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Wie gelang Frauen der Zugang zu Berufen, die nach den gesellschaftlichen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts Männern vorbehalten sein sollten? Welche Rolle spielte die Frauenbewegung bei der Professionalisierung dieser Berufstätigkeiten? Mittels welcher Argumente sollte bekräftigt werden, dass Frauen für diese Berufe unverzichtbar und notwendig seien? Welche Gegenstimmen und Reaktionen traten ihnen entgegen? Wie verwoben sich Klassen- und Geschlechterfragen in den öffentlich geführten Berufsdebatten? Am Beispiel von Gärtnerinnen, Fotografinnen, Gefängnisbeamtinnen und Haushaltungslehrerinnen verdeutlicht Mette Bartels die historischen Wurzeln aktueller Debatten um weibliche Berufstätigkeit, Emanzipation und Gleichberechtigung.
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Seitenzahl: 798
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Mette Bartels
Garten, Gefängnis, Fotoatelier
Emanzipationsstrategien der bürgerlichen Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Wie gelang Frauen der Zugang zu Berufen, die nach den gesellschaftlichen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts Männern vorbehalten sein sollten? Welche Rolle spielte die Frauenbewegung bei der Professionalisierung dieser Berufstätigkeiten? Mittels welcher Argumente sollte bekräftigt werden, dass Frauen für diese Berufe unverzichtbar und notwendig seien? Welche Gegenstimmen und Reaktionen traten ihnen entgegen? Wie verwoben sich Klassen- und Geschlechterfragen in den öffentlich geführten Berufsdebatten? Am Beispiel von Gärtnerinnen, Fotografinnen, Gefängnisbeamtinnen und Haushaltungslehrerinnen verdeutlicht Mette Bartels die historischen Wurzeln aktueller Debatten um weibliche Berufstätigkeit, Emanzipation und Gleichberechtigung.
Vita
Mette Bartels ist Historikerin und promovierte an der Georg-August-Universität Göttingen.
Für meine Eltern Conny und Karl
Cover
Titel
Über das Buch
Vita
Inhalt
Impressum
1.
Garten, Gefängnis, Fotoatelier
1.1
Fragen, Ziele, Begriffe
1.2
Forschungsstand
1.3
Quellen
1.4
Diskurse und Räume
1.5
Aufbau
2.
Die bürgerliche Frauenbewegung im Deutschen Kaiserreich
2.1
Die Anfänge
2.2
Flügelverortungen
2.3
Gemäßigt und radikal – Begriffe und Begriffsdeutungen
2.4
Weibliche Erwerbsarbeit und das Konzept der »Geistigen Mütterlichkeit«
2.5
Strategien und Praktiken
2.5.1
Netzwerke und Interaktionen
2.5.2
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
2.5.3
Petitionswesen
2.6
Zusammenfassung
3.
Damen im Beet: Gärtnerinnen
3.1
Die Gründung von Gartenbauschulen für bürgerliche Frauen
3.1.1
Orte, AkteurInnen, Konzepte
3.1.2
Gärtnerinnen und »Volkswohl«
3.1.3
Vereins- und Öffentlichkeitsarbeit, Finanzierungsstrategien
3.1.4
Berufsaussichten und Berufswege
3.2.
Garten und Geschlecht
3.2.1
Der Garten als weiblicher Ort
3.2.2
Körperlichkeit und Psyche
3.2.3
»Gärtnerinnenfrage« und Antifeminismus
3.3
Garten und Klasse
3.3.1
Bürgerliche Gärtnerinnen und proletarische Gartenarbeiterinnen
3.3.2
Blumenbinderinnen
3.3.3
Bürgerliche Gärtnerinnen und kleinbürgerliche Gärtner
3.4
Verflechtungen I
3.4.1
Gärtnerinnen und Lebensreformbewegung
Vegetarische Gärtnerinnen
Gärtnerinnen in Hosen
Gärtnerinnen als Bodenreformerinnen
3.4.2
Gärtnerinnen und Kolonialismus
3.5
Fluide Grenzen I
3.6
Zwischenergebnis
4.
Durch die weibliche Linse: Fotografinnen
4.1
Die Photographische Lehranstalt des Lette-Vereins
4.1.1
AkteurInnen, Unterricht, Spezialisierungen
4.1.2
Berufsaussichten und Berufswege
4.2
Fotografie und Geschlecht
4.2.1
Zwischen Kunst(gewerbe) und Handwerk
4.2.2
Die Kinderfotografin
4.2.3
Fotografinnen in der Öffentlichkeit
4.3
Fotografie und Klasse
4.3.1
Klassenspezifische Berufszweige
4.3.2
Bildungsanspruch, Geld und bürgerlicher Habitus
4.4
Verflechtungen II
4.4.1
Fotografinnen und Kolonialismus
4.5
Fluide Grenzen II
4.6
Zwischenergebnis
5.
Arbeit in der Anstalt: Gefängnisbeamtinnen
5.1
Frauenstrafvollzug in Deutschland des 19. Jahrhunderts
5.1.1
Geschlechtertrennung und Reformen
5.1.2
Frauenarbeit im Strafvollzug als Thema männlicher Gefängnisreformer
5.2
Gefängnis und Geschlecht
5.2.1
Körperlichkeit und Gesundheit
5.2.2
Mütterlichkeit und Autorität
5.3
Gefängnis und Klasse
5.3.1
Bildungsanspruch und ökonomisches Kapital
5.3.2
Sittlichkeit und bürgerliche Moral
5.4
Akteurinnen und Praktiken
5.4.1
Gesuche und Petitionen
5.4.2
Vorträge und Reisen
5.4.3
Visitationen und Feldforschungen
5.4.4
Resonanzen und Resultate
5.5
Fluide Grenzen III
5.6
Zwischenergebnis
6.
Mit dem Kochlöffel gegen die »Trunksucht«: Haushaltungslehrerinnen
6.1
Berufsprofessionalisierung der Haushaltungslehrerinnen
6.1.1
Hauswirtschaft als Bildungseinrichtung
6.1.2
Interne Berufskämpfe
6.2
Bürgerlich-weibliche Hauswirtschaft und Gemeinwohl
6.2.1
Geschlecht: Die »Alkoholfrage« als »Frauenfrage«
6.2.2
Der Verein abstinenter Lehrerinnen
6.2.3
Klasse: Alkoholprävention und Hauswirtschaft
6.3
Fluide Grenzen IV
6.4
Zwischenergebnis
7.
Schluss
Dank
Anhang
Biografische Skizzen
Abkürzungen
Berufsbezeichnungen und Zuständigkeiten um 1900
Löhne und Verdienstmodalitäten
Abbildungen
Quellen
Ungedruckte Quellen
Zeitungen und Zeitschriften (Erscheinungszeitraum)
Gedruckte Quellen
Literatur
Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Kampf der Frauenbewegung um die Erweiterung und Neuschaffung von Berufsperspektiven für Frauen deutlich intensiviert wurde – bereits Mitte der 1860er Jahre hatte die Frauenbewegung die Verbesserung weiblicher Bildung und Berufstätigkeit zu einem ihrer grundlegenden Ziele erklärt –, wurden vermehrt Ausbildungsstätten, Berufsorganisationen und frauenbewegte Zusammenschlüsse gegründet, um bürgerlichen Frauen Perspektiven einer Erwerbstätigkeit anzubieten.1 In diesem Kontext forcierten frauenbewegte AktivistInnen2 strukturelle Möglichkeiten sowie Einrichtungen für die Ausbildung von Gärtnerinnen, Gefängnisbeamtinnen, Fotografinnen und Haushaltungslehrerinnen. Genau damit sind die Berufsfelder benannt, die im Mittelpunkt der vorliegenden Studie stehen und anhand derer folgende Leitfragen untersucht werden: Welche Strategien ergriff die Frauenbewegung, um jene genannten Berufe für Frauen zugänglich zu machen? Wie sah dieses Engagement in Theorie und Praxis aus? Wie konzipierten und strukturierten sich die öffentlichen Diskurse angesichts der von der Frauenbewegung initiierten Kampagnen und Praktiken? Welche Akteursgruppen waren in diese Diskurse involviert? Wie wurden Geschlechter- und Klassenfragen diskutiert, und auf welche Weise waren diese beiden Fragen miteinander verflochten? Inwieweit überschnitten sich jene Berufsdiskurse mit anderen Themen, wie zum Beispiel Medizin, Körperlichkeit, Technik, Lebensreform und Kolonialismus? Und welchen Einfluss hatten die Berufsdebatten auf die innere Organisation sowie die inhaltliche und ideelle Ausrichtung der Frauenbewegung?
Diesen Fragen, die zentrale Kapitel in der Geschichte weiblicher Erwerbsarbeit sowie der Frauenbewegung darstellen, wird in diesem Buch nachgegangen. Die Untersuchung richtet die räumliche Perspektive sowohl auf die Metropolen als auch auf ländliche und kleinstädtische Regionen des Deutschen Kaiserreichs, um zu erforschen, ob die Frauenbewegung in der »Provinz« präsent war und, wenn ja, inwiefern frauenbewegte Verflechtungen, Kontaktnetze und Nachrichtentransfers zwischen Großstadt und Peripherie bestanden.
Weibliche Berufstätigkeit avancierte gegen Ende des 19. Jahrhunderts – in nachhaltigem Maße durch das Agieren der Frauenbewegung beeinflusst – zu einem zentralen Gegenstand gesellschaftlicher Debatten, in deren Kern die Frage der Eignung beziehungsweise Nichteignung von Frauen für bestimmte Berufe verhandelt wurde. Neben der Auslotung von geschlechterspezifischen Befähigungsräumen spielten teilweise offen, teilweise verdeckt ebenso Fragen von Klassenzugehörigkeiten und Klassendisktinktionen eine Rolle.
Wie genau diese Debatten aussahen, welche Argumente von den DiskussionsteilnehmerInnen bemüht und welche Zusammenhänge erstellt wurden, soll anhand vier Berufsdebatten untersucht werden: Zunächst geht es um den Beruf der Gärtnerin (Kapitel 3), dann steht der Beruf der Fotografin im Mittelpunkt (Kapitel 4) und schließlich geht es um die Berufe der Gefängnisbeamtin (Kapitel 5) sowie der Haushaltungslehrerin (Kapitel 6). Die Debatten über die einzelnen Berufssparten werden nach geschlechter- und klassenspezifischen Argumenten befragt, die von verschiedenen Akteursgruppen vorgebracht wurden: Existierten spezifische Argumentationsmuster der BerufsförderInnen beziehungsweise der BerufsgegnerInnen? Auf welche Art und Weise äußerte sich eine spezifische Argumentationsstrategie? Welche Motive und Zielsetzungen standen dahinter? Waren die vorgebrachten Argumentationsmuster in den einzelnen Berufsdebatten ähnlich oder ambivalent? Wo lagen die Gemeinsamkeiten und wo die Differenzen?
