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Das 1987 erschienene Standardwerk, in dem zum ersten Mal sehr sachlich und fundiert erzählt wurde, wie willfährig sich die deutsche Justiz unter den Nazis verhielt und wie wenig Widerstand es gegen die neuen Machthaber gab, liegt nun um einige neue Kapitel erweitert wieder vor. Ein Klassiker, der frei von Juristenjargon die ganze unselige Geschichte unseres Rechtssystems im 20. Jahrhundert präzise beschreibt.
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Ingo Müller
Furchtbare Juristen
Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz
– FUEGO –
– Über dieses Buch –
Das 1987 erschienene Standardwerk, in dem zum ersten Mal sehr sachlich und fundiert erzählt wurde, wie willfährig sich die deutsche Justiz unter den Nazis verhielt und wie wenig Widerstand es gegen die neuen Machthaber gab, liegt nun um einige neue Kapitel erweitert wieder vor. Ein Klassiker, der frei von Juristenjargon die ganze unselige Geschichte unseres Rechtssystems im 20. Jahrhundert präzise beschreibt.
»Ein aufregendes Buch ... eine beschämende Lektüre.«
Der Spiegel
»Eine exzellente Studie von ausführlicher Exaktheit, ohne je langatmig zu werden.«
Stuttgarter Zeitung
»Ein Standardwerk ... über das, was die BRD im Innersten zusammenhält.«
Konkret
»Eine ebenso glänzende wie niederdrückende Bilanz ... ein beklemmendes Buch, das alle Illusionen zerstäubt.«
Die Zeit
Einen »furchtbaren Juristen« hatte Rolf Hochhuth den baden-württembergischen Ministerpräsidenten und ehemaligen Wehrmachtsrichter Dr. Hans Karl Filbinger wegen einiger Urteile aus der Kriegs- und Nachkriegszeit genannt.1 In der darauffolgenden öffentlichen und gerichtlichen Auseinandersetzung – Filbinger stellte Strafantrag, Hochhuth wurde freigesprochen, der Ministerpräsident musste von seinem hohen Amt zurücktreten – fiel Filbingers erstaunt ungläubige Äußerung, dass heute doch nicht Unrecht sein könne, was damals Recht war. Dieser Ausdruck der Unbelehrbarkeit, das Beharren auf der Rechtmäßigkeit der unmenschlichen Justiz des Dritten Reichs, zeigte erst die ganze Furchtbarkeit jenes Juristen und vieler Berufskollegen seiner Generation, denn der Marinerichter a. D. Filbinger war kein Einzelfall. »Die Kaste, aus der sich der deutsche Richterstand« rekrutierte, hatte schon 1927 der Jurist Kurt Tucholsky in der Weltbühne seine Erfahrungen mit der Justiz zusammengefasst, »repräsentiert nicht dasjenige Deutschland, das etwa von Goethe über Beethoven bis Hauptmann jene Elemente enthält, um derentwillen wir das Land lieben.« Wer ihm darin zustimmt, womöglich »furchtbare Juristen« für eine Tautologie hält und meint, Justiz müsse zwangsläufig etwas Furchtbares sein, sollte sich jedoch klarmachen, dass das Wort »Justiz« keineswegs den Klang eines Peitschenknalls haben muss, dass es auch im Deutschen einmal als Synonym für Recht und Gerechtigkeit galt und es Zeiten gab, in denen große Teile der Richterschaft sich bemühten, diesen Anspruch einzulösen.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten Juristen, darunter auch zahlreiche Richter, das Rückgrat der Aufklärungsbewegung und des Widerstands gegen die Metternichsche Reaktion. Der Kampf um eine unabhängige, von staatlicher Bevormundung freie Justiz war Teil des Kampfes um bürgerliche Freiheiten. Einer der Richter, der mit seiner freiheitlichen Einstellung notwendig in Opposition zur Obrigkeit geriet, war der Komponist, Schriftsteller und Jurist E.T.A. Hoffmann. Als Kammergerichtsrat und Mitglied einer »Immediatkommission zur Ermittlung hochverräterischer Verbindungen und anderer gefährlicher Umtriebe« hatte er es gewagt, das Vorgehen der Polizei gegen den als Demagogen verfolgten »Turnvater« Jahn offen rechtswidrig zu nennen und sogar Jahns Klage gegen den Leiter der Polizeiaktion, den Polizeidirektor von Kamptz, zu vertreten, weil – wie er meinte – »auch die höchsten Staatsbeamten nicht außer Gesetz gestellt, vielmehr demselben, wie jeder andere Staatsbürger, unterworfen sind«.2 Die Affäre ist in die Literatur eingegangen; in der Knarrpanti-Episode seines satirischen Märchens Meister Floh stellte Hoffmann – wenig verschlüsselt – die damaligen Polizeimethoden dar, »ein ganzes Gewebe heilloser Willkür, frecher Nichtachtung der Gesetze (und) persönlicher Animosität«.3
Der Untersuchungsführer Knarrpanti trägt deutliche Züge von Hoffmanns Gegenspieler von Kamptz, und sein Vorgehen karikiert die Methoden der politischen Justiz nicht nur jener Zeit: »Auf die Erinnerung, dass doch eine Tat begangen sein müsse, wenn es einen Täter geben solle, meinte Knarrpanti, dass, sei erst der Verbrecher ausgemittelt, sich das begangene Verbrechen von selbst findet. Nur ein oberflächlicher, leichtsinniger Richter sei ... nicht imstande, dies und das hinein zu inquirieren, welches dem Angeklagten doch irgendeinen kleinen Makel anhänge und die Haft rechtfertige.« Das aufgrund dieser Veröffentlichung gegen Hoffmann eingeleitete Dienststrafverfahren – sinnigerweise wegen »Preisgabe von Prozessgeheimnissen« – kam nicht mehr zum Abschluss. Er starb am 25. Juli 1822, sein Gegenspieler von Kamptz wurde 1832 preußischer Justizminister.
Der Richter E.T.A. Hoffmann war durchaus keine Ausnahme. Einige führende Opponenten gegen die Unterdrückung der Freiheit waren Juristen, und die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 bestand gar zu einem Viertel aus Richtern und Rechtsgelehrten.4 Einer ihrer Abgeordneten, Benedikt Waldeck, Rat am Geheimen Obertribunal in Berlin, der zeitlebens gegen preußischen Despotismus und für die Rechte des Volkes kämpfte, wurde 1849 wegen angeblichen Hochverrats ein halbes Jahr eingesperrt. Später, als Abgeordneter des preußischen Landtags, war er Wortführer der Freisinnigen und einer der beharrlichsten Gegner des Bismarck‘schen Krypto-Absolutismus. Die Hochachtung, die Waldeck bei der Bevölkerung genoss, zeigte sich ein letztes Mal bei seinem Begräbnis; der Trauerzug von 20 000 Menschen stellte im Berlin von 1870 eine einzigartige Massendemonstration dar.5 Der Münsteraner Oberlandesgerichtsdirektor Jodokus Donatus Temme hatte sogar aus dem Gefängnis heraus für die Nationalversammlung kandidiert und war prompt gewählt worden. Von einer Anklage wegen Hochverrats musste er zwar freigesprochen werden, nach einem Disziplinarverfahren wurde er jedoch ohne Bezüge entlassen und emigrierte in die Schweiz.6
Obwohl diese Richter keine isolierten Erscheinungen waren, repräsentierten sie aber auch nicht die Justiz als Ganzes. Vor allem Bismarck setzte – zunächst als preußischer Ministerpräsident, später als Reichskanzler – die Justiz skrupellos als Kampfmittel in innenpolitischen Auseinandersetzungen ein. Dabei konnte er sich auf eine Institution stützen, von der sich die Liberalen zunächst sogar eine unabhängigere Rechtssprechung erhofft hatten, weil mit ihr der absolutistische Inquisitionsprozess abgelöst wurde: die 1849 nach französischem Vorbild eingeführte Staatsanwaltschaft. Sie erwies sich jedoch schon bald als »eine der schneidigsten Waffen der bürokratischen Reaktion«.7 Mit dem Anklagemonopol der weisungsgebundenen Staatsanwaltschaft konnte die Regierung die Justiz gezielt gegen oppositionelle Politiker einsetzen. Während des preußischen Verfassungskonflikts (1860-1866) machten Mitglieder der liberalen Fortschrittspartei ebenso mit dieser politischen Justiz Bekanntschaft wie während des Kulturkampfs (1872-1886) die Anhänger des katholischen Zentrums. Sie hatten allen Anlass, die »himmelschreiende Parteilichkeit der Richter zu beklagen«.8
Immer wieder waren es aber auch Richter, die sich gegen den politischen Missbrauch der Justiz auflehnten. Schon 1844 hatte Heinrich Simon, Stadtgerichtsrat in Breslau, unter Hinweis auf die staatliche Gängelung der Justiz prophezeit: »Er wird fallen, der bisher so edle preußische Richterstand ..., und die Trümmer dieser Institution werden auf den preußischen Thron stürzen und auf die bürgerliche Freiheit des preußischen Volkes.« Ein Jahr später gab Simon sein Richteramt auf und schrieb an den König den bemerkenswerten Satz: »Nur auf das kann man sich stützen, was Widerstand leistet.« Für seine führende Rolle bei der Revolution wurde er dann in Abwesenheit zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Anlässlich seines Todes im Schweizer Exil schrieb die liberale Nationalzeitung: »Das deutsche Volk hat einen seiner größten Bürger verloren ... Männer wie Heinrich Simon verkünden durch ihr Leben eine bessere Zukunft.«9
Auch in den nachrevolutionären Parlamenten war die politisch bewusste Richterschaft ein liberales Element. Das 1862 gewählte preußische Abgeordnetenhaus, in dem 230 Liberalen nur 11 Konservative gegenübersaßen, wurde wegen seines hohen Richteranteils als »Kreisrichterparlament« bezeichnet. Dieses Parlament führte während des bereits erwähnten Verfassungskonflikts über Jahre einen zähen Kampf gegen das reaktionäre preußische Regime. Bismarck sprach damals abschätzig von »Kreisrichtern und anderen Revolutionärs« und hatte damit gar nicht so unrecht. Viele Richter hatten eine revolutionäre Vergangenheit, sogar der eher staatstragende erste Präsident des 1879 gegründeten Reichsgerichts, Martin Eduard von Simson, soll im März 1848 bewaffnet an der Seite aufrührerischer Studenten gestanden haben.10
Und selbst nach ihrer teilweisen Domestizierung als Parlamentsabgeordnete bereiteten einige Richter Bismarck noch große Schwierigkeiten. Karl Twesten beispielsweise, Stadtrichter in Berlin und als Verfasser einer Reihe von Flugschriften gegen die preußische Reaktion (»Freund, jetzt ist Zeit zu lärmen!«) bekannt geworden, hatte als Landtagsabgeordneter Manipulationen der Regierung bei der Besetzung von Richterämtern aufgedeckt und war dafür strafrechtlich verfolgt worden, obwohl die Verfassung freie Rede im Parlament garantierte. Nach einem erregten Rededuell zwischen Twesten und Bismarck stimmte der Landtag ab: 283 Abgeordnete missbilligten die Maßregelung des mutigen Richters, Bismarck konnte nur 35 Abgeordnete hinter sich bringen.11
Nach der Reichsgründung von 1871 und vor allem nachdem der zum Reichskanzler aufgerückte Bismarck seit 1878 seine Regierung nicht mehr auf die nationalliberale Fraktion des Reichstags, sondern auf die Konservativen stützte, machte er sich mit einer Reihe ultrakonservativer Säuberungsmaßnahmen daran, dem fortschrittlicheren Teil der Richterschaft das liberale Kreuz zu brechen. Aufgrund einer drastischen Verminderung der Zahl der Gerichte wurden die Richter der zehn ältesten Jahrgänge entlassen, jener Jahrgänge also, deren politisches Bewusstsein noch durch die Revolution von 1848 und den Verfassungskonflikt geschärft war. Da in den folgenden zehn Jahren keine Richterstellen frei wurden, musste, wer das Richteramt anstrebte, nach Studium und vierjähriger unbezahlter Referendarzeit ein acht bis zehn Jahre dauerndes Assessoriat durchlaufen.12 Als Hilfsrichter auf Probe hatte er ohne die Garantie richterlicher Unabhängigkeit zu arbeiten. Das wirkte in mehrfacher Hinsicht prägend auf die künftige Richterschaft. Zunächst einmal war damit die soziale Selektion gewährleistetet, nur sehr Begüterte konnten sich die rund 20jährige Ausbildung leisten, und außerdem wurde bis 1911 in Preußen nur zum Referendardienst zugelassen, wer 7500 Mark hinterlegt und ferner noch nachgewiesen hatte, dass er über einen »standesgemäßen« Unterhalt von jährlich 1500 Mark verfügt.13 Aus dem Vorbereitungsdienst und dem Richteramt auf Probe konnte der künftige Richter jederzeit entlassen werden. Während der langen Ausbildung war die Möglichkeit gegeben, die Richter zu beobachten, alle oppositionellen Elemente auszusondern und jede liberale Regung zu unterdrücken. Diese permanente Examinierung überstand nur, wer in besonderem Maße staatstreu und willfährig war, das heißt, wer das damalige Gesellschafts- und Staatssystem bedingungslos akzeptierte.
