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Seit jeher befassen sich die Philosophen mit den Tugenden, Theologen hingegen räsonieren über Sünden. Doch was ist mit den ganz gewöhhnlichen Lastern? In ihrem luziden Essay ergründet Judith N. Shklar die politische und persönliche Dimension der gewöhnlichen Übel - Grausamkeit, Heuchelei, Snobismus, Verrat und Misanthropie. Sie folgt dabei keiner philologischen Argumentation, sondern wagt einen abenteuerlichen Streifzug durch das moralische Minenfeld der Literatur-, Theater- und Philosophiegeschichte. Das erstaunliche Ergebnis: Die ganz gewöhhnlichen Laster entpuppen sich als durchaus fruchtbar, werden sie in die richtige politische Ordnung eingefasst - in einen emphatisch verstandenen Liberalismus, der fordert: Lieber frei und lasterhaft als gezwungen und moralisch rein.
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Seitenzahl: 598
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GANZ NORMALE LASTER
Judith N. Shklar
Aus dem Amerikanischen übersetzt
und mit einem Nachwort versehen
von Hannes Bajohr
Einleitung. Nachdenken über Laster
1 Die Grausamkeit an erste Stelle setzen
2 Seien wir keine Heuchler
3 Was ist am Snobismus so verkehrt?
4 Die Unwägbarkeiten des Verrats
5 Misanthropie
6 Schlechte Charaktere für gute Liberale
Danksagung
HANNES BAJOHR. Nachwort. Judith N. Shklar (1928-1992) Eine werkbiografische Skizze
Anmerkungen
Personen- und Sachindex
Verrat, Treulosigkeit, Tyrannei und sinnlose Grausamkeit … sind unsere ganz normalen Laster.1
— Montaigne, Über die Menschenfresser
Ganz normale Laster gehören nicht gerade zu den Verhaltensweisen, die uns in Erstaunen versetzen – sie sind weder spektakulär noch außergewöhnlich. Der Liste Montaignes sollte man noch die Unaufrichtigkeit hinzufügen, denn er kannte sie ebenso gut wie wir. Vielleicht sind Grausamkeit, Heuchelei, Snobismus und Verrat so alltäglich, dass sie es nicht wert sind, diskutiert zu werden: Vor allem über Grausamkeit haben Philosophen so wenig zu sagen, dass es scheint, alle Überlegungen zu dem Thema verstünden sich von selbst und bedürften keiner Erwähnung; zudem nahm die Tugend immer all ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Diese Mutmaßung scheint allerdings wenig plausibel, haben doch Historiker, Dramatiker und Schriftsteller in Lyrik und Prosa diese Laster eben gerade nicht übergangen, insbesondere nicht die Grausamkeit. An sie müssen wir uns halten, wenn wir unser in alltäglichen Erfahrungen gewonnenes Wissen erhellt und gewürdigt sehen wollen. Man könnte vermuten, dass sich die Werke von Theologen diesbezüglich als aufschlussreich erweisen würden, doch ihre Interessen sind recht begrenzt. Ihr Hauptaugenmerk muss auf Verstößen gegen die göttliche Ordnung liegen – auf Sünden, um genau zu sein. Zu den sieben Todsünden des traditionellen Christentums gehören diese ganz normalen Laster, von denen hier die Rede ist, jedoch gerade nicht, ihnen wird überhaupt bloß dürftige Beachtung zuteil. Nur wenn wir aus dem unter Gottesgesetz stehenden Moraluniversum heraustreten, können wir uns wirklich auf jene gewöhnlichen Übel konzentrieren, die wir uns tagtäglich gegenseitig antun. Genau das tat Montaigne, und daher ist er auch der Held dieses Buches. Im Geiste schreibt er auf jeder dieser Seiten mit, selbst dann, wenn sein Name nicht genannt wird. Er setzte die Grausamkeit an erste Stelle, und von ihm habe ich gelernt, was aus dieser Überzeugung alles folgt.
