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Ein Hightech-Hochhaus in Los Angeles wird zur tödlichen Falle, als der Zentralcomputer plötzlich verrücktspielt. Mit dem ersten Toten beginnt für den Stararchitekten Ray Richardson ein wahrer Albtraum, mit jedem weiteren Toten steigert sich der Horror. «Philip Kerr schreibt mit böser Ironie und perfekter sprachlicher Raffinesse.» (NDR) «Der geistreichste Schocker des Jahres.» (The Independent, London)
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Seitenzahl: 623
Philip Kerr
Game over
Roman
Aus dem Englischen von Peter Weber-Schäfer
Rowohlt Digitalbuch
Für Jane, wie immer, und für William Finlay
Rief ich dich aus der Finsternis, mich zu erhöhen?
John Milton
… der plötzliche Guss eiskaltes Wasser, der aufmunternde Schlag mitten ins Gesicht, der Tadel für das Fett auf der Seele des Bourgeois, das, was wir moderne Architektur nennen.
Tom Wolfe
Wir sind auf der Suche nach einer neuen Idee, einer neuen Verkehrssprache, die neben den Raumkapseln, Computern und Wegwerfpackungen des elektronischen Atomzeitalters bestehen kann …
Warten Chalk
Der Amerikaner warf einen Blick auf die Sonne, die sich am Abendhimmel über dem Fußballstadion von Shenzen dem Westen zuneigte, und hoffte, dass die Hinrichtung stattfinden würde, bevor die freie Mitte des Platzes im Schatten lag. Auf der Suche nach brauchbaren Aufnahmen richtete er die Kamera auf eine Gruppe von Männern, die von ihrer eigenen Bedeutung offensichtlich überzeugt waren, als sie einige Reihen vor ihm ihre Plätze einnahmen. Ein paar davon trugen Maojacken, andere einfache dunkle Anzüge.
«Wer sind die Typen?», fragte er.
Die Übersetzerin, die ihn betreute, musste sich trotz ihrer hochhackigen Schuhe auf die Zehenspitzen stellen, um das Ziel in den Blick zu bekommen, auf das sich das Objektiv über die Köpfe der Menge in den vorderen Reihen hinweg richtete.
«Parteifunktionäre, glaube ich», sagte sie, «und ein paar Geschäftsleute.»
«Sind Sie sicher, dass wir eine Genehmigung dafür haben?»
«Ja, völlig sicher», sagte die junge Frau. «Ich habe den Leiter des AÖS für Shenzen bestochen. Heute passiert uns nichts, Nick. Darauf können Sie sich verlassen.»
Hinter dem Kürzel AÖS verbarg sich das gefürchtete Amt für Öffentliche Sicherheit der Volksrepublik China.
«Mädchen, Sie sind Gold wert.»
Die Chinesin lächelte höflich und verneigte sich. Inzwischen hatte sich das Stadion gefüllt. Die mehr als tausendköpfige Menge wirkte neugierig und fröhlich, als erwarte sie tatsächlich ein Fußballspiel. Dann betraten die vier Verurteilten, fest im Griff von je zwei Beamten des AÖS, den Platz. Ein aufgeregtes Murmeln lief durch die Menge. Wie üblich hatte man den zum Tod durch Erschießen Verurteilten den Kopf kahlrasiert und ihre Arme unmittelbar über den Ellbogen gefesselt. Die Plakate, die sie um den Hals trugen, nannten ihre Verbrechen.
Die vier Männer wurden gezwungen, in der Mitte des Stadions niederzuknien. Das Gesicht eines der Männer füllte den Sucher der Kamera. Dem Amerikaner fiel der stumpfe Gesichtsausdruck des Verurteilten auf. Es schien, als kümmere es ihn wenig, ob er sterben musste oder nicht. Wahrscheinlich stand er unter Drogen. Der Amerikaner drückte auf den Auslöser und schwenkte weiter auf das Gesicht des nächsten Mannes. Es hatte den gleichen stumpfen Ausdruck.
Der Mann vom AÖS richtete den Lauf des Sturmgewehrs vom Typ AK47 auf den Hinterkopf des ersten Opfers, und der Amerikaner kontrollierte noch einmal die Lichtverhältnisse über dem Platz. Es gelang ihm nicht, ein leichtes Lächeln zu unterdrücken. Es würden einmalige Fotos werden.
Im Polizeipräsidium von Los Angeles hatte man es noch nie begrüßt, wenn sich die einzelnen Gruppen der Stadt öffentlich zusammenrotteten. Hispano-Amerikaner, Uramerikaner, Schwarze, Wanderarbeiter, Hippies, Schwule, Studenten und Streikposten: Alle hatten irgendwann einmal die Gummiknüppel und Wasserwerfer der Hüter der Stadt zu spüren bekommen. Aber dies war, soweit sich die fünfundzwanzig mit Schutzhelmen bewehrten Polizisten vor dem halbfertigen Bürogebäude auf dem Baugelände erinnern konnten, das einmal zur neuen Hope Street Piazza werden sollte, das erste Mal, dass sich die chinesische Gemeinschaft der Stadt zu einer Protestdemonstration versammelte.
Natürlich war die chinesische Bevölkerung von Los Angeles, etwa im Vergleich mit San Francisco, nicht allzu zahlreich. In der eigentlichen Chinatown rund um den North Broadway, unmittelbar vor der Tür der Polizeischule von L.A., lebten nicht mehr als zwanzigtausend Menschen. Der größte Teil der rasch anwachsenden chinesischen Bevölkerung der Stadt wohnte in Vorstädten wie Monterey Park oder Alhambra.
Es war auch keine besonders große Demonstration: vielleicht hundert Studenten, die gegen die Yu Corporation und ihre stillschweigende Unterstützung des Terrorregimes in der Volksrepublik China demonstrierten. Der Präsident und Firmenchef, nach dem die Gesellschaft benannt war, Yue-Kong Yu, war vor kurzem auf Fotos der Los Angeles Times zu sehen gewesen, wie er bei der Hinrichtung oppositioneller Studenten in Shenzen auf der Ehrentribüne saß. Aber schließlich war man in Los Angeles, wo auch kleine Menschenansammlungen schnell außer Kontrolle geraten konnten, und so kreiste ein Polizeihubschrauber über der Versammlung und hielt sie unauffällig im Blickfeld des elektronischen Auges. Der Überwachungshubschrauber stand in ständigem, digital vermitteltem Kontakt mit dem zentralen Einsatzcomputer des Polizeipräsidiums in einem bombensicheren Bunker fünf Stockwerke unter dem Rathaus.
Die Demonstranten verhielten sich friedlich. Noch als ein Geschwader schwarzer Limousinen Mr. Yu und sein Gefolge zur Baustelle brachte, ließen sie sich nicht zu mehr hinreißen als zu rhythmischen Schlachtrufen und nervösem Schwenken von Transparenten und Plakaten. Von der Polizei und einem halben Dutzend privater Leibwächter abgeschirmt, glitt Mr. Yu die Treppe empor und verschwand durch das Portal seines neuen Gebäudes. Den Eingang bildete ein neolithischer Dolmen, der extra aus England importiert worden war. Die zornigen jungen Männer und Frauen würdigte Mr. Yu keines Blicks.
In der fast vollendeten Eingangshalle wandte er sich um und warf einen Blick auf das Tor, das schräg in die Wand eingelassen war, um das Feng-Shui zu verbessern. Er hatte die drei Megalithsteine gekauft, weil sie dem Firmenlogo der Yu Corporation ähnlich sahen, einem Logo, das selbst von dem altchinesischen Schriftzeichen für Glück abgeleitet war. Er nickte zufrieden. Er wusste, dass seinem Architekten die alten Steine in dem modernen Gebäude gegen den Strich gingen. Aber wenn Mr. Yu sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es nicht leicht, ihn davon abzubringen. Trotz aller Widerstände des Architekten hatte er recht gehabt, meinte Mr. Yu. Es war ein höchst glückverheißendes Portal und eine gutaussehende Eingangshalle. Die beste, die er je gesehen hatte. Besser als das Shin-Nikko-Gebäude in Tokio. Besser als das Yoshimoto-Gebäude in Osaka. Sogar besser als das Marriott Marquis in Atlanta.
Als die letzten Gäste Mr. Yu ins Hausinnere begleitet hatten, winkte der Einsatzleiter einen Studenten zu sich. Das Megaphon, das der junge Mann in der Hand hielt, wies ihn als Rädelsführer aus.
Chen Peng Fei, Gaststudent der Betriebswirtschaft an der UCLA, trat schnell vor die Reihen. Der einzige Sohn eines Anwaltspaars aus Hongkong ließ sich von einem Polizisten nichts zweimal sagen. Sein Gesicht war flach, fast schon konkav.
«Sie sollten Ihre Leute auf die andere Seite des Grundstücks bewegen», sagte der Polizist mit schleppender Stimme. «Anscheinend wollen die da oben einen Ast vom Dach werfen, und wir wollen doch nicht, dass einem von Ihren Leuten etwas passiert, oder?» Der Sergeant lächelte. Als Vietnam-Veteran betrachtete er alle Asiaten mit tiefem Misstrauen und Feindseligkeit.
«Warum?», fragte Cheng Peng Fei.
«Weil ich es sage. Deshalb», blaffte der Sergeant.
«Nein, ich wollte sagen: Warum wollen sie einen Ast vom Dach werfen?»
«Woher soll ich das wissen? Bin ich etwa Ethnologe oder so was? Wie in Teufels Namen soll ich das wissen? Schicken Sie einfach Ihre Leute rüber, oder ich sperre Sie wegen Verkehrsbehinderung ein.»