Die vier Berufe wurden ausgewählt, da sie eine große Bandbreite an Erwerbsfeldern abdecken: Die Gärtnerin zählt zu den handwerklichen Berufen, die Gefängnisbeamtin lässt sich in die Sozialberufe einordnen, die Fotografin rangiert zwischen technischem wie kunstgewerblichem Beruf, die Haushaltungslehrerin befindet sich an der Schnittstelle zwischen pädagogischem und hauswirtschaftlichem Erwerbszweig. Gemein ist diesen Berufen, dass sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts neue Erwerbszweige für Frauen darstellten, deren professionalisierter Zugang ihnen verwehrt war. Bis auf die Haushaltungslehrerin handelte es sich zudem um Berufsfelder, die auf der zeitgenössischen Mental Map allgemein mit Männlichkeit assoziiert wurden und die in ökonomischer wie praktischer Hinsicht ausschließlich Männern vorbehaltene Berufsmärkte waren. Trotz allem beinhalteten diese Berufe – wie die frauenbewegten AktivistInnen argumentierten – in hohem Maße das, was im 19. Jahrhundert als genuin weibliche Tätigkeitsbereiche definiert worden war: Das Dekorative, das Pädagogische, das Ästhetische sowie alle Aspekte, die die Regelung des Haushalts und des Hausinneren betrafen – Tätigkeiten also, die der von Karin Hausen so pointiert entwickelten Analyse des zeitgenössischen Konzepts der Dichotomisierung der Geschlechtercharaktere entsprachen.3
Erst das Engagement der Frauenbewegung machte es möglich, dass bürgerliche Frauen unter einer vorausgegangenen, professionalisierten Ausbildung gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Berufstätigkeit in Strafanstalten, im Gartenbau, im Schulwesen und in der Fotografie finden konnten.4 Insbesondere der Gärtnerinnenberuf – anfänglich eher randständig in den Berufsrubriken der großen frauenbewegten Zeitschriften thematisiert – entwickelte sich, wie Kapitel 3 zeigen wird, durch das Engagement der Frauenbewegung zu einem frequentierten und nachgefragten Erwerbszweig für bürgerliche Frauen.
Welche Strategien die Frauenrechtlerinnen bei diesen Berufsfindungsprozessen verfolgten und wie sich das frauenbewegte Engagement in seinen theoretischen und praktischen Um- und Zielsetzungen generierte, soll in dieser Studie untersucht werden. Hierbei greife ich die bereits in anderen Forschungsarbeiten vorgebrachte These des Differenzansatzes auf, die besagt, dass es eine bewusste frauenbewegte Emanzipationsstrategie5 war, nicht eine Geschlechtergleichheit zu fordern, sondern hingegen die spezifisch »weiblichen« Fähigkeiten zu betonen, die zu einer nach zeitgenössischem Verständnis »zivilisierten« Gesellschaftsentwicklung beitragen würden. So zeigt die Studie von Iris Schröder eindrücklich, wie der bewusst von der Frauenbewegung praktizierte Differenzansatz zur Etablierung der Sozialen Arbeit als professionalisiertem Beruf beitrug.6 Inwiefern auch mittels des Differenzansatzes und der Betonung spezifisch weiblicher Fähigkeiten die bürgerliche Aktivistinnen im Kontext kolonialer Verflechtungen und nationalistischer Ideen emanzipatorisches Potential freizusetzen versuchten, hat die Forschung bereits eindrücklich herausgearbeitet.7 An diese Ergebnisse anknüpfend, wird in meiner Untersuchung sichtbar werden, auf welche Weise die Verflechtung von Kolonialismus, Nationalismus und die Gedanken einer Zivilisierungsmission insbesondere im Gärtnerinnen- und Fotografinnenberuf zu Tage traten.
Überdies stelle ich die Frage, inwieweit die Frauenbewegung durch die Schaffung neuer Berufsfelder an den Transformationsprozessen8 des Kaiserreichs Anteil hatte, indem Frauen ihre Tätigkeitsfelder, die ihnen nach dem Konzept des »Ganzen Hauses«9 zugewiesen worden waren, verließen und aus der häuslichen Sphäre hinaustraten. Hiermit ist allerdings keinesfalls das in der Forschung häufig immer noch gebräuchliche Fortschrittsnarrativ gemeint, das eine Frauenemanzipation ausschließlich auf das Ende des 19. Jahrhunderts datiert. So haben Rebekka Habermas, Heide Wunder, Anne-Charlott Trepp und Londa Schiebinger in ihren Studien10 eindrücklich zeigen können, dass Frauen schon in der Frühen Neuzeit und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts über ein erhebliches Maß an Befugnissen und (innerfamiliären) Handlungsräumen verfügten und, dass das Ideal der Geschlechterbeziehungen auf einem gegenseitigen Zuarbeiten beruhte, welches Mann und Frau letztlich zu einem Arbeitspaar (Wunder) und später zu einem Bildungspaar (Habermas) machte. Was im wilhelminischen Kaiserreich – nicht minder durch die Einflussnahme der Frauenbewegung – als fortschrittlich zu beurteilen ist, war die Zunahme an Wahlmöglichkeiten für weibliche Lebensentwürfe sowie die Ausgestaltung und Professionalisierung weiblicher Berufstätigkeit. Wie eng der frauenbewegte Kampf um weibliche Berufstätigkeit mit Strukturen einer politischen Teilhabe verflochten war und sich Prozesse von Intersektionalität, Inklusion und Exklusion generierten, sind in diesem Kontext weitere Fragen meiner Untersuchung.
Das Eindringen in zuvor männlich konnotierte und männerdominierte Berufsfelder rief eine Vielzahl von Gegenstimmen hervor, welche nicht nur von Männern kamen, die in den Berufen tätig waren, sondern ebenso von Medizinern, Theologen, Psychiatern, Sozialökonomen und anderen formuliert wurden. Zudem existierten Berufskämpfe nicht nur zwischen Frauen und Männern, sondern zeigten sich auch, wenn es um interne Professionalisierungsbestrebungen unter Frauen in dezidiert ausgerichteten Frauenberufen ging. Dieser Zusammenhang soll am Beispiel des Lehrerinnenberufs rekonstruiert werden: Innerhalb dessen versuchten Frauen, die als Haushaltungslehrerinnen tätig waren, ihrem Berufsfeld eine gleichberechtigte Wertigkeit gegenüber sogenannten wissenschaftlichen Lehrerinnen einzuräumen. Wie gingen die Haushaltungslehrerinnen hierbei strategisch vor? Welche Überlegungen und Intentionen steckten hinter diesem Vorgehen? Welche Reaktionen gingen von verschiedenen Akteursgruppen daraus hervor?
Einhergehend mit der Debatte über die geschlechterspezifische Eignung von Frauen für diese Berufe wurden ebenso Klassenfragen erörtert und Klassengrenzen austariert, wenn es von Seiten der frauenbewegten AkteurInnen darum ging, bestimmte Berufe ausschließlich für bürgerliche Frauen zugänglich zu machen. Im Folgenden sollen somit erstens die Überschneidungen und Wechselbeziehungen der beiden zentralen Ordnungskategorien Geschlecht und Klasse in den Diskursen der bürgerlichen Frauenbewegung sowie die daraus resultierenden symbolischen und konkreten Inklusions- und Exklusionsprozesse im wilhelminischen Kaiserreich zwischen 1890 und dem Beginn der Weimarer Republik erforscht werden. Der untersuchte Zeitraum begründet sich durch zwei maßgebliche Aspekte: Erstens setzten die frauenbewegten Berufsbestrebungen in ihren praktischen Ausführungen (Einrichtung von Ausbildungsstätten) sowie die damit verbundenen Diskussionen über weibliche Erwerbstätigkeit der hier zu analysierenden Berufe zu Beginn der 1890er Jahre ein und endeten mit den Umwälzungen nach 1918, die für viele Berufe eine Neuordnung bedeutete. Zweitens separierte sich die bürgerliche Frauenbewegung mit der Gründung des Vereins Frauenwohl im Jahr 1888 organisatorisch in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel, wobei sich letzterer 1919 auflöste. Die Analyse von Inklusion und Exklusion gilt es vordergründig aus einer diskursanalytischen Perspektive zu erfassen und zu untersuchen, wie beide Ordnungskategorien diskursiv verhandelt wurden.
In einem weiteren Untersuchungsschritt soll danach gefragt werden, wie sich einzelne Strömungen innerhalb des Organisationsgeflecht der Frauenbewegung in den Berufsdebatten über Gärtnerinnen, Fotografinnen, Gefängnisbeamtinnen und Haushaltungslehrerinnen selbst verorteten. Konkret möchte ich hierbei den Fokus auf den radikalen und gemäßigten Flügel der Frauenbewegung werfen und nach Anknüpfungspunkten, Grenzüberschreitungen und inhaltliche Gemeinsamkeiten fragen. Hiermit knüpfe ich an wichtige Untersuchungen an, die ein gemeinsames Wirken und Zusammenarbeiten beider Flügel zeigen und somit gleichsam den begrifflichen Dualismus von radikal und gemäßigt kritisch hinterfragen.11 Meine Studie macht es sich somit zur Aufgabe zu analysieren, wie genau sich das Verhältnis beider Flügel zueinander innerhalb der genannten Berufsdebatten beschreiben lässt. Meine heuristische Annahme ist, dass auch hier von fließenden und verschwimmenden Grenzen ausgegangen werden muss. Diese fluiden Grenzen – wie ich sie folgend nennen möchte – kamen insbesondere in ähnlichen Argumentationslinien zum Vorschein, die sich bei beiden Flügeln auf eine traditionelle Weiblichkeit im Sinne des »bürgerlichen Wertehimmels«12 und der sogenannten »Geistigen Mütterlichkeit«13 gründeten. Ebenso auf der Klassenebene schien die besonders von den Radikalen heraufbeschworene klassenlose Frauensolidarität in der Praxis fragil gewesen zu sein: Sie endete, wenn es um den Zugang zu bestimmten Berufsfeldern ging, welche die Frauenbewegung für Frauen ihrer eigenen Klasse einnehmen wollte.
Spätestens hier stellt sich die Frage, wie mit den zeitgenössischen Begriffen radikal und gemäßigt umgegangen werden soll, die von der älteren Forschung nahezu unreflektiert übernommen wurden und teilweise immer noch werden. Beide Begriffe müssen einer stärkeren Historisierung unterzogen und als Eigen- sowie Fremdbezeichnungen der ZeitgenossInnen – also als Quellensprache – verstanden werden. So bezeichneten sich die Gemäßigten eben nicht selbst als gemäßigt, sondern wurden von den Radikalen so tituliert. Es handelt sich also um Begrifflichkeiten, die sich durch Selbstbeschreibungen einerseits und Diffamierungen andererseits definierten. Allerdings fehlt es in Forschungskontexten an passendem Vokabular, um diese Problematik zufriedenstellend lösen zu können. Aus diesem Grund verwende ich beide Begriffe in Kursivschrift, um sich ihrer kritischen Reflexion stets zu vergegenwärtigen. Letztendlich ist die Unterscheidung, wie Gisela Bock plädiert, als eine analytische zu verstehen.14
Eine weitere Problemlage stellt sich im Umgang mit dem Begriff der »bürgerlichen« Frauenbewegung. So weisen Angelika Schaser und Gisela Bock auf seinen pejorativen Charakter hin, da er insbesondere aus den Reihen der Sozialdemokratie sowie von Frauenrechtlerinnen aus dem Kontext der Arbeiterklasse als Diffamie benutzt wurde und somit nicht als neutraler Begriff für gegenwärtige Forschungen übernommen werden könne.15Elisa Heinrich greift in ihrer jüngst erschienen Studie diese Problematik auf und schlägt in Anlehnung an Johanna Gehmacher und Marilyn J. Boxer die Bezeichnung »bürgerlich-liberal« vor, um zu verdeutlichen, dass der Begriff zwischen soziologischer Kategorie und politischer Orientierung transzendiert. So existierten – ähnlich wie zwischen Radikalen und Gemäßigten – auch zwischen bürgerlichen und sozialistischen Frauenrechtlerinnen Zusammenarbeiten und gemeinsam Ziele.16 Diese Kooperationen lassen sich auch in den von mir untersuchten Berufen ausmachen und traten insbesondere in der Debatte um den Beruf der Gefängnisbeamtin zu Tage. Dennoch bleibt trotz dieser Feststellungen und der plausiblen Begriffskritik zu fragen, wie sich die existente Vielstimmigkeit und Pluralität sozialer Bewegungen rhetorisch fassen lassen. In der vorliegenden Arbeit werde ich den Begriff der bürgerlichen Frauenbewegung benutzen. Ich erachte dieses Vorgehen als sinnvoll, um trotz aller Verflechtungen auch die politischen wie soziokulturellen Differenzen zwischen den Frauenbewegungen und ihrer Akteurinnen zu verdeutlichen. So verstanden sich die bürgerlichen Aktivistinnen ausdrücklich dem Bürgertum zugehörig – wie die Analysen der hier untersuchten Berufsdebatten deutlich zeigen werden.