Grausamkeit, Heuchelei, Snobismus, Verrat und Misanthropie sind sich in einem gleich: Sie haben sowohl persönliche als auch öffentliche Dimensionen. Grausam sind wir zu Kindern und zu unseren politischen Feinden; Heuchelei findet sich in allen Bereichen, daheim und draußen; Snobismus kennen wir von Zuhause, aber in einer repräsentativen Demokratie hat er weitreichende ideologische Folgen; und unsere Freunde hintergehen wir nicht weniger als unsere politischen Verbündeten – deshalb ähneln sich Liebe und Krieg auch so sehr. Wenn wir zu lange über die ganz normalen Laster nachdenken und sie uns zu sehr zu Herzen nehmen, kann es zudem dazu kommen, dass wir von Menschenhass heimgesucht werden. Vielleicht deprimiert er uns nur, aber er ist auch fähig, uns in politische Raserei zu versetzen, die bis zum Massenmord führen kann – ein Phänomen, mit dem wir, gerade heute, auch sehr vertraut sind. Weil diese Laster unseren Charakter so nachhaltig verderben, kann man sie überall entdecken. Von daher stellen sie liberale Demokratien, die notorische Schwierigkeiten mit der Abgrenzung der öffentlichen von der privaten Verhaltenssphäre haben, vor schier unlösbare Rätsel. Denn über manche privaten Laster, auch wenn sie einem freien Volk völlig abstoßend erscheinen mögen, muss man dennoch hinwegsehen, sei es aus Prinzip oder aus bloßer Besonnenheit. Das ist aber besonders bei jenen Lastern schwierig, die ich im Sinn habe: Grausamkeit, Misanthropie, Heuchelei, Snobismus und Verrat. Denn weder verhält es sich mit ihnen wie mit missliebigen Ansichten oder abstoßenden Ideologien, auf die Menschen ein verfassungsmäßiges Recht haben, noch umfassen sie lediglich ganz spezielle Handlungen oder Entscheidungen. Diese Laster sind fähig, unseren ganzen Charakter zu bestimmen, und daher rufen sie sowohl in emotionaler wie theoretischer Hinsicht sehr viel heftigere Reaktionen hervor. Grausamkeit, um mit ihr zu beginnen, ist für Liberale oft zutiefst unerträglich, denn Furcht zerstört Freiheit. Heuchelei und Verrat, gleich an nächster Stelle, waren schon immer Gegenstände der Verachtung. Wie können wir frei sein unser Leben zu führen, wenn wir unseren Freunden und Mitbürgern nicht vertrauen können? Wie kann man von uns erwarten, jene Erniedrigungen zu ertragen, die uns ungezügelter Snobismus zufügt? Unser einziger Trost mag höchstens sein, dass es ohne moralische Ansprüche keine Heuchelei und ohne Vertrauen keine Heimtücke gäbe. Aber es gibt nichts, was Grausamkeit und Erniedrigung wettmachen könnte.
Auch wenn wir besonnen über die privaten und öffentlichen Grenzen von Treulosigkeit und Unaufrichtigkeit zu sprechen vermögen, zögern wir doch, sobald die Rede auf Grausamkeit kommt. Grausamkeit ist anders – und nicht, meine ich, weil wir zu zimperlich wären. Schließlich leben wir im zwanzigsten Jahrhundert. Grausamkeit ist so rätselhaft, weil wir weder mit ihr noch ohne sie leben können. Überdies konfrontiert sie uns wie nichts sonst mit unserer eigenen Irrationalität. Und das ist nicht alles. Auch wenn wir uns darauf einigen können, was als verwerflich zu gelten hat, zögern wir, die Laster in einer bestimmten Rangliste anzuordnen. Wenn wir aber die Grausamkeit an die Spitze der Laster stellen, was in der liberalen Theorie durchaus denkbar ist, laufen wir mitunter Gefahr, unsere politische Orientierung zu verlieren und in tiefe Verwirrung zu stürzen. Dies liefert sicher nicht den unbedeutendsten Grund, sie und die anderen alltäglichen Laster zu untersuchen. Sie müssen in eine Rangfolge gebracht werden, und diese Unternehmung eröffnet den ganzen Fragenkomplex nach den Folgen unserer moralischen Entscheidungen, sowohl im Privaten wie im Öffentlichen.