Traditionell wurde das Richtfest gefeiert, wenn der oberste Stein eines Gebäudes an seinem Platz war. Die Zeremonie bestand darin, dass der Ast einer Tanne auf die Erde geschleudert und verbrannt wurde, während Bauherr und Architekt einen Toast auf die Vollendung der Bauhülle ausbrachten. Die auf dem Dach Versammelten allerdings wussten, dass das echte Richtfest schon vor zehn Monaten stattgefunden hatte. Doch damals hatte Mr. Yu nicht daran teilnehmen können. Der Innenausbau war schon mehr als zur Hälfte abgeschlossen, aber Mr. Yu, der sich auf einem seiner seltenen Besuche in Los Angeles aufhielt, um einen Vertrag über die Ausrüstung der Luftwaffe der Vereinigten Staaten am Stützpunkt Edwards mit sechs Supercomputern vom Typ Yu-5 zu unterzeichnen (von denen jeder 1012 Rechenoperationen pro Sekunde durchführen konnte), wollte sich selbst vom Fortschritt seines neuen intelligenten Gebäudes überzeugen. Mr. Yus Sohn Jardine, der amerikanische Geschäftsführer der Yu Corporation, wollte den Besuch seines Vaters würdig begehen. Also hatte man ein zweites Richtfest vorgesehen, bei dem Arlene Sheridan aus kosmetischen Gründen einen symbolischen «letzten» Dachziegel auf das fünfundzwanzigstöckige Gebäude legen sollte. Mrs. Sheridan war eine Hollywood-Schauspielerin fortgeschrittenen Alters, die der zweiundsiebzigjährige Firmenchef seit langem verehrte.
Das Fest auf dem Dachgarten fand unter ungewöhnlich feierlichen Auspizien statt. Fünfzig Gäste waren zum formellen Mittagessen geladen, das aus reifem Obst, mit roten Talismanen gefüllten chinesischen Hühnern, Tsingtau-Bier und einem golden gerösteten Spanferkel bestand. Geladen waren ein Senator, ein Kongressabgeordneter, der stellvertretende Bürgermeister von Los Angeles, ein Richter am Bundesgerichtshof, ein General der Luftwaffe der Vereinigten Staaten, der Chef eines Filmstudios, Vertreter des Beratungskomitees für die Altstadtsanierung, ausgewählte Vertreter der Presse (wobei die Los Angeles Times durch Abwesenheit glänzte), der Architekt Ray Richardson und sein Chefingenieur David Arnon. Arbeiter im eigentlichen Sinne fehlten auf der Gästeliste, wenn man nicht die Baustellenagentin Helen Hussey und den Bauleiter Warren Aikman zur Arbeiterklasse zählen wollte. Auf besonderen Wunsch der Feng-Shui-Beraterin der Yu Corporation in Los Angeles, Jenny Bao, die ebenfalls anwesend war, hatte man einen taoistischen Priester aus Hongkong eingeflogen.
Der weltläufige und gesprächige, wenn auch ein wenig kleinwüchsige Mr. Yu begrüßte seine Gäste, indem er ihnen die linke Hand reichte. Sein rechter Arm war von Geburt an verkrüppelt. Denen, die ihn zum ersten Mal trafen, fiel es schwer, seinen gewaltigen Reichtum (Forbes hatte seinen persönlichen Besitz auf 5 Milliarden Dollar geschätzt) mit der Tatsache unter einen Hut zu bringen, dass er sich ausgezeichneter Beziehungen zu den kommunistischen Machthabern in Peking erfreute. Doch wenn Mr. Yu eines war, dann Pragmatiker.
Nach der allgemeinen Begrüßung fiel Ray Richardson die Aufgabe zu, das Gebäude vorzustellen. Der fünfundfünfzigjährige Architekt, der sich selbst einen «Architechnologen» nannte, wäre, wie er da vor dem Mikrophon stand, für zehn oder fünfzehn Jahre jünger durchgegangen. Er trug einen cremefarbenen Leinenanzug, ein pastellblaues Hemd und einen handgemalten Schlips. Insgesamt schien ihn seine Kleidung als Europäer, am ehesten wohl als Italiener, auszuweisen. In Wirklichkeit war er Engländer, sprach aber mit dem sonnengebleichten Akzent, den langer Aufenthalt in Kalifornien verleiht. Die wenigen, die Ray Richardson besser kannten, behaupteten, dieser Akzent sei das Einzige an ihm, das so etwas wie Wärme ausstrahle.
Er entfaltete ein paar maschinengeschriebene Seiten, setzte ein abwartendes Lächeln auf, stellte fest, dass das Mittagslicht zu hell für seine kühlen grauen Augen war, zog eine Sonnenbrille mit Schildpattfassung aus der Tasche und setzte sie sich auf, um dahinter seine kleine Seele zu verbergen.
«YK, Senator Schwarz, Abgeordneter Kelly, Herr Bürgermeister, meine Damen und Herren! Die Geschichte der Architektur ist nicht, wie man glauben könnte, eine Frage der Ästhetik, sondern der Technik.»
Mitchell Bryan, der bei den anderen Mitgliedern des Entwurfs- und Konstruktionsteams saß, stöhnte bei dem Gedanken leise auf, schon wieder eine der flammenden Reden seines Seniorpartners ertragen zu müssen. Er blickte zu David Arnon hinüber und blinzelte ihm bedeutungsvoll zu. Vorher hatte er sich allerdings vergewissert, dass Richardsons uramerikanische Frau Joan die kleine Geste des Aufbegehrens nicht sehen konnte. Joan sah mit der hingebungsvollen Aufmerksamkeit zu ihrem Mann auf, die normalerweise religiösen Kultfiguren zukommt. David Arnon unterdrückte ein Gähnen, lehnte sich in seinem Sessel zurück und versuchte sich vorzustellen, wie Arlene Sheridan am Nachbartisch wohl ohne Kleider aussähe.
«Die Geschichte der Architektur ist die Geschichte des technischen Fortschritts. So hat zum Beispiel die Erfindung des Zements im alten Rom den Bau der Kuppel des Pantheons ermöglicht, bis zum neunzehnten Jahrhundert die größte Kuppel der Welt. Zur Zeit Joseph Paxtons machten die Fortschritte in der Herstellung von Fensterglas 1851 den Bau des Kristallpalasts in London möglich. Dreißig Jahre später erfand Werner von Siemens den elektrischen Fahrstuhl, sodass um die Jahrhundertwende der Bau des ersten Hochhauses in Chicago möglich wurde. Genau ein Jahrhundert später speiste sich der Fortschritt der Architektur aus den neuesten Entwicklungen der Luftfahrttechnik. Es entstanden Gebäude aus neuen Baumaterialien, um ihre Masse zu verringern, wie bei Norman Fosters Hochhaus für die Hongkong & Shanghai Bank.
Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen sagen, dass die zeitgenössische Architektur uns vor das größte Abenteuer stellt, das wir bisher zu bestehen hatten: eine Architektur, in der die modernste Technologie der Weltraumforschung und des Computerzeitalters zum Einsatz kommt. Das Bauwerk als eine Maschine, die von unsichtbarer Mikro- und Nanotechnologie anstelle mechanisch-industrieller Systeme gesteuert wird. Gebäude, die eher einem Roboter gleichen als einer Zuflucht. Eine Struktur, die ihr eigenes elektronisches Nervensystem besitzt und ebenso gezielt auf Außeneinflüsse reagieren kann wie die Muskelstränge im Körper eines Athleten.
Gewiss haben einige unter Ihnen schon etwas von sogenannten klugen oder intelligenten Gebäuden gehört. Die Idee des intelligenten Gebäudes ist nicht mehr ganz neu, und dennoch gibt es keinen Konsens darüber, was ein Gebäude zu einem intelligenten Gebäude macht. Für mich ist das hervorstechendste Merkmal eines vollintegrierten intelligenten Gebäudes die Tatsache, dass alle seine Computersysteme, die benutzerorientierten wie diejenigen, die der Gebäudesteuerung dienen, zu einem einzigen Netzwerk verknüpft sind, das durch einen Datenbus gesteuert wird: ein abgeschirmtes Kabel, das ein miteinander verschlungenes Leiterpaar enthält und eine ähnliche Funktion hat wie die Minibusse, die in einer geschlossenen Kreisbahn durch die Innenstadt fahren. Mit Hilfe des Datenbusses gibt ein Zentralcomputer Signale an verschiedene elektronische Subsysteme – Sicherheit, Information, Energie – ab. Dies geschieht in der Form zeitversetzter digitaler Datenbefehle im Hochfrequenztakt in einer 24-Volt-Leitung.
Der Zentralcomputer wird zum Beispiel eine Anzahl von linear, punktuell oder räumlich geschalteten Sensoren innerhalb des Gebäudes abfragen und auf Brandgefahr achten. Erst wenn der Computer nicht in der Lage ist, das Feuer selbst zu löschen, wird er die nächstgelegene Feuerwache anrufen und menschliche Unterstützung anfordern.»
Einen Augenblick sah Richardson von seinem Manuskript auf, als ein plötzlicher Windstoß die Stimme Cheng Peng Feis von der Baustelle hochtrug:
«Die Yu Corporation unterstützt die faschistische Regierung auf dem chinesischen Festland.»
«Wissen Sie was», grinste Richardson, «gerade eben noch habe ich mich mit jemandem über dieses Gebäude unterhalten. Sie hat mich gefragt, ob eine Demonstration seiner Möglichkeiten geplant sei. Ich habe gesagt, das hätten wir nicht vor.» Er streckte die Hand in die Richtung, aus der die protestierenden Stimmen kamen. «Und was passiert? Ich habe mich geirrt. Es gibt doch eine Demonstration. Nur schade, dass ich diese Demonstration nicht mit einem Knopfdruck beenden kann.»
Die Zuhörer lachten höflich.
«Es ist nun einmal so, dass ich die wichtigsten Aspekte, die dieses Gebäude zu einem intelligenten Gebäude machen, nicht so einfach demonstrieren kann. Denn das, was die wahre Intelligenz des Bauwerks ausmacht, ist nicht seine Fähigkeit, Belastungsmuster vorauszusehen, sodass der Energieverbrauch extrem sparsam gehalten werden kann. Sie liegt auch nicht in den computergesteuerten Stabilisatoren im Fundament, die es ihm erlauben, einem Erdbeben der Stärke 8,5 auf der Richterskala standzuhalten.