Die 1878 proklamierte »freie Advokatur« (für die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft wurden alle politischen Sperren aufgehoben) hatte zusätzlich zur Folge, dass Richter mit liberaler Einstellung, um dem politischen Druck zu entgehen, den Dienst quittierten und als Rechtsanwälte arbeiteten.
Die staatliche Kontrolle über die Richter war mit der Ernennung auf Lebenszeit aber nicht beendet. Höhere Richterstellen besetzte man vorzugsweise mit bewährten Staatsanwälten. Diese waren im Gegensatz zu Richtern abhängige, an Weisungen der vorgesetzten Behörde gebundene Beamte, die in langer Berufsausübung gehorchen gelernt hatten. Als »politische Beamte« konnten sie jederzeit ohne Angabe von Gründen in den Ruhestand versetzt werden; daher hielt sich in jener Berufsgruppe nur der hochkonservative neue Typ des extrem obrigkeitsgläubigen Staatsdieners, dessen Denkweise und Gebaren Leo Kofler in seiner Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft treffend beschrieb: »formalistische Pflichtbetonung, falscher, weil mit dem Leben in einem ständigen, oft tragischen Konflikt geratender Ehrbegriff, Duckmäuserei, verbunden mit Neigung zur ›heldischen‹ Haltung, rationalisierte Sentimentalität und – preußischer Haarschnitt«14. Obzwar die Staatsanwälte nur rund 8 Prozent des höheren Justizpersonals stellten, war um die Jahrhundertwende die Mehrzahl der Gerichtspräsidien mit ehemaligen Anklägern besetzt.15
Erst 1889 begann eine Richterstellenvermehrung, und die gesamte Richterschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts fand nun ihre Ausbilder und Vorgesetzten in den Assessoren der achtziger Jahre. Leitbild der Beamten und Staatsanwälte wurde der Reserveoffizier, jenes Glied zwischen liberalem Bürgertum und feudalem Militärstaat, das sich zur Symbolfigur des zweiten Kaiserreichs entwickelte. Der »liberale Geheimrat musste aus der Beamtenschaft verschwinden«, konstatierte der Historiker Eckart Kehr, »und er verschwand erstaunlich schnell ... Die Antinomie dieses Systems bestand darin, dass es das Bürgertum für die Besetzung der Beamten- und Offiziersposten quantitativ nicht mehr entbehren konnte, bürgerliche Beamte und Offiziere aber nur dann avancieren ließ, wenn sie ihre bürgerliche Gesinnung abgelegt und die neu-feudale angenommen hatten.«16
Dass die Richterschaft aber trotz aller beschriebenen Staatshörigkeit schon durch ihre formal gesicherte Unabhängigkeit nicht weisungsgebunden war – wie Bürokratie und Militär –, ließ man sie spüren. In der sozialen Hierarchie rangierte die Justiz weit unter den anderen Staatsgewalten, was sich beispielsweise darin ausdrückte, dass Juden der Zutritt zu Militär und Beamtenschaft verwehrt war, die richterliche Laufbahn ihnen aber offenstand, oder darin, dass die Praxis der Ordensverleihung die Richter auf eine Stufe mit den mittleren Beamten stellte.17 Die Richterschaft reagierte auf diese Zurücksetzung allerdings nicht etwa mit Trotz und Verweigerung, sondern – wie um zu beweisen, dass sie größeren Vertrauens würdig sei – eher mit erhöhter Anpassung, was die »Metamorphose liberaler Honoratioren zu Reserveoffizieren noch beschleunigte«.18
Die Bismarck‘sche Personalpolitik hatte schon bald Früchte getragen. Zur Zeit der Sozialistenverfolgung traf die Arbeiterschaft auf einen weitgehend geschlossenen Richterstand, der sich in einer Vielzahl von Strafprozessen mit der von den Sozialdemokraten radikal in Frage gestellten politischen Ordnung derart identifizierte, dass er sich den ebenso treffenden wie vernichtenden Vorwurf der »Klassenjustiz« einhandelte. Alle führenden Funktionäre der Arbeiterbewegung – von August Bebel über Wilhelm und Karl Liebknecht bis zu Rosa Luxemburg – hatten ihren fast obligatorischen Hochverratsprozess.
Rechtstheoretisch war die Wilhelminische Epoche von einem rigiden »Rechtspositivismus« geprägt, jener scheinbar entpolitisierten Theorie, die vorgab, das Recht »aus den Fesseln des politischen Doktrinarismus«19 befreit zu haben. Deren Hauptvertreter waren sich der politischen Bedeutung ihrer Lehre aber sehr wohl bewusst, wenn sie vor dem demokratischen Gedanken warnten – »jeder Schritt in Richtung zu demselben wäre eine Gefahr für das Reich«20 – und ein »wertfreies« System juristischer Dogmatik propagierten. »Hinter der neutralen Maske des Positivismus‘ ist die Parteinahme für die bestehende Staatsordnung des monarchisch-konstitutionellen Systems unverkennbar«, urteilte der Historiker Heinrich Heffter,21 denn mit seinem Formalismus und seiner strikten Beschränkung auf die bestehende Ordnung verstärkte dieses Rechtsdenken die geistige Abhängigkeit des Richters vom Wilhelminischen Staat. »Unabhängigkeit der Rechtspflege?«, beschreibt der Rechtssoziologe Ernst Fraenkel die Haltung der Richter jener Zeit, »de iure hat sie nie jemand angezweifelt; de facto nie jemand angestrebt.«22
Doch der Niedergang der alten, scheinbar so fest gefügten Ordnung kündigte sich schon geraume Zeit vor der Abdankung des Kaisers an. Als der Einfluss des Reichstages auf die Gesetzgebung wuchs und immer häufiger Gesetzesinitiativen nicht von der Regierung, sondern aus der Mitte des Parlaments kamen, wurden die antiparlamentarischen Stimmen aus der Richterschaft unüberhörbar. In der Deutschen Richterzeitung, dem Organ des Deutschen Richterbundes, äußerten führende Funktionäre der Richterschaft ihre »Überzeugung, dass die Politik die Justiz verdirbt«, dass »logische Beweisführung ... in den Parlamenten nicht brauchbar« und dass die Arbeit des Gesetzgebers vom »blutigsten Dilettantismus« geprägt sei.23 Die Richterschaft stand geschlossen und stramm zur Monarchie, und es war fast überflüssig, dass einer ihrer Sprecher, Senatspräsident Max Reichert, forderte: »Was die Wehrmacht nach draußen ist, das muss die Rechtsprechung nach innen sein!«24 Sie war es längst. Allerdings konnte auch sie das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen.
Mit dem Untergang des Kaiserreichs und der Ausrufung der Republik – ausgerechnet auch noch durch einen Sozialdemokraten – brach für die monarchistisch eingestellte Richterschaft eine Welt zusammen. »Jede Majestät ist gefallen«, klagte der Vorsitzende des Richterbundes, Johannes Leeb, »auch die Majestät des Gesetzes.« In den Gesetzen der Republik sah er »Lügengeist«, »Partei-, Klassen-, Bastardrecht«.25 Der Richterschaft wurde jedoch ihre Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit garantiert, und Richtern, die es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten, der Republik statt dem Kaiser zu dienen, bot die Regierung an, sich bei Wahrung aller materiellen Ansprüche in den Ruhestand versetzen zu lassen. Von diesem Angebot machten jedoch weniger als 0,15 Prozent der Richter Gebrauch.26
In einem Rückblick beschrieb Reichsgerichtspräsident Dr. Walter Simons 1926 den Umbruch: »Bei uns ist das Richtertum der Monarchie als Ganzes in den neuen Staat hereingegangen, ... mit vollem Bewusstsein ..., aber mit dem neuen Regime bekam der Richter nicht den neuen Geist. Es wäre erstaunlich, wenn es anders gewesen wäre. Der Geist musste bleiben«; und nicht ohne Stolz fügte Simons hinzu: »Der Richter ist konservativ.«27 Die in ihrer Mehrheit nun der am rechten Rand des Parteienspektrums angesiedelten Deutschnationalen Volkspartei anhängende Richterschaft hielt Distanz zur Republik und orientierte sich an dem, was von den alten Werten noch geblieben war. Bereitwillig übernahm sie den in konservativen Kreisen gepflegten Mythos von dem im Felde ungeschlagenen Heer, das lediglich durch Sabotage an der Heimatfront unterlegen sei (die sogenannte »Dolchstoßlegende«), und widmete sich der Ausschaltung des »inneren Feindes«.
