Wählen und Verdienen - Judith N. Shklar - E-Book
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Wählen und Verdienen E-Book

Judith N. Shklar

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Beschreibung

Judith N. Shklars Wählen und Verdienen beschreibt Staatsbürgerschaft als dynamischen Prozess, in dem marginalisierte Gruppen sich das Recht, vollgültige Bürger zu sein, immer wieder erkämpfen müssen. In den USA geschah dieser Kampf stets vor dem Hintergrund der Sklaverei, die, anders als in Europa, gerade keine bloße Metapher war, sondern als Symbol drohender Entrechtung über allen politischen Auseinandersetzungen schwebte. Dabei ist für Shklar das Wahlrecht nur ein Aspekt von Staatsbürgerschaft. In einer Arbeitsgesellschaft hat allein derjenige eine soziale Stellung, der auch für ein Einkommen sorgen kann. Das Recht auf Arbeit bildet somit eine Voraussetzung zu politischer Teilhabe.  Prägnant und äußerst aufschlussreich führt uns Judith N. Shklar vor Augen, dass Wählen und Verdienen Merkmale von moderner Staatsbürgerschaft sind. Das eine setzt das andere voraus: Nur wer verdient, gilt als vollwertiger Bürger.

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Wählen und Verdienen

Fröhliche Wissenschaft 239

Judith N. Shklar

Wählen und Verdienen

Über amerikanische Staatsbürgerschaft und das Streben nach Inklusion

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hannes Bajohr

Für Michael Walzer

Inhalt

Einleitung

I Wählen

II Verdienen

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung

Es gibt keinen für die Politik zentraleren Gedanken als den der Staatsbürgerschaft und keinen, der in der Geschichte unbeständiger oder in der Theorie umstrittener gewesen wäre. In Amerika ist Staatsbürgerschaft im Prinzip immer demokratisch gewesen – aber eben nur im Prinzip. Von Beginn an wurden die radikalsten Forderungen nach Freiheit und politischer Gleichheit als Kontrapunkt gegen die Besitzsklaverei artikuliert, jene extremste Form von Knechtschaft, deren Nachwirkungen uns bis heute verfolgen. Die Gleichheit politischer Rechte, dieses erste Merkmal amerikanischer Staatsbürgerschaft, wurde in der gebilligten Gegenwart ihrer absoluten Verweigerung verkündet. Ihr zweites Kennzeichen, die offene Ablehnung von Erbprivilegien, war in der Praxis aus demselben Grund nicht weniger schwer zu erlangen: Sklaverei ist ein ererbter Zustand. In den vorliegenden Essays will ich versuchen, und sei es in aller Kürze, die weitreichenden Auswirkungen darzulegen, die nicht nur die Institution der schwarzen Besitzsklaverei, sondern Knechtschaft als integraler Bestandteil einer modernen, repräsentativen, dem »Glück der Freiheit«1 geweihten Volksdemokratie auf die Art gehabt hat, wie Amerikaner Staatsbürgerschaft betrachten.

Die Würde der Arbeit und der persönlichen Leistung sowie die Verachtung alles aristokratischen Müßiggangs haben seit Kolonialzeiten in wesentlichen Teilen das Selbstverständnis amerikanischer Staatsbürgerschaft ausgemacht. Die Möglichkeit, eine Arbeit auszuüben und für seine Tätigkeit einen verdienten Lohn zu erhalten, war ein gesellschaftliches Recht, weil Arbeit eine der wichtigsten Quellen öffentlichen Respekts darstellte. Diese Möglichkeit wurde allerdings nicht nur deshalb als Recht betrachtet, weil sie kulturell und moralisch von der korrumpierten europäischen Vergangenheit abwich, sondern auch, weil die bezahlte Arbeit den Freien vom Sklaven unterschied. Der gesteigerte Wert politischer Rechte ermaß sich aus demselben Grund. Schon immer war der Stimmzettel Ausweis vollgültiger Mitgliedschaft in der Gesellschaft und seinen Wert bezieht er zuallererst aus seiner Fähigkeit, ein Minimum an gesellschaftlicher Würde zu gewährleisten.