Nein, was dies Gebäude zum intelligentesten Gebäude in Los Angeles, vielleicht in den ganzen USA macht, meine Damen und Herren, ist seine eingebaute Fähigkeit, nicht nur den Anforderungen der heutigen Informationstechnologie gerecht zu werden, sondern auch der Informationstechnologie von morgen.
In einer Welt, in der viele amerikanische Firmen hart darum kämpfen müssen, gegenüber Europa und den Ländern der ostasiatischen Pazifikküste wettbewerbsfähig zu bleiben, ist die Tatsache beunruhigend, dass viele Bürogebäude in Amerika – einige darunter sind erst 1970 errichtet worden – vorzeitig veraltet sind. Die Nachrüstungskosten, die erforderlich wären, um sie auf den Stand moderner Informationstechnologie zu bringen, übersteigen die Abriss- und Neubaukosten.
Ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Gebäude eine neue Generation von Bürogebäuden repräsentiert und dass allein von ihr die Fähigkeit unseres Landes abhängen wird, auch morgen noch wettbewerbsfähig zu sein. Es ist ein Beispiel für die Art von Gebäuden, die es diesem großen Land erlauben werden, das in vollem Umfang auszunutzen, was Präsident Dole als die globale Informationsinfrastruktur bezeichnet hat. Lassen Sie sich nicht täuschen: Hier liegt der Schlüssel zum Wirtschaftswachstum. Die Informationsinfrastruktur wird für die Wirtschaft der Vereinigten Staaten in den nächsten zehn Jahren die Bedeutung haben, die die Verkehrsinfrastruktur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte. Und deshalb glaube ich, dass wir bald viele Gebäude wie dieses sehen werden.
Natürlich kann niemand vorhersehen, ob ich recht behalte oder nicht und ob die Yu Corporation bis ins nächste Jahrhundert hinein mit ihrem Gebäude zufrieden sein wird. Gewiss aber ist, dass die Welt heute vor der gleichen Herausforderung steht, vor der Chicago vor einhundert Jahren stand, als die Lager-, Vertriebs- und Verwaltungsbedürfnisse des Zeitalters der Dampfmaschine und der Eisenbahn die Anwendung einer neuen Bürotechnik notwendig machten, in der Telefone und Schreibmaschinen verwendet wurden. Zugleich wurde ein neuer Gebäudetyp nötig, um sie aufzunehmen, weil die Grundstückspreise ins Unermessliche stiegen. Die Stahlbetonkonstruktion des Chicagotyps, die wir heute als Wolkenkratzer kennen, hat eine neue Stadt entstehen lassen. Ebenso wie sich Manhattan zwischen 1900 und 1920 in die Landschaft von Hochebenen und Stufenpyramiden verwandelt hat, als die wir es heute kennen, stehen wir auch heute – davon bin ich überzeugt – an der Schwelle zu einer Metamorphose der Stadtlandschaft, in der unsere Städte sich in intelligente Teilnehmer am Weltwirtschaftsprozess verwandeln werden.
Und nun zu dem Richtfest, das wir heute feiern. Nach altem Brauch begehen wir diese Zeremonie, indem wir den Ast einer Tanne vom obersten Stockwerk hinabwerfen. Man hat mich häufig nach den Ursprüngen dieses Brauchs gefragt, und die Antwort lautet ganz einfach: Das weiß niemand. Ein Professor für alte Geschichte hat mir einmal erzählt, die Zeremonie stamme vermutlich von den alten Ägyptern. Damals wurde bei der Vollendung eines Gebäudes den Göttern ein menschliches Opfer gebracht. Später wurde der Ast als Ersatzopfer eingeführt, als man davon abkam, den Architekten zum Dank für seine Arbeit in den Wänden seines eigenen Bauwerks einzumauern oder ihn vom Dach zu stürzen. Ich nehme an, es gibt noch immer Auftraggeber, die am liebsten so mit ihren Architekten umgehen würden, aber ich hoffe darauf, dass YK nicht zu ihnen gehört.»
Richardson warf einen Blick in die Richtung, in der Mr. Yu saß, und stellte fest, dass der alternde Milliardär höflich lächelte.
«Ich hoffe, dass ich mich in diesem Punkt nicht täusche. Vielleicht, meine Damen und Herren, sollte ich den Ast jetzt über Bord werfen, bevor Mr. Yu es sich anders überlegt.»
Wieder lachten die Zuhörer höflich.
«Nebenbei bemerkt, ich finde, es spricht für Mr. Yus Sohn Jardine, dass ihm die Sicherheit der Demonstranten da unten so sehr am Herzen lag, dass er darum gebeten hat, sie bis zur Beendigung unserer Feier von der Vorderseite des Gebäudes fernzuhalten. Vielen Dank.»
Wieder lachten die Gäste, und als Richardson mit dem Ast in der Hand an die Dachkante trat, fingen sie an, Beifall zu spenden. Viele folgten ihm, um zuzusehen, wie der Ast einhundertzwanzig Meter tiefer auf der Piazza aufschlug.
Mitch vergewisserte sich, dass Joan unter ihnen war, sah David Arnon an und steckte zwei Finger in den Mund, als wolle er sich übergeben.
David Arnon grinste und beugte sich zu ihm hinüber.
«Weißt du was, Mitch?», flüsterte er ihm zu. «Ich als Jude sage das nicht gern, aber vielleicht waren die alten Ägypter gar nicht so dumm.»
Architektur ist Voodoo.
Buckminster Fuller
Als die Richardsons L’Orangerie, eines der elegantesten Restaurants von Los Angeles, verließen, wartete der Chauffeur schon mit dem kugelsicheren Bentley am Straßenrand. Sie verließen La Cienega und bogen westlich in den Sunset Boulevard ein.
«Wir übernachten heute im Penthouse, Declan», wandte sich Ray Richardson an den Chauffeur. «Morgen Vormittag habe ich die ganze Zeit im Büro zu tun. Ich werde Sie erst um zwei Uhr wieder brauchen. Wir fahren zum Flugplatz.»
«Nehmen Sie die Gulfstream, Mr. Richardson?» Declans irischer Akzent war ebenso unüberhörbar, wie sein kräftiger Nacken unübersehbar war. Ein Blick auf die Nachtsichtbrille von Blackcat und die automatische 9-Millimeter-Pistole von Ruger auf dem Beifahrersitz konnte jedermann davon überzeugen, dass der Chauffeur zugleich Richardsons Leibwächter war.
«Nein, ich nehme den Linienflug nach Berlin.»
«Dann sollten wir uns besser etwas früher auf den Weg machen als sonst, Mr. Richardson. Heute war der Verkehr auf dem San Diego Freeway ganz schön zäh.»
«Danke, Declan. Sagen wir lieber halb zwei.»
«In Ordnung, Mr. Richardson.»
Mitternacht war schon vorbei, aber im Studio des Architechnologen brannte noch Licht. Declan schaltete die Diode der Nachtsichtbrille von Rot auf Grün, um sie den veränderten Lichtbedingungen anzupassen. Man konnte nie wissen, was einen im Dunkeln aus dem toten Winkel anspringen mochte. Es sei denn, man trug Blackcats mit Weitwinkellinsen.
«Sieht aus, als seien sie noch bei der Arbeit», sagte Joan Richardson.
«Das möchte ich ihnen aber auch geraten haben», knurrte ihr Mann. «Als ich vorhin gegangen bin, lag noch haufenweise unerledigte Arbeit herum. Immer wenn ich einem dieser Krautköpfe sage, er solle etwas erledigen, kriege ich hundert Gründe zu hören, warum es nicht zu schaffen ist.»
Die dreieckförmige Glaskonstruktion, die Richardsons Atelier und die Verwaltungsbüros beherbergte, war von ihm selbst entworfen, und ihr Bau hatte 21 Millionen Dollar gekostet. Zwischen den riesigen Plakatwänden voll von verblichenem Hollywood-Glanz, die das Grundstück umgaben, ragte das Gebäude wie der Bug eines ultramodernen und extrem teuren Motorboots in die Luft. Das nach Osten in Richtung Hollywood ausgerichtete Gebäude mit den getönten Glasscheiben, die es im Norden gegen die Straße abschirmten, fügte sich keinem identifizierbaren Baumuster der Stadt ein. Wenigstens dann nicht, wenn man den Eklektizismus, der für die meisten Gebäude in Los Angeles typisch ist, überhaupt für ein Baumuster irgendeiner Art hält. Genau wie seine anderen Gebäude in der Stadt wirkte es irgendwie fehl am Platz. Man hätte es eher für europäisch als für amerikanisch gehalten. Vielleicht wirkte es auch nur wie etwas, das gerade erst aus einer anderen Welt gelandet ist.
Die Architekturkritiker sprachen von einer rationalistischen Tradition, die Richardson geprägt habe. Jedenfalls waren seine Bauten reich an Metaphern. Sie erinnerten in vielem an die konstruktivistischen Phantasien eines Gropius, eines Le Corbusier oder eines Stirling. Aber seine Werke überschritten die Grenzen eines rein utilitaristisch ausgerichteten Denkens. Sie stellten ein Bekenntnis zur Hochtechnologie und den schrankenlosen Möglichkeiten des kapitalistischen Systems dar.
«Diese Deutschen», murmelte Richardson und schüttelte verächtlich den Kopf.
«Schon gut, Liebling», flüsterte seine Frau zärtlich. «Sobald wir unser eigenes Büro in Berlin eröffnet haben, können wir sie zum Teufel jagen.»
Der Bentley verließ die Hauptstraße und rollte über den Hinterhof des Gebäudes in die Tiefgarage.
