schaffenszeiten streng asketische Kugelschreiber auf dem Papier hatte Lust zu töten, auch meinen Schreiber aus Fleisch juckte es, als wolle auch er hochkommen und etwas hinschmieren. Ich war körperlich und seelisch am Ende, und es wurde langsam kühler. Ich dachte mir Gründe aus, um wegzukommen, manchmal verschwand ich auch einfach grundlos.
Einmal war A Xia unachtsam und hatte sich ein Bein gebrochen, ich war wie von Sinnen und hetzte mit ihr zum Krankenhaus, sie wurde geröntgt, bekam einen Gips, ich schluckte, ich saß wie auf Kohlen, als der Arzt fertig war, raste ich sofort wieder mit ihr nach Hause. Dann räumte ich das Zimmer auf, kaufte ein, kochte, fand Zeit, von uns oben hinunter an die Kais abzutauchen, kaufte eine Fahrkarte, machte auf dem Fuß kehrt und kletterte wieder hinauf. Als ich diesen Marathon hinter mir hatte, hatte ich das Gefühl, dass mir die Luft dünn wird, ich hatte Wadenkrämpfe, ich war seit dem Morgen keinen Augenblick zur Ruhe gekommen.
Schließlich machte ich mich auf die Piste, angeblich, weil ich schon ein Schiffsticket habe.
A Xia hielt mich fest, ich sollte nach ihrem Bein sehen.
»Ich komme zu spät!«
Ich fasste mir ein Herz und riss mich los. In diesem Augenblick war in der Ferne eine Schiffssirene zu hören, es zog mich fort, A Xia winselte wie ein Kind: »Nicht so, nicht so!«
Ich wischte ihr die Tränen ab und schielte auf meine Armbanduhr.
»Komm bald zurück!«, schluchzte sie undeutlich.
Als die Tür hinter mir zuschlug, lief es mir kalt den Rücken hinunter, intuitiv spürte ich ihre schicksalsergebenen Blicke hinter mir, ich stürzte nach unten und wusste nicht, wohin.
»Erst mal los, dann sehen wir weiter!«, das war die Losung der Zeit; wir brachen auf, irgendein nebulöses Ziel im Kopf, wir wussten längst nicht mehr, was wir eigentlich wollten, unterwegs gab es oft neue Ziele, die uns reizten, anzogen, das wechselte andauernd. Wir hatten einen Stachel im Blut, den wir nur durch ständige Aktivität vergessen konnten.
Das Schreiben von Gedichten war eine solche Aktivität, doch wenn die Schreiberei einen geschafft hatte, dann half nur die Straße, raus, irgendeinem Flirt hinterher, auf dem Leib einer Frau den Weg des Großen Dao beschreiten, sich unter ihren Brüsten unterstellen, schlafen, wenn man müde war; und wenn man schlief nicht mehr aufwachen.
Nach und nach waren Frauen für mich nicht mehr schön oder hässlich, nur noch dick oder dünn. Ich hatte keinen Appetit mehr, selbst zweimal gebratenes Schweinefleisch, das ich schon als Kind so geliebt hatte, aß ich kaum noch, denn von der Schweinemilch, die der Koch da verarbeitete, bekam man sexuelle Wahnvorstellungen.
Eine Weile waren mir dicke Frauen ein Gräuel, aber auf der ganzen Welt gab es nur noch dicke Frauen. Einmal war ich am Wochenende zu einer Kerzenscheinparty in der Kunstakademie eingeladen, die Schönheiten des Abends waren noch gar nicht erschienen, als ein Gesicht auf mich zukam, das schwer unter Druck stand. Unmerklich wie ein Hai umkreiste ich sie, zweimal, dann wurde ich hinausgedrängt und landete in einem fremden Bett. Als am nächsten Morgen die Sonne durch die Gardinen schien, fuhr ich von dem donnernden Schnarchen neben mir hoch, die Nixe vom Vorabend, die neben mir lag, entpuppte sich als Bärin, die gewaltigen Arme unter drei Doppelkinne gekreuzt.
Im März 1989 machten an der Universität Wuhan meine Sexgeschichten die Runde, jemand hat mir von hinten einen Messerstich verpasst. Die Wunden waren noch nicht geheilt, da zog ich mit Li Yawei weiter nach Norden. In Beijing angekommen, erfuhren wir, dass Haizi sich unter einen Zug geworfen hatte.[6] Der robuste Kerl hatte mir zwar eine ganze Reihe von Gedichten und Briefen geschrieben, aber dass er sich umgebracht hat, hat mich nicht sonderlich gekratzt, jeder von uns hat Phasen, in denen das Leben sinnlos ist; wenn sich der Kopf da nicht herauswindet, ist man verloren.