Unter diesen Maßgaben betrachtet war Staatsbürgerschaft in Amerika zu keinem Zeitpunkt nur eine Frage von Handlungsfähigkeit und Ermächtigung, sondern auch von gesellschaftlicher Stellung.2 Ich vermeide das Wort ›Status‹, weil es eine abwertende Bedeutung angenommen hat; stattdessen werde ich von der Stellung von Bürgern sprechen. Zwar ist ›Stellung‹ ein diffuser Begriff, in dem die Bedeutung mitschwingt, eine Stelle in einer hierarchischen Gesellschaft einzunehmen, aber den meisten Amerikanern scheint es hinreichend klar zu sein, was damit gemeint ist. Ihre relative gesellschaftliche Position, bestimmt durch Einkommen, Beruf und Bildung, ist für sie von einiger Wichtigkeit. Sie wissen auch, dass die Sorge um ihre gesellschaftliche Stellung nicht völlig mit ihrem ausdrücklichen Bekenntnis zu einer demokratischen Gesellschaftsordnung in Einklang zu bringen ist. Oft neigen sie dazu, diesem Konflikt zwischen Verhalten und Ideologie damit beizukommen, dass sie sich versichern, es gebe heute in der Tat weniger Exklusion und Statusbewusstsein als in der Vergangenheit.3 Es stimmt aber: Stellung, verstanden als der Platz in einer der oberen oder unteren sozialen Schichten, und die egalitäre Forderung nach ›Respekt‹ sind nicht leicht miteinander zu vereinbaren. Die Behauptung, Bürger einer Demokratie hätten ein Recht auf Respekt, solange sie es nicht durch eigenes inakzeptables Verhalten verwirken, ist keine Trivialität. Im Gegenteil, sie ist eine tiefgehegte Überzeugung, und um zu verstehen, wie wichtig sie seit jeher gewesen ist, muss man jene Amerikaner anhören, die ohne eigenes Verschulden dieses Rechts beraubt worden sind.

Die Wichtigkeit der beiden großen Wahrzeichen öffentlicher Stellung – das Wahlrecht und die Möglichkeit, sich einen Lebensunterhalt zu erwerben – ist besonders den Ausgeschlossenen bewusst. Sie sehen Wählen und Verdienen nicht nur als Möglichkeiten an, ihre Interessen zu vertreten und zu Geld zu kommen, sondern als die Kennzeichen des amerikanischen Staatsbürgers schlechthin. Und Menschen, denen dieser Ausweis staatsbürgerlicher Würde nicht zugestanden wird, fühlen sich nicht allein machtlos und arm, sondern vielmehr entehrt. Von ihren Mitbürgern werden sie zudem verachtet. Der Kampf um Staatsbürgerschaft war in Amerika daher überwiegend eine Forderung nach Inklusion in das politische Gemeinwesen – kein Streben nach staatsbürgerlicher Partizipation als zutiefst erfüllender Tätigkeit, sondern der Versuch, jene Schranken einzureißen, die Anerkennung verhindern und für Exklusion sorgen.

Ich habe nicht vor zu behaupten, Stellung sei die einzige Bedeutung, die der Idee der Staatsbürgerschaft in der amerikanischen Geschichte zugekommen ist. Ganz im Gegenteil. Das Wort Staatsbürgerschaft‹ hat mindestens vier klar getrennte, aber verwandte Bedeutungen, und was ich Stellung genannt habe, ist nur eine davon. Drei gleich wichtige Bedeutungen sind Staatsbürgerschaft als Nationalität, als aktive Partizipation (auch ›gute‹ Staatsbürgerschaft genannt) und schließlich die Idee idealer republikanischer Staatsbürgerschaft. Diese anderen Arten, Staatsbürgerschaft zu betrachten, sind so wichtig, dass ich sichergehen möchte, nicht den Eindruck zu erwecken, sie ignoriert oder vernachlässigt zu haben.

In jedem modernen Staat und besonders in einer Einwanderungsgesellschaft muss Staatsbürgerschaft immer etwas mit Nationalität zu tun haben. Staatsbürgerschaft als Nationalität ist die sowohl innerstaatliche als auch internationale rechtliche Anerkennung, dass eine Person Mitglied eines Staates ist, ganz gleich, ob sie dort geboren oder ob sie eingebürgert wurde. Eine solche Staatsbürgerschaft ist keineswegs trivial. Staatenlos zu sein ist eines der fürchterlichsten politischen Schicksale, das einen in der modernen Welt ereilen kann. Und besonders der Besitz eines amerikanischen Passes wird zutiefst geschätzt, zumal von naturalisierten Bürgern. Es gibt in der Tat nur wenige amerikanische Neubürger, die ihre Einbürgerungsunterlagen nicht aufgehoben hätten.