Von den sieben Stockwerken lagen sechs oberirdisch. Die Büroräume der Firma und das zweistöckige Konstruktionsatelier nahmen das Erdgeschoss ein. Darüber lagen auf den Stockwerken drei bis sieben insgesamt zwölf Privatwohnungen. Die prunkvoll ausgestattete Penthousewohnung diente den Richardsons zum Übernachten, wenn sie abends lange arbeiten oder morgens früh aufbrechen mussten. Beides kam häufiger vor. Ray Richardson war von seinem Beruf besessen. Normalerweise lebten sie in einem auffälligen Haus in Rustic Canyon. Die Villa mit ihren zehn Schlafzimmern, die Richardson ebenfalls selbst entworfen hätte, war selbst von einem erbitterten Gegner zeitgenössischer Architektur wie Tom Wolfe in Fegefeuer der Eitelkeiten wegen ihrer Schönheit und Eleganz gelobt worden. Sie beherbergte die umfangreiche Sammlung moderner Kunst, auf die die Richardsons zu Recht stolz waren.
«Wir sollten mal reinschauen und nachsehen, was da so in meinem Namen geschieht», sagte Richardson. «Nur für den Fall, dass wieder einer Scheiße gebaut hat.»
Die beiden stiegen die dramatisch angelegten Windungen der granitverkleideten Treppe empor wie König und Königin und erwiderten den Gruß der uniformierten Sicherheitskräfte mit huldvollem Kopfnicken. Am Eingang des hohen, hellen Ateliers blieben sie stehen, fast als erwarteten sie die feierliche Ankündigung ihres Eintreffens. Nichts außer den Irisblüten in der Vase am Empfangstisch durchbrach die Monochromie dieser amerikanischen Version des Bauhausstils, und plötzlich wurden die Richardsons zum farbigsten Anblick im Atelier.
Mit seinen siebzehn Meter langen Arbeitstischen, die im rechten Winkel zu einer südlichen Glaswand standen, war das neunzig Meter lange Entwurfsatelier von Richardson & Associates, das einen weiten Blick über die Stadt genoss, eines der modernsten Architekturbüros der Welt. Außerdem war es eines der meistbeschäftigten. Noch mitten in der Nacht arbeiteten Architekten, Konstruktionszeichner, Ingenieure, Modellkonstrukteure und Computerexperten mit ihren Arbeitsteams im abgestimmten Gleitzeitrhythmus. Viele von ihnen waren seit sechsunddreißig Stunden pausenlos bei der Arbeit, und zumindest die erst kürzlich eingestellten Mitarbeiter schenkten der Ankunft ihres elegant gekleideten Chefs nebst ebenso eleganter Gattin kaum Aufmerksamkeit. Nur die, die Richardson länger kannten, blickten von ihren Computerschirmen und Pizzaresten auf und erkannten, dass die Harmonie der Teamarbeit im Begriff stand, sich in radikale Dissonanzen aufzulösen.
Joan Richardson blickte um sich und schüttelte, der treuen Dienste eingedenk, die man ihrem Mann leistete, bewundernd den Kopf. Die braunen Navaho-Augen, die anbetend zu ihrem Herrn und Gebieter aufsahen, wussten, dass ihm diese Treue zustand. Sie war es gewohnt, ihren Mann ganz oben auf der Leiter zu sehen.
«Sieh dir das nur an, Liebling», sprudelte es begeistert aus ihr heraus. «So viel schöpferische Energie! Einfach atemberaubend! Nachts um halb eins, und sie sind immer noch an der Arbeit. Das Atelier ist geschäftig wie ein Bienenstock.»
Joan nahm ihren Umhang ab und legte ihn über den Arm. Sie trug einen eierschalenfarbenen Leinenrock im Sarongschnitt mit passender Bluse und Weste. Eine vielschichtige Kombination, die einiges dazu beitrug, ihr kräftiges Gesäß zu verhüllen. Joan war eine gutaussehende Frau, deren Gesicht an die Tahitischönheiten eines Gauguin erinnerte. Aber außerdem war sie auch eine kräftig gebaute Frau.
«Phantastisch! Einfach phantastisch! Ich bin so stolz darauf, ein Teil all dieser … all dieser … Energie zu sein.»
Ray Richardson grunzte. Seine Augen suchten die hartkantigen schwarzen, weißen und grauen Flächen des Ateliers nach Allen Grabel ab, der an den beiden größten und prestigeträchtigsten Projekten der Firma zugleich arbeitete. Seit sich das Gebäude der Yu Corporation der Vollendung näherte, konzentrierte sich der erste Konstruktionszeichner der Firma auf das geplante Kunstzentrum, und das nicht nur, weil sein Chef morgen nach Deutschland fliegen wollte, um der Berliner Bauverwaltung die detaillierten Bauzeichnungen vorzulegen.
Das Kunstzentrum sollte die Antwort Berlins auf das Pariser Centre Pompidou darstellen und zugleich der winddurchwehten Öde über dem ehemaligen Einkaufszentrum der Stadt, dem Alexanderplatz, neues Leben einhauchen.
Die beiden Projekte hielten Grabel derart in Atem, dass er manchmal eine Pause machen musste, nur um sich darüber klarzuwerden, an welchem von beiden er gerade arbeitete. Er verbrachte mindestens zwölf Stunden pro Tag im Atelier – manchmal waren es auch sechzehn – und hatte so gut wie kein Privatleben. Er war ein gutaussehender Mann. Er hätte sich eine Freundin zulegen können, wenn er Zeit gehabt hätte, jemanden kennenzulernen. Aber da ihn zu Hause ohnehin niemand erwartete, verbrachte er immer mehr Zeit im Atelier. Er wusste, dass Richardson das ausnutzte. Er wusste, dass er hätte Urlaub nehmen sollen, nachdem die Konstruktionspläne für das Yu-Gebäude standen. Bei seinem Gehalt konnte er fahren, wohin er wollte. Es gelang ihm nur nie, in seinem überfüllten Arbeitsplan die richtige Lücke zu finden. Manchmal hatte Grabel das Gefühl, als stehe er kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Jedenfalls trank er zu viel.
Als Richardson ihn fand, starrte der hochgewachsene, lockenköpfige New Yorker durch Brillengläser, die so verschmiert waren wie sein Hemdkragen, auf den Monitor des Intergraphterminals. Er war dabei, die Kurven und Liniennetze eines Bauplans neu zu gestalten.
Das Softwaresystem für rechnerunterstütztes Konstruieren von Intergraph war der Eckpfeiler im Arbeitssystem der Firma Richardson & Associates, und das nicht nur in Los Angeles, sondern in der ganzen Welt. Mit seinen Büros in Hongkong, Tokio, London, New York und Toronto und den geplanten Zweigstellen in Berlin, Frankfurt, Dallas und Buenos Aires war Richardson & Associates Intergraphs zweitgrößter Einzelkunde, gleich nach der NASA. Dieses und ähnliche Systeme hatten eine Revolution in der Architektur eingeleitet. Ihr Drag-and-drop-System erlaubte es dem Konstruktionszeichner, jede beliebige Anzahl zwei- und dreidimensionaler Elemente beliebig zu drehen, zu dehnen und aufeinander auszurichten.
Richardson zog den Armani-Sakko aus, rückte einen Stuhl neben Grabel und setzte sich. Ohne ein Wort zu sagen, zog er die Farbpause im Format A0 über den Tisch und verglich sie mit dem zweidimensionalen Bild auf dem Monitor, während er den Rest von Grabels Pizza in den Mund schob.
Grabel war schon vorher übermüdet, aber jetzt erlitt seine Stimmung den entscheidenden Einbruch. Manchmal sah er zu, wie das CAD-System das Muster, das er eingab, in ein Werk der Architektur verwandelte, und fragte sich, ob er nicht genauso leicht ein Musikstück hätte komponieren können. Aber jedes Mal, wenn Ray Richardson die Szene betrat, verflogen seine philosophischen Überlegungen im Winde, und die Freude und Befriedigung, die seine Arbeit ihm schenkte, schien dann so flüchtig und vergänglich wie seine eigenen Computergraphiken.
«Ich glaube, wir haben es geschafft, Ray», sagte er müde. Aber Richardson hatte schon mit einem Mausklick das Smart Draw Icon in der Menüleiste angewählt, um den Entwurf selbst beurteilen zu können.
«Glaubst du?» Richardsons Lächeln war kalt wie der Winter. «Was heißt hier glauben? Weißt du es denn nicht, um Gottes willen?» Er streckte die Hand in die Luft wie ein Kind, das sich in der Schule meldet, und rief: «Kann mir jemand eine Tasse Kaffee besorgen?»
Grabel zuckte seufzend die Achseln. Er war viel zu müde, um sich mit Richardson zu streiten.
«Was soll das jetzt wieder heißen, dieses Achselzucken? Los, Allen, was in Teufels Namen geht hier vor? Und wo in Teufels Namen ist Kris Parkes?»
Parkes war der Projektleiter für den Entwurf des Kunstzentrums. Zwar war er nicht Leiter der Arbeitsgruppe, aber er leitete die regelmäßigen gemeinsamen Sitzungen und formulierte das, was die Arbeitsgruppe dachte.
Grabel überlegte, dass die Arbeitsgruppe augenblicklich wohl genau dasselbe dachte wie er: dass sie am liebsten zu Hause wären, im Bett lägen und in den Fernseher glotzten. Genau das, was Kris Parkes höchstwahrscheinlich gerade tat.
«Er ist nach Hause gegangen», sagte Grabel.
«Der Projektleiter ist einfach nach Hause gegangen?»
Mary Sammis, eine der Modellbauerinnen des Projekts, brachte Richardson seinen Kaffee. Der probierte, verzog das Gesicht und gab ihn ihr zurück.
«Der ist aufgewärmt», sagte er.
«Er war zum Umfallen müde», erklärte Grabel. «Ich habe ihn nach Hause geschickt.»
«Bring mir einen neuen. Und wenn ich das nächste Mal eine Tasse Kaffee bestelle, will ich die Untertasse nicht extra bestellen müssen.»
«Kommt sofort.»
Kopfschüttelnd murmelte Richardson: «Was ist das bloß für ein Laden?» Dann fiel ihm etwas anderes ein, und er rief quer durch den Raum: «Ach, Mary! Was ist mit dem Modell?»