Ein weiterer Fragenkomplex ergibt sich durch die Miteinbeziehung der räumlichen Perspektive und der Frage nach einem Stadt-Land-Gefälle. Erregte die bürgerliche Frauenbewegung in ländlichen und kleinstädtischen Reichsgebieten überhaupt Aufmerksamkeit? Hatten die Debatten über weibliche Berufstätigkeit – ähnlich wie in Metropolen und größeren Städten – praktische Nachwirkungen in Form von Gründungen spezifischer Vereine, Ausbildungseinrichtungen und dergleichen? Bei der Analyse dieser Fragen darf jedoch keineswegs von abgeschlossenen Räumen ausgegangen werden. Vielmehr geht es darum, frauenbewegte Verflechtungen zwischen den Großstädten des Kaiserreichs und ländlichen beziehungsweise kleinstädtisch geprägten Regionen nachzuspüren.
Des Weiteren sollen konfessionelle und generationelle Zusammenhänge berücksichtigt werden.17 Beide Parameter hatten Einflüsse auf das frauenbewegte Selbstverständnis, auf Programmatiken und Ideologien: Welche Rolle spielten welche Generationen der frauenbewegten AkteurInnen in ihrer Positionierung innerhalb der Diskurse? In diesem Sinn sollen die Biografien der einzelnen AkteurInnen nachdrücklich berücksichtigt werden. Gab es eklatante Parallelen in den Viten von Akteurinnen einer gemeinsamen Generation? Demnach gilt es nach einem spezifisch frauenbewegten biografischen Setting zu fragen. Vor diesem Hintergrund sollen zudem verstärkt frauenbewegte Aktivistinnen sichtbar gemacht werden, die von der Forschung bisher nahezu unberücksichtigt blieben und nicht unmittelbar zur Führungsriege der Frauenbewegung zählten, im Organisationsgeflecht jedoch wichtige Ämter bekleideten und zentrale Aufgaben hatten.
Im Laufe der Untersuchung wird immer wieder von Löhnen und Verdienstmodalitäten der bürgerlichen Frauenberufe die Rede sein, indem die Höhe der Gehälter rekonstruiert und diese in Relation zu den durchschnittlichen Einkommensverhältnissen der Arbeiterklasse gesetzt wird. An dieser Stelle sei bereits angemerkt, dass die Verdienste der bürgerlichen Frauenberufe, die im Vergleich mit Löhnen proletarischer Berufe auf den ersten Blick recht gering ausfielen, in der Gesamtbetrachtung durchaus eine ökonomische Sicherheit für bürgerliche Frauen bieten konnte.18
Die vorliegende Untersuchung versteht sich als Beitrag zur Frauen- und Geschlechtergeschichte ebenso wie zur Geschichte sozialer Bewegungen im Allgemeinen und der Frauenbewegung im wilhelminischen Kaiserreich im Speziellen. Die Dissertation stellt zudem einen Beitrag zur Erforschung weiblicher Berufstätigkeit sowie den damit verflochtenen gesellschaftlichen Klassen- und Geschlechterfragen um 1900 dar. Damit einhergehend soll meine Studie einen wichtigen Anschlusspunkt zur Erforschung der Transformationsprozesse des 19. Jahrhunderts liefern sowie Erklärungen für das Verständnis bis heute existenter Klassen- und Geschlechterhierarchien eröffnen. Mit meiner Ausgangsbeobachtung der gegenseitigen Wechselwirkung von Inklusion und Exklusion, die ich am Beispiel frauenbewegter Berufskämpfe analysiere und sichtbar mache, knüpfe ich an die gegenwärtigen Forschungsdebatten und Forschungsperspektiven zum Deutschen Kaiserreich an, in denen dezidiert auf eben jene pluralistischen Ausdrucksformen in der wilhelminischen Politik und Gesellschaft verwiesen wird.19 Dies jedoch als eine Form der Demokratisierung des Kaiserreichs zu verstehen, greift meines Erachtens zu weit und verkennt die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit der polaren Geschlechterordnung, die das 19. Jahrhundert sowie die Zeit darüber hinaus maßgebend prägte und bis heute fortwirkt. Das Engagement der bürgerlichen Frauenbewegung änderte weder Geschlechter- und Klassenhierarchien, noch stellten eine Vielzahl der frauenbewegten AkteurInnen die binären Rollen- und Charakterzuschreibungen der Geschlechter infrage. Die von der Frauenbewegung mehrheitlich vorgebrachte Argumentation der Geschlechter- und Klassendifferenz, mit welcher die Schaffung bürgerlich-weibliche Handlungsräume gerechtfertigt wurde, bekräftigte letztendlich die Polarisierung der Geschlechter sowie den Ausschluss proletarischer Frauen von weiblicher Partizipation.
Forciert durch die sogenannte Zweite Frauenbewegung ihre eigene Geschichte zu erforschen sowie angeregt durch Forschungsimpulse aus dem angelsächsischen Raum, entstanden seit den späten 1970er Jahren organisationsgeschichtliche Überblickswerke zur bürgerlichen Frauenbewegung des langen 19. Jahrhunderts.20 Einhergehend mit der Etablierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte als Disziplin der Geschichtswissenschaft sowie durch kulturwissenschaftliche, soziologische und politologische Untersuchungen gewann auch die Frauenbewegungsforschung wichtige Impulse. Gezielt ging es nunmehr darum, spezielle Themenbereiche in den Blick zu nehmen an denen die Frauenbewegung partizipierte, wodurch sich eine frauenbewegte Agenda rekonstruieren ließ: Zum großen Thema der weiblichen Berufstätigkeit, welche die Frauenbewegung zu einem ihrer zentralen Anliegen erklärte, entstanden eine Reihe wichtiger Studien, die sich primär mit den für das bürgerliche 19. Jahrhundert als »typisch weiblich« geltenden Berufen befassten. Hierzu zählten besonders die Tätigkeiten von Frauen in Sozialberufen sowie im pädagogischen Bildungswesen.21 In diesem Kontext wurde auch das Konzept der »Geistigen Mütterlichkeit« als frauenbewegte Strategie für die beruflichen Etablierung sozialer Arbeitsfelder definiert, wie die einschlägigen Studien von Iris Schröder, Ann Taylor Allen, Irene Stoehr, Christoph Sachße und Dietlinde Peters zeigen.22 Dass jedoch auch handwerkliche, technische und kunstgewerbliche Berufe mithilfe des Mütterlichkeits-Topos von der Frauenbewegung als adäquate Frauenberufe stilisiert wurden, ist bisher wenig erforscht. Erste Ansätze, auch zeitgenössisch als Männerberufe definierte Arbeitsgebiete sowie den Kampf der Frauen um den Zugang zu Universitäten mit einzubeziehen, liefern die wichtige Untersuchungen von Claudia Huerkamp, Gudrun Kling, Ursula Nienhaus, Dirk Göttig, Edith Glaser und Brigitte Kerchner.23 Weitere Bereicherung erhielt die Frauenbewegungsforschung durch eine Vielzahl einschlägiger Regionalstudien zum dortigen Wirken und Agieren frauenbewegter AkteurInnen.24 Hier lag der Fokus allerdings vorrangig auf größeren Städten und Metropolen des Kaiserreichs, so dass die Erforschung frauenbewegter Spuren in kleinstädtischen oder gar ländlichen Regionen nach wie vor ein Desiderat darstellt.25 Dass die Frauenbewegung jedoch im Ländlichen wie in randstädtischen Gebieten durchaus eine gewisse, freilich noch genauer zu untersuchende, Präsenz besaß, darf mit einem Blick in Archivdatenbanken kleinstädtischer Kommunen als zweifellos vorhanden konstatiert werden.
Ein weiterer Zugang, sich der Frauenbewegung zu nähern, bietet die Methodik der biografischen Forschung.26 Dieser Ansatz erweist sich gerade für die Untersuchung sozialer Bewegungen als recht ertragreich, da diese unmittelbar durch das Handeln, Denken und Agieren ihrer involvierten AkteurInnen bestimmt sind. Auch im Rahmen dieser Studie, werden biografische Zugänge immer wieder herangezogen, um historische Zusammenhänge und frauenbewegte Verflechtungen zu analysieren. Durch diese akteurszentrierte Perspektive gerät somit eine Vielzahl von Frauen in das Blickfeld, die in verschiedenen Beziehungsnetzen mit der Frauenbewegung verbunden waren.27 Hierbei werden nicht nur die überregional bekannten AktivistInnen der Frauenbewegung ins Zentrum des Geschehens gerückt, sondern gezielt nahezu bis gänzlich unbekannte AkteurInnen sichtbar gemacht.28 Trotz ihres vielfältigen sozialen und emanzipatorischen Engagements darf nicht verkannt werden, dass die Frauenbewegung auch von nationalistischen und kolonialen Ideen geprägt war. Dieser lange Zeit wenig beachtete Aspekt fand erst um 2000 in der Geschlechtergeschichte vermehrt Eingang.29 Dennoch ist insbesondere das Verhältnis der Frauenbewegung zum deutschen Kolonialismus bisher nicht ausreichend erforscht, obgleich die koloniale Frage in der Frauenbewegung deutlich präsent war. Signifikant ist beispielsweise die Rolle Hedwig Heyls (1850–1934), von der in dieser Untersuchung noch vermehrt gesprochen werden wird. Als Gründerin des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft (FDKG) trug Heyl maßgeblich zur Verfestigung kolonialer Strukturen innerhalb frauenbewegter Kreise bei. An diese Forschungsperspektive anschließend zeigt meine Studie, dass koloniale, rassistische und nationalistische Strukturen in frauenbewegten Berufsfeldern evident waren.