Amerikanische Staatsbürgerschaft als Nationalität hat ihre eigene Geschichte der Exklusionen und Inklusionen, und in ihr haben Fremdenhass, Rassismus, religiöse Borniertheit und die Furcht vor ausländischen Verschwörungen eine Rolle gespielt. In den Jahren vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg hing die staatsbürgerliche Position von in den USA lebenden Ausländern darüber hinaus von den widerstreitenden Interessen der einzelnen Staaten und der Bundesregierung ab. Ihre Geschichte ist daher äußerst verwickelt gewesen. So benötigten etwa die Staaten des Mittleren Westens zu einem gewissen Zeitpunkt derart dringend Arbeitskräfte, dass sie ausländischen weißen Männern sofort das Wahlrecht anboten, sobald sie die Absicht äußerten, später einmal Bürger dieses Staates zu werden. Zur selben Zeit dachten die Bürger von New England über Mittel und Wege nach, ihre irischen Nachbarn von der Erlangung der vollgültigen Staatsbürgerschaft auszuschließen.4 Die Geschichte der Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik soll allerdings nicht mein Thema sein. Sie hat ihre eigenen Höhen und Tiefen, aber wovon sie erzählt, ist etwas anderes als hier geborenen Amerikanern die Staatsbürgerschaft zu verweigern. Die Geschichte dieser beiden Phänomene weist Parallelen auf, weil es in beiden um Inklusion und Exklusion geht – es besteht jedoch ein gewaltiger Unterschied zwischen diskriminierenden Einwanderungsgesetzen und der Versklavung ganzer Volksschichten.

Staatsbürgerschaft als Nationalität ist ein rechtlicher Zustand und bezieht sich nicht auf eine bestimmte politische Tätigkeit. Gute Staatsbürgerschaft dagegen, verstanden als politische Partizipation, hebt auf politische Praktiken ab und betrifft die Menschen einer Gemeinschaft, die sich konsequent und dauerhaft mit öffentlichen Belangen beschäftigen. Der gute demokratische Bürger ist ein politischer Akteur, der regelmäßig an Politik auf lokaler und nationaler Ebene teilhat – nicht nur bei den Vorwahlen und am Wahltag selbst. Aktive Staatsbürger halten sich auf dem Laufenden und erheben ihre Stimme gegen öffentliche Maßnahmen, die sie für ungerecht, unklug oder schlicht zu teuer halten. Ebenso unterstützen sie offen politische Maßnahmen, die ihnen gerecht und klug erscheinen. Auch wenn sie nicht aufhören, ihren eigenen und den Interessen ihrer Bezugsgruppe nachzugehen, versuchen sie die Ansprüche anderer unparteilich abzuwägen und hören ihre Argumente gewissenhaft an. Sie gehen zu öffentlichen Versammlungen und sind Teil freiwilliger Vereinigungen. Sie diskutieren und beraten mit Anderen über die politischen Entscheidungen, die sie alle beeinträchtigen, und dienen ihrem Land nicht nur als Steuerzahler und gelegentlich als Soldaten, sondern haben eine wohlüberlegte Vorstellung vom öffentlichen Wohl, das ihnen wirklich am Herzen liegt. Der gute Bürger ist ein Patriot.