Der Tod von Hu Yaobang[7] im April war dann allerdings etwas anderes, Tausende Kränze wurden auf den Tiananmen gebracht, nach und nach erfasste es das ganze Volk. Ich habe mit Li Yawei den Funken gesehen und den Steppenbrand, den er auslöste. Revolution, Revolution lag in der Luft und brannte unter den Nägeln.
Wir zogen durch die Straßen wie zwei ausgehungerte Wölfe und fluchten auf die Obskuren Dichter[8]: Wir hatten an der Verleihung des Preises für zeitgenössische Dichtung teilgenommen, ohne Stimmrecht natürlich, und weil wir so abgefertigt worden waren, machten wir den Vorsitzenden Bei Dao[9] zum Prügelknaben, er war für uns Xu Yunfeng, der Märtyrer aus dem Revolutionsroman »Roter Fels«[10].
Da wir mit unseren Gedichten und Lesungen die Hauptstadt nicht erobern konnten, haben wir wohl oder übel das Zentrum des Orkans verlassen und sind über einen langen Bogen nach Süden und nach vielen Zwischenstationen in Chongqing gelandet, bei Zhou Zhongling, wo wir eine Weile wild herumblafften, bevor wir schließlich unzufrieden mit der ganzen Welt nach Fuling zurückkehrten.
Ich zog die Tür hinter mir zu und schrieb einen ellenlangen Artikel »Der Sturz der Götter«, es ging um Kunst – was im Land vor sich ging, bekam ich nicht mit.
Allerdings bekam ich in diesen Tagen Briefe über Briefe, Miu Yilong schrieb aus Chengdu, Liu Xia und Wu Bin aus Beijing, Zhu Yanling aus Kanton, Jiang Zhong aus Wuhan, Zhou Zhongling aus Chongqing, voller Emphase beschrieben sie die großartigen patriotischen Szenen, die sich überall abspielten, selbst in Hongkong gab es ein paar Helden, ein paar hundert Schlagersternchen veranstalteten ein Marathonsingen und sammelten für die Studenten, die auf dem Tiananmen im Hungerstreik waren. Alle möglichen offenen Briefe, Flugblätter, Aufrufe zu Unterschriftensammlungen, ein Strom von Manifesten, ich rümpfte nur die Nase, mich brachte das nicht aus der Ruhe, und ich fand das gut so.
Bis dann irgendwann um Mitternacht von weit her ein Knallen zu hören war, dreimal, dung-dung-dung, und dann die »Internationale« heraufwehte, ganz weich und mild, wie von Kindern gesungen. Ich öffnete das Fenster, die Berge standen in der Ferne wie riesige Altäre, darauf hingebreitet die ausladenden Kurven einer dicken Frau, unordentlich lag ihr Kleid in der Nacht, Sterne und Lichter schienen von ihm herabzufallen wie Pailletten. Der Mond war ein Schnitt, eine leichte Brise brachte den süßlich-faden Geruch von Blut. Das Singen wurde lauter, ich hörte genauer hin, man konnte es orten, es kam von der anderen Seite des Flusses, vom Junior-College, der höchsten Schule im Umkreis.
Aber ich wusste nicht, warum sie die »Internationale« so schleppend sangen, so sanft, wie ein Requiem, voller Traurigkeit und wie ein Gebet, Tausende toter Kinder wurden zwischen den Händen von Zeit und Raum zu Buletten verarbeitet, sich windende Lichtbündel, als würden Glühwürmchen an zehn Fingern Reihen bilden und unter den Menschen hin und her gehen. Ich murmelte unweigerlich: »Seltsam, dass man dieses große proletarische Lied so traurig singen kann.«
A Xia lachte: »Vielleicht liegt das an deiner Stimmung? Wenn nicht, dann weil es so weit weg ist.«
Ich nickte, das leuchtete ein: »Es ist Nacht, und es ist still, da wird aus einem Furz ein Geheimnis; wenn jetzt aus den alten Wäldern drüben in den Bergen ein ›Lang lebe der Vorsitzende Mao!‹ herüberkäme, würde es vielleicht klingen wie ein Attentat.«
Es dauerte nicht lange, und ein mächtiger Demonstrationszug wälzte sich über die Straße am Berg entlang in die Stadt. Die Stadt brodelte, sie wurde durch die Lichter aus den Hochhausschluchten zu einem Großteil erhellt, überall stürzten die Menschen die Treppen hinunter, manche zogen sich im Laufen noch ihre Schuhe oder Hosen an, andere trugen ihr Hemd einfach in der Hand und reihten sich mit nacktem Oberkörper in den Zug ein. Vom Kunstmuseum, mit seinen paar hundert Metern über dem Meeresspiegel der beherrschenden Anhöhe, ging es, aus Vogelperspektive gesehen, schnurgerade nach unten, die Massen strömten lärmend die handbreite Bergstraße herunter.