Die Bereicherung der Frauenbewegungsgeschichte durch einschlägige Untersuchungen der jüngsten Zeit haben dazu geführt, dass das interne frauenbewegte Organisationsgeflecht aus einem erweiterten Blickwinkel gedacht werden muss. Wie bereits erwähnt, kann nicht mehr länger von einer starren Trennung und Grenzziehung zwischen dem radikalen und dem gemäßigten Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung ausgegangen werden.30 Mehr und mehr kristallisiert sich heraus, dass es durchaus ideologische Überschneidungen, Zusammenarbeiten und Durchlässigkeiten jener Grenzen gab. Allerdings – erst jüngst wies Sylvia Schraut auf diese Forschungslücke hin31 – fehlen dezidierte Studien, welche an gezielten Fallbeispielen die Fragilität der Grenzziehungen in den Blick nehmen und insbesondere nach Gemeinsamkeiten fragen. Einen wichtigen Beitrag, dieses Desiderat zu erforschen, legte Anne-Laure Briatte mit ihrer Dissertationsschrift über den radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung vor.32 Entlang der Analyse verschiedener Themenfelder, personeller Verflechtungen und politischer Zielsetzungsstrategien rekonstruiert Briatte ein eng verwobenes frauenbewegtes Beziehungsnetzwerk, welches durch Annährungen und Abgrenzungen ebenso wie durch Konflikte und Kooperationen geprägt war, und resümiert, dass die Vorstellung einer Fundamentalopposition zwischen Radikalen und Gemäßigten nicht aufrechterhalten werden kann.
Die Ordnungskategorien Geschlecht und Klasse sind in ihrer Eigenständigkeit sowie in ihren Verflechtungen zueinander für das 19. Jahrhundert durch einschlägige Untersuchungen der Sozialgeschichte und besonders im Rahmen der Bürgertumsforschung aufgearbeitet worden.33 Die Analyse der Wechselwirkungen von Klasse und Geschlecht im Kontext der Frauenbewegung erfährt gegenwärtig unter einem politischen, sozialen und rechtlichen Betrachtungswinkel eine verstärkte Resonanz.34 Ebenso spielen, bereichert durch Intersektionalitätsansätze, Verflechtungen mit der Kategorie Race eine nicht minder strukturierende Rolle.35 Die Triade von Class, Gender und Race als intersektionale Analyseperspektive ermöglicht für den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit gewissermaßen eine Re-Inspektion der europäischen Moderne im Hinblick auf die Entfaltung von spezifisch bürgerlichen Formen von Macht und Herrschaft.36
An den bisherigen Forschungsstand über die bürgerliche Frauenbewegung schließt meine vorliegende Untersuchung an und greift auf mehreren Ebenen ein Forschungsdesiderat auf. So liegt der Beitrag meiner Studie erstens darin, die Verhandlungen über Geschlechterfragen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Debatten über Klassenfragen zu untersuchen. Zweitens betritt das Projekt Neuland in der Erforschung »neuer« Berufsfelder für bürgerliche Frauen. Hiermit gilt es zu zeigen, dass das Konzept der »Geistigen Mütterlichkeit« nicht nur in sozialen und pädagogischen Berufen Anwendung fand, sondern ebenso auf handwerkliche, technische und kunstgewerbliche Berufe übertragen wurde. Drittens wird mit der Frage nach den Grenzziehungen zwischen radikalem und gemäßigtem Flügel eine erweiterte Perspektive in Bezug auf die Organisationsgeschichte und das Selbstverständnis der bürgerlichen Frauenbewegung geworfen. Viertens ist die Untersuchung insofern innovativ, als dass den Parametern des geografischen Raums sowie des biografischen Backgrounds einzelner frauenbewegter AkteurInnen eine größere Bedeutung zugemessen wird. Das hierbei bisher nahezu unbekannte frauenbewegte AktivistInnen sichtbar gemacht werden, ist ein weiterer innovativer Aspekt meiner Untersuchung.
Der Untersuchung liegt verschiedenartiges Quellenmaterial37 zugrunde, welches sich aus Bewegungszeitschriften der bürgerlich-gemäßigten, der bürgerlich-radikalen sowie vereinzelt der proletarischen Frauenbewegung zusammensetzt.38 Bewegungszeitschriften stellten um 1900 eine der wichtigsten Meinungsplattformen der Frauenbewegung dar.39 Zudem war die Frauenbewegung damit beschäftigt, Broschüren und Schriften zu vielerlei Themen zu veröffentlichen. Weitere ertragreiche Quellen stellen Vereinsblätter, Verbandsnachrichten, Werbemaßnahmen und Petitionen dar.40 Aber nicht nur in ihren direkten Presseorganen meldeten sich die AkteurInnen der Frauenbewegung zu Wort. Mit dem Blick der zu untersuchenden Diskurse erweist sich die zeitgenössische Fachpresse von Gartenbauzeitschriften,41 strafrechtlicher Publizistik,42 Fotografiejournalen43 sowie Lehrerinnen- und Hauswirtschaftszeitschriften44 als sehr ertragreich, da die Diskurse hiermit in ihren gesamten Meinungsspektren ausgeleuchtet werden können. Sprich, in der Fachpresse meldeten sich VertreterInnen aus jeder der involvierten Diskursgruppen mit Artikeln, Leserbriefen und Repliken zu Wort. In den Gartenbauzeitschriften schrieben sowohl Gärtner als auch Gärtnerinnen, GartenbaulehrerInnen, ehemalige Schülerinnen der weiblichen Gartenbauschulen sowie männliche Fachexperten des Gartenbaus, die nicht selten akademische Laufbahnen hatten und im staatlichen Dienst tätig waren. Die Fotografiejournale boten FotografInnen, AtelierinhaberInnen sowie Personen aus dem Kunstgewerbe eine Plattform des Austausches. In den pädagogischen Fachzeitschriften der Lehrerinnenvereine äußerten sich Lehrerinnen, ebenso wie männliche Lehrer sowie Mitglieder verschiedener Hauswirtschaftsvereine. Die sogenannten Gefängnisblätter waren indes vorrangig ein Kommunikationsmedium männlicher Fachkundiger des Gefängniswesens, wie Strafanstaltsleiter, Juristen und Gefängnisseelsorger. Frauen schrieben über den weiblichen Gefängnisdienst in den Periodika der Frauenbewegung. Allerdings, und diese Beobachtung zeigt sich nicht nur im Kontext des Gefängniswesens, wussten die DiskursteilnehmerInnen in der Regel sehr genau, was die jeweils andere Seite publizierte. Kurzum: Man rezipierte sich gegenseitig. Um in der Debatte über den weiblichen Gefängnisdienst Frauen sichtbar zu machen, die in Strafanstalten arbeiteten und nicht nur als Außenstehende über den weiblichen Gefängnisdienst schrieben, wurden diverse Personalakten weiblicher Bediensteter, die unterschiedliche Berufspositionen bekleideten, ausgewertet.45 Überdies wurden gedruckte und publizierte Erinnerungen ehemaliger Gefängnisinsassinnen untersucht.46
Die institutionellen Ursprünge der weiblichen Berufsfotografie sind unmittelbar mit dem auch heute noch existierenden Berliner Lette Verein47 verbunden. Dieser avancierte im 19. Jahrhundert zu einer der zentralen Berufsbildungseinrichtungen für bürgerliche Frauen, die dort erstmals den Beruf der Fotografin erlernen konnten. Anhand von Quellenmaterial bestehend aus Jahresberichten, Korrespondenzen, Unterrichtsstatuten sowie hand- und maschinenschriftlichen Dokumenten des Lehrpersonals wie der Schülerschaft, die im Hausarchiv des Lette Vereins verwahrt werden, sollen die institutionellen Rahmungen des Berufs rekonstruiert sowie ein Blick auf die Beziehungsnetze zwischen den Lehrkräften, der Schülerschaft und der Schule geworfen werden.
Die Geschichte der ersten Gartenbauschule, die 1894 von Elvira Castner (1844–1923) gegründet wurde, lässt sich nur ansatzweise mit archivalischen Quellen rekonstruieren. Für die Zeit bis zum Ende des Ersten Weltkriegs existieren – soweit bekannt – keine Archivbestände, umso zahlreicher jedoch gedruckte und publizierte Schriften, in denen Castner als Autorin auftritt und die Rahmenbedingungen ihrer Schule darlegt. Erst als Anfang der 1920er Jahre das Fortbestehen der Schule bedroht war und diese letztendlich schließen musste, wurde durch den neuen Eigentümer, das staatliche Berliner Provinzialschulkollegium, Schriftmaterial archiviert, mittels sich besonders die letzten Jahre des Schulbetriebs rekonstruieren lassen.
Mit dem Anspruch der vorliegenden Untersuchung bisher nahezu bis gänzlich unbekannte AkteurInnen der Frauenbewegung sichtbar zu machen sowie nach frauenbewegten Wirkungskreisen in ländlichen und kleinstädtischen Regionen zu fragen, galt es, Archivmaterial verschiedener Provenienz (lokale Zeitungsberichte und -ausschnitte, Kommissionsberichte, Ego-Dokumente) miteinander zu verflechten. Hierzu wurde Quellenmaterial aus dem Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel (AddF), dem Helene-Lange-Archiv in Berlin sowie dem Stadtarchiv Einbeck48 herangezogen.49
Ebenfalls fließen Bildquellen in die Untersuchung ein. Zum einen sind dies gedruckte Karikaturen, die um 1900 zuhauf in Gartenbauzeitschriften zirkulierten und den Beruf der Gärtnerin thematisieren, zum anderen diverse Fotografien und Fotopostkarten aus Archivbeständen, die visuelle Einblicke in den Arbeitsalltag des Gärtnerinnen- und Fotografinnenberufs geben.
Weitere Quellen für die vorliegende Untersuchung stellen einschlägige Berufsratgeber dar, die insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts zahlreich erschienen und sich als Leitfäden gezielt an Mädchen und Frauen des Bürgertums richteten. Die Verfasserinnen kamen häufig aus der Frauenbewegung. Gleichfalls schrieben einige Männer, die der Frauenberufsfrage positiv und unterstützend gegenüberstanden.50
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Autorenschaft bei einer Vielzahl der Artikel und Veröffentlichungen nur durch die Initialen der Verfassenden gekennzeichnet ist. Einige der Publikationen erfolgten bisweilen unter gänzlicher Anonymität. Die VerfasserInnen schrieben sich mit diesen unterschiedlichen Handhabungen in einen zeitgenössischen Diskurs ein, in dem über die Vor- und Nachteile der einzelnen Varianten diskutiert wurde. Auch in der Frauenbewegung wurde darüber debattiert. So kam es beispielsweise zwischen Anita Augspurg (1857–1943)51 und Ika Freudenberg (1858–1912)52 gar zu einer schriftlichen Diskussion, in der Freudenberg den vermehrten Gebrauch der anonymen Publikationsform kritisierte, woraufhin Augspurg diese Praxis rechtfertigte und darauf verwies, dass es »in der guten Presse aller Länder als Auszeichnung« verstanden werde, »ohne Namensnennung […] unter eigener Verantwortung« zu veröffentlichen.53 Dies gewähre eine »Garantie für Sachlichkeit.«54
Die vorliegende Untersuchung erfolgt unter einem diskursanalytischen Blickwinkel, in welchem sich geschlechter- und sozialgeschichtliche Zugänge miteinander verflechten.55 In diesem Kontext werden die Debatten über weibliche Berufstätigkeit als diskursive Räume verstanden, in denen hierarchische Geschlechterkonstruktionen, weibliche Partizipationsbestrebungen und klassendistinktive Abgrenzungsmechanismen verhandelt werden. Die Diskursanalyse bietet eine fundierte Basis, die Ordnungskategorien Geschlecht und Klasse in ihren normativen Vorstellungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums sichtbar zu machen. Für mein Forschungsprojekt bedeutet das, bürgerliche Geschlechtsnormierungen und klassenkonstitutive wie klassendistinktive Vorstellungen als soziokulturell festgelegt zu verstehen. Durch die enge Verzahnung dieser Kategorien lassen sich die daraus resultierenden Machtstrukturen und damit einhergehende Inklusions- und Exklusionsprozesse offenlegen. Dieses Vorgehen soll in Anlehnung an die diskursanalytischen Theorien Michel Foucaults geschehen, die mit den Überlegungen Pierre Bourdieus in ergänzenden Zusammenhang gebracht werden.