Als Carl Schmitt, den man getrost den Staatsdenker des Dritten Reichs nennen kann, 1927 in seiner Schrift Der Begriff des Politischen das polarisierende Freund-Feind-Denken wissenschaftlich hoffähig machte, traf er wie kein anderer das konservative Politikverständnis. Für ihn war »die spezifisch politische Entscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen ..., die Unterscheidung von Freund und Feind«. Sie hatte den Sinn, »den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung« zu bezeichnen, der politische Feind ist »eben der andere, der Fremde, und es genügt seinem Wesen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist, so dass im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, nicht durch den Spruch eines Unbeteiligten und daher unparteiischen Dritten«, das heißt weder durch Gesetz noch durch Richterspruch, »entschieden werden können«. Nach dieser Lehre erhalten die Begriffe »Freund, Feind und Kampf ... ihren realen Sinn dadurch, dass sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten«.28
Schmitt hatte diese Unterscheidung nicht erfunden, sondern nur mit dem ihm eigenen Gespür für den Zeitgeist auf den Begriff gebracht. Schon bald nach den »revolutionären Explosionen«, für die der Zündstoff im Grabenschlamm des 1. Weltkrieges zusammengetragen worden war (Otto Kirchheimer),29 machte sich die Justiz daran, Freund und Feind zu unterscheiden und damit die Unterscheidung von Opposition und Verrat, die große Leistung der Justiz des 19. Jahrhunderts, zu beseitigen. In welchem Umfang dies geschah, zeigen die juristischen Nachspiele größerer politischer Erschütterungen in der Frühzeit der Republik: der Münchner Räterepublik von 1919 und des Kapp-Putsches von 1920.
Der erste Ministerpräsident des »Volksstaats Bayern«, Kurt Eisner (USPD), der im November 1918 in München die Republik ausgerufen hatte, war am 21. Februar 1919 auf seinem Weg in den Landtag ermordet worden. Zwar bildete sich zwei Wochen später eine neue Regierung unter dem Mehrheits-Sozialdemokraten Hoffmann, die Anhänger Eisners waren durch den Mord jedoch dermaßen radikalisiert, dass sie am 7. April 1919 in München die Räterepublik ausriefen. Am 14. April übernahmen die Kommunisten die Führung (sogenannte zweite Räterepublik), eine Rote Armee wurde gebildet und eine Rote Garde sollte die Aufgaben der Polizei übernehmen. Als knapp zwei Wochen später die von der Reichsregierung »zur Wiederherstellung der Ordnung« entsandten Reichswehrtruppen in Bayern einmarschierten, war die Räterepublik schon an ihren inneren Auseinandersetzungen zerfallen. Die Regierungstruppen richteten jedoch mit ihren standrechtlichen Erschießungen und Morden unter der Münchner Arbeiterschaft ein wahres Blutbad an. Wilhelm Hoegner, damals in Bayern Staatsanwalt, berichtet von 1100 Toten.30 Nach Beendigung dieses »weißen Schreckens« wurden in Bayern nunmehr mit Juristen besetzte Standrechtliche Gerichte gebildet, die auch nach der Aufhebung des Standrechts am 19. Juli 1919 und ihrer Umbenennung in Bayerische Volksgerichte praktisch bestehen blieben.31 Vor dem Standrechtlichen Gericht München wurden alle führenden Räterepublikaner, die den Terror der Reichswehr überlebt hatten, wegen Hochverrats angeklagt. Nach einer amtlichen Auskunft an den Reichstag verurteilte dieses Gericht einen Angeklagten zum Tode und 2209 zu Freiheitsstrafen. Von den verhängten 6080 Jahren Freiheitsstrafen mussten 4400 abgesessen werden.32
Das größte hochverräterische Unternehmen der 14 republikanischen Jahre, der Kapp-Putsch im März 1920, der das Reich an den Rand des Bürgerkriegs brachte, die Reichsregierung zur Flucht aus Berlin zwang und in dessen Verlauf die Putschisten über 200 standrechtliche Erschießungen vornahmen, hatte dagegen nur eine einzige Verurteilung zur Folge, und lediglich zur gesetzlichen Mindeststrafe von 5 Jahren Festungshaft. Zwar wurden zunächst wegen 507 Verbrechensfällen Ermittlungen eingeleitet,33 ein Amnestiegesetz vom 4. August 1920 sorgte jedoch dafür, dass der größte Teil der Beschuldigten außer Verfolgung gesetzt wurde.34 Nachdem man mehreren Anführern des Unternehmens die Flucht ins Ausland ermöglicht hatte, »Reichskanzler« Kapp in der Untersuchungshaft verstorben war und man das Verfahren gegen General Ludendorff eingestellt hatte, wurden vor dem 1. Strafsenat des Reichsgerichts lediglich der frühere Berliner Polizeipräsident Traugott von Jagow (»Innenminister«), der Rittergutsbesitzer von Wangenheim (»Landwirtschaftsminister«) und der Sanitätsrat Dr. Schiele (Vertrauensmann Kapps) angeklagt. Die Verfahren gegen Wangenheim und Schiele stellte das Reichsgericht ein, nur Jagow wurde verurteilt.35
Neben dem krassen Missverhältnis der Verurteilungen reizen die Verfahren zu vielerlei anderen Vergleichen. Schon das Amnestiegesetz war so abgefasst, dass nur »Personen, die an einem hochverräterischen Unternehmen gegen das Reich« mitgewirkt hatten, straffrei blieben, also nicht die verurteilten Räterepublikaner. Von der Amnestie waren aber »Urheber oder Führer des Unternehmens« ausgeschlossen. Daraufhin wurden zum Beispiel General von Lettow-Vorbeck, der die mecklenburgische Landesregierung verhaftet und mehrere Erschießungen angeordnet hatte, sowie der Kieler Oberbürgermeister Lindemann, während des Putsches Oberpräsident der Provinz Schleswig-Holstein, als »Mitläufer« außer Verfolgung gesetzt.36 In den Münchner Prozessen war dagegen ein Schneidermeister aus Rosenheim, an dessen geistiger Klarheit erhebliche Zweifel bestanden und der nach seiner Verurteilung ein Gnadengesuch »an den König Ludwig« richtete, zu einem der Führer des hochverräterischen Unternehmens befördert worden.37 So hatte die Münchner Räterepublik über 2200 »Führer«, während sich bei der gerichtlichen Aufarbeitung des Kapp-Putsches herausstellte, dass dieser offensichtlich führerlos gewesen war.
Bei der Strafzumessung für politische Täter spielte die »Gesinnung« eine große Rolle; die relativ komfortable Festungshaft konnte nur verhängt werden, wenn der Angeklagte nicht aus »ehrloser Gesinnung« gehandelt hatte. Während nun die Justiz bei 97 Prozent der verurteilten Räterepublikaner eine »ehrlose Gesinnung« annahm,38 ging in dem anderen Prozess bereits der Anklagevertreter, Oberreichsanwalt Ebermayer, von Jagows »unzweifelhaft edlen Motiven« aus, und das Urteil geriet förmlich ins Schwärmen, er sei »unter dem Banner selbstloser Vaterlandsliebe ... dem Rufe Kapps« gefolgt.39 Jagow wurde nach drei Jahren begnadigt. Danach klagte er durch alle Instanzen um seine Pension als ehemaliger Polizeichef und königlich-preußischer Regierungspräsident. Gemäß § 7 des Preußischen Disziplinargesetzes, der vorschrieb, dass bei rechtskräftiger Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr der Verlust des Amtes beziehungsweise der Ruhestandsbezüge automatisch eintrete, hatte man Jagow die Pension gestrichen. Nachdem seine Klage gegen diese Maßnahme vom Landgericht und vom Kammergericht in Berlin abgewiesen worden war, verurteilte der 3. Zivilsenat des Reichsgerichts das Land Preußen, dem Putschisten rückwirkend ungeschmälert die Präsidentenpension zu zahlen.40 Das Gericht begründete Jagows Pensionsanspruch damit, dass das Strafgericht den Amtsverlust – und damit den Verlust der Pensionsbezüge – nicht ausdrücklich als Nebenstrafe ausgesprochen habe. Dies wäre aber völlig unsinnig gewesen, da nach dem Disziplinargesetz der Verlust automatisch mit der Verurteilung eintrat. General von Lüttwitz, der militärische Kopf des Unternehmens, erhielt, obwohl er sich nach dem Fehlschlag des Putsches auch noch unerlaubt von der Truppe entfernt und mit falschen Papieren nach Schweden abgesetzt hatte, seine Pension sogar rückwirkend vom Zeitpunkt der Revolte an.41
Der Witwe eines Kieler Arbeiters, der dem Aufruf der Reichsregierung, gegen die Hochverräter Widerstand zu leisten, gefolgt und dabei zu Tode gekommen war, sprach das Reichsversorgungsgericht mit Urteil vom 27. Januar 1925 dagegen eine Hinterbliebenenrente ab mit der Begründung, dass »zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ... Polizei und notfalls das Militär« berufen seien (ausgerechnet das Militär, das ja mit seinem Staatsstreich die öffentliche Ordnung erschüttert hatte!). Daher falle dem Verstorbenen »der durch seine Tötung verursachte Schaden in vollem Umfang selbst zur Last«, womit alle Ansprüche der Hinterbliebenen verwirkt seien.42 Das Landgericht Schwerin erklärte im nachhinein sogar die Erschießung streikender Arbeiter durch die Putschisten für legal, da sie »in der Verordnung Nr. 19 des damaligen Reichskanzlers« ihre »rechtmäßige Grundlage« gehabt hätten.43