Auch ich polterte die Treppen herunter und auf die Straße und wurde von den Wirbeln und Rückstaus der gewaltigen Woge mitgerissen ins Zentrum der Stadt – zum Nanmenshan-Platz, der so groß ist wie vier Basketballplätze. Dort staute sich der Strom und bildete große Wirbel, aus deren Zentrum dauernd irgendwelche selbsternannten Redner und Wichtigtuer zu hören waren.
Ich kämpfte, konnte aber in keinen dieser Wirbel hineinkommen und wurde seitlich an die Steinstufen abgedrängt zu einem Club von Arbeitern, der dort imposant auf den Hacken saß, den öligen Schweiß verrieb und sich das Ganze von oben betrachtete.
Als Letzter kam der Demonstrationszug der Studenten, ihnen voran aus Bettlaken zusammengenähte Transparente mit Sprüchen wie »Nieder mit den Profiteuren in der Beamtenschaft, Bestrafung der Korruption« und »Unschuldige Patrioten unterstützen Beijing«. Die Schaulustigen öffneten eine Gasse, auf dem Platz lösten sich die vereinzelten Wirbel auf, doch rasch bildete sich ein neuer, noch viel größerer und viel stärkerer Wirbel.
Überall wurden eiserne Fäuste hochgereckt, ein, zwei Stunden lang ebbte das donnernde Murmeln der Masse nicht ab, dann bekam der Zug wieder sein altes Gesicht, und es ging im Norden der Bergstraße den Yijia-Damm hinauf, zum größten Versammlungsplatz der Stadt. Aus der langen Schlange wurde allmählich ein wütender Riesenpython, und dieser Python wurde durch den Zustrom von mehr und mehr Schaulustigen immer breiter und bewegte sich immer langsamer. Ihr Kopf, ihr Schwanz und ihre Mitte schwollen mehrfach kräftig an, dann streckte sich das Ganze wieder, sie hatte die neuen Revolutionäre geschluckt und verdaut.
Große Kerle hatten einander die Arme um die Schultern gelegt wie bei einem Fest, sie plauderten und lachten, und wenn sie mit erhobenen Händen ihre Parolen riefen, hatten ihre Gesichter einen jugendlichen Glanz.
Wer müde war, trat aus der Kolonne heraus, ruhte sich an der Seite ein wenig aus, und wer vom Herumstehen genug hatte, hockte sich einfach in Gruppen zu dreien oder fünfen auf die Hacken. Einer rief: »Warum machen die Läden denn nicht auf, und wir veranstalten einen Nachtmarkt?«
Ich konnte die Augen nicht mehr offen halten, ich musste nach Hause. Die Mondsichel war noch röter geworden, ich legte mich in diese Wunde, die Sterne als grünköpfige Mücken verschlangen den endlosen nächtlichen Dämmerschein. Ich dachte an den alten Mann, der auf der Straße zu mir gesagt hatte, das sei die turbulenteste Nacht, die Fuling seit Menschengedenken erlebt habe.
Als ich am nächsten Tag wach wurde, ging es bereits auf Mittag. Ich hörte A Xia erzählen, die Studenten hätten bereits die Bezirksverwaltung besetzt. Das jagte mir doch einen Schrecken ein: »Also tatsächlich ein Umsturz?«
Ich hatte mir noch nicht das Gesicht gewaschen, da war ich schon auf der Straße, doch die Stadt lag da, ruhig und friedlich wie immer. Die Passanten verbargen sich unter den grau-dunklen Arkaden, und ein paar träge Hunde stolzierten auf der Mitte der Straße herum. Auch wenn ein Auto die Hangstraße heranknatterte, bewegten sie sich nur aufreizend langsam zur Seite. Flugblätter, die von der Revolution übrig waren, zerrissene Transparente, Papierfetzen wirbelten im Staub herum.