Alldem zum Trotz könnte eine lebenskluge und abgeklärte Person zu Recht einwenden, dass es nichts nützt, derart viel über Laster zu sprechen, weil es dazu führt, die Menschen zu hassen. Wir werden misanthropisch, wenn wir der Unaufrichtigkeit, Untreue und besonders der Grausamkeit zu lange nachsinnen. Vielleicht ist es besser, das Thema ganz zu wechseln. Wer hat schon Lust, sich mit Nörglern und Quälgeistern herumzuschlagen? Es ist nicht zu leugnen, dass Misanthropie ausgesprochen zerstörerische politische Fähigkeiten mit sich bringt. Im Bemühen um eine neue und vervollkommnete Menschheit dazu zu gelangen, die Menschen zu hassen – schließlich gibt es ja genügend von ihnen – oder das Menschengeschlecht bereinigen zu wollen, bis nur noch die Starken und Edlen übrig sind: Das sind die Vorhaben, über die wir mittlerweile alles wissen, was wir wissen müssen. Und der private Misanthrop, der die Fehler und Schwächen seiner Nachbarn nicht ertragen kann, ist sowohl ein schlechter Freund als auch ein Haustyrann in seinem kleinen Reich. Hier macht erneut die Anordnung der Laster einen Unterschied. Wenn man die Grausamkeit als unheilvollstes Laster wertet und an erste Stelle setzt, wird man in der Schlussfolgerung sorgsam darauf bedacht sein, seinen Menschenhass im Zaum zu halten, um aus ihm keinen Zorn werden zu lassen. Trotzdem verdankt der Liberalismus der Misanthropie sehr viel, genauer: jene Veranlagung zum Misstrauen, dass Staatsbeamte, ganz gleich in welcher Zahl, zu mehr in der Lage sein könnten, als lediglich die rohesten Formen von Gewalt und Betrug in einem strengen rechtlichen Rahmen zu beschränken. Misanthropie ist selbst ein Laster, über das Liberale nachdenken müssen, besonders, wenn sie seinen bedrohlicheren und zynischeren Ausprägungen nicht erliegen wollen. Würde man Unaufrichtigkeit oder Verrat an erste Stelle setzen, ginge jede automatische Zurückhaltung gegenüber dem Zorn verloren, der in der frühen Neuzeit und wieder in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ungezügelte Ausbrüche gewalttätigen Menschenhasses hervorgebracht hat.
Wie wir die Laster ordnen ist nicht nur von politischer Bedeutung, auch müssen wir im Sinne der von liberaler Politik angestrebten Freiheit lernen, die gewaltigen Unterschiede zu ertragen, die zwischen den verschiedenen Individuen und Gruppen im Hinblick auf die Bewertung dieser Laster bestehen. Zwischen dem Katalog der sieben Todsünden mit ihrer Betonung auf Stolz und Maßlosigkeit und der Auffassung, die Grausamkeit an erster Stelle zu setzen, klafft ein tiefer Abgrund. Diese Ordnungen werden weder leichtfertig angenommen, noch hängen sie lediglich von rein persönlichen Veranlagungen und Gefühlsneigungen ab. Die unterschiedlichen Hierarchien speisen sich aus sehr verschiedenen Wertesystemen. Manche von ihnen können uralt sein, weil sich Strukturen von Überzeugungen nicht annähernd so schnell verändern wie die ganz handfesten Lebensumstände. Sie vergehen eigentlich nie, sondern lagern sich höchstens in Schichten aufeinander ab. In Europa existierte immer schon eine Tradition von Traditionen, wie unsere demografische und religiöse Geschichte eindrucksvoll belegt. Da nützt es nichts, auf irgendein in der Antike oder im Mittelalter angesiedeltes imaginiertes Utopia moralischer und politischer Harmonie zurückzuschauen, ganz zu schweigen von der schrecklichen Vorstellung, eines in der Zukunft errichten zu wollen. Über Laster nachzudenken hat in der Tat zur Folge, uns das Ausmaß vor Augen zu führen, in dem unsere Kultur eine unter zahllosen Subkulturen ist, bereits eine Schicht auf jenen Schichten, die aus uralten Religions- und Klassenritualen bestehen, aus ererbten ethnischen Empfindsamkeiten und Bräuchen und aus ideologischen Überresten, deren ursprünglicher Zweck inzwischen vollkommen vergessen ist. Behält man dies im Blick, wird liberale Demokratie viel eher zu einem Überlebensrezept als zu einem Projekt, das die Vervollkommnung der Menschheit im Sinn hätte.