Gelegenheit, ihre Sympathie für die noch junge NSDAP unter Beweis zu stellen, hatte die Justiz erstmals im Prozess gegen Hitler und acht weitere Nationalsozialisten nach dem Putschversuch vom 8./9. November 1923. Das Jahr 1923 war wohl das turbulenteste der Weimarer Zeit. Die Inflation hatte ihren Höhepunkt erreicht, Frankreich war im Ruhrgebiet einmarschiert, nationale Kreise leisteten dort den Besatzungstruppen erbitterten Widerstand, in den Ländern Sachsen und Thüringen waren Sozialdemokraten Koalitionsregierungen mit Kommunisten eingegangen, in Küstrin putschte die sogenannte Schwarze Reichswehr, in Bayern planten rechtsradikale Organisationen – SA, Bund Oberland und Reichskriegsflagge – den Marsch nach Berlin, um die Regierung abzusetzen. Das Land Bayern verkündete den Ausnahmezustand, und da bei dem als Generalstaatskommissar eingesetzten Gustav von Kahr, einem monarchistischen bayerischen Separatisten, die Gefahr bestand, dass Bayern sich vom Reich lossagte, erklärte Reichskanzler Stresemann den Ausnahmezustand für die ganze Republik. Kahr weigerte sich jedoch, seine Vollmachten auf den Wehrkreis-Befehlshaber von Bayern, General von Lossow, zu übertragen, und verpflichtete die im Land stationierten Reichswehrtruppen auf die bayerische Regierung. Er war entschlossen, Truppen nach Berlin zu schicken und vorher in Sachsen und Thüringen einzumarschieren, um die dortigen sozialdemokratisch geführten Volksfrontregierungen abzusetzen. Nachdem jedoch schon die Reichswehr auf Befehl der Reichsregierung in Sachsen und Thüringen einmarschiert war und die Regierungen abgesetzt hatte, gab Kahr seinen Putschplan auf. Damit waren die rechtsradikalen Organisationen und vor allem der damals in München aktive Adolf Hitler nicht einverstanden. Er drang am 8. November, als Kahr im Bürgerbräukeller eine Rede hielt, mit einem bewaffneten Haufen in die Versammlung ein, schoss in die Decke und erklärte kurzerhand in einem Zuge die bayerische Staatsregierung, die Reichsregierung und den Reichspräsidenten Ebert für abgesetzt. Die im Saal anwesende Spitze der bayerischen Exekutive ging zunächst auf Hitlers Forderungen ein, gab jedoch nach Verlassen des Lokals Befehl, den Aufstand niederzuschlagen. Am 9. November wurde ein von den rechtsradikalen Organisationen veranstalteter Marsch auf die Feldherrnhalle gestoppt.44 Hitler und acht seiner Kumpane wurden verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt. Die am 24. Februar 1924 eröffnete Hauptverhandlung fand vor dem Münchner Volksgericht statt. Ihr war eine Machtprobe zwischen dem Reich und dem Freistaat Bayern um die Zuständigkeit vorausgegangen, gesetzlich zuständig für Strafverfahren wegen Hochverrats war nämlich der Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik in Leipzig. Die bayerische Regierung wollte den Prozess jedoch in München stattfinden lassen und erklärte sich für den Fall, dass man das Verfahren dem Freistaat übertrage, sogar bereit, nach diesem Prozess die verfassungswidrigen Volksgerichte aufzulösen.45 Die Verhandlung vor dem Münchner Volksgericht war eine einzige rechtsradikale Machtdemonstration. Die Reichsregierung wurde ohne nennenswerte Rüge des Gerichts »Judenregierung«, ihre Mitglieder »Novemberverbrecher« genannt, die Angeklagten sprachen davon, dass in Berlin alles »ver-Ebert und versaut« sei, und der Reichspräsident wurde als »Matratzeningenieur« verhöhnt. Der mitangeklagte Rat am Bayerischen Obersten Landesgericht und ehemalige Polizeipräsident von München, Ernst Pöhner, sagte in der Verhandlung ganz unverblümt: »Wenn das, was Sie mir da vorwerfen, Hochverrat ist – das Geschäft betreibe ich schon seit fünf Jahren.«46
Das Urteil vom 1. April 1924 bescheinigte sämtlichen Angeklagten, dass sie »bei ihrem Tun von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten selbstlosen Willen geleitet waren«, und fuhr fort: »Alle Angeklagten ... glaubten, nach bestem Wissen und Gewissen, dass sie zur Rettung des Vaterlandes handeln müssten ... Seit Monaten, Jahren waren sie darauf eingestellt, dass der Hochverrat von 1918 durch eine befreiende Tat wieder wettgemacht werden müsste.« Das Gericht verzichtete daher darauf, ihnen die bürgerlichen Ehrenrechte zu entziehen, und verurteilte Hitler und seine Mitstreiter Pohner, Kriebel und Weber zu der Mindeststrafe von 5 Jahren Festungshaft (»die an sich schon vom Gesetze sehr reichlich bemessene mindeste Strafgrenze ... bleibt eine ausreichende Sühne ihres Verbrechens«) sowie zu einer lächerlichen Geldstrafe von 200 Reichsmark. Der einschlägige § 9 des Republikschutzgesetzes lautete nämlich: »Neben jeder Verurteilung wegen Hochverrats ... ist auf Geldstrafe zu erkennen. Die Höhe der Geldstrafe ist nicht beschränkt.« Und außerdem: »Gegen Ausländer ist auf Ausweisung aus dem Reichsgebiet zu erkennen. Zuwiderhandlungen gegen diese Anordnung werden mit Gefängnis bestraft.«
In dem Urteil wurde Hitler auch gleich in Aussicht gestellt, dass nach der Verbüßung eines Strafteils von 6 Monaten die restlichen 4,5 Jahre zur Bewährung ausgesetzt würden. Dabei hätte das Gericht, da der Nazi-Führer bereits wegen Landfriedensbruchs zu einer Bewährungsstrafe verurteilt war, deren Bewährungszeit noch andauerte, nach dem Gesetz diese widerrufen und eine vollständig abzusitzende Haftstrafe aussprechen müssen. Von der oben zitierten zwingend vorgeschriebenen Abschiebung des Ausländers Hitler sah das Gericht ausdrücklich ab, denn »auf einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler ..., kann nach Auffassung des Gerichts die Vorschrift ... ihrem Sinn und ihrer Zweckbestimmung nach keine Anwendung finden«.
Weitere fünf Angeklagte, darunter der spätere SA-Stabschef Ernst Röhm und der spätere Reichsinnenminister Wilhelm Frick, kamen mit je 15 Monaten Festungshaft und 100 Reichsmark Geldstrafe davon. Der vom Gericht stets mit militärischer Hochachtung als »Exzellenz« angesprochene General Ludendorff wurde freigesprochen; man glaubte ihm erneut, dass er – wie auch schon beim Kapp-Putsch – in voller Uniform »rein zufällig am Ort des Geschehens weilte«.47
Wie komfortabel Hitler und seine Parteigenossen die 6 Monate Festungshaft auf der einst für den Eisner-Mörder Graf Arco-Valley herrschaftlich hergerichteten Festung Landsberg verbrachten, beschreibt der englische Historiker Alan Bullock besonders plastisch: »Es gab gute Verpflegung – Hitler wurde im Gefängnis ziemlich dick –, und sie durften so viel Besuch empfangen, wie sie wollten ... Hitlers Bursche war Emil Maurice, der gleichzeitig auch den Sekretär machte, diesen Posten aber später an Rudolf Heß abtrat. Heß war freiwillig aus Österreich zurückgekehrt, um mit seinem Führer die Gefängnishaft zu teilen ... An Hitlers 35. Geburtstag, kurz nach dem Prozess, füllten die Pakete und Blumen, die ihm zugeschickt worden waren, mehrere Räume. Neben den vielen Besuchen, die er empfing, führte Hitler eine umfangreiche Korrespondenz und las so viele Zeitungen und Bücher, wie er nur wollte. Er präsidierte beim Mittagessen und beanspruchte und erhielt den Respekt, der ihm als dem Führer der Partei gebührte.«48
Auch in der Folgezeit nahmen die Gerichte in einer Vielzahl von Prozessen teils offen, teils schamhaft hinter juristischen Konstruktionen versteckt, Partei für die Nazis im innenpolitischen Kampf. Ein Verfahren gegen den nationalsozialistischen General Litzmann beispielsweise, der am 27. Mai 1930 in einer öffentlichen Versammlung in Dresden – auf den Versailler Vertrag bezogen – gerufen hatte: »Leider fehlen uns die Femerichter, um die Unterschreiber dieses Vertrages unschädlich zu machen«, wurde eingestellt, weil man Litzmanns Einlassung glaubte, er habe sich versprochen und sagen wollen, nur die »Unterschriften« sollten unschädlich gemacht werden.49
Im Untersuchungsverfahren gegen die umstürzlerische Organisation Consul behauptete der Reichsanwalt Niethammer, obwohl bereits zahlreiche Fememorde rechtsradikaler Vereinigungen bekannt geworden waren, der Aufruf »Verräter verfallen der Feme« meine nur die »gesellschaftliche Ächtung«.50 Ein Münchner Arbeiter dagegen, der bei einer Demonstration ein Schild mit der Aufschrift »Arbeiter, sprengt eure Ketten!« getragen hatte, erhielt 5 Monate Gefängnis wegen »Aufreizung zum Klassenhass«.51 Den nationalsozialistischen Gauleiter Kremser, der den Aufruf des Reichspräsidenten anlässlich der Unterzeichnung des Young-Plans als »ebenso lügenhaft« bezeichnet hatte »wie den der Volksbeauftragten«, sprach das Amtsgericht Glogau frei, da die Revolution von 1918 »Meineid und Hochverrat« gewesen sei.52 Der Gauredner Dr. Goebbels, der die Mitglieder der Reichsregierung »Verräter am Volk«, »bezahlte Büttel der Weltfinanz« und »Überläufer nach Frankreich« genannt hatte, wurde im August 1932 vom Schöffengericht Charlottenburg ebenfalls freigesprochen, und vom Schöffengericht Hannover war ihm bereits 1930 die »Wahrnehmung berechtigter Interessen« zugebilligt worden, als er dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun Korruption vorgeworfen hatte.53
Auch bei Zusammenstößen der Nazi-Truppen mit Republikanern ergriff die Justiz eindeutig Partei. Nach einem Überfall der SA auf Mitglieder der Eisernen Front in Alfeld beispielsweise verurteilte die Große Strafkammer des Landesgerichts Hildesheim die Nationalsozialisten zu Gefängnis zwischen 6 und 8 Monaten, die angegriffenen Sozialdemokraten, die sich gewehrt hatten, dagegen zu Strafen zwischen 12 und 24 Monaten, einen sogar zu Zuchthaus.54