Zentral für die foucaultsche Diskursanalyse ist der Begriff des Dispositivs. Dieser ermöglicht es, sowohl diskursive als auch nicht-diskursive Praktiken nebeneinander zu betrachten.56 Unter Diskursen beziehungsweise diskursiven Praktiken fasst Foucault sozial konstruierte Realitätsauffassungen, Normen und Aussagen während eines bestimmten Zeitraums, die sowohl durch Texte und Bilder, aber auch durch Gegenstände generiert werden können. In meiner Untersuchung verstehe ich die Genese sowohl von Diskursen wie von sozialen Orten auf der Grundlage von Dispositiven. Die Bedeutung von Diskursen und sozialen Orten ist zudem eng mit den Begriffen von Macht und Herrschaft verknüpft: Diskursanalysen setzen immer Machtanalysen voraus, da Diskurse durch Macht strukturiert werden und Macht sich über Diskurse legitimiert.57 Das heißt erstens, der Garten, das Fotoatelier, die Strafanstalt und die Haushaltungsschule werden als Räume verstanden, in denen Geschlechterhierarchien, Zuständigkeitsbereiche und Klassenordnungen ausgehandelt werden. In diese Räume und in diese Prozesse wirken soziale Praktiken sowie Vorstellungen und Erfahrungen hinein, die sich in den Argumentationsstrukturen der DiskursteilnehmerInnen manifestieren. Zweitens verändern die von der Frauenbewegung angestoßenen Diskurse dieses Dispositiv und somit ebenfalls die sozialen Orte. In diesem Kontext erscheinen zudem die Überlegungen Pierre Bourdieus – auch wenn diese nicht historisch orientiert sind – über die Konstitution gesellschaftlicher Realitäten als ertragreich.58 Besonders vor dem Hintergrund meiner Leitfrage nach der Verflechtung von Klasse und Geschlecht, erweist sich Bourdieus Theorie des sozialen Feldes beziehungsweise des sozialen Raums als eine konstruktive Methode, um die Verzahnung beider Kategorien methodologisch verorten zu können. So versteht Bourdieu Gesellschaft als einen mehrdimensionalen Raum, dem unterschiedliche Verteilungsprinzipien zugrunde liegen. In diesem Raum bewegen sich verschiedene AkteurInnen und Akteursgruppen, die zueinander in Beziehung stehen. Hierbei bringt das sich gegenseitig bedingende Verhältnis von AkteurInnen und sozialem Raum die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit hervor. In diesen Prozess sind die AkteurInnen als handelnde Subjekte involviert und reproduzieren soziale Wahrnehmungsmuster.59 Maßgeblich beeinflusst wird dieser Prozess durch das Konzept des Habitus, unter welchem Denk- und Handlungsschemata zu verstehen sind, die den sozialen Raum strukturieren und somit Praxisformen der gesellschaftlichen Realität repräsentieren.60 Ähnlich wie Foucault geht Bourdieu somit von einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit und ihren Wissensordnungen aus. Diese Wissensordnungen sind wiederum durch leitende Instanzen beziehungsweise AkteurInnen bestimmt, die die soziale Konstruktion der Gesellschaft festlegen. Diesem Vorgang immanent verflochten ist der Kampf um Macht, welche den Erhalt oder die Veränderung dieser Wahrnehmungskategorien und Wissensordnungen bestimmt.61 Das bedeutet: Macht ist allgegenwärtig;62 Macht klassifiziert den sozialen Raum, bringt dabei Grenzziehungen wie Differenzierungen hervor63 und konstruiert Dichotomien.64 Vor diesem Hintergrund konstituieren und perpetuieren sich Herrschafts- und Machtverhältnisse im sozialen Raum. Bourdieu bezeichnet diese Herrschaftsmechanismen als symbolische Herrschaft oder symbolische Gewalt, die mit dem Alltäglichen und Unbewussten operieren, sprich mit den Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata der AkteurInnen.65 Diese theoretische Rahmung aus Bourdieus Sozialraum-Theorie und Foucaults Historischer Diskursanalyse ermöglicht es, zum einen klassenspezifische Grenzziehungen und zum anderen geschlechterspezifische Dichotomien in ihren diskursiven Zusammenhängen zu analysieren, Inklusions-, Exklusions- und Machtbildungsprozesse sichtbar zu machen sowie Schlussfolgerungen über gesellschaftliche Normvorstellungen und deren historische Realitäten zu ziehen.
Überdies nimmt mein Projekt eine akteursfokussierte Perspektive ein, wobei ich die bürgerliche Frauenbewegung und ihre AktivistInnen – in Anlehnung an die Definition Joachim Raschkes über soziale Bewegungen – als handlungsleitende AkteurInnen des Diskurses verstehe: »Soziale Bewegungen sind bewußte kollektive Anstrengungen zur strukturellen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie umfaßen einen Prozeß, der von strukturell verursachter Unzufriedenheit von Großgruppen zu kollektiven Aktionen führt […].«66 Demnach sind AkteurInnen, gleich welcher Bewegung sie sich verschrieben haben, in ihrem Engagement durch den Gebrauch spezifischer, für das jeweilige Unterfangen als sinnvoll erachtete, Handlungsweisen gekennzeichnet.67 Raschke benutzt in seiner Definition hier den Begriff der Aktionsstrategie, mit Hilfe derer die Bewegung versucht, »die begrenzten Ressourcen am wirkungsvollsten zielbezogen gegenüber […] den Kontrollinstanzen zur Geltung [zu bringen].«68 Ich halte diese Bezeichnung für die Praktiken der Frauenbewegung für treffend, möchte aber zudem den politischen Nexus der frauenbewegten Strategien und Handlungsweisen betonen. Denn, wie in der Untersuchung deutlich werden wird, verknüpften sich frauenbewegtes Engagement und politische Interventionen aufs Engste.69 Diese Dynamiken führen unmittelbar zu dem Umkehrschluss, die frauenbewegten AkteurInnen als handelnde Subjekte der Geschichte und nicht als Objekte der Gesellschaft zu betrachten.70 In diesem Sinn sollen die Aktionsstrategien der Frauenbewegung als bewusste Methoden und Handlungen verstanden werden, um die Position bürgerlicher Frauen in der männlichen Berufswelt auszuloten sowie ihre Stellung klassenselektiv verorten zu können. Anders formuliert: In meiner Studie werden Aktionsstrategien erstens als bewusste Handlungen und Mittel betrachtet, um frauenbewegte Ziele zu erreichen. Zweitens werden Aktionsstrategien als wirkmächtig für die eigene Bewegungsorganisation erachtet, indem durch ihre praktische und theoretische Anwendung die internen Grenzziehungen zwischen radikalem und gemäßigtem Flügel strukturiert und hierbei Kollektive und Kontroversen sowie Abgrenzungen und Annährungen aufgedeckt werden. Der Gebrauch strategischer Mittel ist wiederum an die jeweilig ausführende Person beziehungsweise an eine Institution gebunden, wie zum Beispiel an frauenbewegte (Berufs-)Vereine, Kommissionen und ähnliches. Das führt dazu, einen Blick auf die biografischen Hintergründe jener ProtagonistInnen zu werfen, die sich in das diskursive Geschehen einschrieben. Konkret bedeutet das, dass die Analyse der Debatten ergänzt werden soll. Erstens durch biografische Daten einzelner DiskursteilnehmerInnen im großstädtischen Raum, wie Berlin, Frankfurt, Hamburg oder München und zweitens durch die Erweiterung des Blickes auf frauenbewegte AkteurInnen im ländlichen und kleinstädtischen Milieu. Ähnlich gilt es, wie bereits erwähnt, Frauen in den Fokus zu rücken, die hinter den »großen Frauen« der Frauenbewegung in ihrer Bedeutung und Sichtbarmachung bisher nicht berücksichtigt worden sind. Überdies gilt es, Verschränkungen und Verflechtungen zu zeitgleich existierenden Diskursen aufzudecken.71 Meine Untersuchung begreift den Diskurs über weibliche Berufstätigkeit als System und Raum, in denen hierarchische Vorstellungen von Männlichkeit, Weiblichkeit und Klasse um 1900 verhandelt, konstruiert, verfestigt, aber bisweilen auch infrage gestellt wurden.
Die Untersuchung gliedert sich in acht Kapitel. Der Einleitung (Kapitel 1) folgend, befasst sich Kapitel 2 mit der Entstehung, Entwicklung und Konstituierung der bürgerlichen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert. Hierbei soll die interne Organisation der Frauenbewegung beschrieben sowie ein besonderes Augenmerk auf die Separierung in den radikalen und gemäßigten Flügel gelegt werden. Weibliche Berufstätigkeit avancierte zu einem der wichtigsten Punkte auf der frauenbewegten Agenda und begründete sich auf dem Konzept der »Geistigen Mütterlichkeit«, welches beschrieben wird. Die folgenden Kapitel untersuchen exemplarisch Debatten über ausgewählte Berufsmöglichkeiten, die von der Frauenbewegung forciert wurden. So nimmt Kapitel 3 die Diskussion über den Beruf der Gärtnerin in den Blick. Am Beispiel der Gründung der ersten Gartenbauschule für bürgerliche Frauen in Marienfelde bei Berlin 1894 werden Inhalte, Netzwerke, Strukturen und Relevanzen des Gärtnerinnenberufs beschrieben, um dann den Diskurs über die zeitgenössisch sogenannte »Gärtnerinnenfrage« zu analysieren, der in einer eklatant antifeministischen Hochphase gipfelte. Kapitel 4 widmet sich der Debatte über den Fotografinnenberuf, für dessen Etablierung die Photographische Lehranstalt des Berliner Lette-Vereins unter der Ägide von Marie Kundt (1870–1932) maßgebende und richtungsweisende Bedeutung erlangte. Innerhalb der Fotografie bildeten sich sodann verschiedene Arbeitsbereiche und Berufsbefähigungen heraus, die sowohl geschlechterspezifisch als auch klassenkonnotiert waren und in ihren vermeintlichen Beweisgründen eingehend beschrieben werden. Kapitel 5 nimmt die Diskussion über das Erwerbsfeld der Gefängnisbeamtin zwischen sozialer Arbeit, Klassen- und Geschlechterfragen in den Blick. Nach einem einführenden historischen Abriss über das Frauenstrafvollzugswesen im 19. Jahrhundert geht es darum, frauenbewegte Argumentationslinien nachzuzeichnen, die mit der Begründung auf vermeintlich spezifisch weibliche Eigenschaften und auf einen Mütterlichkeits-Topos rekurrierend, die besondere Eignung bürgerlicher Frauen für die Tätigkeit im Strafvollzug bekräftigen sollten. In diesem Kontext zeigte sich ein ausgeprägtes bürgerliches Klassendenken, indem die vermeintlich sittenlosen proletarischen Inhaftierten durch die Arbeit bürgerlicher Gefängnisbeamtinnen sozialisiert werden sollten. Im Zuge dieser Diskussion wurde der weibliche Gefängnisdienst zu einem wichtigen Aktionsfeld der bürgerlichen Frauenbewegung: Petitionen, Kommissionsgründungen und staatliche Interventionen, die detailliert analysiert werden, wurden hierbei ins Feld geführt. Kapitel 6 beleuchtet die Berufsdebatte über die Haushaltungslehrerin und ihre Verflechtung mit der zeitgenössisch so genannten »Alkoholfrage«. Vor diesem Hintergrund soll einführend der Hauswirtschaftsunterricht in den allgemeinen Fächerkanon schulischer Bildungseinrichtungen verortet werden. Haushaltungslehrerinnen hatten hier im Vergleich mit Lehrerinnen für wissenschaftliche Fächer eine marginalisierte Stellung, derer sie sich selbst bewusst waren. Mit der Partizipation an der Diskussion über die »Alkoholfrage« und der Forderung nach alkoholpräventiven Inhalten des Schulunterrichts, soll diese Berufsdebatte vor dem Hintergrund analysiert werden, dass Berufskämpfe nicht nur zwischen Männern und Frauen stattfanden, sondern dass es ebenso interne Hierarchisierungskämpfe unter berufstätigen Frauen gab. Die Frauenbewegung war in diese Debatte maßgeblich involviert und die frauenbewegte Presse fungierte nicht minder als zentraler Aushandlungsort. Jedes dieser vier Berufskapitel verfügt zudem über ein Teilkapitel, welches das Zusammenwirken des radikalen und gemäßigten Flügels im Rahmen der Debatten über die jeweiligen Berufsfelder untersucht. Kapitel 7 fasst die Ergebnisse zusammen.