Seit dem achtzehnten Jahrhundert haben geistliche und militärische Kritiker den Liberalismus als eine Doktrin darzustellen versucht, die öffentliche Güter, Frieden, Wohlstand und Sicherheit deshalb erlangt, weil sie privaten Lastern Vorschub leistet. Sein Wesen, Zweck und Ergebnis werde von allen denkbaren Formen des Egoismus bestimmt, was, so wird heute wie damals verlautbart, zwingende Folge sei, sobald man sich von soldatischer Tugend und einer auf Gott beruhenden Disziplin verabschiede. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Denn es verlangt gerade einen äußersten Grad an Selbstbeherrschung, auf öffentlichen Zwang zu verzichten, der auf weltanschauliche Einmütigkeit und homogene Verhaltensregeln zielt. Toleranz konsequent anzuwenden, ist schwerer und moralisch sehr viel anspruchsvoller als Unterdrückung. Dagegen wertet der Liberalismus der Furcht die Grausamkeit als schlimmstes Laster und erkennt ganz richtig, dass Furcht uns auf den Stand lediglich reaktiver Empfindungswesen zurückwirft. Diese Einsicht erlegt uns ein öffentliches Ethos auf. Man beginnt mit dem Laster, das man am meisten zu vermeiden trachtet, und setzt es an erste Stelle: Montaigne fürchtete nichts mehr als die Furcht. Mut ist hoch zu schätzen, weil er sowohl unsere Furcht vor physischen und moralischen Gefahren lindert als uns auch davor bewahrt, grausam zu sein, wie es Feiglinge so oft sind. Freilich geht es dabei nicht um den Mut des Bewaffneten, sondern um den seiner möglichen Opfer. Dieser Liberalismus wurde aus den Grausamkeiten der religiösen Bürgerkriege geboren, deren Anmaßung christlicher Nächstenliebe sie für alle Zeiten zu einer Anklage gegen religiöse Institutionen und Parteien überhaupt werden ließ. Sollte der Glaube irgend überleben, dann nur im Privaten. Die damals sich eröffnende und noch heute vor uns liegende Alternative tut sich nicht zwischen klassischer Tugend und liberaler Maßlosigkeit auf, sondern zwischen grausamer militärischer und moralischer Unterdrückung sowie Gewalt auf der einen und einer selbstbeherrschten Toleranz auf der anderen Seite, die die Mächtigen im Zaum hält, um die Freiheit und die Sicherheit aller Bürger zu bewahren, seien sie alt oder jung, männlich oder weiblich, schwarz oder weiß. In nichts einem amoralischen Konkurrenzkampf ähnlich, offenbart sich der Liberalismus viel eher als strapaziös und mühevoll – zu mühevoll für all jene, die Widersprüche, Komplexität, Vielfalt und die Risiken der Freiheit nicht ertragen können. Freiheitliche Handlungsweisen werden sowohl im Privaten als auch in der Öffentlichkeit entwickelt, und es ist ein Leichtes, sich einen liberalen Charakter vorzustellen, aber er kann per definitionem nicht durch politische Autorität erzwungen oder auch nur gefördert werden. Das alles macht die Aufgaben des Liberalismus nicht leichter, seine ethische Struktur untergräbt es aber nicht.
Indem ich Montaigne und unsere ganz normalen Laster an ihre privaten und öffentlichen Schauplätze versetze, habe ich in der Literatur nach jenen Persönlichkeiten und Situationen gesucht, die uns am meisten über diese Laster sagen können. Die Dramatiker der Tudor-Zeit – Montaigne und sogar Machiavelli in ihrer Reaktion auf Grausamkeit und Heimtücke ausgesprochen nahe – erwiesen sich als besonders hilfreich. Ihre Stücke sind so aussagekräftig, weil sie sich von jener allerjüngsten Vergangenheit, die wir Gegenwart nennen, so sehr unterscheiden und ihr gleichzeitig so sehr ähneln und mir ihr verwandt sind. Ich werde Geschichten erzählen, von denen viele bekannt sein dürften, um einige, wenn auch beileibe nicht alle Arten zu benennen, in denen sich uns die ganz normalen Laster präsentieren, um in so vielen Zusammenhängen wie möglich zu zeigen, was sie mit Handelnden und Behandelten anrichten. Ganz offensichtlich betreibe ich damit keine Geschichtsschreibung. Vielleicht ist es auch keine Philosophie im strengen Sinne. Um mehr als nur protophilosophisch zu sein, stehen diese Essays der Psychologie zu nahe und sind von jenem den philosophischen Stil prägenden Austausch von Argumenten und Gegenargumenten zu weit entfernt, der streng darauf bedacht ist, Widersprüchen auszuweichen und Ausnahmen zu vermeiden. Nichts von dem, was ich zu sagen habe, begibt sich in Kompetenzstreitigkeiten um irgendwelche intellektuellen Territorien. Es ist sogar sehr gut möglich, dass sich die Laster, und besonders die Grausamkeit, einer Unterordnung unter die Vernunft derart entziehen, dass nur Geschichten ihren Sinn zu erfassen vermögen. Ich bin mir dessen nicht vollkommen sicher – und befinde mich damit wieder im Einvernehmen mit Montaignes Vorsicht und Skepsis.