Doch nicht nur die Privilegierung rechtsradikaler und die Verfolgung kommunistischer und republikanischer Angeklagter zeichnete die Justiz der Weimarer Zeit aus. Vereinzelt zwar, aber unübersehbar war die antisemitische Hetze in Urteilen verschiedener Gerichte bis hinauf zum Reichsgericht. Dabei mischte sich zumeist Antisemitismus mit Republikfeindlichkeit, wie es sich in dem berüchtigten Kampfausdruck »Judenrepublik« niederschlug. Die Passage des Liedes der Brigade Erhardt: »Wir brauchen keine Judenrepublik, pfui Judenrepublik!« war in rechtsradikalen Kreisen so populär, dass sie Anlass zu unzähligen Strafverfahren wurde, denn nach dem Republikschutzgesetz vom 21. Juli 1922 war mit Gefängnis zu bestrafen, »wer öffentlich die verfassungsmäßig festgestellte Staatsform des Reiches beschimpft«.55 Aber nachdem einige Untergerichte den Ausdruck »Judenrepublik, pfui Judenrepublik!« als Vergehen gegen das Republikschutzgesetz eingestuft hatten, hob das Reichsgericht am 22. Juni 1923 die Verurteilungen mit einer subtilen republik- und judenfeindlichen Begründung auf: »Der Ausdruck ›Judenrepublik‹ kann in verschiedenem Sinne gebraucht werden. Er kann die besondere Form der demokratischen Republik bezeichnen, welche durch die Weimarer Nationalversammlung ›verfassungsmäßig festgestellt‹ ist; er kann auch die gesamte Staatsform umfassen, die in Deutschland seit dem gewaltsamen Umsturz im November 1918 bestanden hat. Gemeint kann sein die neue Rechts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland, die unter hervorragender Beteiligung deutscher und ausländischer Juden ausgerichtet wurde. Gemeint kann auch sein die übermäßige Macht und der übermäßige Einfluss, den die im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung kleine Anzahl der Juden nach Ansicht weiter Volkskreise in Deutschland tatsächlich ausübt. In welchem Sinne die Angeklagten den Ausdruck ›Judenrepublik‹ gebraucht haben, ist nicht näher dargelegt. Es ist nicht einmal ausdrücklich festgestellt, dass die Angeklagten die verfassungsmäßig festgestellte Staatsform des Reiches beschimpft haben, sondern nur, dass sie die gegenwärtige Staatsform des Reiches beschimpft haben«.56
Noch deutlichere Worte als das höchste Gericht der Republik fand der Wernigeroder Amtsrichter Dr. Beinert, der am 6. März 1924 einem deutschvölkischen Redakteur der Wernigeroder Zeitung und seinen Kumpanen entschuldigend ins Urteil schrieb: »Das deutsche Volk erkennt mehr und mehr, dass das Judentum schwerste Schuld an unserem Unglück trage. An einen Aufstieg unseres Volkes ist nicht zu denken, wenn wir nicht die Macht des Judentums brechen ... Die Gedanken, welche die Angeklagten vortrugen, stellten keine Gefährdung unserer öffentlichen Ruhe dar, nein, sogar die Besten unseres Volkes teilen diese Auffassungen.«57 Das Schöffengericht Halle billigte dem deutschnationalen Politiker Elze, der den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun als »schamlosen Judas Ischariot« bezeichnet und ihm einen »Abgrund von Gesinnungslosigkeit« vorgeworfen hatte, die »Wahrnehmung berechtigter Interessen« zu und sprach ihn frei,58 und Anfang Februar 1930 sah schließlich auch das Reichsgericht in der Behauptung »Der Jude Rathenau ist ein Verräter« keine Beleidigung mehr.59
Nachdem ein Berliner Hauswirt namens Nordheimer von einem seiner Mieter, einem Ausländer, mehrmals als »deutsches Schwein« beschimpft worden war, kündigte er ihm und strengte Räumungsklage an; das Amtsgericht Berlin-Mitte wies die Klage jedoch mit der verblüffenden Begründung ab: »Der Kläger ist unbeschadet seiner deutschen Staatsangehörigkeit nicht die Persönlichkeit, die der Sprachgebrauch des Volkes zu den Deutschen zählt.«60 Führenden Repräsentanten der »Judenrepublik«, die bevorzugte Ziele nationalsozialistischer Hetze waren, verweigerten die Gerichte den Ehrenschutz, wobei die Urteile oft schlimmere Beleidigungen waren als die ihnen zugrundeliegenden Äußerungen. Der NS-Gauredner Bernhard Fischer zum Beispiel hatte in einer öffentlichen Versammlung behauptet: »Der (Berliner) Polizeipräsident Grzesinski ist ein Judenbastard. Er ist von einem Dienstmädchen unehelich geboren, das bei einem Juden gedient hat. In jedes Menschen Gesicht steht seine Geschichte.« Fischer wurde zunächst wegen Beleidigung verurteilt, in der Berufungsverhandlung vom Landgericht Neuruppin aber am 1. September 1932 freigesprochen. Das Gericht räumte zwar ein, »dass die Art und Weise, in der der Angeklagte über den Polizeipräsidenten hergezogen ist, die Grenze des im politischen Parteikampf Erträglichen« bilde, konnte jedoch »in der Behauptung, jemand sei außerehelicher, jüdischer Herkunft, nicht die Kundgebung einer Missachtung erblicken«.61
Ein letzter großer Prozess gegen nationalsozialistische Hochverräter vor dem für politische Strafsachen zuständigen 4. Strafsenat des Reichsgerichts räumte eventuell noch bestehende Zweifel über die Haltung der Justiz zur NS-Bewegung endgültig aus. Vom 23. September bis 4. Oktober 1930 hatte das Reichsgericht gegen die drei Ulmer Reichswehroffiziere Scheringer, Ludin und Wendt zu verhandeln, die in verschiedenen Garnisonsorten versucht hatten, nationalsozialistische Zellen zu bilden, um die Reichswehr zu beeinflussen, im Falle eines neuerlichen Putschversuches der Nazis auf diese nicht zu schießen, sondern »Gewehr bei Fuß« zu stehen und notfalls für sie Partei zu ergreifen. Große Publizität bekam der Prozess dadurch, dass das Gericht Adolf Hitler als einzigen der Zeugen zu der Frage vernahm, ob die NSDAP eine umstürzlerische Partei sei. Hitler erhielt dadurch die Gelegenheit, eine zweistündige Propagandarede vor dem Reichsgericht zu halten. Er durfte sogar, obwohl gegen ihn selbst ebenfalls ein Hochverratsverfahren wegen Nazi-Propaganda in der Reichswehr schwebte, seine Aussagen beschwören und damit so etwas wie einen mittelalterlichen »Reinigungseid« leisten.
Als Staatssekretär Zweigert vom Reichsinnenministerium eine Denkschrift vorlegen wollte, die verschiedene Verbrechen und Umsturzpläne der Nationalsozialisten eindeutig belegte, lehnte der Senat das Beweismittel ab, »da diese Frage [zu deren Beantwortung man Hitler geladen hatte] für die Urteilsfindung in dem vorliegenden Fall nicht von entscheidender Bedeutung« sei. Hitlers zwei Stunden dauernde Polemik gegen die Demokratie blieb, obwohl nach dem Republikschutzgesetz strafbar, unbeanstandet; er konnte sogar offen androhen: »Wenn unsere Bewegung siegt, dann wird ein neuer Staatsgerichtshof zusammentreten, und vor diesem soll dann das Novemberverbrechen von 1918 seine Sühne finden, dann allerdings werden auch Köpfe in den Sand rollen.«62
Das Reichsgericht bemühte sich im Urteil, eilfertig zu interpretieren, Hitler habe »dabei den nationalsozialistischen Staatsgerichtshof im Auge gehabt, der nach Erringung der Gewalt auf legalem Wege seines Amtes walten« werde. Diese »Legalität«, die Hitler »mit unzweideutigen Worten« garantiert habe, schien dem Reichsgericht durchaus glaubwürdig, »weil er bei dem wachsenden Verständnis, das Deutschland der völkischen Freiheitsbewegung entgegenbringt, ein illegales Vorgehen gar nicht nötig« hatte. In völligem Gegensatz zur sonstigen Gepflogenheit des Reichsgerichts, seine Urteile so trocken und nüchtern wie nur irgend möglich abzufassen, verfiel es bei der Darstellung von Hitlers Auftritt in offene Schwärmerei:
»Die Wogen des stürmischen Empfanges, der Hitler auf dem Reichsgerichtsplatz bereitet wurde, schlugen bis in den Gerichtssaal. Ein großer Teil der Presse und der Öffentlichkeit nahm in leidenschaftlicher Weise für die Angeklagten Stellung, die doch Kameraden der Zeugen waren und mit deren Anschauungen die Zeugen in vielen Punkten einig gingen. Der große [Reichstags-]Wahlerfolg der Nationalsozialisten, der kurz vor Beginn der Hauptverhandlung errungen war, beeinflusste die Beurteilung der Angeklagten durch Prozessbeteiligte und Publikum in einem den Angeklagten günstigen Sinne.«63
So war es nicht weiter verwunderlich, dass die drei nationalsozialistischen Hochverräter zu milden 18 Monaten Festungshaft verurteilt wurden, nicht ohne vom Reichsgericht »gute Absichten«, »tadellose Vergangenheit«, »gute Eigenschaften« und »edle Motive« bescheinigt zu bekommen.64
Wie die von Hitler beschworene und vom Reichsgericht so gern geglaubte »Legalität« aussah, belegte eine im Herbst 1931 erschienene sozialdemokratische Denkschrift, die den Legalitätseid des Nazi-Führers als glatten Meineid entlarvte. Sie dokumentierte allein für die Jahre 1930/31 exakt 1184 von Nationalsozialisten begangene Gewalttaten mit 62 Todesopfern und 3209 Verletzten, außerdem 42 Versammlungssprengungen, 26 Überfälle auf Gewerkschaftshäuser sowie eine große Anzahl von Friedhofsschändungen.65 Doch die Justiz weigerte sich weiterhin, den gewalttätigen Charakter der NS-Bewegung zur Kenntnis zu nehmen. Im November 1931, nach den hessischen Landtagswahlen, fiel der Polizei sogar eine komplette Sammlung detaillierter Pläne für einen neuerlichen nationalsozialistischen Umsturzversuch in die Hände. Diese sogenannten Boxheimer Dokumente zeigten, dass die Nazis aus den Fehlschlägen früherer Putschversuche gelernt hatten. Die Papiere sahen die Übernahme der gesamten Staatsgewalt durch die SA, die Todesstrafe für Streikende und Personen, die sich SA-Weisungen widersetzten, die Verfügung der SA über alle Privatvermögen, die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht vom 16. Lebensjahr an und zahlreiche andere Verfassungsverstöße vor. Als Autor der Staatsstreichpläne bekannte sich der hessische Gerichtsassessor Dr. Werner Best. Hitler gab vor, die Dokumente nicht zu kennen. Noch vor Einleitung eines Verfahrens erklärte der oberste Ankläger der Republik, Oberreichsanwalt Karl Werner, es sei überhaupt zweifelhaft, ob der Tatbestand des Hochverrats gegeben sei, weil die Pläne die nationalsozialistische Machtergreifung nur nach einem kommunistischen Aufstand vorsähen.66 Das Untersuchungsverfahren wurde hingezogen, und mit Beschluss vom 12. Oktober 1932 setzte der 4. Strafsenat des Reichsgerichts Dr. Best »aus Gründen mangelnden Beweises hinsichtlich der Anschuldigung des Hochverrats außer Verfolgung«.67 Der nur vorübergehend vom Dienst suspendierte Gerichtsassessor wurde nicht einmal aus dem Richterdienst entlassen. (Im Dritten Reich rückte er zum Justitiar der Gestapo und später zum Reichsbevollmächtigten im besetzten Dänemark auf.)