Mit ihrem Engagement partizipierte die Frauenbewegung an der zeitgenössisch sogenannten »Frauenfrage«, die den öffentlichen Diskurs über die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Gleichberechtigung der Geschlechter bezeichnete.72 Die Themenfelder der frauenbewegten Agenda erstreckten sich hierbei von Fragen, die Sexualität, Sittlichkeit, Liebe und Mutterschaft betrafen, über verschiedene Varianten des geforderten Frauenstimmrechts, berufliche Professionalisierung und persönliche Unabhängigkeit bis zu Fragen der nationalen und internationalen Selbstverortung. Neben der bürgerlichen Frauenbewegung, die den bedeutendsten Zusammenschluss organisierter Frauen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts darstellte, existierten weitere Vereine und Gruppierungen, die sich für Frauenbelange einsetzten und die Verbesserung weiblicher Lebensperspektiven ins Zentrum ihrer Aktivitäten rückten. So formierte sich, nachdem die Sozialistengesetze im Reichstag 1890 nicht verlängert wurden, die proletarische Frauenbewegung. Diese verstand sich allerdings nicht als organisatorische Bewegung im feministischen Sinn, sondern als weiblicher Part der Arbeiterbewegung. Entsprechend lag ihr Hauptziel in der ökonomischen Besserstellung der Arbeiterinnen sowie in einer Modifikation der Schutzmaßnahmen, die besonders die Tätigkeiten von Frauen in den Fabriken betrafen.
Einen exakten Zeitpunkt bestimmen zu wollen, wann die deutsche Frauenbewegung das gesellschaftliche Parkett betrat, ist vor dem Hintergrund ihrer fluiden Geschichte schwierig. Als erstes Ereignis, das wichtige Denkanstöße für die europäische und somit für die deutsche Organisation in sich trug, ist die Französische Revolution von 1789 zu verstehen. Erstmals trat eine Frau, Olympe de Gouges (1748–1793), mit ihrer Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin (1791) öffentlich für die Verbesserung weiblicher Rechte ein – ein politischer Akt, den sie mit ihrer Hinrichtung bezahlte. Zu dieser Zeit florierte bereits das Presse- und Nachrichtenwesen, welches über die Ereignisse aus Frankreich in ganz Europa berichtete. Die deutschen Frauen hielten sich jedoch mit frauenrechtlerischer Agitation und entsprechenden Zusammenschlüssen zurück. Abgesehen von patriotischen und karitativen Frauenvereinen, die sich im Zuge der Napoleonischen Kriege gründeten und in denen Frauen erstmals Organisationserfahrungen sammelten, wurden erst im Vormärz und in der Revolution von 1848/49 öffentliche Forderungen nach einer geschlechtlichen Gleichberechtigung laut.73 Die Aufbruchsstimmung am Vorabend der Revolution erfasste nicht nur die bereits in der Öffentlichkeit stehenden Männer, sondern auch Frauenstimmen thematisierten die ihre eigene untergeordnete Stellung,74 deren Kern von vielen in einer unzureichenden Mädchenbildung gesehen wurde. »Frauen der Feder«75 wie Ida Hahn-Hahn (1805–1880), Luise Dittmar (1807–1884), Mathilde Franziska Anneke (1817–1884) oder Louise Otto-Peters (1819–1895) polemisierten über die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen der Geschlechter, die auf eine soziale, politische und bildungsrelevante Ungleichheit abzielten. Eine dieser Frauen – Louise Otto (durch ihre Heirat 1858 Otto-Peters) – sollte dabei zu einer der wichtigsten Protagonistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung werden.76 Nach dem Scheitern der Revolution 1849, dem Einstellen ihrer Frauen-Zeitung Dem Reich der Frau werb‹ ich Bürgerinnen sowie dem Erlass des Preußischen Vereinsgesetzes 1850, das Frauen die Mitwirkung in politischen Vereinen und Versammlungen verbot, zog sich Otto-Peters ins Private zurück – ohne dabei ihren Zukunftsglauben auf ein weibliches Mitspracherecht aufzugeben.77
Trotz der Niederschlagung der Revolution und des Erstarkens konservativer Kräfte setzten ab den 1860er Jahren – nicht zuletzt durch die Amnestie der Revolutionsbeteiligten – liberalere Strömungen ein. Zeitgleich trat die »Frauenfrage« auf den Plan, die sich zuvorderst als eine Berufsfrage stellte. Bedingt durch die sich beschleunigende Industrialisierung veränderte sich die Berufswelt, so dass insbesondere Ehefrauen von Handwerkern und Arbeitern sowie Frauen aus den städtischen Unterschichten nunmehr zu einem großen Teil gezwungen waren, einer außerhäuslichen Erwerbsarbeit nachzugehen. Die ländliche Arbeitswelt war von diesen Umwälzungen indes weniger betroffen: Hier waren Frauen von jeher in verschiedene Arbeitsprozesse eingebunden, da sich die Eheleute der ländlichen Gesellschaft als Arbeitspaar konzipierten, deren geschlechterspezifisch zugeteilte Tätigkeiten und Arbeitsbereiche in ihrem letztendlichen Funktionieren voneinander abhängig waren.78 Von den Veränderungen der städtischen Berufswelt waren in erster Linie bürgerliche Frauen betroffen. Vorrangig ledige Frauen und unversorgte Witwen, die in der Vergangenheit in einen generationsübergreifenden Familien- und Arbeitshaushalt integriert waren, fanden mit dem Wegfall vieler Arbeitsprozesse im Innerhäuslichen, die unter anderem der Selbstversorgung dienten, keine Beschäftigung mehr und waren nunmehr gezwungen, einer bezahlten Erwerbsarbeit nachzugehen. Mangelnde Bildung, fehlende Erfahrungen, geschlechterbestimmte Bevormundung und Segregation ließen den außerhäuslichen Arbeitsmarkt allerdings zu einem prekären Ort für Frauen werden.79 Diese Veränderungen – ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als »Frauenfrage« bezeichnet80 – versuchten die ZeitgenossInnen mit einem vermeintlichen Frauenüberschuss und einer gleichzeitigen Heiratsunlust der Männer zu erklären: Aufgrund längerer Ausbildungszeiten läge das Heiratsalter der Männer nunmehr deutlich höher, und bei Frauen täte sich ebenfalls eine Zeit zwischen Schulabschluss und Heirat auf, für die es keine angemessenen Beschäftigungsmöglichkeiten gab. Wie Ute Frevert jedoch konstatiert hat, fußten diese Erklärungsversuche auf einer deutlichen Fehleinschätzung durch die ZeitgenossInnen: Nicht nur die demografischen Verhältnisse bezüglich eines angeblichen Frauenüberschusses wurden überschätzt, auch die etwaige Heiratsunlust sowie die Steigerung des Heiratsalters der Männer können der historischen Überprüfung nicht standhalten. Bereits im 18. Jahrhundert heirateten bürgerliche Männer deutlich später als ihre generationellen Vorgänger, ohne dass von einer »Frauenfrage« gesprochen wurde. Was sich allerdings ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte, waren vielmehr die sozialen Gefüge und die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen ledige, bürgerliche Frauen versuchen mussten, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Überdies änderte sich laut Frevert die Bereitschaft der bürgerlichen Frauen, sich mit den begrenzten, bürgerlich-normativen Lebensentwürfen zu arrangieren.81 Zu dieser Zeit nahmen die Vorkämpferinnen von 1848 ihre frauenrechtlerischen Aktivitäten erneut auf: Im Jahr 1865 gründete Louise Otto-Peters gemeinsam mit Henriette Goldschmidt (1825–1920)82 und Auguste Schmidt (1833–1902)83 den Leipziger Frauenbildungsverein, aus dem im selben Jahr der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF) als Grundpfeiler der organisierten Frauenbewegung hervorging. Der ADF, dessen Zahl an Mitgliedern und Zweigvereinen rasch wuchs,84 machte die Frauenbildungs- und -erwerbsfrage zu seinem zentralen Arbeitsprogramm.85 In den kommenden zwei Jahrzehnten, von Ute Gerhard treffenderweise als eine lange Inkubationszeit bezeichnet,86 forcierte der ADF die Gründung von Industrie- und Handelsschulen für Mädchen. Man forderte eine Gewerbefreiheit für Frauen und organisierte zahlreiche Veranstaltungen, bei denen über Frauenerwerbsarbeit und Mädchenbildung referiert wurde.87 Ein weiteres Medium, das einerseits als Sprachrohr gegenüber der bürgerlichen Frauenwelt diente sowie andererseits zur Kommunikation frauenbewegter AkteurInnen untereinander benutzt wurde, war die seit 1866 vom ADF herausgegebene Zeitschrift Neue Bahnen. Diese erschien bis zu ihrer Einstellung 1919 in einem Zeitraum von über 50 Jahren. Neben Vereinen, die sich für Frauenbelange einsetzten, existierten zudem diverse karitative Zusammenschlüsse, die angestoßen durch die Kriege 1864 und 1866 als Vaterländische Frauenvereine allerdings weniger frauenrechtlerische als national-konservative Interessen vertraten.88
In den 1880er Jahren hatte die Lehrerin Helene Lange (1848–1930)89 maßgeblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Frauenbewegung und der »Frauenfrage«. Gemeinsam mit fünf weiteren, aus dem liberalen Bürgertum stammenden Frauen richtete sie 1887 eine Petition an das preußische Kultusministerium, in der eine verbesserte Mädchenbildung, größere Handlungsräume für Lehrerinnen sowie eine wissenschaftliche Lehrerinnenausbildung adäquat zur Ausbildung männlicher Lehrer gefordert wurde.90 Langes Petition, die aufgrund der Farbe des Einbandes als Gelbe Broschüre bezeichnet wurde, hatte entscheidenden Einfluss auf den Reformprozess der Mädchenschulbildung.91 Als Fürsprecherin konnte die Frauenbewegung kurzzeitig die Ehefrau des als liberal geltenden Kaisers Friedrich III. (1831–1888) gewinnen, die reges Interesse an der Verbesserung des Mädchenschulwesens hatte. Aufgrund der nur dreimonatigen Regentschaft des Kaisers und des darauffolgenden Einflussverlustes von Kaiserin Victoria (1840–1901) verlor die Frauenbewegung unter der folgenden Regentschaft Wilhelms II. (1859–1941) weitgehend die Patronage des Kaiserhauses.92 Helene Lange gründete daraufhin 1890 mit Auguste Schmidt und Marie Loeper-Housselle (1837–1916)93 den Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein (ADLV), der durch seine Vorgehensweise nach dem Grundsatz der »kleinen Schritte« zwei graduelle Erfolge verbuchen konnte: Die Lehrerinnenausbildung wurde Stück für Stück professionalisiert, und 1908 trat die preußische Mädchenschulreform in Kraft, die das Mädchenschulsystem erstmals gesetzlich verankerte.94
Die Frauenbewegung war allerdings mehr als »nur« eine Frauenbildungsbewegung. Ab den 1890er Jahren wuchs mit Vereinsgründungen und Mitgliederzahlen ebenso die Zahl der Themenbereiche, für welche die frauenbewegten AkteurInnen eintraten, so dass die bürgerliche Frauenbewegung zu einer bedeutenden gesellschaftlichen Kraft im Kaiserreich avancierte.