Grausamkeit, Heuchelei, Snobismus und Verrat werden ganz sicher niemals verschwinden. Mein Ziel war es weder sie zu feiern noch sie auszurotten, sondern die Schwierigkeiten zu erkunden, die entstehen, wenn man über sie nachdenkt. Jedes der Laster ist unwägbar, nicht zuletzt der Verrat, weil er uns so tief verletzt und doch ganz geringfügige Ursachen und Folgen haben kann. Dasselbe könnte vom Snobismus gesagt werden, wohingegen Heuchelei durchaus ihre soziale Funktion besitzt. Was ich hier vorlege, ist, kurz gesagt, eher ein Streifzug durch ein moralisches Minenfeld als ein entschlossener Marsch auf ein Ziel hin, und in diesem Sinne sollten diese Essays auch gelesen werden. Jeder von ihnen hat eines der ganz normalen Laster zum Thema. Das Schlusskapitel stellt einen theoretischen Rückblick und eine Analyse des Ganzen dar, gedacht für jene, die Geschmack an politischer Theorie haben; die vorhergehenden Kapitel hängen aber von ihm nicht ab und können auch separat gelesen werden.
Verraten, ausgeplündert und den Rest verkauft.
Man sieht vom Tod die Flügel blinken.
Alles ist von Entsetzen angenagt.
Wie findet Sonnenlicht hierher?1
— Anna Achmatowa
Philosophen sprechen selten über Grausamkeit. Dies haben sie den Dramatikern und Historikern überlassen, von denen sie nicht vernachlässigt wurde. Die klassische Tragödie ist ohne körperliche Grausamkeit nicht vorstellbar, und die Komödie ist auf moralische Grausamkeit angewiesen. Vergebens aber suchte man einen Dialog Platons, der der Grausamkeit gewidmet wäre, und Aristoteles behandelt statt ihrer nur krankhafte Bestialität. Sie gehört auch nicht zu den sieben Todsünden, an deren Spitze unangefochten der Stolz thront. Augustinus erschienen die mannigfaltigen Ausprägungen der Habgier wichtiger als die Grausamkeit, und die Theologen des Mittelalters untersuchten vielfach die Rache als Bestandteil der Todsünde Zorn. Grausame Tyrannen werden gebührend getadelt und in Dantes Göttlicher Komödie besonders bestraft. Aber die einzigen Grausamkeiten, die auf Giottos Lastern in der Cappella degli Scrovegni in Padua zu sehen sind, erscheinen zu Füßen der kalten und abweisenden Figur der Ungerechtigkeit. Will man wirklich wissen, wie die Grausamkeit aussieht, so kann man sich natürlich Giottos Jüngstem Gericht zuwenden, in dem jedes nur vorstellbare Folterinstrument an den Verdammten zum Einsatz kommt. Auch Dante mag man auf solche Beschreibungen hin lesen. Leid zu ertragen wurde ohne Frage für erstrebenswert gehalten, erschien gar als segensreich – jedenfalls legen die Gesichter der Märtyrer diese Vermutung nahe. Vielleicht machte das Ausmaß der göttlich sanktionierten Grausamkeit es unmöglich, menschliche Grausamkeit als wirklich eigenständiges und ernstzunehmendes Übel aufzufassen, in jedem Fall bekümmerten sich jene Christen, die begannen, die buchstäbliche Darstellung von körperlicher Grausamkeit in der Hölle in Zweifel zu ziehen, auch über die Grausamkeit und Rachsucht, die Gott zugeschrieben wurde.2 Vom achtzehnten Jahrhundert an waren das alles sehr verbreitete Sorgen, vor allem in England, wo der säkulare Humanitarismus seinen erstaunlichen Aufstieg angetreten hatte. Er hatte immer seine Gegner: Religiöser Eifer, die Theorie des survival of the fittest, revolutionärer Radikalismus und anderer Widerstand gegen den Humanitarismus ließen zu keinem Zeitpunkt nach. Grausamkeit ernst zu nehmen, avancierte dennoch zu einem wichtigen und bleibenden Element der allgemein anerkannten Moral Europas, selbst inmitten grenzenloser Massaker. Grausamkeit an erste Stelle zu setzen, ist hingegen eine von bloßer Menschenfreundlichkeit sehr verschiedene Angelegenheit. Grausamkeit mehr als jedes andere Übel zu hassen, bedeutet eine radikale Ablehnung sowohl religiöser als auch politischer Konventionen. Es verdammt einen zu einem Leben voller Zweifel, Unentschlossenheit, Ekel und oft Menschenhass. Grausamkeit an erste Stelle zu setzen, wurde selten versucht und dieser Versuch nur selten diskutiert. Grausamkeit erscheint den meisten Philosophen als eine zu große Bedrohung für die Vernunft, um sich ihr überhaupt zu widmen.