«Wir arbeiten noch dran, Ray.»
Grimmig schüttelte Richardson den Kopf. «Lass mich nicht hängen, Schätzchen. Morgen Nachmittag fliege ich nach Deutschland.» Er warf einen Blick auf die Armbanduhr von Breitling. «Genau gesagt, in zwölf Stunden. Bis dahin muss das Modell verpackt und der ganze Papierkram für den Zoll erledigt sein. Verstanden?»
«Keine Angst, Ray. Ich verspreche dir, dass du es rechtzeitig hast.»
«Mir brauchst du nichts zu versprechen. Hier geht es nicht um mich. Es geht überhaupt nicht um mich, Mary. Wenn es um mich ginge, wäre das etwas ganz anderes. Es geht um ein neues Büro mit dreißig Mitarbeitern, die die nächsten zwei Jahre ihres Lebens mit nichts anderem verbringen werden als mit der Arbeit an diesem Projekt. Und das Mindeste, was wir für sie tun können, ist, ihnen ein Modell davon zu zeigen, wie es aussehen wird. Oder bist du anderer Meinung, Mary?»
«Nein, Mr. Richardson, bin ich nicht.»
«Und sag nicht Mr. Richardson zu mir, Mary. Wir sind hier verdammt noch mal nicht bei der Armee.»
Richardson griff nach Grabels Telefon und wählte eine Nummer. Mary nutzte die günstige Gelegenheit und machte sich aus dem Staub.
«Wen willst du anrufen, Ray?», sagte Grabel, und ein nervöses Zucken durchlief sein Gesicht. Der Tic machte sich nur bemerkbar, wenn er todmüde war oder dringend einen Drink brauchte. «Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich habe gesagt, dass ich ihn nach Hause geschickt habe.»
«Das habe ich gehört.»
«Ray?»
«Wo bleibt mein verdammter Kaffee?», brüllte Richardson aus dem Hintergrund.
«Du willst doch nicht etwa Parkes anrufen, oder?» Richardson sah Grabel nur an und zog verächtlich die grauen Augenbrauen hoch.
«Du Schwein», murmelte der. Plötzlich hasste er Richardson mit einer Intensität, die ihn selbst erschreckte. «Mein Gott, ich wollte, du wärst tot, du Arsch…»
«Kris? Hier ist Ray. Habe ich dich geweckt? Habe ich? Schade. Ich habe eine Frage, Kris. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was dieses Gebäude der Firma an Honoraren einbringen wird? Nein, ich will nur eine Antwort auf meine Frage. Richtig, fast vier Millionen. Vier Millionen Dollar. Und jetzt hör zu, Kris. Viele von uns arbeiten bis tief in die Nacht daran. Nur du bist nicht da. Und du bist, verdammt noch mal, der Projektleiter! Meinst du nicht, du gibst ein schlechtes Beispiel? Ach, das meinst du nicht.» Er hörte einen Augenblick zu und fing dann an, den Kopf zu schütteln. «Also ehrlich gesagt, mir ist es egal, wie lange du nicht mehr zu Hause gewesen bist. Und es ist mir völlig gleich, wenn deine Kinder auf die Idee kommen, du seist irgendein Typ, der ihre Mutter im Supermarkt angequatscht hat. Du gehörst hierher, zu deiner Arbeitsgruppe. Wirst du jetzt deinen Arsch in Bewegung setzen und herkommen, oder muss ich mich nach einem neuen Projektleiter umsehen? Du kommst? Gut.»
Richardson hängte den Hörer ein und sah sich nach seiner Frau um. Die beugte sich über eine Vitrine neben der Treppe und betrachtete ein Modell des Hauptquartiers der Yu Corporation, das sich im wirklichen Leben auf der Hope Street Piazza der Vollendung näherte. «Ich bleibe noch etwas hier, Liebling», rief er ihr zu. «Wir sehen uns dann oben, o.k.?»
«O.k., mein Schatz.» Joan lächelte und blickte sich im Atelier um. «Gute Nacht allerseits.» Dann ging sie.
Nicht viele erwiderten ihr Lächeln. Die meisten waren selbst für ein höfliches Lächeln zu müde. Außerdem wussten sie, dass Joan genauso ein Ungeheuer war wie ihr Mann. Im Grunde war sie schlimmer. Er war wenigstens begabt. Ein paar der älteren Konstruktionszeichner konnten sich noch daran erinnern, wie sie in einem Wutanfall das Faxgerät durch eine verspiegelte Fensterscheibe geworfen hatte.
Ray Richardson wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Monitor zu und verwandelte das Bild in eine dreidimensionale Darstellung. Die Zeichnung stellte einen leicht vertieften Halbkreis mit einem Durchmesser von etwa 200 Metern dar, der an den Royal Crescent in Bath erinnerte und über den sich etwas erstreckte, das einem gigantischen Flügelpaar glich. Europäische Architekturkritiker sprachen von Adlerschwingen, genauer gesagt von den Flügeln des deutschen Reichsadlers, und bezeichneten Richardsons Entwurf als «postfaschistisch».
Richardson bewegte die Maus über das Mousepad und zog die dreidimensionale Darstellung näher heran. Jetzt wurde deutlich, dass das Gebäude nicht aus einem Halbkreis, sondern aus zweien bestand, zwischen denen ein geschwungener Säulengang die Geschäfte und Bürogebäude von den Ausstellungsräumen trennte. Es handelte sich um die Vertragszeichnungen, in denen sich all das niedergeschlagen hatte, worauf sich die einzelnen Berater geeinigt hatten, die am Bau des Kunstzentrums mitwirken sollten. Wenn Richardson nach Berlin kam, sollten sie zur Kostenplanung weitergegeben werden. Richardson betrat den Säulengang, zog die Decke näher heran und vergrößerte mit zwei Mausklicks die Detailzeichnung einer der formbeständigen Stahlröhren, auf denen die photochromen Glasplatten der Decke ruhten.
«Was ist denn da los?» Er runzelte die Stirn. «Hör mal, Allen, du hast nicht das getan, was ich wollte. Ich habe dich doch gebeten, beide Möglichkeiten zu zeichnen.»
«Aber wir waren uns doch einig darüber, dass das hier die ideale Lösung ist.»
«Ich wollte die andere aber auf alle Fälle auch haben.»
«Was heißt auf alle Fälle? Ich versteh dich nicht. Entweder ist das hier die beste Lösung oder nicht.»
Der Nerv in Grabels Gesicht begann wieder zu zucken.
«Das heißt. für den Fall, dass ich es mir anders überlege. Verstanden?» Richardson machte sich an eine grausame, aber zutreffende Imitation von Grabels nervösem Tic. Grabel nahm die Brille ab, legte das unrasierte Gesicht in die zitternden Hände und seufzte tief. Einen Augenblick sah er zum Himmel auf, als erwarte er den Rat des Allmächtigen. Als keine Ratschläge eintrafen, stand er auf, schüttelte langsam den Kopf und zog seine Jacke an.
«Mein Gott, wie ich dich manchmal hasse!», sagte er. «Nein, das stimmt nicht. Ich hasse dich immer. Weißt du, dass du der Darmkrebs eines Straßenköters bist? Eines Tages wird jemand der Welt einen großen Gefallen tun und dich umbringen. Ich würde es selber tun, aber ich wüsste nicht, wohin mit den begeisterten Zuschriften aus aller Welt. Du willst die andere Lösung gezeichnet haben? Zeichne sie selbst, du egoistischer Schweinehund. Ich habe die Schnauze voll von dir.»
«Was hast du gesagt?»
«Du hast es gehört, Arschloch!» Grabel drehte sich um und ging auf die Treppe zu.
«Wohin gehst du in drei Teufels Namen?»
«Nach Hause.»
Richardson richtete sich mit einem bitteren Kopfnicken auf.
«Wenn du jetzt gehst, brauchst du nicht wiederzukommen. Hast du mich verstanden?»
«Ich kündige», sagte Grabel und ging weiter. «Ich würde nicht einmal wiederkommen, wenn du vor Einsamkeit stirbst.»
Richardson ging in die Luft. «Du kündigst nicht», schrie er. «Ich kündige dir! Ich schmeiße dich raus, du kleines Stück Scheiße mit deinem nervösen Tic. Ihr habt es alle gehört. Hast du mich verstanden, Spasti? Du fliegst.»
Ohne sich umzusehen, streckte Grabel den Mittelfinger hoch und verschwand im Treppenhaus. Irgendjemand lachte, und Richardson sah sich mit geballten Fäusten wütend um. Er war bereit, jedem zu kündigen, der sich danebenbenahm.
«Was ist denn hier so komisch?», knurrte er. «Und wo bleibt mein verdammter Kaffee?»
Wutschnaubend ging Grabel die paar Schritte zum St. James’s Club Hotel, wo er wie üblich einen Drink in der Jugendstilbar nahm, während er auf sein Taxi wartete. Wodka mit Cointreau und Preiselbeersaft. Genau das Gleiche hatte er vor einem halben Jahr getrunken, als ihn die Polizei wegen Alkohol am Steuer festnahm. Wodka mit Cointreau und Preiselbeersaft und ein bisschen Kokain. Das Kokain hatte er nur genommen, um nach Hause fahren zu können. Wahrscheinlich wäre er nicht einmal betrunken gewesen, wenn er nicht so schwer gearbeitet hätte.
Mit der Idee, dass er seinen Job geschmissen hatte, kam er besser zurecht als mit der Tatsache, dass er keinen Führerschein mehr hatte. Wenn ihn Richardson wenigstens nicht Spasti genannt hätte! Er wusste, dass man ihn manchmal so nannte, aber niemand hatte es ihm je ins Gesicht gesagt. Einzig ein Scheißkerl wie Richardson konnte so etwas tun.
Eine Cocktailkellnerin namens Mary, eigentlich Schauspielerin zwischen zwei Engagements, war manchmal freundlich zu ihm. Sie stellte praktisch das gesamte Sozialleben dar, das Allen Grabel zu Gebote stand.