Das fünf Meter hohe Eisengitter um die Bezirksverwaltung war verschlossen, die kleine Eingangspforte stand einen Spalt weit offen, vom Chef der Torwache wurde eine Gruppe von Studenten mit roten Bändern festgehalten, wer einen Studentenausweis hatte, durfte hinein. An der Umfassungsmauer herrschte das übliche Treiben des Gemüsemarkts, die Bauern hatten ihre Gemüsestangen von den Schultern und ihre Bündel vom Rücken genommen, klebten am Gitter und besahen sich die Aufregung. Kinder kletterten den Leuten wie kleine Affen auf die Arme, jubelten durch das Gitter und wurden von dem diensthabenden Personal mit Besen verscheucht. Ich teilte die Wand aus Menschen und rief sie zur Ordnung, da schrie der alte Torwächter zurück: »Geh heim, deine Alte hat längst Schluss!«
Ich drängte mich halb durch den Spalt im Tor, das wollte ich so nicht stehenlassen, und ich schrie zurück: »Meine Freundin hat noch nicht Schluss!«
Sofort ging in der Menge das Gemurmel los: »Noch so ein Mantou-Dieb!«
Im Hof der Bezirksverwaltung drängte sich eine homogene Masse von Studenten, die Gebäude, die den Hof von drei Seiten einschlossen, waren gähnend leer. Die Bürokratie war, von der imposanten Internationale in Angst und Schrecken versetzt, noch in der Nacht stiften gegangen, es hieß, »um sich in grundlegende Untersuchungen zu vertiefen« (das habe ich von Yang Rudai erfahren, dem Sekretär des Provinzkomitees; als die Studentenrevolte in Chengdu für Konfusion sorgte, saß Yang Rudai, der aus einer alten Bauernfamilie stammt, mit gespreizten Beinen auf dem Deck eines Yangzi-Ausflugsschiffes und zeigte mit dem Finger auf die Yangzi-Berge, während sich auf seiner Afterseite ein großer Halbkreis von konfusen Bezirks- und Kreisbeamten auftat).
Auf der überstürzt einberufenen Arbeitsbesprechung wurde ein in die zweite Reihe zurückgestufter ehemaliger Attachéstellvertreter von der versammelten Führungskräftemannschaft aus seinen Träumen geweckt und mit einer schweren Aufgabe in der Etappe betraut.
Und jetzt stand der aalglatte alte Gauner mit schweißnassen Haaren vor über tausend Studenten, er sah aus wie eine gepanzerte Schildkröte. Eine Kommilitonin schrie immer wieder: »Nieder mit der Bürokratie, Strafe für Korruption, unterstützt die unschuldigen patriotischen Studenten auf dem Tiananmen!«
Der Kerl war einen Augenblick unentschlossen, er schwankte zwischen Kneifen und Flucht nach vorn. Der alte Büromensch setzte ein törichtes Lächeln auf, wartete, bis die Rufe abebbten, räusperte sich und begann:
»Kommilitonen! Liebe patriotische Kommilitonen! Meine lieben jungen Freunde! Wir haben alle das gleiche Ziel. Die Regierung freut sich, euch zu einem vertrauensvollen Gespräch als Gäste in der Bezirksverwaltung zu begrüßen. Das ist kein Dialog, das sind auch keine Verhandlungen, das ist eine Kommunikation zur Überbrückung der Kluft zwischen den Generationen. Das Heimatland, das Heimatland, nur wo ein Land, ein Staat ist, ist auch Heimat, Familie, und in einer Familie ist es auch erlaubt, seine Meinung zu sagen, z.B. wie man den Reis kochen soll, wie viel Wasser man braucht, wie man am besten das Essen macht und so weiter. Das ist natürlich nur ein Beispiel, das große Essen in einem Staat zu kochen, das ist nicht so einfach. Kommilitonen, meine Enkelin ist im gleichen Alter wie ihr, sie studiert in Beijing, ihr seid doch wie meine eigenen Kinder. Wenn euch etwas fehlt, wenn es Probleme gibt, mit dem Studium, mit dem Leben, sagt es nur! Am besten wäre es, wir könnten die Probleme auf der Stelle lösen, aber wenn das nicht geht, dann werde ich es als meine Pflicht ansehen, eure Probleme nach oben weiterzuleiten.«
Er blies dem Ochsen auf die sentimentale Tour ins Horn, der alte Gauner presste coram publico sogar zwei patriotische Tränen aus sich heraus, dabei spreizte er seine Bärentatzen und patschte einer Studentenvertreterin derart auf die Schulter, dass die einen Satz machte.