Eine solche aktive Staatsbürgerschaft wirft nicht selten ihre Schatten auf die angrenzende Privatsphäre. Die Formel vom ›guten Staatsbürger‹ wird heutzutage gemeinhin gebraucht, um Menschen zu bezeichnen, die sich bei ihrer Arbeit und in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft korrekt verhalten. Whistle-blowing zu betreiben, das nicht nur korrupte Staatsbeamte bloßstellt, sondern sich auch gegen das Management von Firmen richtet, oder auch nur den Ungerechtigkeiten des täglichen Lebens gegenüber hellhörig zu sein, wird normalerweise als Akt guter Staatsbürgerschaft bezeichnet. Universitätsfakultäten sprechen beispielsweise regelmäßig von einigen ihrer Mitglieder als gute Staatsbürger, womit gemeint ist, dass sie ihr Scherflein an Aufgaben übernehmen – etwa, in lästigen Komitees zu sitzen, Grundkurse zu unterrichten und zu Meetings zu gehen –, statt einfach das zu tun, was oft ›ihre eigene Arbeit‹ genannt wird. Das Gleiche sagt man von Menschen, die das Beste für ihre unmittelbare Umgebung tun, indem sie sich etwa solcher Tätigkeiten annehmen wie den örtlichen Kinderspielplatz sicher und sauber zu halten, zu Elternabenden zu gehen und im Winter den Schnee von ihrem Gehweg zu schaufeln. Sie alle sind in der Tat, was wir anständige Leute nennen könnten, weil sie ein Gefühl der Verpflichtung der gesellschaftlichen Umwelt gegenüber besitzen, die sie unmittelbar mit ihren Nachbarn und Kollegen teilen. Das ist eine Bedeutung des Wortes ›Staatsbürgerschaft‹, die keine Implikationen für konkrete Politik besitzt, sondern einen verinnerlichten Teil einer demokratischen Ordnung meint, die sich auf die Selbststeuerung und die Verantwortung ihrer Bürger verlässt, statt auf ihren bloßen Gehorsam. Ob in der Öffentlichkeit oder im Privaten: Der gute Staatsbürger handelt, um demokratische Gewohnheiten und die verfassungsmäßige Ordnung aufrechtzuerhalten.

Ein guter Staatsbürger zu sein, sollte man nicht mit dem verwechseln, was man für gewöhnlich als moralisches Gutsein bezeichnet. Seit Aristoteles wissen wir, dass ein guter Bürger nicht dasselbe ist wie ein guter Mensch.5 Gute Bürger erfüllen die Forderungen ihres Gemeinwesens und als Bürger sind sie weder besser noch schlechter als die Gesetze, die sie entwerfen und denen sie gehorchen. Sie unterstützen das öffentliche Wohl und sein fundamentales Ethos, so wie es in ihrer Verfassung festgelegt ist. Die gute Person und der gute Bürger wären nur in einem vollkommenen Staat identisch – und selbst dann nur, wenn man meinte, dass bürgerliche Tugend und die mannhafte Redlichkeit, die in diesem Begriff mitschwingt, den besten aller menschlichen Charaktere ausmachten. Von dieser Ausnahme abgesehen liegen Spannungen zwischen persönlicher Moral und Staatsbürgerschaft stets im Bereich des Möglichen und sind, mehr noch, sehr wahrscheinlich. Freilich gibt es derart fürchterliche Regime, dass in ihnen gute Menschen keine andere Wahl haben als zu schlechten Staatsbürgern zu werden. Um Amerika stand es allerdings nie so schlimm – es war nur eine halbe Despotie, teils frei, teils versklavt. Die Amerikaner, die unter einer die Sklaverei billigenden Verfassung ihren staatsbürgerlichen Pflichten nachkamen, waren sicherlich keine schlechten Bürger; sie erfüllten lediglich die Anforderungen ihrer halbfreien Gesellschaft. Das galt sowohl für die ernsthaften und konsequenten Abolitionisten als auch für jene, die wie Lincoln der Überzeugung gemäß handelten, dass die Abschaffung der Sklaverei sehr lang dauern würde, und die nicht geneigt waren, um einer Bevölkerungsschicht willen, die sie für minderwertig hielten, einen Krieg zu riskieren, auch wenn sie für das Bestehen der Union kämpfen würden. Weder waren sie noch sind wir vollkommene Staatsbürger oder gute Menschen. Allerdings gilt für viele Amerikaner, dass sie hinreichend gute Bürger einer Republik waren und sind, so, wie sie war, ist und sein könnte.

Historisch betrachtet bestand das Problem nicht darin, dass die Amerikaner behauptet hätten, es bedürfe moralischer Güte, um ein Staatsbürger zu sein. Ganz im Gegenteil wurde zumal Frauen nachgesagt, sehr viel häufiger als Männer gut, aber als Staatsbürger ungeeignet zu sein. Der Unterschied zwischen dem guten Menschen und dem guten Bürger wurde also in dieser Hinsicht von Anfang an verstanden. Es sind ökonomische Abhängigkeit, Rassenzugehörigkeit6 und Geschlecht, die eine Gruppe oder ein Individuum für die Staatsbürgerschaft untauglich sein lassen, und all dies sind gesellschaftlich geschaffene oder erbliche Eigenschaften. Derartige Regeln implizieren ein System, das in keiner Weise demokratisch oder liberal ist, aber so einfach war die Sache nie. Für den größten Teil ihrer Geschichte haben die Amerikaner nämlich mit den äußersten Widersprüchen gelebt, indem sie sich sowohl der politischen Gleichheit als auch deren völliger Ablehnung verpflichtet fühlten.