«Ich habe gerade gekündigt», erzählte er ihr stolz. «Hab meinem Partner gesagt, er kann sich den Job in den Arsch stecken.»
«Na ja.» Sie zuckte die Achseln. «Gratuliere.»
«Hab es schon lange vorgehabt. Hab mich nur nie dazu entschließen können. Hab ihm einfach gesagt, er kann ihn sonst wohin tun. Ich musste es tun oder ihm das verdammte Gehirn aus dem Schädel pusten.»
«Ich habe das Gefühl, du hast die richtige Wahl getroffen», sagte sie.
«Da bin ich mir nicht sicher. Ich weiß es einfach nicht. Aber mein Gott, war er wütend.»
«Scheint eine gelungene Vorstellung gewesen zu sein. In voller dramatischer Pose.»
«Und wie! Mein Gott, war er wütend auf mich.»
«Ich wollte, ich könnte meinen Job schmeißen», sagte sie mit wehmütigem Lächeln.
«Warte nur ab, Mary. Dein Tag kommt auch noch.»
Er bestellte noch einen Drink und stellte fest, dass der noch schneller verschwand als der erste. Bis Mary ihm mitteilte, dass sein Taxi da war, hatte er vier oder fünf getrunken. Aber das, was er getan hatte, gab ihm so viel Auftrieb, dass er den Alkohol kaum spürte. Er zog ein paar Geldscheine von der Rolle, die er in der Tasche trug, und gab dem Mädchen ein großzügiges Trinkgeld. Das wäre nicht nötig gewesen, denn er hatte an der Bar gesessen, aber er hatte Mitleid mit ihr. Schließlich konnte es sich nicht jeder leisten, einfach zu kündigen.
Als er gegangen war, atmete Mary erleichtert auf. Er war kein übler Typ. Aber sein Tic machte sie nervös. Außerdem mochte sie keine Betrunkenen. Nicht einmal, wenn sie freundlich waren.
Draußen forderte Grabel den Taxifahrer auf, ihn nach Pasadena zu fahren. Sie waren erst ein paar Blocks von der Innenstadt entfernt und fuhren nach Südosten über den Hollywood Freeway, kurz bevor sie nach Norden in Richtung Pasadena abbiegen mussten, als ihm plötzlich etwas einfiel.
«Scheiße», sagte er laut.
«Haben Sie ein Problem?»
«Eigentlich schon. Ich habe meine Hausschlüssel im Büro vergessen.»
«Sollen wir zurückfahren?»
«Fahren Sie an den Straßenrand, und lassen Sie mich überlegen, was ich tun will.»
Nach seinem dramatischen Abgang konnte er kaum zurück ins Büro. Ray Richardson würde annehmen, er komme mit eingekniffenem Schwanz angekrochen und wolle seinen Job wiederhaben. Es würde ihm unheimlichen Spaß bereiten, ihn lächerlich zu machen. Vielleicht würde er ihn noch einmal Spasti nennen, und das würde Allen nicht ertragen. Das Problem bei dramatischen Posen war, dass man so leicht seine Requisiten vergaß.
«Also wohin jetzt, junger Mann?»
Grabel sah aus dem Fenster und entdeckte, dass er auf eine vertraute Silhouette blickte. Sie fuhren die Hope Street entlang und näherten sich dem Gebäude der Yu Corporation. Plötzlich wusste er, wo er übernachten wollte.
«Wir sind richtig. Lassen Sie mich hier raus.»
«Sind Sie sicher?», fragte der Taxifahrer. «Nachts ist das hier eine gefährliche Gegend.»
«Absolut sicher», sagte Grabel. Warum war er eigentlich nicht gleich auf die Idee gekommen?
Mitchell Bryan gewann allmählich den Eindruck, seiner Frau gehe es wieder schlechter. Beim Frühstück hatte ihm Alison mit irre flackerndem Blick erzählt, sie habe gelesen, dass es südafrikanische Stämme gebe, die glaubten, die Folgen einer Fehlgeburt könnten nicht nur den Kindesvater, sondern das ganze Land, ja sogar den Himmel in Mitleidenschaft ziehen und dem Untergang weihen. Sie seien stark genug, heiße Winde entstehen zu lassen, das Land mit Dürre zu überziehen und den Regen versiegen zu lassen. Kurz angebunden, hatte Mitchell erwidert: «Da sind wir ja noch billig davongekommen», und sich auf den Weg zum Auto gemacht, obwohl es erst halb acht Uhr früh war.
Er hatte nicht das Gefühl, als sei Alison jemals ganz über den Verlust ihres Kindes hinweggekommen. Sie war verschlossener als je zuvor, wirkte geradezu neurotisch und hielt sich so ängstlich vom Anblick Neugeborener fern wie andere Leute von den Slums im Stadtzentrum von Los Angeles. Manchmal konnte Mitch nicht umhin, das Endoskop der Erinnerung in den Rachen dessen zu zwängen, was einmal seine Beziehung zu Alison gewesen war, und sich zu fragen, ob das Kind die verlorene Gemeinsamkeit wiederhergestellt hätte. Fast auf den Tag genau ein Jahr nach Alisons Fehlgeburt hatte Mitch aufgehört, nach Entschuldigungen für ihr exzentrisches Benehmen zu suchen, und sich auf eine neue Affäre eingelassen. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er wusste, dass Alison noch immer viel Fürsorge und Verständnis brauchte. Er ahnte aber auch, dass er sie nicht mehr genug liebte, um ihr das zu geben, was sie brauchte. Wahrscheinlich war das Einzige, was sie wirklich brauchte, ein guter Psychiater.
Was Mitch jetzt brauchte, war der Trost einer Frau namens Jenny Bao. Jenny war die Feng-Shui-Beraterin des Projekts. Meistens fuhr er morgens direkt ins Büro oder zum Gebäude der Yu Corporation, aber manchmal besuchte er stattdessen Jenny in ihrer Wohnung in West Los Angeles, die zugleich ihr Büro war. Heute Morgen wählte Mitch den vertraut gewordenen Weg vom Santa Monica Freeway über die La Brea Avenue und gelangte ein paar Blocks südlich vom Wilshire Boulevard in die ruhige, baumbestandene Siedlung solide gebauter Einfamilienhäuser im spanischen Stil, in der Jenny wohnte. Er hielt vor einem freundlichen grauen Bungalow mit erhöhtem Fundament, Veranda und gepflegtem Rasen. Die Reklametafel des Immobilienmaklers vor dem Nachbarhaus pries es als «sprechendes Haus» an.
Mitch stellte den Motor ab und lauschte amüsiert der neunzig Sekunden währenden Hausbeschreibung, die er von einer Sendestation im Haus auf der angegebenen Wellenlänge in seinem Autoradio hören konnte. Er war überrascht, wie viel das Haus kosten sollte und darüber, dass sich Jenny eine so teure Wohngegend leisten konnte. Mit Feng-Shui konnte man offenbar mehr Geld machen, als er gedacht hatte.
Feng-Shui, die altchinesische Kunst der Geomantik, trug aufgrund der Beobachtung von Wind und Wasser dazu bei, Baugrundstücke und Gebäudeformen so zu wählen, dass sie sich harmonisch in die natürliche Umgebung einpassten und Kraft aus ihr schöpften. Die Chinesen glaubten, die Beachtung der Ordnung von Wind und Wasser in der Architektur könne kosmische Kräfte binden, die Glück, Gesundheit, Wohlstand und langes Leben sicherten. Kein Gebäude an der ostasiatischen Küste des Pazifiks, wie groß oder klein auch immer, wurde geplant oder errichtet, ohne die Weisheit des Feng-Shui zu Rate zu ziehen.
Mitch hatte einige Erfahrung im Umgang mit Feng-Shui-Beratern und -Beraterinnen, nicht nur mit der Beraterin, deren Bett er derzeit teilte. Als er das Island Nirvana Hotel in Hongkong entwarf, hatte Ray Richardson vorgehabt, das Gebäude außen mit Spiegelglas zu verkleiden, bis der Feng-Shui-Meister seines Auftraggebers ihm mitgeteilt hatte, das blendende Licht werde zur Quelle von Shaqi werden, dem schädlichen Atem des Drachen. Bei anderer Gelegenheit hatte die Firma ihren preisgekrönten Entwurf für die Sumida-Fernsehgesellschaft in Tokio ändern müssen, weil der Gebäudegrundriss dem kurzlebigen Schmetterling glich.
Er stieg aus und ging den Gartenpfad hinauf. Als Jenny ihm die Tür aufmachte, trug sie noch ihren seidenen Morgenmantel. «Mitch», rief sie aus, «was für eine schöne Überraschung! Ich wollte dich ohnehin nachher anrufen.»
Er war schon dabei, ihr den Morgenrock von den Schultern zu streifen und sie ins Schlafzimmer zu schieben.
«Wow», murmelte sie. «Was hast du denn gefrühstückt? Müsli mit Hormonen?»
Die Halbchinesin Jenny Bao erinnerte Mitch an eine große Katze. Grüne Augen, hohe Backenknochen und eine kleine, zarte Nase, mit der sie möglicherweise nicht auf die Welt gekommen war. Die geschwungenen Lippen hatten mehr von Odysseus als von Cupido. Rechts und links umrahmten sie zwei vollkommene Lachfältchen.
Sie lachte gern. Auch ihre Haltung war vollkommen, und die langen Beine betonten ihren selbstbewussten katzenartigen Gang. Sie hatte nicht immer so gut ausgesehen. Als Mitch sie kennenlernte, hatte sie vielleicht zehn oder fünfzehn Pfund zu viel gewogen. Er wusste, wie viel Zeit sie im Fitnessstudio verbringen musste, um die Perfektion ihrer Figur zu bewahren.
Unter dem leichten Morgenmantel trug sie Seidenstrümpfe und Seidenhöschen.