Die Forderung und Begünstigung »national« gesonnener Straftäter war politisch verhängnisvoll, sie ermutigte rechtsradikale Umstürzler und verunsicherte republikanische Kreise. Noch folgenreicher war jedoch die damit verbundene Erosion des Rechts.
Nach dem Versailler Friedensvertrag, der als sogenanntes Gesetz über den Friedensschluss deutsches Reichsgesetz war und im Rang sogar noch über der Verfassung stand, war Deutschland rigorosen Rüstungsbeschränkungen unterworfen. Das Gesetz enthielt genaue Vorschriften über Stärke, Ausrüstung und Ausbildung der auf 100.000 Mann limitierten Reichswehr.68 Die »neue alte Armee« (Seeckt) nutzte aber jede Möglichkeit, sich zu verstärken, um das »Versailler Schanddiktat« eventuell militärisch zu revidieren. Sie stellte illegale Verbände auf (die bereits erwähnte Schwarze Reichswehr), zog sogenannte Zeitfreiwillige zu Manövern und Wehrübungen ein, unterhielt geheime Waffenlager und baute sogar illegal eine Luftwaffe auf. Bei all diesen Aktivitäten ging die Reichswehr ausgesprochen konspirativ vor. Um sich gegen den »Verrat« des verbotenen Treibens an die Interalliierte Militärkommission, das Kontrollorgan der Siegermächte, zu schützen, wurden mutmaßliche Informanten ermordet. Die deutschen Behörden, die über die gesetzwidrige Aufrüstung wohlinformiert waren, deckten soweit irgend möglich diese Fememorde. Dennoch ließ es sich nicht verhindern, dass einige der Morde bekannt wurden und Gerichtsverfahren eingeleitet werden mussten. Die Verteidigung der Mörder – von denen etliche später im Dritten Reich große Karrieren machten – plädierte regelmäßig auf Freispruch, da die Täter »in Notwehr« gehandelt hatten, stellvertretend für den Staat, dem durch das Gesetz die Hände gebunden seien.
Diese Konstruktion der rechtfertigenden »Staatsnotwehr« oder des »Staatsnotstandes« – nach dem Urteil des renommierten republikanischen Staatsrechtslehrers Georg Jellinek »nur ein anderer Ausdruck für den Satz, dass Macht vor Recht geht«69 – übernahmen die Gerichte bis hinauf zum Reichsgericht, das jedenfalls prinzipiell anerkannte, dass vermeintliche Staatsnot Gesetzesbrüche rechtfertigen könne. Dabei hatte die Justiz schon selbst dafür gesorgt, dass die Grundlage solcher Rechtfertigung gar nicht bestand und dem Staat bei Bekanntwerden der illegalen Reichswehrmachenschaften keineswegs die Hände gebunden waren. Die Gerichte jener Zeit führten Tausende von Landesverratsverfahren gegen Pazifisten und Republikaner durch, die die Rechtsbrüche bekannt gemacht hatten. In jedem Jahr der Republik wurden doppelt so viele Personen wegen Landesverrats verurteilt wie in den 32 Vorkriegsjahren zusammen.70 Die ebenso simple wie arrogante Argumentation, die diesen Verurteilungen zugrunde lag, charakterisierte treffend der Justizkritiker Emil Julius Gumbel: »1. Eine Schwarze Reichswehr hat nie existiert. 2. Sie ist längst aufgelöst. 3. Wer von ihr redet, begeht Landesverrat.«71 Opfer dieser Justiz wurden nahezu alle prominenten deutschen Pazifisten, darunter die beiden Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde und Carl von Ossietzky.
Auf die politischen Folgen solcher Rechtsprechung hatte die SPD schon 1924 hingewiesen. Ihre Reichstagsfraktion beschwor in einer Interpellation die Regierung, »dass diese Rechtsprechung eine Gefahr für die Republik bedeutet, insofern sie Organisationen, die staatsfeindlich und monarchistisch sind, die Möglichkeit der Waffenrüstung gewährt, ohne der republikanischen Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, sich dagegen zu wehren oder auf Einhaltung von Recht und Gesetz zu bestehen«.72 Noch verderblichere Wirkung hatte aber die damit betriebene Zerstörung der Rechtsgrundlagen des Staates. Der Frankfurter Rechtsprofessor Hugo Sinzheimer hatte sich anlässlich der reichsgerichtlichen Anerkennung der Staatsnotwehr als Rechtfertigung für einen Mord zu Recht über die »prinzipielle Ungeheuerlichkeit, die dieses Urteil gewagt hat«, erregt: »Ein solcher Richterspruch erschüttert nicht die Rechtsordnung, zu deren Schutz er berufen ist. Er löst sie auf.«73
Das ganze Ausmaß der vom Reichsgericht betriebenen Auflösung der Rechtsordnung wird erst klar, wenn man die Fememordurteile im Zusammenhang mit den Landesverratsurteilen gegen pazifistische Journalisten sieht. Mit dem ihm eigenen Sinn für Zusammenhänge hat das Reichsgericht im 62. Band seiner amtlichen Entscheidungssammlung unmittelbar hinter einem Urteil, in dem die Staatsnotwehr erneut als Rechtfertigungsgrund für ein Verbrechen anerkannt wird,74 das »Ponton-Urteil« gegen die Journalisten Berthold Jacob und Fritz Küster veröffentlicht. Das Gericht hatte die beiden wegen des in dem pazifistischen Journal Das andere Deutschland erschienenen Artikels »Das Zeitfreiwilligengrab in der Weser« als Landesverräter verurteilt: Am 31. März 1925 waren anlässlich eines Reichswehrmanövers 81 Soldaten nahe Veltheim an der Porta Westfalica beim Übersetzen über die Weser ertrunken. Aus der Tatsache, dass für verschiedene Opfer dieses Unglücks in den Zeitschriften Der Jungdeutsche und Wiking Todesanzeigen erschienen waren, die jedoch keine militärischen Dienstränge, sondern nur zivile Berufe nannten, hatte Jacob geschlossen, dass unter den Ertrunkenen mindestens 11 Zeitfreiwillige gewesen seien. Diese Tatsache stand im Widerspruch zu den öffentlichen Beteuerungen von Reichswehrminister Geßler und Reichskanzler Luther, es gebe keine Zeitfreiwilligen. Aufgrund dreier Gutachten des Reichswehrministeriums über die Geheimhaltungsbedürftigkeit der recherchierten Tatsachen wurden Küster als Autor und Jacob als verantwortlicher Redakteur am 14. März 1928 zu je 9 Monaten Festungshaft verurteilt. Die entscheidenden, später so oft zitierten Sätze des Urteils lauteten: »Dem eigenen Staate hat jeder Staatsbürger die Treue zu halten. Das Wohl des eigenen Staates wahrzunehmen, ist für ihn höchstes Gebot, Interessen eines fremden Landes kommen für ihn demgegenüber nicht in Betracht. Auf die Beobachtung und Durchführung der bestehenden Gesetze hinzuwirken, kann nur durch Inanspruchnahme der hierzu berufenen innerstaatlichen Organe geschehen.«75
Wie weit das Reichsgericht mit der fatalen Botschaft, das (vermeintliche) Interesse des Staates stehe über dem Recht, und daher seien selbst schwerste Verbrechen nicht strafbar, wenn sie im Interesse des Staates begangen wurden, während andererseits gesetzmäßiges Handeln zu bestrafen sei, wenn es dem Staatsinteresse zuwiderlaufe, der völligen Pervertierung des Rechts vorgegriffen hat, erkannten hellsichtige Kritiker schon damals. Thomas Mann meinte, derlei Rechtskonstruktionen solle man »der faschistischen Diktatur vorbehalten«,76 und der Rechtsprofessor Gustav Radbruch hatte bereits 1929 gewarnt, man könne mit Hilfe der Staatsnotstands-Konstruktion »auch faschistische Aktivisten rechtfertigen, die es etwa unternahmen, den Staat aus dem permanenten Notstand seiner ›demoliberalen‹ Verfassung gewaltsam zu retten«.77 In der Tat war das letzte Kapitel von Hitlers Buch Mein Kampf mit »Notwehr als Recht« überschrieben, und das von Carl Schmitt als »vorläufige Verfassungsurkunde des Dritten Reichs«78 bezeichnete Ermächtigungsgesetz hieß mit vollem Namen: Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich. Überhaupt rückte der Staatsnotstand in der NS-Zeit zur alles rechtfertigenden Rechtskonstruktion auf. Dabei wurde immer wieder das »Ponton-Urteil« des Reichsgerichts als »mutiger Schritt« gelobt, der dazu beigetragen habe, »entgegen den Buchstaben der Verfassung dem neuen Staatsgedanken zum Siege zu verhelfen«.79 Der oberste Rechtsgrundsatz der Nazi-Diktatur – »Recht ist, was dem Volke nützt« – war schon fünf Jahre vor der Machtergreifung höchstrichterliche Rechtsprechung geworden, und nationalsozialistische Rechtstheoretiker verwiesen später gern darauf, welch entscheidenden Beitrag das altehrwürdige Reichsgericht zur »Schaffung des neuen Rechts, für das allein der Bestand und die Sicherung des deutschen Volkes den Maßstab bilden«, geleistet hatte.80
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler von dem greisen Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler ernannt und mit der Bildung einer rechten Koalitionsregierung beauftragt. In diesem Kabinett der »nationalen Erhebung« standen neun deutschnationalen und parteilosen Ministern nur drei Nazis – neben Hitler Innenminister Frick und der Minister ohne Geschäftsbereich Göring – gegenüber. Die Optik täuscht allerdings, denn mit der schon seit Sommer 1932 von Demokraten weitgehend »gesäuberten« preußischen Polizei, die unter dem Kommando des auch als kommissarischer preußischer Innenminister fungierenden Hermann Göring nach der Reichswehr den größten innenpolitischen Machtfaktor darstellte, hielten die Nationalsozialisten mehr Macht in den Händen als die neun konservativen Minister zusammen. Schon einen Tag nach seiner Ernennung erhielt Hitler vom Reichspräsidenten die Befugnis, den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Die Parlamentsauflösung war faktisch Voraussetzung für den Erlass diktatorischer Notverordnungen nach Artikel 48 der Reichsverfassung, denn ein noch amtierender Reichstag hätte solche Verordnungen aufheben können. Bereits am fünften Tag der Regierung Hitler erging die Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes,81 die politische Versammlungen und Aufzüge anmeldepflichtig machte und die Polizei ermächtigte, Versammlungen, Demonstrationen und Druckschriften zu verbieten – und das mitten im Wahlkampf. Drei Wochen später, der Wahlkampf war in seine heißeste Phase getreten, ging am Abend des 27. Februar der Reichstag in Flammen auf. Kurz nach Ausbruch des Brandes wurde der arbeitslose holländische Maurergeselle Marinus van der Lubbe in der Nähe des brennenden Plenarsaals festgenommen.