Diese Haltungen der Staatsbürgerschaft gegenüber sind offensichtlich sehr tief in der institutionellen und ideologischen Struktur der Vereinigten Staaten verankert gewesen und haben inmitten all der Veränderungen unseres Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen. Und tatsächlich kann Staatsbürgerschaft nicht unter Absehung ihrer politischen Hintergründe diskutiert werden – nicht nur Aristoteles’ Unterscheidung zwischen guten Menschen und guten Bürgern wegen, sondern auch aufgrund seiner gleichermaßen relevanten Beobachtung, dass Staatsbürgerschaft sehr viel veränderlicher ist als der physische Charakter einer Person oder Gruppe und sich von ihnen auch grundsätzlich unterscheidet.7 So kann etwa ein oligarchischer Staatsstreich die Bürger einer Demokratie zu völlig anderen politischen Wesen machen. Trotz aller nationalistischer Rhetorik wird die Staatsbürgerschaft nicht von einem Nationalcharakter bestimmt, was immer das auch sein soll. Die Bürger der dritten, vierten und fünften Französischen Republik waren ganz und gar nicht so wie die Bürger des Vichy-Regimes, auch wenn sie physisch dieselben Franzosen waren, und die Geschichte der deutschen Staatsbürgerschaft in diesem Jahrhundert muss nicht einmal erwähnt werden, um diese Tatsache zu erkennen. Wichtiger ist hier, dass die amerikanische Staatsbürgerschaft sich ebenfalls gewandelt hat im Laufe konstitutioneller, demografischer und internationaler Veränderungen, unter denen Verstaatlichung und die Ausweitung von Regierungsfunktionen sowie verschiedene Verfassungszusätze nur die offensichtlichsten und grundlegendsten sind.

Sollten die vorliegenden Essays einen polemischen Zweck verfolgen, dann nicht lediglich den, sich denjenigen Intellektuellen anzuschließen, die mit einiger Verspätung die Rolle der Sklaverei in unserer Geschichte erkannt haben. So wichtig es ist, unsere Vergangenheit neu zu denken, so kommt es mir doch auch darauf an, die politische Theorie daran zu erinnern, dass Staatsbürgerschaft kein Begriff ist, der irgendwie sinnvoll in einem als leer und statisch vorgestellten gesellschaftlichen Raum zu diskutieren wäre. Welche ideologische Befriedigung auch damit verbunden sein mag, das Andenken an eine ursprüngliche und reine Bürgerschaft heraufzubeschwören – sie kann nicht überzeugen und ist, wenn sie die Geschichte und die aktuellen Realitäten unserer politischen Institutionen ignoriert, am Ende nur eine wenig interessante Flucht vor der Politik. Staatsbürgerschaft hat sich über die Jahre gewandelt und Politiktheoretiker, die über das Beste hinwegsehen, was Politikwissenschaft und Geschichtsschreibung heute hervorzubringen haben, können nicht erwarten, sonderlich Bedeutsames zu unserem politischen Selbstverständnis beizutragen.8 Sie sind der dauernden Gefahr ausgesetzt, über nichts anderes als ihr eigenes Unbehagen zu theoretisieren, das sie in einer Gesellschaft befällt, die zu verstehen sie sich nur wenig Mühe geben. Weder die Gutachten des Obersten Gerichtshofes, die zuweilen unseren öffentlichen Debatten Form geben, noch die Schriften anderer Philosophen, so angesehen sie auch sein mögen, können ein historisch und politisch wirklich sachkundiges Verständnis dessen ersetzen, was Staatsbürgerschaft in Amerika in der Vergangenheit war und was sie heute ist.9