»Was soll das?«, fuhr ihn ein Studentenführer mit Brille an, der alte Gauner zog ärgerlich die Hand zurück, der Junge nutzte die Gelegenheit und ging zum Gegenangriff über: »Eine Frage, Herr Attaché, soll man gegen Profiteure im Beamtenapparat vorgehen?«
»Soll man, soll man.«
»Soll man Korruption bestrafen?«
»Soll man, soll man.«
»Soll man die Verdienste des Genossen Hu Yaobang anerkennen?«
»Soll man, soll man.«
»Soll man die patriotischen Aktionen der Studenten in Beijing unterstützen?«
»Soll man, erst gestern habe ich tausend Renminbi für sie gespendet, und ich werde Freunde und Verwandte mobilisieren, das Gleiche zu tun.«
»Soll man Li Peng absetzen?«
»Soll man, nein, ich meine, man sollte eure Forderung nach oben weiterleiten.«
»Soll man oder soll man nicht …?«
»Man soll, man soll, ganz bestimmt soll man das!«
Der Beamte, dieser Vater des Volkes, nickte wie ein Vogel beim Körnerpicken und brachte es so weit, dass keiner mehr so recht wusste, was er tun sollte. Und als wieder Parolen laut wurden, hat dieser Vater des Volkes sofort heftig applaudiert und weiter geschleimt: »Die Szenen heute haben mich sehr betroffen gemacht, ganz wie der große Vorsitzende Mao gesagt hat, revolutionäre Situationen sind kein kleines, auch kein relatives, sie sind ein großes Gut, weil die Volksmassen in ihrer Gesamtheit in Bewegung kommen. Profitwirtschaft und Korruption müssen ausgemerzt werden, nicht wahr? Aber bei über einer Milliarde Menschen … wenn da einer Wasser lässt, können auch ein paar Motten untergehen. Ihr solltet euch keine Sorgen machen, unsere Partei ist weise, durch die Geschichte erprobt, wenn ein Fehler passiert, muss er korrigiert werden! Aber damit es der Sache des Sozialismus auch später nicht an Anhängern fehlt, flehe ich euch an, achtet auf eure Gesundheit! Ihr habt die ganze Nacht nicht geschlafen, ihr habt schon über zehn Stunden nichts mehr gegessen und getrunken, wie sollte uns Beamten, die wir doch Väter und Mütter des Volkes sind, nicht das Herz weh tun?! Kommilitonen, Ruhe bitte! Die Kollegen in der Kantine der Bezirksverwaltung haben Tag und Nacht gekämpft, um für euch ein Mittagessen vorzubereiten, mit einem Studentenausweis könnt ihr ein Mantou und eine Schale Gemüsesuppe bekommen, und wenn ihr dann etwas im Bauch habt, dann geht ihr für eine Weile nach Hause und denkt über eure nächsten revolutionären Schritte nach, in Ordnung?«
Der Alte fand seine Rede ausgezeichnet und begann gewohnheitsmäßig als Erster zu klatschen. Als er sah, dass niemand Folge leistete, täuschte er mit Lärm Macht vor und appellierte an alle: »Kommt alle mit, ab in die Kantine!« Daraufhin teilte er unter Aufbietung aller Kräfte die Menge und schob als Märtyrer der gerechten Sache seinen beträchtlichen Bauch über den Platz. Unter den Leuten erhob sich ein Raunen, Essen ist des Volkes Himmel, die Studentenvertreter konnten die Zeit nicht zurückdrehen, sie konnten nur in dem, was übrig war, deprimiert untergehen.
Die mächtige Studentenrevolte unserer Bergstadt wurde von den Konterrevolutionären Mantou und Gemüsesuppe in Stücke gerissen. Der ehemalige Attachéstellvertreter war glatter als jeder Aal, er steckte den Kopf in die Gemeinschaftsküche, griff sich hastig einen beutelgroßen Mantou und machte sich durch die Hintertür aus dem Staub.
Lenin sagt: »Die Revolution ist das Fest der arbeitenden Bevölkerung.« Fuling, das nur am Rande des Sturms lag, war da keine Ausnahme, an jeder größeren Straßenecke wurde eine Spendenbox zur Unterstützung der Studenten im Hungerstreik aufgestellt, und es gab eine unzählige Menge von freigebigen Menschen.
Eine alte Frau, die vom Sammeln von Trödel lebte, kam verstohlen vorbei. Sie zog ein weißes Taschentuch aus dem Kittel, wickelte einen Stapel zerknitterter Geldscheine heraus und stopfte ihn in die Holzbox. Der Student, der auf die Box aufpasste, konnte das nicht annehmen, er hielt sie fest und wollte auf keinen Fall Geld von ihr nehmen, es gab ein regelrechtes Tauziehen, was eine ganze Menge Zuschauer anlockte, die sich über das Ganze gutmütig lustig machten. Die Alte wurde ärgerlich und setzte sich laut jammernd auf den Boden: »Ist das Geld einer alten Frau etwa nichts wert?« Den Umstehenden wurde es ganz anders.