«Hat dir der Drache gesagt, dass ich komme?», fragte er grinsend und zeigte auf den antiken chinesischen Jahreskalender mit seinen dreißig oder vierzig Reihen konzentrisch angeordneter Schriftzeichen. Mitch wusste, dass das geomantische Gnomon auf Chinesisch Luopan hieß und dazu diente, die positiven und negativen Einflüsse des Drachen zu berechnen, der im Haus lebte.
«Natürlich», sagte sie und streckte sich auf dem Bett aus. «Der Drache erzählt mir alles.»
Seine Hände zitterten, als sein Daumen sich unter das Band des Seidenhöschens wagte, um es über die goldenen Zwillingskuppeln ihres Gesäßes und die Strumpfbänder zu streifen. Erst zog sie voll Hingabe die Knie zur Brust hoch, dann streckten sich ihre Füße, und das zarte Spinnennetz aus schwarzer Spitze und Seide war in seiner Hand.
Eilig zog er sich aus und ließ seinen Körper über den ihren fallen. Ohne sich weiter um die Orakelsprüche des geheimnisvollen Kreises an der Wand zu kümmern, begann er sie zu lieben.
Später lagen sie engumschlungen unter dem Laken und sahen fern. Schließlich warf Mitch einen Blick auf die goldene Rolex Submariner an seinem Handgelenk.
«Ich muss gehen», sagte er.
Jenny Bao schnitt ein Gesicht und küsste ihn.
«Warum wolltest du mich anrufen?», fragte er.
«Ach ja», seufzte sie und erzählte ihm, weshalb sie glaubte, mit ihm sprechen zu müssen.
Sobald Mitch an seinem Schreibtisch im Atelier saß, sah er mit unterdrücktem Stöhnen Tony Levine auf sich zukommen. Levine war Mitch zu erfolgsorientiert. Irgendwie wirkte er hungrig wie ein Wolf, ein Eindruck, den die sonst ständig lächelnd entblößten unregelmäßigen Zähne und die zusammengewachsenen Augenbrauen noch verstärkten. Und dann war da die Art, wie er lachte. Wenn Levine lachte, konnte man es im ganzen Haus hören. Es war, als wolle er die Aufmerksamkeit aller auf sich lenken, und das war Mitch unheimlich. Aber diesmal war auch nicht die Andeutung eines Lächelns in Levines Gesicht zu sehen.
«Allen Grabel hat gekündigt», sagte Levine.
«Was? Mach keine Witze!»
«Gestern Abend.»
«Scheiße!»
«Er hat Überstunden gemacht und an dieser Kunstzentrumsgeschichte gearbeitet, und dann tauchte Richardson auf und hat sich wichtig gemacht.»
«Und was ist daran Neues?»
«Ich meine, er hat sich benommen wie ein richtiger Tyrann. Als wäre er imstande, Feuer an das Haus zu legen. Als ob er der gottverdammte Frank Lloyd Wright persönlich wäre. Du verstehst?»
Levine lachte dumpf wiehernd und strich sich über den kleinen dunklen Pferdeschwanz. Der Pferdeschwanz war ein zusätzlicher Grund, warum Mitch ihn nicht mochte. Schon weil Levine darauf bestand, ihn als einen Chignon zu bezeichnen.
«Nun ja, er hat ungefähr den gleichen Größenwahn. Er hält sich für ein Genie. Sprich: Seine Fähigkeit, Gott und der Welt auf die Nerven zu gehen, ist praktisch unbegrenzt.»
«Und was geschieht jetzt, Mitch? Suchen wir einen neuen Konstruktionszeichner? Schließlich ist der Auftrag doch beinahe abgeschlossen, oder nicht?»
Levine war als Projektleiter für das Yu-Gebäude zuständig.
«Ich sollte Allen wohl anrufen», sagte Mitch. «Da sind noch ein paar Fragen, die er mir beantworten könnte. Und wenn irgend möglich, würde ich Richardson gern von allem fernhalten, was noch erledigt werden muss.»
«Zu spät», sagte Levine. «Er hat Grabels Notizbuch schon durchgearbeitet. Er kommt morgen zur Projektbesprechung.»
«Scheiße. Ich dachte, er fährt nach Deutschland.»
«Danach. Was für Fragen?»
«Das hat uns gerade noch gefehlt. Weißt du, Allen hätte die Details einfach in Ordnung gebracht. Aber Richardson macht sicher eine große Affäre daraus.»
«Woraus? Erzähl mir schon, wo das Problem liegt.»
«Feng-Shui.»
«Wie bitte? Mein Gott, Mitch, ich dachte, diese blöde Scheiße hätten wir geklärt.»
«Haben wir auch, aber nur auf den Bauplänen. Jenny Bao hat sich das Gebäude angesehen, und sie macht sich Sorgen um eine ganze Reihe Dinge. Hauptsächlich hat sie Kummer mit dem Baum. Damit, wie er eingepflanzt ist.»
«Dieser beschissene Baum hat von Anfang an nichts als Ärger gemacht.»
«Da hast du nicht so unrecht, Tony. Außerdem gefällt ihr der vierte Stock nicht.»
«Was in Teufels Namen ist damit nicht in Ordnung?»
«Offenbar bringt er Unglück.»
«Wie bitte?» Levine stieß ein wieherndes Lachen aus. «Wieso der vierte Stock und nicht der dreizehnte?»
«Weil die Unglückszahl für Chinesen nicht die Dreizehn ist, sondern die Vier. Das Wort ‹vier› klingt wie das Wort ‹Tod›, hat sie mir gesagt.»
«Ich habe am 4. August Geburtstag», sagte Levine. «Pech gehabt, was?» Levine wieherte noch lauter. «Diese Kung-Fu-Scheiße ist einfach zu blöd.»
Mitch zuckte die Achseln. «Also wenn es nach mir geht, kriegt der Kunde das, was er haben will, Tony. Wenn der Kunde Akupunktur am Bau will, kriegt er eben Akupunktur am Bau. Und wir kriegen unsere Rechnung bezahlt.»
«Ich dachte, der Kunde liebäugelt mit den Kommunisten. Sind die nicht Atheisten und sowieso gegen Aberglauben, Geister, Glücksbringer und derartigen Unsinn?»
«Gut, dass du mich daran erinnerst», sagte Mitch. «Da gibt es noch etwas, worüber wir sprechen sollten. Erinnerst du dich an die Demonstranten bei unserem Richtfest? Also, sie sind wieder da.»
Am Bauprojekt für die Yu Corporation waren vier Arbeitsgruppen beteiligt: Konstruktionszeichner, Bauingenieure, Maschinenbautechniker und die Ingenieure der Gebäudesystemsteuerung (GSS) – und Mitchs Job war es, aufzupassen, dass sie alle dasselbe Gebäude bauten. Häufig übernahm eine Architekturfirma die Verantwortung nur für den Bauentwurf und beschäftigte firmenfremde Techniker als Berater. Aber ein Riesenunternehmen wie Richardson mit über vierhundert Angestellten hatte seine eigenen Bauingenieure und GSS-Spezialisten. Mitch selbst war ein erfahrener Architekt. Als technischer Koordinator war er dafür zuständig, die großen Konzeptionen des Entwurfsarchitekten in praktische Arbeitsanweisungen umzusetzen und dafür zu sorgen, dass bei Änderungen der Baupläne alle Beteiligten wussten, was das für ihre Arbeitsgruppe bedeutete.
Mitch fand Allen Grabels Telefonnummer in der Adressdatei seines Computers, aber als er anrief, war er nur mit dem Anrufbeantworter verbunden.
«Allen? Hier ist Mitch. Es ist zehn Uhr. Ich habe gerade gehört, was gestern passiert ist, und … nun ja, ich möchte wissen, ob du das ernst gemeint hast. Und wenn du es ernst gemeint hast, wollte ich versuchen, dich zu überreden, es dir noch einmal zu überlegen. Wir können es uns einfach nicht leisten, einen begabten Mitarbeiter wie dich gehen zu lassen. Ich weiß, dass Richardson sich gelegentlich wie ein Arschloch benimmt. Aber der Typ ist begabt, und manchmal sind begabte Menschen unausstehlich. Also, äh … vielleicht kannst du mich ja zurückrufen.»
Mitch warf einen Blick auf die Uhr. Er hatte gerade noch Zeit, nachzusehen, was der Computer über Feng-Shui wusste, und vielleicht eine Lösung für das Problem zu finden, das Jenny Bao ihm vor die Füße geworfen hatte. Als er oben auf der Galerie Kay Killen vorübergehen sah, winkte er ihr zu. Kays Job als Chefzeichnerin drehte sich um den Computer und das CAD-System von Intergraph. Das machte sie zur Hüterin der Datenbank für alles, was mit dem Projekt zusammenhing. Für Mitch war sie aus mehr als einem Grund eine unentbehrliche Mitarbeiterin.
«Kay», sagte er, «könntest du mir rasch helfen?»
«Also, was für ein Problem haben wir diesmal?», knurrte Richardson, als Mitch bei der Projektbesprechung auf Jenny Baos Sorgen zu sprechen kam. «Wisst ihr was? Manchmal glaube ich, diese Kung-Fu-Arschlöcher erfinden ihre Probleme selbst, damit sie höhere Gebühren kassieren können.»
«Das kommt mir irgendwie bekannt vor», murmelte Martin Birnbaum vom Firmenmanagement und rückte sorgfältig seine Fliege zurecht.
Für Mitch, dessen Vater als Journalist an einer Kleinstadtzeitung sein Leben lang eine Fliege getragen hatte, gehörten Fliegen zum trügerischen Schmuck aller Lügner und Betrüger, und deshalb war die Fliege ein zusätzlicher Grund, den fettbäuchigen und seiner Meinung nach hochnäsigen Birnbaum zu hassen.
Sie saßen gemeinsam an Richardsons demokratisch rundem Tisch aus weiß furnierter Birke: Mitchell Bryan, Ray Richardson, Joan Richardson, Tony Levine, Martin Birnbaum, der Maschinenbautechniker Willis Ellerly, der GSS-Ingenieur Aidan Kenny, David Arnon von der Bautechnikfirma Elmo Sergo Ltd., die Baustellenagentin Helen Hussey und Kay Killen. Mitch saß neben Kay, die ihre langen Beine in seine Richtung streckte.