Die Vorstellung, dass die amerikanische Staatsbürgerschaft keinen Wandlungen unterworfen gewesen wäre, hat seltsame Gründe. Es ist gut möglich, dass wir, weil sich die Grundinstitutionen Amerikas seit 1787 so wenig verändert haben,10 nicht selten in einer Weise über Staatsbürgerschaft reden, als habe sie seitdem in einem Zustand institutioneller Tiefkühlung fortexistiert. Man nimmt ihrer formalen Kontinuität wegen auch die unveränderte Beständigkeit der politischen Struktur an; das glauben sogar jene, die sich der Bedeutsamkeit der Verfassungszusätze bewusst sind, die dem Bürgerkrieg folgten. Darüber hinaus ist die Langlebigkeit jener Ideologie, die den gänzlich angemessenen Titel American dream trägt, ein wahrhaft außergewöhnliches Phänomen.11 Seine Wurzeln liegen weit in der Vergangenheit, in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts, und ich möchte sie in diesen Essays ergründen. Allerdings rechtfertigt die Widerstandsfähigkeit, die den Großteil der ursprünglichen Verfassung und den Glauben an ihre Versprechungen auszeichnet, keineswegs die Annahme, dass die amerikanische Staatsbürgerschaft seit dem achtzehnten Jahrhundert wesentlich unverändert geblieben wäre. Wohl mögen auch wir in der Ahnenverehrung die Beständigkeit von Autorität und eine befriedigende Stütze der Tradition finden, so wie es die alten Römer taten.12 Nichts aber hätte die tatsächlichen Gründer der Republik mehr gekränkt. Jede Seite der FederalistPapers ist ein Aufruf an das amerikanische Volk, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich seine Institutionen nach Maßgabe der besten Politikwissenschaft der Gegenwart zu gestalten, statt zaghaft in die Vergangenheit zu blicken. Genau dies ist auch die Aufgabe der guten Bürger von heute.

Neben Nationalität und guter Staatsbürgerschaft gab es immer auch eine weitere Vorstellung des idealen Bürgers, der besonders jene anhingen, die sich Träumen eines mythischen Athens oder Spartas hinzugeben geneigt waren. Ganz normale aktive oder gute Bürger sind sicher nicht ideal oder vollkommen. Sie versuchen lediglich, den anerkannten Erfordernissen einer repräsentativen Demokratie gerecht zu werden. Ideale republikanische Patrioten sind da ganz anders. Sie haben keine ernsthaften Interessen außer ihrem öffentlichen Engagement; sie leben auf dem und für das Forum. Diese vollendeten Bürger werden gelegentlich für gesünder und erfüllter gehalten als solche, die der Politik gleichgültig gegenüberstehen. Für eine solche Behauptung gibt es freilich wenig medizinische Beweise. Es mag viele Menschen geben, denen ununterbrochene politische Aktivität gerade nicht guttut. Entscheidender aber ist, dass seit der Jahrhundertwende argumentiert wird, das beste Mittel gegen die Fehler des demokratischen Regierungssystems sei mehr, nicht weniger Demokratie. Die stetige Bewegung in Richtung direkterer Demokratie durch Referenden, Abberufungswahlen und Initiativen hat sich auf diese Annahme gestützt; die Resultate sind alles andere als eindeutig.13 Diese Möglichkeiten politischer Artikulation haben die Fürsprecher einer wirklich partizipativen Demokratie nicht sonderlich beeindruckt, denn sie sind immer noch Arten, über Maßnahmen abzustimmen, ohne dass man von deliberativer Beteiligung sehr viel mitbekäme.

In der idealen Republik wäre der tugendhafte Bürger andauernd und direkt am Regieren und Regiertwerden beteiligt. Was mit ›Tugend‹ gemeint ist, ist jedoch alles andere als eindeutig. Es bezeichnet wohl aber ein Verhalten, das über das hinausgeht, was der lediglich aktive Bürger heute an den Tag legt. In jedem Fall verfolgen vollkommene Bürger das öffentliche Gut mit entschlossener Hingabe und das geschieht eher in einer direkten als einer repräsentativen Demokratie. Sie sind natürlich die Mitglieder einer Republik, die ganz anders geartet ist als die Vereinigten Staaten es heute sind, je waren oder in aller vorstellbaren Zukunft sein werden. Ihre Funktion ist die einer kritischen Reflexion über unvollkommene Demokratie und den Mangel an Eifer, mit dem die meisten von uns dem öffentlichen Leben begegnen. Man darf bezweifeln, dass sie darin sonderlich erfolgreich sind.