Die meisten von uns mögen sich intuitiv darüber einig sein, was als richtig und falsch zu gelten hat. Weit mehr unterscheiden wir uns aber darin, in welche Rangfolge wir Laster und Tugenden bringen. Sehr wenige haben sich dazu entschlossen, die emotionalen und gesellschaftlichen Gefahren auf sich zu nehmen, die damit einhergehen, Grausamkeit an erste Stelle zu setzen und sie als das summum malum schlechthin zu betrachten. Unter den Moralphilosophen kann nur von Montaigne und seinem Schüler Montesquieu behauptet werden, dies konsequent getan zu haben, und es ist nicht schwer zu verstehen, warum sie so einsame Beispiele geblieben sind. Grausamkeit an erste Stelle zu setzen, bedeutet, die Idee der Sünde abzulehnen, wie sie von den Offenbarungsreligionen gedacht wird. Sünden sind Übertretungen des göttlichen Gesetzes und ein Vergehen gegen Gott. Stolz – die Verleugnung Gottes – muss dabei immer die schwerste Sünde bleiben und als jene gelten, die alle anderen erst ermöglicht. Grausamkeit jedoch – einem schwächeren Wesen willentlich körperlichen Schmerz zuzufügen, um Furcht und Leid zu erzeugen – ist ein Vergehen gegen ein anderes Wesen. Wird es als höchstes Übel gesetzt, beurteilt man es an und für sich und nicht, weil es eine Leugnung Gottes oder irgendeiner anderen höheren Ordnung bedeutet. Es handelt sich dann um ein Urteil, das innerhalb der Welt gefällt wird, in der Grausamkeit als Teil unseres normalen Privatlebens und unserer täglichen privaten Gewohnheiten auftritt. Wenn man es aber uneingeschränkt an erste Stelle setzt, ohne eine Möglichkeit, Akte der Grausamkeit mit Verweis auf etwas Höheres zu entschuldigen oder zu vergeben, nimmt man sich die Möglichkeit, eine andere Ordnung anzurufen als die des tatsächlich Gegebenen. Grausamkeit aus vollem Herzen zu hassen, steht völlig in Einklang mit biblischer Religiosität; sie aber an erste Stelle zu setzen, lässt einen ein für allemal von aller Offenbarungsreligion Abschied nehmen, denn es bedeutet, ein rein menschliches Urteil über menschliches Verhalten zu fällen, und hält Religion so in einem gewissen Abstand. Die Entscheidung, Grausamkeit an erste Stelle zu setzen, ist dabei nicht allein durch Zweifel an der Religion motiviert, sondern hat ihren Grund in der Erkenntnis, dass sich die Gepflogenheiten der Gläubigen in ihrer Brutalität nicht von denen der Ungläubigen unterscheiden und dass Machiavelli schon gesiegt hatte, bevor er auch nur eine einzige Zeile zu Papier brachte. Grausamkeit an erste Stelle zu setzen, bedeutet daher nicht nur, mit der Religion, sondern auch mit der geläufigen Politik in Widerspruch zu stehen.
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