Versammlungen, Demonstrationen, Spendensammlungen, alle möglichen Bewegungen flammten auf und ebbten wieder ab, die Revolution drang von Tag zu Tag tiefer in die Herzen der Menschen. Regionalradio und -fernsehen eilten herbei und schlossen sich dem Trubel an, ständig nickten mir fremde Gesichter zu, und ich grüßte zurück. Selbst die Diebe hatten von den Großstädten gelernt und klebten »Bekanntmachungen zur Beruhigung der Bevölkerung«, man werde jede Form von Raub und Diebstahl für die kommende Zeit aussetzen – was sich mit den Flugblättern der Ortsgruppe der Unabhängigen Liga der Universitätsstudenten, auf denen die Interna über die Korruption wichtiger Mitglieder des Zentralkomitees, der Vetternwirtschaft und der Auslandskonten der Kinder hoher Kader enthüllt wurden, sehr vorteilhaft ergänzte.
Und da die Studentenrevolte mittlerweile Thema Nummer eins war, schaute am laufenden Band jemand bei der Einheit dieser Ortsgruppe vorbei. Die Leute ließen ihre Fernseher zu Hause stehen und machten sich zu Kollegen auf, ganz gleich, wie viel Uhr es war oder was für ein Gesicht der Hausherr machte, selbst um Mitternacht stürzten einem plötzlich ungebetene Gäste in die Wohnung, man musste aus den Federn und so tun, als hätte man für den ganzen Zirkus auch noch Verständnis.
An so einem Abend kam der Museumsdirektor herein, sagte kein Wort, half mir, den Fernseher anzumachen, und ließ sich ohne Umschweife mitten im Raum nieder. Auf dem Bildschirm erschien eine Wiederholung, Bilder des Gesprächs zwischen Li Peng, Chen Xitong und anderen hochrangigen Vertretern des Staates und der Studenten im Hungerstreik, der Herr Direktor starrte eine Viertelstunde ganz gebannt in den Kasten, dann machte er auf einmal seiner Wut auf den Staatsratspräsidenten in diesem Kasten Luft: »Der redet doch um den heißen Brei herum, der Herr Präsident, der Schönredner, wirklich, verdammt, was für ein Idiot!«
A Xia reichte ihm besorgt ein feuchtes Handtuch, aber der schweißüberströmte Kader nahm es nicht an: »Unterstes Niveau, aber ein Land regieren! Der könnte nicht mal ein Museum leiten!«
»Was hat es mit Ihnen zu tun, dass er ein Idiot ist?«
»Wenn ich das sehe, kriege ich Zustände! Die fragen ihn nach dem Problem der Vorteilsnahme durch Kinder hoher Kader, und der antwortet, seine Kinder hätten damit nichts zu tun, das heißt doch, alle außer seiner Familie machen das!«
»Er mag ja dumm sein, aber er hört zu«, ich gab dem Affen Zucker, »in den letzten Jahren war das Regieren bei uns doch wie das Füttern von Schweinen, solange einer etwas zu fressen in der Hand hat, machen die Einfallspinsel alles.«[11]
»Halt dich zurück, Bartgesicht!«, gebot A Xia mir Einhalt.
Die Tage gingen dahin, es hing mir zum Hals heraus, ich las einfach keine Berichte mehr, schaute nicht fern, ein Parasit durch und durch, ich lag die ganze Zeit auf der faulen Haut, nur A Xia besuchte mich hin und wieder in meiner Gruft.
An wie vielen Abenden habe ich das Fenster aufgemacht, um zu lüften, und über den Lärm der Welt hinweg hinübergelauscht auf das Gespräch zwischen Bergen und Wolken – ich hatte das Gefühl, auch die Erde war ein Grab, nur größer. Ich starrte vor mich hin, leer und namenlos sentimental, mein Körper war bis zum Rand voll mit dem Lärm des Massakers. Ich hatte das alles schon immer verachtet, den Staat, die Massen, die Parteien, die Bewegungen, aber ich hatte trotzdem Angst, von all dem verschlungen oder vergessen zu werden.
Der englische Dichter Dylan Thomas wurde im Alter von 20 Jahren Augenzeuge einer Demonstration gegen die Regierung, der unbedarfte Junge war eine Weile Feuer und Flamme und schrie den vorbeistürzenden Massen zu: »Wir sind alle tot!« Am Ende hat er faule Eier, Steine und Knüppel abbekommen, natürlich. Wenn ich, der ich nicht einmal in der Lage bin, zuzuschlagen und mich dann aus dem Staub zu machen, etwas Ähnliches aufführen würde, ich würde in der Heilanstalt landen.