Fast alle anderen Umstände des Reichstagsbrandes sind bis heute strittig, und kaum ein anderes Thema wird unter Historikern mit solcher Leidenschaft diskutiert wie dieses Ereignis. Die beiden Lager, in die seine Analyse die Historikerzunft geteilt hat, sind inzwischen so hoffnungslos zerstritten, dass die gegenseitigen Unterstellungen, Diffamierungen und Verleumdungen vor den Gerichten ausgetragen werden. Unstrittig ist lediglich, dass van der Lubbe an der Brandstiftung beteiligt war. Vieles spricht allerdings auch dafür, dass die Brandlegung nicht das Werk eines Einzelnen war.82
Die sogleich zum Brandort geeilten Nazi-Führer waren sich schnell einig, dass es sich um eine Tat der Kommunisten handle, die damit ein Fanal für den Aufstand setzen wollten. Für diese dann auch von der nationalsozialistischen Propaganda verbreitete Version sprach jedoch nichts. »Belege« dafür, wie zum Beispiel im Karl-Liebknecht-Haus, der Zentrale der KPD, aufgefundenes angebliches Belastungsmaterial, mussten zurückgezogen werden, da sie allzu plump gefälscht waren. Sehr viel mehr sprach dagegen für die naheliegendste, von den Kommunisten in einem Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitler-Terror83 verbreitete These, die Nazis selbst hätten den Brand auf dem Gewissen. Inwieweit nun die damaligen Untersuchungen, die unter der Regie Görings stattfanden, tatsächlich einseitig auf das Ziel gerichtet waren, den Brand als Gemeinschaftswerk mehrerer darzustellen, um damit die nationalsozialistische Version von der kommunistischen Urheberschaft zu stützen, lässt sich heute kaum feststellen. Eine solche Einseitigkeit hätte sich aber – was auch die Nazis gesehen haben müssten – als Bumerang erwiesen, denn sie bestärkte den naheliegenden Verdacht, sie selbst hätten den Reichstag angezündet. Der damalige Staatssekretär im preußischen Innenministerium, Herbert von Bismarck, soll nach Gesprächen mit Beamten der Berliner Feuerwehr sofort seine Vermutung geäußert haben, »dass die Urheber des Brandes die Nazis selber gewesen« seien, und in einer Besprechung mit Hitler, Göring und Goebbels noch in der Brandnacht fand er angeblich »in dem Verhalten der nationalsozialistischen Größen« eine Bestätigung für diese Vermutung.84 Ein alter Weltkriegskamerad Görings soll sich später in Fliegerkreisen sogar mit der Brandstiftung gebrüstet haben.85
Die Kommunisten und die Sozialdemokraten schieden als Täter jedenfalls aus, darüber sind sich heute alle Historiker und objektiven Zeitgenossen einig. Die Schnelligkeit, mit der der Brand von den Nationalsozialisten ausgenutzt wurde, sprach zumindest dafür, dass die noch in derselben Nacht einsetzenden Aktionen gegen politische Gegner von langer Hand vorbereitet waren. Die Frage, wer vom Reichstagsbrand profitierte, musste automatisch auf die Spur der Nazis führen, denn ihnen hat der Brand Anlass und Vorwand geliefert, die parlamentarische Demokratie zu zerschlagen. Schließlich hatten sie auch schon in der Vergangenheit jeden Staatsstreichplan als »Notwehraktion« gegen einen kommunistischen Aufstand getarnt. Ob sie ihn nun selbst herbeigeführt hatten oder nicht, der Reichstagsbrand war das lange erhoffte Signal zum Zuschlagen. In einer beispiellosen Blitzaktion wurden die Büros der KPD besetzt, ihr Vermögen eingezogen und ihre Funktionäre verhaftet. Auf den offenbar schon vorher ausgearbeiteten Verhaftungslisten standen aber nicht nur Kommunisten, sondern auch Sozialdemokraten, Pazifisten und linksgerichtete Schriftsteller, kurzum: politisch Missliebige jeder Couleur.
Bereits am Morgen des 28. Februar wurde die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat (Reichstagsbrandverordnung) veröffentlicht, eine der wichtigsten Rechtsgrundlagen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems.86 Sie bot der Regierung Ende Februar 1933 auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes nicht nur weitere Handhabe, die Presse der Linksparteien, wie überhaupt jede oppositionelle Publikation, zu verbieten, Wahlversammlungen aufzulösen und willkürlich Verhaftungen politischer Gegner vorzunehmen, sie setzte obendrein auch fast alle anderen Grundrechte der Verfassung außer Kraft. Ebenfalls noch in der Brandnacht wurde die Verordnung gegen Verrat am deutschen Volk und hochverräterische Umtriebe formuliert, die die Strafen für Landesverrat und Preisgabe militärischer Geheimnisse verschärfte und bewusst die Grenzen zwischen Kritik an der Regierung und Verrat verwischte. Schon das Verbreiten von »Gerüchten oder falschen Nachrichten« – etwa die Behauptung, die Nazis hätten den Reichstag angezündet – galt jetzt als Verrat; auch »hochverräterische Umtriebe« wie zum Beispiel die »Herstellung, Verbreitung oder Lagerung von Schriften«, die zum Aufstand oder zum Streik aufriefen »oder in anderer Weise hochverräterisch« waren, wurden hart bestraft.87
So wurde jegliche Stimme gegen das propagandistische Trommelfeuer und jeder Versuch des Widerstands gegen den Staatsterror nach dem Reichstagsbrand »ganz legal« erstickt. Der Brand war das entscheidende Ereignis auf dem Weg zur tatsächlichen Machtergreifung, denn die uneingeschränkte Macht war Hitler mit der Ernennung zum Regierungschef noch keineswegs zugefallen. Zunächst war er lediglich der 21. Reichskanzler nach dem Krieg, die Macht rissen die Nazis erst mit einer Reihe staatsstreichartiger Aktionen an sich, von denen die entscheidende wohl der Reichstagsbrand-Coup war. Das Ermächtigungsgesetz erwies sich schließlich nur als konsequente Fortsetzung der Entwicklung.
Nachdem die Regierung in einer gigantischen Propagandakampagne die These vom geplanten kommunistischen Aufstand verbreitet hatte, musste sie natürlich neben dem am Brandort verhafteten von der Lubbe noch weitere »Täter« präsentieren. Am 28. Februar hatte sich der Vorsitzende der kommunistischen Reichstagsfraktion, Ernst Torgler, bei der Polizei gemeldet, nachdem er in den Morgenzeitungen gelesen hatte, er werde der Brandstiftung verdächtigt. Am 9. März wurden die unter falschem Namen in Berlin lebenden Exilbulgaren Georgi Dimitroff, Blagoi Popoff und Wasili Taneff unter dem Verdacht der Mittäterschaft verhaftet. Auch der Publizist Carl von Ossietzky, der bereits in der Brandnacht in »Schutzhaft« genommen worden war, sollte als Mittäter angeklagt werden.88 Die von dem damaligen Chef der politischen Polizei, Rudolf Diels, gesponnene Intrige, die auf der Aussage eines unzuverlässigen Spitzels und einem gefälschten Foto basierte, war jedoch so plump, dass der Oberreichsanwalt die Anklage gegen Ossietzky fallen lassen musste.