«Es geht um den Baum», erklärte Mitch. «Genauer gesagt darum, wie er eingepflanzt ist.»
Alles stöhnte auf.
«Mein Gott, Mitch», sagte David Arnon, «dies ist vielleicht das intelligenteste Gebäude, das ich je gebaut habe, aber wir haben auch den blödesten Kunden aller Zeiten. Er beauftragt einen der führenden Architekten der Welt, und dann stellt er diese verdammte chinesische Hexe an und lässt sie alles kontrollieren, was der Architekt tut.»
Mitch protestierte nicht. Er wusste, dass Ray Richardson ihn ohnehin schon mit Jenny im Verdacht hatte, und hatte keine Lust, in die Schusslinie zu geraten, indem er sie verteidigte.
«Ahnt diese blöde Ziege überhaupt, was für ein Theater es war, den Baum durch das Gebäudedach zu hieven? So ein Ding kann man nicht einfach hochheben und anderswo wieder hinstellen.»
«Immer mit der Ruhe, David», sagte Mitch. «Wir müssen mit dieser blöden Ziege, wie du sie nennst, zusammenarbeiten.»
Arnon schlug sich auf die Schenkel und stand auf. Mitch wusste, dass Arnon sich der Wirkung seiner Geste bewusst war. Mit stattlichen ein Meter fünfundneunzig war Arnon der größte und möglicherweise auch der bestaussehende Mann im Raum. Er war ein langer, drahtiger Typ mit schmalen, unglaublich geraden Schultern, die aussahen, als habe man sie an der Zeltstange seines Körpers verzurrt, einem viereckigen Kopf und einem kurzen hellbraunen Bart. Er sah aus wie ein ehemaliger Basketballspieler, und genau das war er auch. Arnon hatte in seiner Studentenzeit als Verteidiger für Duke University gespielt und war später einmal Spieler des Jahres gewesen, bis ihn eine Knieverletzung zwang, den Basketballsport endgültig an den Nagel zu hängen.
«Ruhe?», empörte sich Arnon. «Wie denn? Du bist schließlich nicht derjenige … Wer ist denn überhaupt auf die Schnapsidee gekommen, so einen idiotischen Riesenbaum da reinzustecken?»
«Das war meine Schnapsidee», sagte Joan Richardson.
Arnon zuckte entschuldigend die Achseln und setzte sich wieder.
Mitch lachte leise in sich hinein. Irgendwie machte ihm die Wirkung Spaß, die seine Mitteilung ausgelöst hatte. Er konnte David Arnons Sorgen verstehen. Schließlich kam es nicht allzu häufig vor, dass ein Kunde von ihm verlangte, eine neunzig Meter hohe Dikotyle aus dem brasilianischen Regenwald in die Eingangshalle eines Neubaus zu setzen. Arnon hatte den größten Kran in Kalifornien gebraucht, um den gewaltigen Baum, der anscheinend so etwas wie einen südamerikanischen Höhenrekord hielt, durch das Dach ins Gebäudeinnere zu transportieren. Die Arbeiten hatten einen Stau auf dem Hollywood Freeway ausgelöst, und die Hope Street war ein ganzes Wochenende lang gesperrt gewesen.
«Beruhige dich, David», sagte Mitch. «Sie redet davon, wie er gepflanzt ist, nicht wo.»
«Was macht das für einen Unterschied?»
«Jenny Bao …»
«Bao, wow, wow», knurrte Arnon. «Blödes Hundeweib.»
«Jenny Bao hat mir gesagt, es sei schlechtes Feng-Shui, einen großen Baum auf einer Insel in einem Teich zu pflanzen, weil der Baum in dem rechteckigen Teich zu einem chinesischen Schriftzeichen wird, das Not und Umzingelung bedeutet.» Er ließ Fotokopien einer Zeichnung herumgehen, die Jenny von dem chinesischen Zeichen kun gemacht hatte:
Richardson warf einen verächtlichen Blick auf das Zeichen.
«Wisst ihr was», sagte er. «Wenn ich mich richtig erinnere, hat sie mir erzählt, es sei günstig, einen viereckigen Teich anzulegen, weil das einem Zeichen ähnelt, das Mund heißt und irgendetwas symbolisiert wie – was war es noch einmal? Ach ja, viele Menschen und Wohlstand. Kay, sieh das bitte im Computer nach. Vielleicht können wir es der Kuh ein für alle Mal zeigen.»
Mitch schüttelte den Kopf.
«Du sprichst von dem Zeichen kou. Aber wenn das Zeichen mu für Baum in der Mitte steht, wird kou zu kun. Verstehst du? In dem Punkt ist Jenny ziemlich hart geblieben, Ray. Sie wird das Feng-Shui-Zertifikat nicht unterschreiben, wenn wir da nichts unternehmen.»
«Unternehmen? Was denn?», fragte Levine.
«Nun, ich habe mir etwas überlegt», sagte Mitch. «Wir könnten einen zweiten Teich, der rund sein müsste, in den viereckigen hineinbauen. Dann stellt der Kreis den Himmel und das Quadrat die Erde dar.»
«Ich kann nicht glauben, dass wir über so etwas diskutieren», sagte Richardson. «Da bauen wir das intelligenteste Gebäude in L.A. und reden über Voodoo. Demnächst müssen wir wohl noch einen Hahn opfern und das Blut über die Türschwelle gießen.»
Er seufzte und fuhr sich mit der Hand über das kurzgeschnittene graue Haar.
«Tut mir leid, Mitch. Was soll’s? Deine Idee klingt nicht schlecht.»
«Also, ich habe es ihr schon vorgetragen, und sie scheint einverstanden.»
«Gut gemacht, Kumpel», sagte Richardson. «Lass bitte die Zeichnungen anfertigen. Habt ihr das gehört? Mitch ist der Typ, von dem wir hier mehr brauchen könnten. Er sorgt dafür, dass die Dinge erledigt werden. Nächster Punkt.»
«Ich fürchte, wir sind mit diesem noch nicht fertig», sagte Mitch. «Jenny Bao macht auch Schwierigkeiten mit dem vierten Stockwerk. Vier klingt im Chinesischen wie das Wort für Tod oder so ähnlich.»
«Vielleicht hat sie ja recht», sagte Richardson. «Jedenfalls werde ich der verdammten Ziege vier Kugeln in den Kopf verpassen, wenn das so weitergeht. Und dann reiße ich ihr die Glieder einzeln aus und schiebe sie ihr in ihren vier Zoll weiten …»
«… blöden Arsch», johlte Aidan Kenny.
Levine brach in wieherndes Gelächter aus.
«Könnte man nicht einen leeren Raum da lassen, wo der vierte Stock war?», fragte Helen Hussey. «Wisst ihr, ihn einfach auslassen. Sodass der fünfte Stock direkt auf dem dritten liegt?»
«Hast du eine Lösung, Mitch?», fragte Joan.
«Diesmal leider nicht.»
«Wie wäre es damit?», fragte Aidan Kenny. «Im vierten Stock haben wir die Computerräume untergebracht: den Zentralrechner, das E-Mail-Center, die Dokumentenverarbeitung, den Raum für die Tonbandregelung, die multimediale Bibliothek mit dem geschützten Archiv und die Kommandobrücke mit den diversen Servicezugängen. Warum nennen wir ihn nicht einfach Datencenter? Das hört sich dann so an: zweiter Stock, dritter Stock, Datencenter, fünfter Stock, Damenwäsche, Polstermöbel …»
«Keine schlechte Idee, Aid», sagte Richardson. «Was meinst du, Mitch? Wird die große Seherin sich darauf einlassen?»
«Ich glaube schon.»
«Willis? Du ziehst ein Gesicht. Hast du etwas dagegen?»
Als Maschinenbauingenieur hatte Willis Ellery die Aufgabe, das komplizierte System von Röhren, Kabeln, Fahrstuhlschächten und Leitungen für das Gebäude der Yu Corporation zu planen. Willis war ein untersetzter Mann mit weißblondem Haar und einem Schnurrbart, an dessen Enden sich die Nikotinspuren seines hohen Zigarrenkonsums abzeichneten. Er räusperte sich und nickte kurz mit dem Kopf, als wolle er sich in eine Gesprächspause hineinboxen. Trotz seiner offensichtlichen Stärke war er ein zartfühlender und höflicher Mensch.
«Ja, ich fürchte schon. Was machen wir mit den Fahrstühlen?», sagte er. «Auf den Anzeigetafeln in den Kabinen steht überall die Nummer vier.»
Richardson zuckte ungeduldig die Achseln.
«Ruf Otis an, Willis, und sag ihnen, sie sollen dir neue Anzeigetafeln machen. Es kann doch kein Problem sein, D statt 4 zu schreiben.» Er wies auf Kay Killen, die auf ihrem Laptop das Besprechungsprotokoll führte. «Vergiss nicht, das alles dem Kunden mitzuteilen, Kay. Die Kosten für die ganzen Voodoo-Zeremonien gehen auf seine Kosten, nicht auf unsere.»
«Hm … ja … das könnte natürlich ein bisschen dauern», sagte Ellery.
Richardson sah Aidan Kenny mit der Andeutung eines Augenzwinkerns an.
«Aid? Du bist es, der den größten Teil seines Lebens im vierten Stock des Yu-Gebäudes verbringen wird. Was hältst du davon? Bist du bereit, das Risiko einzugehen? Wie viel Glück hast du, Junge?»
«Ich bin Ire, nicht Chinese», lachte Kenny. «Mit der Vier habe ich noch nie ein Problem gehabt. Mein Vater hat immer gesagt, wer ein vierblättriges Kleeblatt findet, hat Glück im Spiel und ist sicher vor Elfen und Leprechauns.»
«Trotzdem», sagte Mitch, «solltest du das Cheech und Chong lieber nicht erzählen.»