Das Schlachtfeld war leer, und zwei verschiedene Liao Yiwus hielten Selbstgespräche. Wenn A Xia heimkam, gaben die beiden einander die Hand und legten ihren Streit bei, kaum war sie weg, gingen sie wieder aufeinander los. Einmal haben wir im Wohnzimmer herumgefuchtelt und aus Versehen den auf dem Boden stehenden Fernseher umgetreten. Dieses extreme Gefühl der Zerrissenheit hat ein Gedicht angestoßen:
Exil, Exil, endloses Exil … das Haus in den Wolken … hast du dich wirklich auf die Schienen gelegt für ein totes Paradies?
Als er dein Genick brach, raste der Zug Richtung Mond, nicht mehr schwarz, er war weiß, nicht mehr schwer, er war leicht, ein heiseres Rufen zog er nach … hat dich der erfundene Zug wirklich noch einmal zerrissen?
Wie ein vergessenes Lied gehst du uns im Kopf herum, wirklich, jenseits von Literatur, für immer ungesungen. Die Berge stehen und schauen, hundert Millionen Jahre, schweigend, wie die Wolken entstehn und vergehn, du warst zwischen ihnen, ein Gespräch, und in diesem Gespräch, das die Zeit nach Belieben lang macht, ist doch der Mensch ein Sprechen, ein Innehalten.
In die Wüste gegangen, in die Wüste geschmolzen, mit dem Durst des Leibes das Dürsten der Seele gestillt! Du nährtest mit gebrochenem Arm die Zehntausend Dinge, eine kühle Quelle entspringt in diesem Bruch, steigt – steigt – steigt! Oben ist und für immer das Wasser, das stillt
Uns mangelt Wasser! Wir brauchen Fahnen, Waffen, Regierungen, Fernsehstationen und womit wir sonst unseren Durst stillen! Wir brauchen Umzüge, Demonstrationen, Druck und Gegendruck! Brauchen das Blut der Alten, der Kinder als Ausrede für den Putsch bei Hof!
In dieser Nacht hatte sich A Xia früher als sonst schlafen gelegt, ich machte mich auf nackten Füßen aus dem Schlafzimmer und lief zwischen Arbeits- und Wohnzimmer im Kreis. Wie von Geisterhand gelenkt stellte ich den Fernseher an, stand davor, nackt, und schaute. Der Ausnahmezustand war längst verhängt, aber die Truppen konnten noch nicht in die Stadt, hier und da noch Verbrüderungsszenen zwischen Soldaten und Volk. Überall auf dem Platz des Himmlischen Friedens Müll, Zhao Ziyang, der Generalsekretär der Partei, wie er die Studenten trifft und sich im Regen die Tränen aus dem Gesicht wischt: »Ihr seid noch jung, ihr habt noch viel Zeit … Wir sind alt, auf uns kommt es nicht an …«
Ich wechselte den Kanal, wieder das verbitterte Gesicht des guten Zhao; weiter, das verbitterte Gesicht war zornig geworden und empört – eine berühmte, unglaublich hässliche Wissenschaftlerin verlangte von den Kindern, diesen unschuldigen Lämmern, die Wölfe auszutricksen.
»Wenn die Präsidentin wäre, die wäre schlimmer als Li Peng!«, dachte ich. »Megäre!«, rutschte mir heraus.
»Ob die Revolution Erfolg hat oder nicht, ich werde nichts davon haben«, sagte ich zu mir selbst. Ich kramte ein halbes Gedichtmanuskript hervor und begann, verhalten zu brüllen.
Um A Xia nicht zu erschrecken, musste ich meine Wut im Hals zurückhalten, ich verschluckte, was mir aus den Augen und der Nase schoss, ich hielt mir die Hand vor den Mund, vor ein wildes unbändiges Husten, ich war wie aus dem Wasser gezogen. Wieder und wieder las ich ein Wort, einen Satz, und wenn ich gelächelt hatte, biss ich die Zähne zusammen. Der Fernseher rauschte, ich verneigte mich noch immer vor ihm.
»Diese Art, Gedichte zu lesen, verkürzt bestimmt die Lebenszeit«, dachte ich, aber ich machte weiter. Keine Ahnung, wie lange A Xia schon hinter mir gestanden hatte, diese Frau war ein Geist, wirklich, mal lag, mal stand sie da, ein Geist, ein Schatten.