Van der Lubbe, Torgler, Dimitroff, Popoff und Taneff wurden in Untersuchungshaft genommen, als Untersuchungsrichter fungierte der Reichsgerichtsrat Paul Vogt. Die Anklage wurde vor dem für Hoch- und Landesverrat zuständigen 4. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig erhoben, jenem Senat, der Carl von Ossietzky im Weltbühnen-Prozess verurteilt hatte89 und der in dem Verfahren gegen die drei Ulmer Reichswehroffiziere Hitler seinen Legalitätseid leisten ließ. Die gerichtliche Voruntersuchung verlief von Anfang an einseitig. Der Untersuchungsrichter hielt sich streng an das Verbot, nach eventuellen nationalsozialistischen Mittätern van der Lubbes zu forschen. Die Beschuldigten waren während der Untersuchungshaft vielerlei in der Strafprozessordnung nicht vorgesehenen Schikanen ausgesetzt, sie blieben zum Beispiel auf Anordnung Vogts während der sechsmonatigen Untersuchungshaft Tag und Nacht gefesselt.90
Erst nach vielen Eingaben und Bitten wurde dem Angeschuldigten Dimitroff täglich eine halbstündige Befreiung von den Fesseln gestattet. Dimitroffs Wahlverteidiger, Rechtsanwalt Wille, setzte man dermaßen unter Druck, dass er das Mandat niederlegte. Zahlreiche Anträge ausländischer Rechtsanwälte, als Wahlverteidiger zugelassen zu werden, was rechtlich durchaus möglich gewesen wäre, wurden abschlägig beschieden. Schließlich ordnete das Reichsgericht den Beschuldigten Pflichtverteidiger bei, die allein sein Vertrauen, nicht das der Angeklagten besaßen. Untersuchungsrichter Vogt hielt ständig Kontakt mit der preußischen Staatsregierung und drängte dort auf eine »zuverlässige Besetzung« des 4. Senats für die Verhandlung.91
Eine Woche vor der Hauptverhandlung, deren Beginn auf den 21. September festgesetzt war, tagte in London unter großer Pressebeteiligung eine unabhängige, aus acht renommierten Juristen bestehende internationale Untersuchungskommission, um die Vorgänge der Brandnacht zu durchleuchten. Ihre Untersuchung hatte zum Ergebnis, dass van der Lubbe unmöglich alleiniger Brandstifter sein konnte, dass die angeklagten Kommunisten nichts mit dem Brand zu tun hatten und die Täter »wahrscheinlich« im nationalsozialistischen Lager zu suchen seien.92 Parallel zur Verhandlung vor dem Reichsgericht fand dann schließlich in London ein großer Gegenprozess statt, gerichtsförmig aufgezogen, mit umfangreicher Beweisaufnahme und unter Beteiligung prominenter Deutscher, die ins Ausland hatten fliehen müssen. Das am 20. Dezember 1933 verkündete Urteil im »Gegenprozess« lautete: »1. Lubbe ist nicht Alleintäter. 2. Es besteht der schwere Verdacht, dass nationalsozialistische Kreise die Brandstiftung veranlasst und durchgeführt haben. 3. Die Kommunisten sind unschuldig. 4. Das Gesetz vom 28. Februar 1933 (Reichstagsbrand-Verordnung) ist ungültig. 5. Eine Verurteilung Torglers würde den Protest der ganzen Welt hervorrufen.«93
Die schon am Tage nach dem Brand erlassene Reichstagsbrandverordnung sah neben der Außerkraftsetzung aller wesentlichen Grundrechte auch die Todesstrafe für Brandstiftung, Hochverrat und einige andere Straftaten vor. Ein am 29. März von der Reichsregierung beschlossenes Gesetz über Verhängung und Vollzug der Todesstrafe erklärte darüber hinaus, dass diese Strafverschärfung auch für Taten gelte, »die in der Zeit zwischen dem 31. Januar und dem 28. Februar begangen sind«.94 Schließlich ermächtigte dieses Gesetz die Reichsregierung auch noch, in solchen Fällen das Todesurteil durch Erhängen, was als besonders entehrende Hinrichtungsart galt, vollstrecken zu lassen. Damit waren die »legalen« Voraussetzungen für die Hinrichtung der mutmaßlichen Reichstagsbrandstifter geschaffen.
Am 21. September 1933 begann die Hauptverhandlung im Großen Sitzungssaal des Reichsgerichts in Leipzig. Die Anklage vertraten Oberreichsanwalt Werner und der spätere stellvertretende Chefankläger beim Volksgerichtshof, Landgerichtsdirektor Parrisius. Am 10. Oktober übersiedelte das Gericht nach Berlin, um sechs Wochen in dem unzerstörten Saal des Haushaltsausschusses im Reichstag an Ort und Stelle zu tagen.
Im Zuge der Beweisaufnahme wurden auch prominente Nationalsozialisten, unter anderem der im März ernannte Reichspropagandaminister Goebbels und der inzwischen zum preußischen Ministerpräsidenten aufgestiegene Hermann Göring, als Zeugen gehört. Höhepunkte des Prozesses waren die Rededuelle zwischen dem schlagfertigen Dimitroff und den beiden Nazi-Größen. Der sonst so selbstsichere Göring verlor bei der Zeugenbefragung zusehends die Fassung. Als Dimitroff ihn zum Beispiel fragte, ob nicht die einseitige Untersuchung Spuren, die in andere Richtung wiesen, verwischt habe, wies Göring den Vorwurf empört zurück, um ihn gleichzeitig mit seiner Antwort zu bestätigen: »Für mich ist es ein politisches Verbrechen, und ebenso war es meine Überzeugung, dass die Verbrecher in Ihrer Partei zu suchen sind. Ihre Partei ist eine Partei von Verbrechern, die man vernichten muss! Und wenn die richterliche Untersuchung sich in dieser Richtung hat beeinflussen lassen, so hat sie nur in der richtigen Spur gesucht.« Im weiteren Disput verlor Göring immer mehr die Beherrschung: »Ich will Ihnen sagen, was im deutschen Volke bekannt ist. Bekannt ist im deutschen Volke, dass Sie sich hier unverschämt benehmen, dass Sie hergelaufen sind, um den Reichstag anzustecken. Aber ich bin nicht dazu da, um mich von Ihnen wie von einem Richter vernehmen und mir Vorwürfe machen zu lassen! Sie sind in meinen Augen ein Gauner, der direkt an den Galgen gehört.«
Spätestens hier hätte der Gerichtsvorsitzende, Senatspräsident Dr. Bünger, eingreifen müssen, um den Zeugen zurechtzuweisen, der den Angeklagten dermaßen beleidigte und ihm sogar offen mit dem Galgen drohte. Bünger rüffelte aber nicht Göring, sondern den Angeklagten: »Dimitroff, ich habe Ihnen bereits gesagt, dass Sie hier keine kommunistische Propaganda zu treiben haben. Sie dürfen sich dann nicht wundern, wenn der Herr Zeuge derartig aufbraust! Ich untersage Ihnen diese Propaganda auf das strengste. Sie haben rein sachliche Fragen zu stellen.«
Die Auseinandersetzung eskalierte jedoch weiter. Als Dimitroff die Ausführungen Görings lächelnd mit den Worten quittierte: »Ich bin sehr zufrieden mit der Antwort des Herrn Ministerpräsidenten«, intervenierte Bünger emeut: »Ob Sie zufrieden sind, ist mir gleichgültig. Ich entziehe Ihnen jetzt das Wort.« Auf Dimitroffs Insistieren, er habe »noch eine sachliche Frage zu stellen«, rief der Gerichtsvorsitzende sichtlich nervös: »Ich entziehe Ihnen das Wort«, und Göring brüllte dazwischen: »Hinaus mit Ihnen, Sie Schuft!« Als Dimitroff sich noch ein letztes Mal verhalten an den Zeugen wandte, um sich zu erkundigen: »Sie haben wohl Angst vor meinen Fragen, Herr Ministerpräsident?«, verlor Göring schließlich vollends jede Fassung: »Warten Sie nur, bis wir Sie außerhalb der Rechtsmacht dieses Gerichtshofs haben werden. Sie Schuft!«
Der Vorsitzende rügte nicht einmal diese weitere unverhohlene Drohung; er griff stattdessen zu einer damals in der Prozessordnung noch nicht vorgesehenen Maßnahme – dem AusSchluss des Angeklagten aus der Hauptverhandlung: »Dimitroff wird ... drei Tage ausgeschlossen! Sofort hinaus mit ihm!«95
Jedem unbefangenen Beobachter und der anwesenden Weltpresse war bei diesen Szenen die Nervosität der NS-Führung offenbar geworden, und nicht zu übersehen war auch die Unsicherheit des Gerichts, das bei dem Versuch, die Erwartungen der Nazis zu erfüllen und gleichzeitig vor der Öffentlichkeit einen Rest richterlicher Würde zu bewahren, hoffnungslos ins Schwimmen geriet.
Die umfangreiche Beweisaufnahme ergab keinerlei Anhaltspunkte für eine Mittäterschaft der Exilbulgaren bei der Brandstiftung. Der Oberreichsanwalt beantragte schließlich selbst Freispruch für sie. Für Torgler und van der Lubbe forderte er dagegen die Todesstrafe.96 Die Anklage gegen Torgler hatte sich aber im Laufe der Verhandlung als ein loses Gespinst vager Verdächtigungen erwiesen, kombiniert mit der vom Reichsgericht schon in republikanischen Zeiten entwickelten Fiktion, dass die KPD stets den Umsturz plane und jede kommunistische Tätigkeit daher Vorbereitung zum Hochverrat sei. Aufrufe zur Bildung einer Einheitsfront und zum »außerparlamentarischen Kampf«, die unter anderen Torglers Unterschrift trugen, hatten der Anklage als einziger Beleg für den »fortgesetzten Hochverrat« gedient. Beim besten Willen war aber keine Verbindung zwischen Torgler und dem Reichstagsbrand herzustellen gewesen. Und was van der Lubbe anbelangte, so hatte die Beweisaufnahme zwar ergeben, dass dieser einmal Mitglied der wallonischen kommunistischen Partei gewesen, inzwischen jedoch längst ausgetreten war, und in der Gerichtsverhandlung hatte sich keinerlei Kontakt des Holländers mit Kommunisten in Deutschland belegen lassen.
Dimitroff, Popoff und Taneff wurden antragsgemäß freigesprochen, und auch Torgler konnte nicht verurteilt werden. Trotz des Freispruchs aller kommunistischen Angeklagten brachte das Urteil das Kunststück fertig, die KPD für den Brand verantwortlich zu machen: »Wenn ... auch die Angeklagten Torgler und die Bulgaren als Mittäter nicht überführt werden konnten, so besteht kein Zweifel darüber, in welchem Lager sich diese Mittäter befunden haben ... Unzweifelhaft war der Reichstagsbrand eine politische Tat. Die ungeheure Größe des Verbrechens, also des Mittels, weist auf die Größe und Gewaltigkeit des Kampfobjekts hin. Das kann nur der Besitz der Macht gewesen sein ... Es kann sich nur um die Tat linksradikaler Elemente handeln, die sich von der Ausnutzung dieses Verbrechens die Möglichkeit eines Regierungs- und Verfassungssturzes und ihrer Machtergreifung versprachen ... Die KPD hat solche hochverräterischen Ziele als ihr Programm bekannt. Sie war die Partei des Hochverrats.«
Den naheliegenden Verdacht, die Nazis selbst seien die Brandstifter gewesen, ließ das Gericht dagegen gar nicht erst aufkommen: »Wie Reichsminister Dr. Goebbels als Zeuge mit Recht ausführte, hat die NSDAP vor dem 5. März, infolge ihrer starken Übermacht und der Schnelligkeit ihres Anwachsens, den Wahlerfolg schon in der Tasche gehabt. Sie hatte es nicht nötig, durch ein Verbrechen ihre Wahlaussichten zu verbessern. Die gesinnungsmäßigen Hemmungen dieser Partei schließen derartige Verbrechen und Handlungen, wie sie ihr von gesinnungslosen Hetzern zugeschrieben werden, von vornherein aus.«97