Mit dem Wachstum der bürgerlichen Frauenbewegung kristallisierten sich ab den 1890er Jahren – zumindest auf formaler Ebene – zwei Strömungen heraus: der gemäßigte Flügel und der radikale Flügel. Die Radikalen, wie sie sich selbst bezeichneten, waren von Beginn an, wie Anne-Laure Briatte treffend formuliert hat, zu einem »Grenzgängerinnen-Dasein« prädestiniert.95 Ihr Werdegang nahm 1888 in Berlin mit der Gründung des Vereins Frauenwohl seinen institutionellen Anfang. Die Initiatorin Minna Cauer (1841–1922)96 sollte diesen über Jahrzehnte prägen und als Herausgeberin der Zeitschrift Die Frauenbewegung ferner die Publikationstätigkeiten der Radikalen richtungsweisend beeinflussen.
Einhergehend mit den strukturellen und politischen Veränderungen im Kaiserreich gelang der Frauenbewegung in den 1890er Jahren ein weiterer institutioneller Entwicklungsschub. Die Aufhebung der Sozialistengesetze 1890, die bisher sämtliche Vereine, Versammlungen und Schriften verboten, welche die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung zu gefährden schienen, tat ihr Übriges. Es entstanden zahlreiche Frauenvereine, Zweigstellen und Organisationen mit thematischen Schwerpunkten und regionalen Ausrichtungen, so dass bald Stimmen laut wurden, all jene Institutionen in einem übergreifenden und allumfassenden Dachverband zusammenzuschließen. Nach dem Vorbild der amerikanischen Frauenbewegung wurde 1894 der Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) als Dachverband frauenbewegter Vereine ins Leben gerufen, an deren Gründung der Allgemeine Deutsche Frauenverein und der Allgemeine Deutsche Lehrerinnenverein als treibende Kräfte mitwirkten.97 Der BDF konnte im Laufe seines Bestehens ein kontinuierliches Mitgliederwachstum erzielen: Die Zahl der dem BDF angehörenden Vereine stieg beispielsweise von 65 im Jahr 1895 auf 2.200 im Jahr 1913; 1928 zählte der BDF über eine Million Mitglieder.98 Eines der vorrangigen Ziele war die Verbesserung der Mädchen- und Frauenbildung, um die weibliche Erwerbstätigkeit zu stärken. Ein weiteres Arbeitsgebiet stellten unter dem Topos der sogenannten »Sittlichkeitsfrage« der Kampf gegen das Prostitutionswesen sowie das Agieren gegen die neue Fassung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) dar, nach welcher insbesondere die Rechte von Ehefrauen noch stärker beschnitten werden sollten. Eine politische Gleichberechtigung im Sinne der Einführung eines Wahlrechts für Frauen zählte zwar zu den Zielen des BDF, wurde aber nicht vorrangig behandelt. Bei der Wahl der Mittel zur Erreichung der Ziele setzte der BDF bewusst auf die Methode der »kleinen Schritte«. Hiermit verbunden war gleichsam die Intention, den weiblichen Kultureinfluss zu steigern.99 Gemeint war damit die Vorstellung, dass Frauen durch ihr gesellschaftliches Engagement zur »Kulturentwicklung« der gesamten Gesellschaft beitrugen. Dies würde im Umkehrschluss, so die Überlegungen des BDF, langfristig zur Anerkennung der politischen Reife der Frau führen.100 Diese grundlegenden Prämissen ließen den BDF zum Sammelbecken der gemäßigten Frauenbewegung werden und führten dazu, dass zwischen dem radikalen Verein Frauenwohl, der sich anfänglich noch an der Gründung des Dachverbandes beteiligte, und dem BDF bereits nach kurzer Zeit erste Konflikte entstanden. Else Lüders (1872–1948)101 veröffentlichte 1904 eine Schrift mit der Absicht, die Stellung des radikalen Flügels im Organisationsgeflecht der Frauenbewegung zu verorten.102 Lüders’ Abhandlung stellte für sie eine Notwendigkeit dar, nachdem die beiden großen zeitgenössischen Standardwerke103 über die Frauenbewegung von Lily Braun (1865–1916) sowie von Helene Lange zusammen mit Gertrud Bäumer (1873–1954) dem radikalen Flügel keine ausreichend »gebührende Darstellung« gezollt hätten.104 Lüders versuchte nun in einer »objektiven Darstellung«105 die prinzipiellen Unterschiede beider Richtungen darzulegen und verwies zuvorderst auf die Uneinigkeit über die Methode der Aktionsstrategie:
»Ein […] prinzipieller Unterschied liegt in der Art des Wirkens. Die Gemäßigten stellen die gemeinnützige Arbeit in den Vordergrund, weil sie in dieser praktischen Arbeit eine Erziehung der Frauen sehen; die Radikalen wollen vor allem durch lebhafte Propaganda für die Idee der Frauenbewegung wirken.«106
Neben diesen hier skizzierten Unterschieden in der Methode der Vorgehensweise kam eine Differenz der Strategie hinzu. Dies bedeutete, dass die Radikalen ihre propagandistische Arbeit107 nicht bloß im Rahmen von Vereinsversammlungen vorbereiteten, sondern die »Forderungen der Frauen in breitester Öffentlichkeit« vertreten wissen wollten.108 Die Forderung nach politischer Gleichberechtigung und dem Frauenwahlrecht war für die Radikalen hierbei das Fundament und nicht das Endziel, wie die Gemäßigten ihr politisches Anliegen vertraten.109 Eine weitere Differenz zwischen beiden Flügeln bestand im Umgang mit der »Arbeiterinnenfrage«. Die Radikalen strebten in ihren Programmpunkten von Anfang an eine Zusammenarbeit mit den Vereinen der Arbeiterinnen und der proletarischen Frauenbewegung an. Die VertreterInnen des BDF jedoch schlossen die Arbeiterinnen gezielt aus ihrer Institution aus. Dieser Ausschluss wurde mit einer gewissen Furcht vor einer etwaigen Auflösung des Dachverbandes begründet, da die proletarische Frauenbewegung in enger Zusammenarbeit mit sozialdemokratischen Vereinigungen stand, obwohl Frauen eine vereins- und parteipolitische Arbeit zu dieser Zeit verboten war.110 Aber auch die angestrebte Zusammenarbeit der Radikalen mit den Arbeiterinnen verlief nicht konfliktlos. Dies hatte mehrere Gründe. Auf den ersten Blick ist sicherlich das Agieren Clara Zetkins (1857–1933)111, Führerin der proletarischen Frauenbewegung, zu nennen. Ihre bewusste Politik der sogenannten »reinlichen Scheidung« argumentierte mit einer vollkommen unterschiedlichen Problemlage in den Lebenswelten bürgerlicher und proletarischer Frauen.112 Demnach manifestierte sich die »Frauenfrage« für die Arbeiterinnen an der sozialen Frage und nicht, wie es bei den bürgerlichen Frauen der Fall war, an der Geschlechterfrage. Mit dem Kampf gegen den Kapitalismus, der von sozialistischen Frauen und Männern gemeinsam geführt wurde, würde sich die »Frauenfrage« lösen, so die Auffassung der proletarischen Frauenbewegung.113 Der Ausschluss der Arbeiterinnen aus dem bürgerlichen BDF wurde weniger als Nachteil, sondern als Gewinn für das weitere politische Vorgehen und der Selbstbehauptung der proletarischen Frauenbewegung gesehen.114 Allerdings muss, wie Anne-Laure Briatte betont hat, bei der Beurteilung der Beziehung zwischen beiden Fronten die sogenannte zweite Reihe der Frauenrechtlerinnen berücksichtigt werden. Hier lehnten durchaus nicht alle Akteurinnen eine Zusammenarbeit ab. Dazu gehörte beispielsweise Henriette Fürth (1861–1938)115, die das Engagement der Radikalen zum Schutz der Fabrikarbeiterinnen befürwortete. Ebenso strebten Lily Braun116, Johanna Loewenherz (1857–1937)117 und Wally Zepler (wahrscheinlich 1865–1940)118 immer wieder Kooperationen an.119
Gleichfalls muss das Engagement der radikalen FrauenrechtlerInnen in der »Arbeiterinnenfrage« kritisch betrachtet werden. So waren es einige wenige AktivistInnen, wie Jeanette Schwerin (1852–1899)120 und Alice Salomon (1872–1948)121, die sich in ihren Programmpunkten den Arbeiterinnen widmeten. Wie im Laufe dieser Untersuchung deutlich wird, bestand nicht nur im gemäßigten Flügel der Frauenbewegung, sondern in der breiten Riege der Radikalen ein ausgeprägtes bürgerliches Klassenbewusstsein. Dieses war durch ein mehr oder minder offensichtliches gesellschaftliches Überlegenheitsgefühl gekennzeichnet, das sowohl in der inneren Überzeugung einzelner Akteurinnen als auch in ihren praktischen Handlungsweisen zum Ausdruck kam.