Am 1. Juni holten Ba Tie und ich an den Yangzi-Kais unseren kanadischen Freund Michael Day ab, er schlurfte uns in heruntergetretenen Stoffschuhen entgegen, der ganze Mann muffelte nach Hammel, wie ein internationaler Bettler mit einem Lammfell um die Schultern. Seit Mao Zedongs Aufsatz »In Gedenken an Bai Qiuen«[12] waren die Kanadier von der Sucht, sich in anderen Ländern zu engagieren, geradezu befallen, und wenn ich von Michael Day spreche, dieser Kerl ist mit Herz und Seele bei der Sache. Er hatte sich auf dem Tiananmen in den Zug der chinesischen Dichter eingereiht, schrie Parolen, vorneweg und lauter als alle anderen. Danach hat er den Pulvergeschmack der Revolution auf seinem Weg nach Süden unentwegt schimpfend und fluchend verbreitet.
Als er Ba Tie und mich sah, gab er nur ein furzendes Grunzen von sich und stürzte mit hocherhobenem Kopf und großen Schritten die Himmelstreppe hinauf. So stolzierte er durch die Stadt und betrat unser Haus, die Gastgeber immer hinter dem Gast her. Hier begann das Gespenst, unbestimmt schnaubend wie ein Ochse, uns mit seinen Erläuterungen zur ausgezeichneten revolutionären Lage zu bombardieren: »Auf zehntausend Meilen sind die Flüsse und Berge rot«, zitierte er aus dem Effeff eine Parole aus der Kulturrevolution.
»Jetzt mal langsam, ja?«, sagte ich und wischte mir den Schweiß weg. »Mach dich erst mal frisch, trink einen Schluck Wasser, ein Bad wäre auch nicht schlecht, du stinkst erbärmlich!«
Michael roch an seinem Hemdsärmel, kramte in seinem Rucksack herum, doch was er zutage förderte, war kein frisches Hemd, sondern ein Taschenradio. Er setzte sich mit dem Rücken zur Wand, zog die Antenne heraus, steckte sich die Kopfhörerknöpfe ins Ohr, beugte sich wie ein professioneller Geheimagent über den Tisch und stellte das Gerät an.
»Die BBC, Interviews vom Tiananmen«, sagte er selbstzufrieden, »toller Empfang!«
Die Atmosphäre im Zimmer war plötzlich angespannt, wie auf einem Pulverfass, und Michael war die zischende Lunte. Er hörte zu, übersetzte gleichzeitig, fummelte einen Stift heraus und machte sich hastige Notizen. Danach ging es nur noch um Beijing. Ich versuchte, das Thema zu wechseln, fragte, wie es ihm in Kanada so gehe, was mit den Manuskripten sei, die er aus China herausgeschafft hatte, wie er mit der Magisterarbeit vorankomme, ob er verliebt sei und so weiter und so fort, aber jedes Mal gab es nur eine flüchtige Antwort, sofort kehrte er zu seiner revolutionären Leier zurück: »Sinologen der ganzen Welt sind nach China gekommen, einschließlich meines Tutors«, tutete er, »sie alle wollen das größte Ereignis der Menschheitsgeschichte mit eigenen Augen sehen.«
Da ging das Pulverfass hoch, lautlos, meine Gehirnmasse dehnte sich aus, meine und seine Augen waren blutunterlaufen. Die Fäuste schwingend tobte ich mit ihm herum, der Pulverdampf vom Schlachtfeld legte sich auf den Esstisch, das Mittagessen zog sich bis vier Uhr, zurück blieb eine Wüste aus Tellern und Gläsern, und zwei besoffene Kerle mit ausgetrockneten Kehlen schwankten auf die Straße hinaus. Dort trafen wir auf einen Trupp bewaffneter Polizei, sie waren auf Patrouille, Michael sagte angespannt: »Wo wollen die hin?«
Ich machte einen Spaß: »Zum Scheibenschießen auf die Westberge.«
Nach einer Weile kam noch ein Trupp vorbei.
»Wollen die auch zum Scheibenschießen?«, fragte der gute Michael.
»Nein, die wollen zur Schule, von Lei Feng lernen.«[13]
Am Mittag des 3. Juni drückte eine dicke Wolkenschicht auf die Stadt, wie eine umgestürzte Bratpfanne, in der die Welt dampfend schmorte. Mit nacktem Oberkörper kämpfte ich mit Michael herum, A Xia, die zwischen den Fronten stand, hielt es irgendwann nicht mehr aus, stieß einen spitzen Schrei aus, ließ die Teller fallen und flüchtete ins Schlafzimmer.
Mir ging der Gaul durch, ich trat die Tür ein und schlug auf sie ein, A Xia war ganz verzweifelt, ich schleuderte sie gnadenlos aufs Bett. Michael Day stand neben dem Tisch und wusste nicht, was er tun sollte, wie ein großes Kind. Im Radio ging es mit den »Interviews vom Tiananmen« kämpferisch den ganzen Tag weiter.