Dass Gemäßigte und Radikale durchaus Gemeinsamkeiten hatten, war den Zeitgenossinnen bewusst. Trotz der Gründung eines eigenen Verbandes, des Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine (VfF), 1899, der sich als Gegenentwurf zum BDF verstand, betonte beispielsweise Marie Stritt (1855–1928)122 – von 1899 bis 1910 Vorsitzende des BDF –, dass der wirklich einzige stichhaltige Unterschied zwischen beiden Flügeln eben nicht in der Auffassung der »Frauenfrage«, sondern in den Vorstellungen darüber läge, mit welchen Mitteln die frauenbewegten Ziele erreicht werden sollten:
»Es handelt sich bei den verschiedenen prinzipiellen Gegensätzen innerhalb der Frauenbewegung kaum mehr um das, was wir wollen […], sondern höchstens um die einzuschlagenden Wege, um das Tempo, um den Ausdruck unserer Wünsche.«123
Auch Ika Freudenberg, die durch ihr Amt im Vorstand des BDF sowie durch ihre persönliche Lebensgemeinschaft mit Sophia Goudstikker (1865–1924)124, die sich selbst im radikalen Flügel verortete, als Grenzgängerin bezeichnet werden kann, wies fünf Jahre nach der organisatorischen Trennung beider Flügel in einem Artikel, der 1904 im Centralblatt erschien, darauf hin, dass die Zuordnungskategorien radikal und gemäßigt in der praktischen Arbeit einzelner Frauenvereine indessen gar keine Relevanz besäßen. Lediglich für das Selbstverständnis der Führungsriege seien diese von einschlägiger Bedeutung, nicht aber in den Provinzvereinen.125 Diese Meinung teilte auch Marie Stritt. Als Vorsitzende des BDF appellierte sie, eine »Brücke [zu schlagen], von der aus wir die alten überlebten Schlagworte [gemäßigt und radikal; Anm. M. B.], die […] so viel unnötigen Zwiespalt und Hader verursachten, ins Meer der Vergangenheit versenken können.«126 Obgleich Stritt durchaus Ideen und Konzepte des radikalen Flügels in den BDF einbrachte – wie etwa bei der Hinzuziehung abolitionistischer Theorien und Praktiken127 im Zuge der »Sittlichkeitsfrage« – und auf ein Miteinander drängte, traten immer wieder Differenzen auf den Plan, die sich in erster Linie aus persönlichen Animositäten und Machtkämpfen innerhalb der Führungsriege ergaben.128
An dieser Stelle sollen die bereits vielfach zur Sprache gebrachten Begriffe radikal und gemäßigt in ihren Bedeutungen und Sinnzuschreibungen eingehender analysiert werden. Zunächst ist nochmals festzuhalten, dass es sich bei beiden Begriffen um zeitgenössische Selbst- und Diffamierungsbegriffe handelt. So bezeichneten sich die Radikalen selbst als radikal beziehungsweise fortschrittlich und titulierten Frauenrechtlerinnen, die sich nicht ihren Grundsätzen verschrieben, als gemäßigt. Die Gemäßigten sprachen von sich selbst allerdings nicht als gemäßigt. Von der Forschung wurden diese Begrifflichkeiten dennoch mehrheitlich übernommen und teilweise unreflektiert über lange Zeit als Adjektive der Grenzziehung zwischen beiden Flügeln genutzt und fortgeschrieben. Wie bereits erwähnt, kann von starren Grenzen jedoch nicht ausgegangen werden, vielmehr waren diese fließend. Die Fluidität dieser Grenzen – wie im Folgenden deutlich werden wird – zeigte sich unter anderem in ähnlichen Aktionsstrategien im Kampf um neue Berufsfelder für bürgerliche Frauen. Hierbei vertraten sowohl die Gemäßigten als auch die Radikalen das Konzept der »Geistigen Mütterlichkeit«, argumentierten demgemäß mit einem geschlechterdifferenten Ansatz und brachten nahezu identische Vorstellungen weiblicher Emanzipation vor. Trotz dieser fluiden Grenzen funktionierten beide Begriffe in ihrer Verwendung durch die ZeitgenossInnen, um sich selbst sowie das jeweils andere Lager zu beschreiben und zu verorten. Die zeitgenössischen Sinnzuschreibungen der beiden Begriffe können jedoch nicht mit unserem heutigen Verständnis von Radikalität beziehungsweise Gemäßigtheit betrachtet werden. Dies bedeutet, dass beide Begriffe historisiert und mit kritischer Distanz verwendet werden müssen. Darüber hinaus subsumierten die FrauenrechtlerInnen unter beiden Begriffen mehrere Bedeutungsebenen, was eine enggeschnittene Definition zusätzlich erschwert. Was verstanden die frauenbewegten AkteurInnen unter beiden Bezeichnungen? Welche Sinnzuschreibungen lagen den Begriffen zugrunde?
Der radikale Flügel hatte für seine Eigenbeschreibung gleich mehrere Begriffe parat. Zwei davon, die bereits in der Konstituierungszeit benutzt wurden, waren die der »Opposition« und des »linken Flügels«.129 Beide Bezeichnungen entstanden in einem vereinspolitischen Zusammenhang im Rahmen der frühen Generalversammlungen des BDF: »Zufällig fand die ›Opposition‹ – Frau Minna Cauer, Frau Marie Stritt, Fräulein Anita Augspurg, Fräulein Elisabeth Mießner und die Schreiberin der Zeilen – ihren Platz auf dem linken Flügel.«130 Ob diese Platzierung tatsächlich dem Zufall geschuldet war, bleibt fraglich. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Frauen des radikalen Flügels dieses Vorgehen bewusst praktiziert hatten, um ihre Position im Organisationsgeflecht der Frauenbewegung sowohl offensichtlich als auch sinnbildlich zu bekräftigen. Neben diesen bewusst politisch aufgeladenen Begriffen existierten Bezeichnungen als »jüngere« und »ältere Richtung«.131 Unter diesem Etikett verstanden die AkteurInnen jedoch keineswegs primär die Benennung der physischen Altersstruktur.132 Vielmehr wollte besonders der radikale Flügel mit diesen Zuschreibungen auf ihre sich selbst attestierten, vermeintlich moderneren Gesellschaftsvorstellungen verweisen. Nach diesem Selbstverständnis ließen sich die Begriffe »jung« und »radikal« in einen symbiotischen Einklang bringen, wie Maria Lischnewska (1854–1938)133 postulierte: »Dies rückhaltlose den Dingen auf den Grund gehen, das freie und mutige Ansprechen der letzten Konsequenzen brachte der jüngeren Richtung den Beinamen: ›Die Radikalen‹.«134 Diese Begriffsassoziationen wurden jedoch kritisch gesehen und insbesondere von Gertrud Bäumer135 in einem Aufsatz erörtert. Ziel ihres Aufsatzes war es, die konträren Beschreibungen »jüngere« und »ältere Richtung« in ihren Übersetzungen als »fortschrittlich« und »konservativ« zu entkräften:
»Von einer älteren und einer jüngeren Richtung spricht man auch in der Frauenbewegung […]. Ob man freilich mit diesen Parteibezeichnungen […] wirklich den Gegensatz von alt und jung in der Frauenbewegung richtig getroffen hat, das scheint zweifelhaft. Eine nähere Untersuchung […] ergibt vielmehr, daß […] das tatsächlich Moderne […] nicht zusammenfällt mit dem Programm der sogenannten ›jüngeren Richtung‹, ja, daß gerade bei ihr sich vielfach die Merkmale einer überwundenen Entwicklungsphase erhalten haben.«136
Gertrud Bäumer sah den radikalen Flügel also keineswegs als eine Richtung an, die moderner und fortschrittlicher sei als der gemäßigte Flügel, zu deren Protagonistin sie sich selbst zählte.
Die Diskussion über die Begriffswahl der Selbstbeschreibung beschäftigte indes nicht nur die führenden AkteurInnen der Frauenbewegung. Ebenso setzten sich weniger bemittelte Mitglieder mit dieser Frage auseinander und verfolgten die laufenden Diskussionen – so eine Leserin der Zeitschrift Die Frauenbewegung namens Luise Pagel, die in einem Leserbrief eine Rede der kurz zuvor verstorbenen, radikalen Frauenrechtlerin Malwida von Meysenbug (1816–1903)137 aufgriff, in der diese die beiden Flügel beschrieben hatte. Luise Pagel war der Meinung, dass in Meysenbugs Worten »die denkbar beste Definition der Begriffe ›radikal‹ und ›gemäßigt‹« läge, und zitierte aus ihrer Rede:
»›Man warf uns vor, zu radikal gewesen zu sein, […] aber wir bedauerten es nicht, klar ausgesprochen zu haben, was wir wollten. […] Es gibt Naturen, welche […] die Sachen nur halb beim Namen nennen […]. Aber es gibt andere, welche […] sich bestimmt aussprechen müssen.‹«138
Unverkennbar definierte Meysenbug den Hauptunterschied zwischen beiden Flügeln in der jeweiligen theoretischen Auffassung und der praktischen Umsetzung des Fortschrittsgedankens, der von den Gemäßigten in kleinen Schritten und von den Radikalen in einer Art vorpreschenden Handlungsweise vorgenommen wurde. Was den Zusammenschluss dieser Frauen zu einer radikalen Bewegung machte, war das Bestreben, grundlegende gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen und die »Frauenfrage« sprichwörtlich an der Wurzel zu packen – daher die Bezeichnung radikal, die dem lateinischen Substantiv radix, die Wurzel, entstammt.139 Das Selbstverständnis der Radikalen äußerte sich demnach darin, für bürgerliche Frauen als brisant oder tabuisiert geltende Themen (zum Beispiel Fragen der Sexualität) öffentlich zur Sprache und Diskussion zu bringen. Die Gemäßigten – so der Vorwurf der Radikalen – würden jene Themen erst dann in ihre Agenda übernehmen, wenn diese gewissermaßen gesellschaftlich diskursfähig waren.140
Der radikale Flügel musste sich allerdings eingestehen, dass der Inhalt des Wortes »radikal« auch falsch gedeutet und mit Sinnzuschreibungen aus revolutionären Kontexten assoziiert werden konnte. So stellte die Zeitschrift Die Frauenbewegung klar, »[d]aß die radikale Frauenbewegung von allen Seiten die schwersten Anschuldigungen erfährt, ist bei dem unverstandenen Worte radikal nicht zu verwundern.«141 In diesem Kontext ging es der deutschen Frauenbewegung darum, sich dezidiert von den militanten Suffragetten in Großbritannien abzugrenzen. Definierte sich Radikalität durch Praktiken des gewaltfreien zivilen Ungehorsams, galten systematische Gesetzesüberschreitungen mit Formen von Gewaltanwendungen als militant. In diesem Sinne waren die Handlungen – die von den britischen Suffragetten im Kampf um das Frauenwahlrecht geführt wurden und die sich unter anderem im Zerschlagen von Fensterscheiben, Säureangriffen, Brandstiftungen und Bombenanschlägen zeigten – eine Ansammlung militanter Straftaten.142 Aufgrund dieser semantischen Schwierigkeiten setzte sich ab 1899 vermehrt der Terminus »fortschrittlich« als eigenbeschreibende Semantik des radikalen Flügels durch. Das zeigt sich nicht zuletzt an der Namensgebung des radikalen Dachverbandes als Verband fortschrittlicher Frauenvereine.
Das bürgerliche Selbstverständnis über die geschlechtliche Rollenzuschreibung beruhte in seinem Kern auf der Vorstellung von diametral entgegengesetzten Geschlechtercharakteren, die sich grundlegend durch eine naturbedingte Zuordnung von vermeintlich männlichen und weiblichen Wesensmerkmalen bestimmte.143 Diese Annahme, die ihren Ursprung im Gedankengut der Aufklärung besaß,144